9,99 €
Als sich der neugierige indische Postbote Ramjut Pillay morgens auf dem Anwesen der berühmten oppositionellen Schriftstellerin Naomi Stride umsieht, entdeckt er ihre nackte Leiche. Schon steht Lieutenant Kramer wieder einmal vor einem Rätsel: Jeder glaubte offenbar, die weltbekannte Autorin sei längst zur Man-Booker-Preisverleihung nach London geflogen. Kramer und Zondi finden sich unvermutet im Zentrum der Anti-Apartheid-Bewegung wieder, müssen verbotene Romane lesen und sammeln ganz neue Erkenntnisse, als sie im Netzwerk des Widerstands ermitteln.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 483
Ein neugieriger Postbote späht durchs Fenster einer weltbekannten Schriftstellerin und entdeckt dabei ihre nackte Leiche. Lieutenant Kramer steht vor einem Rätsel: Offenbar glaubten alle, die Autorin sei längst verreist. Zudem stellt sich seinen Untersuchungen der Postbote in den Weg. Dieser meint, er sei der einzig würdige Ermittler in diesem Fall.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
James McClure (1936–2006) lebte in Südafrika, bis er 1965 nach England zog. Seine Krimiserie rund um das Ermittlerduo Kramer und Zondi schildert die Jahre der Apartheid. Steam Pig wurde 1971 mit dem CWA Gold Dagger ausgezeichnet.
Zur Webseite von James McClure.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
James McClure
Artful Egg
Südafrika-Thriller
Aus dem Englischen von Erika Ifang
Kramer & Zondi ermitteln (8)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument
Die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel The Artful Egg im Verlag Macmillan, London.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1997 unter dem TitelKalte Revanche im Rowohlt Verlag, Reinbek.
Für die vorliegende Ausgabe wurde die deutsche Übersetzung nach dem Original durchgesehen.
Originaltitel: The Artful Egg (1984)
© by The Estate of James McClure 1984
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Paula Vogg
Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop
ISBN 978-3-293-30967-8
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 26.07.2024, 17:04h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
ARTFUL EGG
1 – Für ein Ei stellt eine Henne die Möglichkeit …2 – Der Dienstagmorgen hatte für Lieutenant Tromp Kramer vorn …3 – Allmählich stellte sich die übliche Partyatmosphäre ein …4 – Zondi hatte drei Neuigkeiten für Kramer, als dieser …5 – Mit Theo Kennedy an seiner Seite und Zondi …6 – Colonel Muller war am nächsten Morgen um acht …7 – In wachsender Verzweiflung, weil er über den anonymen …8 – Die Füße hoch, den Hut in den Nacken …9 – Ich bin noch nie einem Kuli begegnet …10 – Das Problem eines Fliehenden bestand darin, so stellte …11 – Und was ist mit diesem Kerlchen?«, fragte ein …12 – Da sind Sie ja, Sie Halunke«, knurrte Kramer …13 – Kramer blieb fast zehn Minuten lang allein im …14 – Die Universitätsgebäude waren ein einziges wirres Durcheinander und …15 – Zondi rannte in sein neues Haus und zog …16 – Es war Punkt sieben Uhr, als Kramer bei …17 – In dieser Nacht träumte Zondi sehr wenig …18 – Das Mundstück von Colonel Mullers neuer Bruyèrepfeife lief …Mehr über dieses Buch
Über James McClure
»Wenn meine Gedanken in Südafrika sind, höre ich immer Gelächter«
Andere Bücher, die Sie interessieren könnten
Bücher von James McClure
Zum Thema Südafrika
Zum Thema Kriminalroman
Zum Thema Spannung
Für Wendy Robinson
Für ein Ei stellt eine Henne die Möglichkeit dar, ein neues Ei zu produzieren.
Das war der zentrale Gedanke im Kopf von Ramjut Pillay, indischer Postbote zweiter Klasse, zu Beginn des entsetzlichen Dienstagmorgens, der sein Leben veränderte. Er versuchte, sich jeden Morgen einem zentralen Gedanken zu widmen, aus Angst, intellektuell zu veröden durch die Art der Lektüre, die seine Arbeit ihm abverlangte:
Mrs W. M. Truscott
Jan-Smuts-Weg 4
Morningside
Trekkersburg
Natal, Südafrika
Nicht, dass auf den meisten Briefen, die am Ort aufgegeben wurden, überhaupt so viel stand. Deswegen war dieser – ein Luftpostbrief aus Cincinnati – so etwas wie eine Alltagsversion von Krieg und Frieden für ihn. Nicht, dass überhaupt je wirklich die Notwendigkeit bestanden hätte, mehr zu lesen als die ersten zwei Zeilen, denn in sein Fach kam ohnehin nur das, was schon für Morningside vorsortiert war. Aber er bildete sich etwas darauf ein, gewissenhaft zu sein.
Ramjut Pillay steckte Mrs Truscotts Luftpostbrief in den Schlitz an ihrer Haustür, wich mit gekonnter Geringschätzung ihrem Dackel aus und setzte seinen Weg fort. Heute war nichts dabei für die Familie Van der Plank in Nummer 6 und nur ein paar Rechnungen und ein Urlaubsgruß für die Trenchards in Nummer 8.
Längst las er die Postkarten nicht mehr; die Albernheit der hingekritzelten Worte war mehr, als er mit seinem beachtenswerten Verstand ertragen konnte.
»Denken wir also«, murmelte er vor sich hin, während er das Tor zum Jan-Smuts-Weg Nr. 8 aufmachte, »von Neuem und gründlicher über die teuflische Lust des zuvor erwähnten Eis und deren Folgen für das besagte arme Federvieh nach …«
Ramjut Pillay benutzte immer den Plural, wenn er mit sich selbst sprach, denn er war sich überdeutlich der Tatsache bewusst, dass erheblich mehr in ihm steckte, als zu sehen war – was zugegebenermaßen nicht eben viel war.
Bebrillt, 1,58 groß, etwas o-beinig und so mager wie ein Spatzenkeulchen, informierte er seine weltweiten Brieffreunde »in aller Aufrichtigkeit« darüber, dass er seinem Äußeren nach »ganz und gar gandhiähnlich« sei bis auf ein »Haupt voller herrlich gesunder Haare«. Was er seinen Brieffreunden verschwieg, war, dass die Leute oft einfach durch ihn hindurchsahen, als sei er gar nicht da, und dass ihn seine Mutter, als er noch ein Kind war, oft im Bus, in Läden oder im Hindutempel am Ende der Harber Road verloren hatte.
Einmal, als er etwa zwölf Jahre alt war, hatten ihn sein Vater und seine Mutter nach verzweifeltem Suchen bis ins entlegenste Viertel der Stadt mitten zwischen den Tempelältesten unter einem heiligen Feigenbaum sitzend gefunden. »Ramjut«, hatte seine Mutter ausgerufen, »weißt du denn nicht, welche Sorgen dein Vater und ich uns gemacht haben? Was machst du bloß hier bei den weisen alten Männern, Junge?« Worauf er erwiderte: »Feigen essen.«
Die Haustür vom Jan-Smuts-Weg 8 öffnete sich, bevor er die Post durch den Briefschlitz hineinwerfen konnte.
»Ich habe mich nur gefragt, ob …«, hob die rotgesichtige Mrs Trenchard an, während ihre grünen Augen die Post in seiner rechten Hand durchbohrten.
Er wusste, worauf sie wartete. Die ganze letzte Woche war es so gewesen, immer hatte sie gehofft, ihr Sohn hätte ihr vom Militärlager geschrieben. »Man hört ja dauernd diese Geschichten«, hatte sie ihm erklärt, »kaum haben sie ihre Stiefel bekommen, werden sie auch schon in den Busch nach Namibia geschickt.« Gewiss hätte ihre mütterliche Angst wieder einmal sein Mitleid erregt, wenn Ramjut Pillay ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hätte.
Er warf jedoch lieber einen verstohlenen Blick auf die siebzehnjährige Suzie Trenchard – der er erst vor Kurzem in lauter unverschlossenen Umschlägen die Geburtstagskarten gebracht hatte –, wie sie langsam, in ein Hochglanzmagazin vertieft, die Treppe herunterkam. Die Beine des weißen Mädchens waren nackt bis hinauf zu dem mit Rüschen besetzten Höschen, das sie unter einem kurzen Nachthemd trug. Was für Beine! Üppige Schenkel, samtige Knie und Waden von wahrhaft himmlischem Schwung. Die vollen Brüste waren ebenfalls exquisit, ein Paar runde süße Melonen, die den hauchdünnen Stoff spannten und bei jedem ihrer Schritte sanft zitterten. Es dauerte einige Sekunden, bis er zögernd seine Fassung wiedergewonnen hatte.
»Sie haben sich gefragt, Madam?«, sagte Ramjut Pillay, fächerte die Post in seiner Hand auf wie ein Zauberer und wies auf die Postkarte hin.
»Pfff«, machte Mrs Trenchard und sah kaum hin. »Was Besseres haben Sie wohl nicht.«
»Das Bild ist doch sehr hübsch und informativ«, sagte Ramjut Pillay nachdrücklich.
»Werden Sie nicht frech!«, schimpfte Mrs Trenchard. »Was ich wissen will, ist, ob Sie sonst nichts für mich haben!«
Sie hatte eigentlich keinen Grund, so grob zu sein, und deshalb gönnte er sich die kleine Freude, ihr die Rechnungen eine nach der anderen zu reichen. Dann warf er einen letzten unerlaubten Blick auf Suzie Trenchard mit ihrem köstlichen Hinterteil, die ein sattes Kichern von sich gab, während sie in Richtung Küche im Flur verschwand, wandte sich ab und setzte seinen Weg fort.
»Suzie!«, hörte er Mrs Trenchard rufen, einen Augenblick bevor die Haustür zuschlug. »Suzie, komm bitte sofort zum Frühstück herunter! Und sieh zu, dass du anständig angezogen bist, hörst du? Denk an die Hausangestellten!«
Zwei Briefe, eine Stromrechnung und ein kleines Päckchen Farbfotos glitten durch den Briefschlitz auf den Teppich im Eingangsflur vom Jan-Smuts-Weg 10.
»Für ein Ei stellt eine Henne die Möglichkeit dar …«
Aber sein zentraler Gedanke hatte sich verändert.
So war es immer, wenn Ramjut Pillay ein Kribbeln in den Lenden verspürte, ein Zustand, der seinen Geist im Allgemeinen zu noch größeren Höhenflügen anregte und ihn an seine tiefe Wesensverwandtschaft mit dem Mahatma erinnerte.
»Brahmacharya …«, flüsterte er ehrfürchtig, ohne zu bemerken, dass er die Post für die Hausnummern 14 und 16 alle beim Jan-Smuts-Weg 12 eingeworfen hatte, so stark war er in diesem Augenblick von Höherem eingenommen.
Die Brahmacharya-Experimente hatten, wie jeder Anhänger Mohandas Karamchand Gandhis sehr wohl wusste, darin bestanden, dass der Mahatma die ganze Nacht lang neben nackten jungen Mädchen lag und damit seinen Willen zur Enthaltsamkeit prüfte. Wie es hieß, war Gandhi nie schwach geworden, und Ramjut Pillay war sich sicher, es ebenso wenig zu werden, wenn er einmal die Gelegenheit zu einer ähnlichen Feuerprobe bekommen sollte.
»Die Sache hat einen Haken«, sagte er zu sich selbst, während er den Weg entlangeilte. »Einen abscheulichen Haken …«
Der Haken war einfach der, dass Ramjut Pillay trotz aller Anstrengungen erst noch ein junges Mädchen in Trekkersburg finden musste, das bereit war, die ganze Nacht nackt neben ihm zu liegen. Einmal hatte er es fast geschafft, es dem Mahatma gleichzutun, daran bestand kein Zweifel – obwohl ihr Vater es immer noch anders sah und Ramjut seitdem einen Umweg von zwei Blocks machen musste, wenn er zufällig in jenen Stadtteil kam. Und nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass zarte Jugend keine absolut notwendige Voraussetzung für ein Brahmacharya-Experiment war, hatte er es einmal eine Nacht mit Sophia, einer Tamilendame mittleren Alters, versucht, die allseits bekannt war für ihre Gefälligkeit. Die erste Stunde war es sehr gut gegangen; doch dann war Sophia unruhig geworden, hatte einen tiefen Seufzer von sich gegeben und sich plötzlich auf ihn gehievt.
»He«, rief der alte Major MacTaggart von seiner Veranda am Jan-Smuts-Weg 14 herab, »zum Kuckuck noch mal, ich erwarte heute Morgen meine Ausgabe der Clubzeitung. Sie wollen doch nicht etwa vorbeilatschen, oder?«
»M-Major?«
»Ein großer brauner Umschlag.«
Ramjut schien es, als könne er sich an einen großen braunen Umschlag in seinem Bündel für den Jan-Smuts-Weg erinnern, doch bei schneller Durchsicht stellte er fest, dass sein Gedächtnis, das sonst in jeder Hinsicht perfekt funktionierte, ihm einen Streich gespielt haben musste. »Tut mir sehr leid, Major«, sagte er, »heute kann ich nichts für Sie tun.«
»Ha«, schnaubte Major MacTaggart unfreundlich, »ich habe so meine Zweifel, was Sie als Postkuli taugen, Pillay, ernste Zweifel. Und jetzt stehen Sie nicht so beleidigt da herum, Sie alter krummbeiniger Gauner – Sie sind spät genug dran.«
Zutiefst empört, aber ebenso wenig in der Lage zu protestieren wie damals, als Sophia ihm den Mund mit der Hand zugehalten hatte, ehe sie energisch zur Sache ging, setzte Ramjut Pillay seine Runde durch den Jan-Smuts-Weg fort.
Unglaublich, wie die Welt mit einem eingeschworenen Pazifisten umsprang!
»Eine verdammte Henne«, sagte er ärgerlich, »stellt für ein Ei die Möglichkeit …«
Es ging nicht. Man konnte einfach nicht von ihm erwarten, sich zu konzentrieren, zumindest nicht unter diesen Umständen. Postkuli? Was für eine unverschämte Gemeinheit! Konnte man so mit einem hoch gebildeten Mann sprechen, der auf vielen Gebieten versiert war? Dem der Direktor des Easiway-Ferncolleges ewig gratulierte zu der Vielzahl von Ehrenurkunden, die ihm verliehen worden waren für seine Kenntnisse von Kraftfahrzeugtechnik (Theorie) bis zu den Grundlagen der Philosophie, dem Karikaturenzeichnen für Zeitungen, Umgangsafrikaans und vielem mehr?
»Das ist eine hübsche Briefmarke«, bemerkte Miss Simson am Jan-Smuts-Weg 20, während sie die Unterschrift für ein Einschreiben leistete. »Auf dem cremefarbenen Umschlag dort, der halb aus Ihrer Tasche herausguckt.«
Ramjut Pillay schaute hin. Großer Gott, an diese bevorstehende Freude hatte er gar nicht mehr gedacht. »Ja, das ist die neue aus England, Madam«, sagte er, »und die erste, die ich sehe.«
»Werden Sie fragen, ob Sie sie bekommen können?«, erkundigte sich Miss Simson und lächelte, als sie ihm den Kugelschreiber zurückgab. »Für Ihre Sammlung?«
»Ganz sicher«, erwiderte Ramjut Pillay und nickte.
Aber erst, als er das obere Ende des Jan-Smuts-Weges erreicht hatte, war er wieder in der richtigen Stimmung, um die Schönheit des Morgens zu genießen und die Vorfreude voll auszukosten, bald der stolze Besitzer eines so schönen Exemplars britischer Briefmarkenkunst zu sein.
»Na, dann wollen wir mal sehen …«, sagte er und blieb stehen, um den cremefarbenen Umschlag und die übrige Post für Woodhollow hervorzuholen.
Es war nicht wenig, das meiste von Übersee und an Naomi Stride adressiert. Ja, einfach nur »Naomi Stride«, ohne Mrs oder Miss davor, was daran lag, wie sie ihm erklärt hatte, dass das ihr »Pseudonym«, sei, was immer das hieß. Die Sache wurde dadurch noch komplizierter, dass sie auch Post für Mrs Naomi Kennedy, Mrs N. G. Kennedy und Mrs W. J. Kennedy erhielt, obgleich nie etwas für einen Mr Kennedy ankam.
Ramjut Pillay fügte zu dem cremefarbenen Umschlag noch sechs Privatbriefe hinzu, vier Geschäftsbriefe und eine Drucksache, dann bog er in die lange Einfahrt ein. Woodhollow beziehungsweise Jan-Smuts-Weg 30, wie es eigentlich heißen musste, war im Grunde genommen gar kein Teil der Sackgasse mit ihren bescheidenen Mittelschichtbungalows, sondern lag am oberen Ende weitab hinter einer Wand aus schottischen Kiefern und war einem bewaldeten Tal zugewandt. Es dauerte tatsächlich ein, zwei Minuten, bis jemand, der zu Fuß kam, das Haus überhaupt sah, so dicht standen ringsum die Bäume.
»Ah, diese Schönheit«, seufzte Ramjut Pillay und atmete noch einmal tief den schweren Duft der blühenden Büsche zu beiden Seiten ein.
Er stellte sich vor, wie die Dame aus der Tür trat, er sie äußerst höflich um die Briefmarke bat und sie sich, wie immer, mit einem leisen, gutturalen Lachen einverstanden erklärte. Vielleicht würde sie noch ein paar Fragen zur Zubereitung von Curry stellen, wie sie es von Zeit zu Zeit tat, und ihm vom Hausdiener ein Glas eisgekühlten Orangensaft bringen lassen.
Gerade da war wieder ein Kribbeln in seinen Lenden zu spüren, sodass er sich fragte, warum um alles in der Welt das Problem mit den Brahmacharya-Experimenten ausgerechnet jetzt wiederauftauchte. Eine wahrhaft erschreckende Einsicht lieferte ihm die Antwort darauf und führte ihn in Versuchung, das Undenkbare zu denken.
Er gab nach.
Es würde kein Bediensteter an die Tür kommen, wenn er klopfte. In der Eingangshalle Stille. Dann würde er das Klatschen ihrer Sandalen hören, die Tür würde nach innen aufgehen und sie in ihrer ganzen sinnlichen Herrlichkeit zeigen. Ihr Gesicht würde sanft und lieblich werden, sobald sie sah, wer da stand, und dann würde sie bis zum Hals erröten. »Komm herein«, würde sie heiser flüstern, »ich brauche dich sehr.« Und es wäre unmissverständlich klar, was sie mit diesen Worten meinte. Eine Minute später hätte er seine Posttasche abgeworfen und würde eingelassen in –
»He, was soll das Herumgespinne?«, spottete Ramjut Pillay laut. »Haben wir etwa den Verstand verloren, Postkuli?«
Nicht ganz, meldete sich ein anderer Teil von ihm. Die fragliche Dame hatte bereits ungewöhnliche Sympathien für seine Rasse bewiesen. Welches Haus auf seiner Runde roch sonst nach Räucherwerk? Welche Dame hatte sonst noch Riemchensandalen an den Füßen und kleidete sich in solche langen, locker fallenden Gewänder, die eindeutig vom Sari inspiriert waren? Welche Dame stellte ihm sonst noch so intelligente Fragen über die Göttin Kali, über Yoga und Joghurt oder kannte Worte wie »Sanskrit«?
»Keine einzige«, musste Ramjut Pillay sich eingestehen.
Nun, sagte dieser andere Teil von ihm, dann sind wir ja schon ein Stück weiter. Stimmt es nicht, dass sie verschiedene Male gespannt zugehört hat, wenn du von Mahatma Gandhi erzählt hast, und dass sie sich ehrfürchtig über seine große Geistigkeit geäußert hat? Hat sie nicht selbst gesagt, sie würde nur zu gern in seine Fußstapfen treten, wenn sie könnte? Ist das dann nicht die Gelegenheit für sie? Bei einigem guten Zureden würde sie sich bestimmt gern einem wahren Anhänger wie dir für ein Brahmacharya-Experiment zur Verfügung stellen und –
»Quatsch!«, sagte Ramjut Pillay. »Quatsch! Quatsch! Quatsch! Und sittenwidrig!«
Immer die alte Leier, seufzte der andere Teil seiner selbst. Was hat das damit zu tun? Ohne Gefummel kann es doch nicht sittenwidrig sein, oder? Schon gut, schon gut, ihr seid von unterschiedlicher Rasse, aber du verlangst ja nichts weiter von ihr, als nackt neben dir zu liegen, während du –
»Schluss jetzt!«, sagte Ramjut Pillay. »Das ist völlig verrückt, ich will kein Wort mehr davon hören! Ich habe es schon vergessen. So, alles weg …«
Trotzdem war da noch immer dieses Kribbeln in seinen Lenden, sodass er in Ermangelung eines Lendentuches seine Posttasche herumschwingen musste, um seine Oberschenkel zu verdecken, ehe er sich zur Türklingel reckte.
Niemand meldete sich auf sein Klingeln hin.
Im Haus blieb es still.
Er klingelte erneut, zweimal kurz und einmal lang.
Nichts.
Wie unheimlich, dass anscheinend alles genauso war, wie er es sich noch vor einer Minute ausgemalt hatte. Und waren das näher kommende Sandalen, was er da hörte? Er schaute sich um, dann bückte er sich und spähte durch den Briefschlitz. Die Eingangshalle war leer.
Vielleicht frühstückten die Hausangestellten gerade, während sie irgendwo draußen im Garten war. Er wollte schon die Briefe einfach durch den Schlitz schieben, aber seine Hand streikte und wollte den cremefarbenen Umschlag nicht herausrücken, ehe ihm nicht die Briefmarke darauf versprochen worden war. Vielleicht sollte er mal schnell einen Blick umherwerfen, unter Umständen entdeckte er sie dann mit ihrem Gartengerät oder am Swimmingpool.
Klapp, klapp, klapp, machte sich Ramjut Pillay, etwas ungelenk wegen seiner Posttasche, entgegen dem Uhrzeigersinn auf den Weg ums Haus herum.
Der Swimmingpool lag da, ohne dass sich seine Oberfläche auch nur im Mindesten kräuselte. Der Garten wirkte leer. Nirgendwo gab es ein Anzeichen für Leben. Dann fiel sein Blick auf etwas Blitzendes.
Da er neue Gläser für seine Drahtgestellbrille brauchte, musste Ramjut Pillay erst die Terrasse am Pool überqueren, ehe er erkennen konnte, was auf so ungewöhnliche Weise die Sonnenstrahlen reflektierte: Es war ein elektrischer Ventilator mit blanken Metallflügeln, der in einem Raum mit großen Schiebetüren aus Glas vor sich hin surrte. Ramjut Pillay schob sich etwas näher heran und warf einen kurzen Blick in den Raum, der wohl dem entsprach, was er irgendwo als Glasveranda beschrieben gefunden hatte. Auf jeden Fall war genügend Sonne darin, sie wurde vom Schwimmbecken draußen hineingespiegelt, und so war es kein Wunder, dass jemand den Ventilator laufen ließ.
»O Himmel!«, japste Ramjut Pillay.
Dieser Jemand war niemand anders als die Dame des Hauses, die in direkter Linie vor ihm ausgestreckt auf einem schwarzen Ledersofa lag. Sie hatte gewiss gesehen, wie er hineingespäht hatte, denn er hatte sie sehr gut sehen können, und jetzt erwartete sie sicher eine sehr gute Entschuldigung für seine Zudringlichkeit. Umso mehr, als sie bis auf einen glitzernden bläulich grünen Bikini buchstäblich nackt war.
»Ah, Madam?«, sagte Ramjut Pillay mit rauer Stimme und trat an den Spalt, den die Schiebetüren offen ließen, die Augen sittsam abgewendet. »Guten Morgen, Madam, bitte entschuldigen Sie die Störung – ich bitte vielmals um Verzeihung, Madam.«
Es folgte ein erstauntes Schweigen, wie ihm schien, und so fuhr er hastig fort: »Alles in Ausübung meiner Pflicht, Madam. Als ich das Gewicht dieses cremefarbenen Briefes in meiner Hand spürte, sagte ich zu mir: ›Pillay, du bist der Überbringer sehr wichtiger Neuigkeiten – sieh zu, dass sie ohne Verzögerung ankommen.‹ Und so habe ich, nachdem ich bei Ihnen geklingelt hatte und nichts geschah …«. Er hatte gerade noch einen flüchtigen Blick auf sie geworfen und bemerkt, dass ihre Augen geschlossen waren. »Schlafen Sie?«, flüsterte er und konnte kaum glauben, solches Glück zu haben.
Jetzt brauchte er nur so schnell wie möglich davonzuschleichen, und niemand würde je erfahren, dass er da gewesen war.
Dann zögerte er einen schicksalhaften Sekundenbruchteil.
Jedenfalls lange genug, um den Wunsch zu verspüren, sich die köstlich gerundeten weißen Glieder, die fraulichen Brüste und den sanft gewölbten Bauch einmal näher anzusehen, und genau in diesem Augenblick ergriff der andere Teil seiner selbst Besitz von ihm. Das erschreckte Ramjut Pillay – es entsetzte ihn sogar maßlos –, aber irgendwie erregte es ihn auch, und nach der Situation hinter seiner Posttasche zu urteilen, erregte es ihn gewaltig.
Zuerst handelte er mit kühler Berechnung. Er räusperte sich laut, und als das keine Reaktion hervorrief, klopfte er an die Glastür. Er klopfte allerdings kein zweites Mal, nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie nicht nur döste. Und dann zog er seine Stiefel aus und ließ sie draußen stehen, bevor er auf Zehenspitzen über den Holzboden der Glasveranda ging.
Dabei überkam ihn eine fieberhafte Aufregung, die ihn benommen machte. Er hätte eine so vollkommene Blässe nackter Haut nie für möglich gehalten, nicht in einer Million Jahren, und trachtete nur noch danach, sie zu liebkosen, ihre kühle, glänzende Sanftheit unter seinen braunen Fingerspitzen zu spüren wie eine Magnolienblüte. Nichts konnte ihn jetzt mehr aufhalten, und wenn sie plötzlich aufwachte, war es Pech – dann musste er eben rigoros werden.
Ein leises Summen erfüllte den Raum. Er achtete nicht darauf.
Stattdessen ergötzte er sich an dem glitzernden bläulich grünen Bikini, der schimmerte, als sei er mit Tausenden von schillernden Pailletten bestickt, und ging noch näher heran, die schwachen Augen begierig auf starke Details. In dem Bikini war auch etwas Rot, wie er bemerkte. Das verschwommene Gesicht war so, wie er es in Erinnerung hatte – Lippen wie Rosenknospen und lange geschwungene Wimpern. Die Brüste schienen noch schwerer zu sein, als er vermutet hatte, und der Hügel zwischen ihren Schenkeln viel ausgeprägter, als er es sich hätte träumen lassen. Plötzlich hasste er den Bikini und wünschte ihn weg, um darunterschauen zu können.
Sein Wunsch wurde erfüllt.
Kaum war beim Nähertreten sein Schatten auf die weibliche Gestalt gefallen, die da so betörend vor ihm lag, als sich das bläulich grüne Geglitzer in einen surrenden Schwarm verärgerter Fliegen auflöste, der aufstieg und über seine Schulter hinweg verschwand.
Der Dienstagmorgen hatte für Lieutenant Tromp Kramer vorn Trekkersburger Raub- und Morddezernat gut angefangen. Genau um fünf Uhr war er wach geworden, als ihm die Witwe Fourie – ihre innere Uhr war sogar mit Weckfunktion ausgestattet – sanft in sein linkes Ohr gepustet hatte. »Trompie«, hatte sie gesagt, »es ist jetzt jeden Augenblick so weit, hörst du?« Er hatte sich eine Lucky Strike angesteckt, weil er lange genug wach bleiben wollte, um sich diesen Augenblick einzuprägen. »Ist es jetzt vorbei?«, hatte sie ein paar Minuten später geflüstert. Ihr Timing war perfekt, denn noch während sie das sagte, hatte er vor seinem inneren Auge eine Falltür fünfhundert Meilen weit entfernt mit einem Knall aufklappen und den Strang des Henkers mit einem Ruck straff werden sehen, um dann langsam zu kreiseln.
Und so hatte sich der Dienstagmorgen weiterentwickelt. Als er erneut wach geworden war, hatte es daran gelegen, dass die Witwe Fourie ihn in aller Heimlichkeit liebte – er tat so, als merke er nichts davon; und als er das dritte und letzte Mal wach geworden war, hatte sein Lieblingsfrühstück auf dem Schränkchen neben ihrem Bett gestanden. Zwei Marmeladen-Doughnuts und eine Flasche Ingwerbier.
Leise rülpsend – er hatte festgestellt, dass die Rülpser bei diesem Frühstück eine besonders angenehme und anhaltende Begleiterscheinung waren – war er dann auf die Veranda hinausgetreten und hatte sich dort in auffallender Zufriedenheit das Fell auf seiner Brust gekratzt.
Auf einem Zettel, der mit Klebeband an einem Verandapfosten befestigt war, hatte gestanden: »Bin mit den Kindern den ganzen Tag bei Myra und habe auch Johannes freigegeben, damit du zur Abwechslung mal deine Ruhe hast. XXX.«
Ziemlich genau das, was er sich dann auch gegönnt hatte bis jetzt, wo es elf Uhr sein mochte, sicher wusste er es nicht, nur, dass er es genossen hatte. Da war das lange Vollbad gewesen, in dem er geblieben war, bis das Wasser seine Wärme verloren hatte, und dann der Wechsel in frische Kleider, der erste seit über einer Woche. Und danach war er um das alte Farmhaus herumgewandert, hatte das Kürbisbeet besucht und es sich schließlich in der primitiven Hängematte gemütlich gemacht, die die Kinder zwischen zwei Pfirsichbäumen aufgehängt hatten.
Er zündete sich noch eine Lucky Strike an, wobei ihm auffiel, dass die Streichholzflamme im blendenden Sonnenlicht kaum sichtbar war. Ein Gewitter würde später aufkommen wie immer, wenn es derartig heiß war, aber im Augenblick war der Tag fast so vollkommen, wie jeder es sich nur wünschen konnte, der nichts zu tun und auch nicht die mindeste Absicht hatte, irgendetwas zu tun.
Eine Würgerkrähe kam angeflogen und setzte sich auf einen Ast über ihm. Sie hatte ein eben flügge gewordenes Vögelchen im Schnabel, das sich schwach wehrte. Nach einer Weile wurde das Vögelchen schlaff, aber die Würgerkrähe blieb trotzdem sitzen.
Kramer sah weg und wandte den Blick nach unten. Der ungepflegte Rasen war so versengt, dass er fast die gleiche Farbe hatte wie das pulvertrockene Buschland jenseits des Stacheldrahtzauns, der das Grundstück umgab; weit weg und dunkelgrau aus dieser Entfernung lag Trekkersburg in seinem weiten Becken, von Felsausläufern eingerahmt. Nichts war deutlich zu erkennen; die leuchtenden Farbtupfer, metallisch glitzernden Pünktchen und kleinen weißen Formen wirkten wie Ameiseneier, Käferbröckchen, grellbunte Stückchen von Schmetterlingsflügeln und andere Insektenüberreste inmitten eines kokonartigen Spinnennetzes. Stach man mit einem Ast hinein, kam womöglich Gott weiß was herausgekrabbelt.
Die Würgerkrähe hatte den Kopf zur Seite geneigt und beobachtete ihn.
Er drehte sich in der Hängematte um, bis er durch das weitmaschige Netz den Boden sah, und suchte sich ein Loch in der Matte, in das seine dicke Nase gut hineinpasste. Unter ihm in dem feinen roten Staub waren zwei kegelförmige Vertiefungen, die von ein paar Ameisenlöwen stammten. Die Ameisenlöwen lauerten außer Sichtweite am Grunde der Vertiefungen in der Erde darauf, dass unvorsichtige Ameisen die trügerischen Wände der Kuhlen, die sie gegraben hatten, hinunterschlitterten. Zur Abwechslung fiel ihnen eine kleine, vom Tageslicht verwirrte Motte zum Opfer, und er wandte den Blick ab, als der Ameisenlöwe von seinen Beißzangen Gebrauch machte.
Die Würgerkrähe war weg.
Er versuchte zu dösen. Er verließ die Hängematte und ging ins Haus, wo er sein Schulterhalfter anlegte. Eine Minute später, nachdem alles gesichert und abgeschlossen war, stieg er in seinen Chevrolet, ließ den Motor an und fuhr davon.
»Naomi Stride?«, sagte Colonel Hans Muller und hielt inne, um kräftig in seinen Pfeifenstiel zu blasen. »Verdammt, jetzt ist das verfluchte Ding wirklich verstopft. Ich lasse mir am besten ein paar Pfeifenreiniger kommen.«
»Ja, Naomi Stride«, wiederholte Lieutenant Jacob Jones. »Wissen Sie, wer das ist, Colonel?«
»Ist ihr Vater nicht der jüdische Schneider an der Ecke gegenüber vom Gefängnis?«
Jones, trotz seines albernen Namens ein waschechter Bure, lächelte sein bekanntes, halb verkniffenes Lächeln und sagte: »Ich will Ihnen einen kleinen Tipp geben, Sir … Bücher.«
»Sekunde mal«, knurrte Colonel Muller, legte seine Pfeife beiseite und hob die Augen finster vom Schreibtisch. »Das hier ist der CID, stimmts? Das Criminal Investigation Department! Ich habe keine Zeit für irgendwelche dummen Ratespiele!«
»Entschuldigung, Colonel, ich wollte nur …«
»Dann spucken Sies schon aus, Mann! Lassen Sie mich hören, was so wichtig ist, dass Sie es okay finden, hergerannt zu kommen und einfach die Tür aufzureißen, sodass mir das Streichholz abbricht, mit dem ich gerade –«
»Sie ist tot, Colonel – ermordet worden.«
Obwohl er daran gewöhnt war, Meldungen von plötzlichen Todesfällen entgegenzunehmen, brauchte Colonel Muller doch einen längeren Augenblick, um sich auf diese Information einzustellen. Er nützte die Zeit dazu, sich zu fragen, warum Lieutenant Jacob Jones einen so blassen, blutleeren Teint hatte und warum seine Frau ihm auf dem letzten Polizeiball im Rathaus anvertraut hatte, die traurigen Augen und sinnlichen Lippen des Beamten verursachten ihr eine Gänsehaut.
»Ach ja? Wo?«
»Hier in Morningside. Die Meldung ist gerade von einem Streifenwagen eingegangen. Anscheinend haben sie einen Hinweis von Nachbarn bekommen, sind zum Haus gegangen, und da lag sie tot da. Erstochen.«
»Aha«, sagte Colonel Muller, nahm den spitzesten von seinen zwei Dutzend 2B-Bleistiften und schrieb sich den Namen auf einen Notizblock. »Naomi Stride … Aber was hat das mit Büchern zu tun?«
»Sie hat Romane geschrieben – wissen Sie, sie ist eine weltberühmte Schriftstellerin! Teufel auch, wenn das rauskommt, haben Sie die ganze Presse –«
»Oh, nein«, sagte Colonel Muller bestimmt. »Erst wenn ich etwas mitteile. Und außerdem kann sie gar nicht so berühmt sein, wie Sie sagen, denn ich schaue mir immer die Auslagen im Schaufenster des Buchladens an der Straße an, und ich kann mich nicht erinnern –«
»Können Sie auch nicht, Colonel. Ihre Bücher sind alle verboten.«
Die Bleistiftspitze brach ab. »Verboten?«, wiederholte Colonel Muller und starrte den Namen auf seinem Notizblock an. »Gott im Himmel, dann rieche ich förmlich Ärger. Wissen Sie noch, wie es war, als sich dieser saublöde politische Häftling – wie hieß er noch gleich? – in seiner Zelle erhängt hat?«
»Ja, die Auslandspresse hat zu beweisen versucht, dass wir es gemacht hätten, um ihn daran zu hindern, seine –«
»Bitte! Ich brauche keine Erinnerungshilfen!«
»Aber Colonel, Sie haben doch selbst –«
»Ruhe, Jones. Solches Gerede müssen wir im Keim ersticken.«
Colonel Muller sah seine verstopfte Pfeife an, dann zeigte er auf das Päckchen Zigaretten in der Tasche von Jones’ Safarijacke und schnippte mit den Fingern. Nachdem er sich auch Feuer hatte geben lassen, erhob er sich von seinem Schreibtisch und begann, auf dem abgetretenen Stück Teppichboden vor seinem Fenster hin und her zu gehen, ohne die Zigarette auch nur einmal aus dem Mund zu nehmen.
»Lieutenant Kramer«, sagte er. »Wo steckt er?«
Wieder lächelte Jones sein bekanntes, halb verkniffenes Lächeln, sodass es noch mehr aussah, als sauge er etwas Süßes durch einen Strohhalm. »Ich dachte mir schon, dass Sie das wissen wollten, Sir, deshalb habe ich auf dem Weg nach oben mal kurz in sein Zimmer geschaut. Es war nur sein Boy da, halbherzig damit beschäftigt, einen Bericht abzufassen.«
»Und was hat Zondi gesagt?«
»Ach, das übliche dumme Zeug, dem man nicht folgen kann, Sir, und da dachte ich, Sie würden vielleicht mich mit der Sache betrauen, Colonel, wenn Kramer offensichtlich den Tag freigenommen hat, um die Runde bei seinen Miezen zu machen und –«
»Ah, wenn man vom Teufel spricht«, unterbrach ihn Colonel Muller und wandte sich von seinem Spiegelbild im Fenster ab, um dem großen Mann zuzublinzeln, der hinter Jones auf einem weniger abgetretenen Stück Teppichboden stand.
Zehn Minuten später war Kramer startklar für eine Fahrt nach Morningside. Er brauchte nur noch die Schlüssel für seinen Dienstwagen. Auf der stählernen Feuertreppe, die vom CID-Gebäude zum Fahrzeugpark hinunterführte, klimperte etwas, und herunter kam ein aufgeputzter, fescher Zulu mit piekfeinem Anzug und Schlapphut, der die Stufen nahm wie ein Steptänzer. Als er den Asphalt erreichte, machte er eine sanfte Schleife, wirbelte auf dem Absatz herum und verfiel in ein beiläufiges Schlendern, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben.
»Die Welt ist also heute in Ordnung, was, Bantu Detective Sergeant Michael Zondi?«, brummte Kramer.
»Boss, die Welt ist einfach schön!«, erwiderte Zondi, holte die klimpernden Autoschlüssel wieder hervor und klemmte sich hinter das Lenkrad. »Haben Sie gemerkt, was für ein Tag heute ist? Ich hatte es ganz vergessen, und dann habe ich beim Verlassen des Büros den Kalender gesehen. Heute früh ist weit weg in Pretoria ein gewisser Fritz –«
»Himmel, Kaffer, du wirst mir doch nicht mit morbiden Geschichten kommen, he?«
»Wovon ist dieses schwierige Wort ›morbide‹ abgeleitet, Master?«
»Fahr zu«, befahl Kramer.
Und sie lachten beide, als der große Ford bockend vom Parkplatz rollte, herumschleuderte und sich in eine Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos zwängte. Danach sorgte Zondi selber für Lücken, passierte zwei Ampeln bei Rot und hatte seinen Spaß, bis sie die Autobahn zu den Vororten erreicht hatten, wo zu viel Raum da war, der dieser Fahrweise ihren Reiz nahm. Also lehnte er sich zurück und nahm die Lucky Strike, die Kramer ihm angezündet hatte.
»Ja, ich habe auch gemerkt, dass heute der Hinrichtungstag war«, murmelte Kramer. »Ich bin immer noch nicht sicher, ob es richtig war, dass du mich seinerzeit gebremst hast. Ich sage dir, sein Hals fühlte sich gut an zwischen meinen Händen.«
Zondi zuckte die Achseln. »Derselbe Hals, der heute Morgen in Pretoria zugedrückt wurde. Sie haben einen langen Arm, Boss.«
»Du auch. Waren schließlich deine Beweise, die ihm den Rest gaben.«
»Hau, ein paar gefährliche Burschen …«
»Nur allzu wahr, mein Söhnchen.«
Und wieder mussten sie beide lachen.
Der Leichenwagen der Polizei schoss an ihnen vorbei; über dem Steuer hing die massige Gestalt von Sergeant Van Rensburg, die Zunge in gesammelter Konzentration zum Schnurrbart hinaufgebogen.
»Kennen Sie die Frau, die gestorben ist?«
»Ich weiß nur, dass sie eine verbotene Schriftstellerin ist oder so was«, antwortete Kramer. »Der Colonel hat schon Schiss, dass es einen Riesenwirbel gibt.«
»Dann will er sicher jetzt sofort Ergebnisse sehen!«
»So etwa …«
Sie bogen von der Autobahn ab auf den Zubringer nach Morningside. Jedes Haus war anders, jedes Haus legte Zeugnis ab von Geschmack und Geldbeutel des ursprünglichen Besitzers; einige waren groß, einige klein, manche ausgefallen, manche sehr schlicht, aber zweierlei hatten sie alle gemeinsam: einen üppigen tropischen Grüngürtel ringsum und einen deutlichen Anspruch auf die gehobene Mittelklasse. Dadurch war Polizeiarbeit hier schrecklich, denn wenn man zu einem Ehekrach gerufen wurde, drückte sich die Gewalt lediglich verbal aus, die Leute warfen sich intellektuelles Zeug auf Englisch an den Kopf, sodass ein normaler Constable Schwierigkeiten hatte, etwas zu verstehen. Kramer erinnerte sich noch daran, wie ein Kollege einmal seufzend bemerkt hatte: »Ach, gnä’ Frau, wenn Ihr Mann bloß Analfixierungen hat, warum besorgen Sie ihm dann nicht so einen aufblasbaren Gummireifen zum Draufsetzen?«
Zondis Gedächtnis, das er als Schüler einer Missionsschule trainiert hatte, wo es nie genug Schulbücher für alle gab, machte sich bei solchen Gelegenheiten bezahlt. Man zeigte ihm irgendetwas, und sei es einen Plan der komplizierteren Viertel von Trekkersburg, und er prägte es sich für alle Zeiten ein, sodass er immer leicht darauf zurückgreifen konnte. Er legte die Strecke zum Jan-Smuts-Weg zurück, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu vertun, und fuhr durch bis ans obere Ende.
»He, mal langsam«, sagte Kramer. »Da steht eine Frau mit einem alten Mann, der drohend mit dem Golfschläger winkt!«
Zondi bremste bereits ab. Er hielt am Jan-Smuts-Weg 20, und Kramer kurbelte sein Fenster herunter.
»Verzeihen Sie, sind Sie die Polizei?«, fragte die Frau. »Der Major –«
»Ja, gnä’ Frau – und wer sind Sie?«
»Ah, Miss Simson. Ich wohne allein hier in Nummer 20.«
Das hatte er sich schon gedacht. Miss Simsons Unterrock hing unter dem Rocksaum herunter, worauf sie jemand, der ihr auf irgendeine Art verbunden war, garantiert noch vor dem Frühstück aufmerksam gemacht hätte. Er schätzte sie auf etwa 38 Jahre und bemerkte, dass sie ein sehr kleines Kinn hatte. Schade, dass sie ein wenig gebeugt ging und so die Wirkung zweier sehr feiner, fast mädchenhafter Brüste verdarb, und er fragte sich, ob sie wohl ihre Monatsbinden über den Versandhandel bezog.
»Major Hamish MacTaggart im Ruhestand, vom Cameron-Highlanders-Regiment«, meldete sich barsch der untersetzte grauhaarige Krieger neben ihr mit dem Golfschläger im Arm. »Nachbarn. Verflucht schlechte Show.«
Kramer mochte diese alten Irren, die eigentlich längst hätten tot und begraben sein müssen, stattdessen jedoch hartnäckig immer mehr empirerote Flecken in ihrem Winkel der Welt hinterließen, wenn sie sich immer zittriger aus der Portflasche bedienten. »Wieso verflucht schlechte Show, Major?«, fragte er.
»Verdammt, junger Mann, Sie sehen doch selbst, in welchem Zustand diese junge Frau ist, nachdem der grässliche Idiot auf ihrer Schwelle stand! Großer Gott, als sie kam und an meine Tür hämmerte, dachte ich zuerst, es stände wieder ein Aufstand bevor, und sie –«
»Nein, ehrlich, Major, ich bin eigentlich wieder ganz auf dem Posten«, sagte Miss Simson, »aber es war reizend von Ihnen, zu meiner Rettung herbeizueilen.« Dann wandte sie sich an Kramer und sagte: »Ich fürchte, es war der arme indische Briefträger, wissen Sie. Er kam angestürmt, sprang auf meine Veranda und fing ein grauenhaftes Geheul an. Ich konnte kein vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen, bis der Major …«
»Ein Unfall, habe ich mir zusammengereimt – Blut und so etwas«, erklärte Major MacTaggart. »Habe ihn so weit beruhigt, um das zu sondieren, und dann die örtliche Polizeistation angerufen. Haben Sie eine Ahnung, was mit der armen Frau passiert ist?«
Kramer wechselte einen Blick mit Zondi, ehe er antwortete: »Wir sind noch nicht sicher. Aber mal sehen, ob ich richtig verstanden habe – der Briefträger war derjenige, der Alarm geschlagen hat?«
»Richtig.«
»Und was genau hat er gesehen?«
»Keine Ahnung. Der Mann redet nur dummes Zeug …«
»Er ist offensichtlich total verstört«, sagte Miss Simson, »und wir meinen, dass etwas mit ihm geschehen müsste, falls Sie verstehen, was ich meine. All die übrigen Polizisten, die wir gesehen haben, sind einfach nur vorbeigesaust.«
Kramer schüttelte müde den Kopf über so viel jugendlichen Übermut der uniformierten Abteilung; seit der Einführung des Fernsehens Mitte der Siebzigerjahre war es immer schlimmer geworden. »Und Sie sagen, dieser Zeuge sitzt immer noch drüben auf Ihrer Veranda?«
»Ja, er kauert in einer Ecke.«
»Und was macht er da?«
»Er murmelt unentwegt etwas vor sich hin.«
»Lauter dummes Zeug«, sagte Major MacTaggart.
»Okay, gut. Ich lasse meinen Sergeant hier«, sagte Kramer und setzte sich hinter das Lenkrad, nachdem Zondi vom Fahrersitz gerutscht war. »Du lässt ihn eine kurze Aussage machen, und dann triffst du mich –«
»Ich hoffe doch«, schnitt ihm Major MacTaggart das Wort ab, »dass Sie ihn so schnell wie möglich abtransportieren lassen! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was er sagt, auch nur im Mindesten –«
»Das zu entscheiden, überlasse ich meinem Sergeant, ja?«, sagte Kramer, legte den Gang ein und löste die Handbremse.
»Ha«, schnaubte Major MacTaggart und maß Zondi mit einem scharfen Blick. »Dann nehme ich mal an, dass dieses Bürschchen ein außerordentlich lebhaftes Interesse an Eiern hat.«
»An Eiern?«
»Hühnereiern«, erklärte Miss Simson. »Der arme Mr Pillay scheint davon wie besessen zu sein.«
Zwei Polizeifahrzeuge, ein Landrover und der Mercedes Benz des Kreisarztes, standen unordentlich auf dem runden Schotterplatz vor einem Haus im spanischen Stil am Ende der langen Einfahrt. Palmen fügten sich harmonisch ins Bild der geschwungenen roten Ziegel des niedrigen Daches, und Bougainvilleen nickten herüber wie Girlanden aus rosarotem Seidenpapier an einem Festtag. Für eine schöne Señorita, die etwas Hübsches im Haar tragen wollte, gab es Hibiskus und Azaleenblüten und für die toten Hände der Frau drinnen weiße Gartenlilien.
Kramer drückte die Autotür mit den Knien zu und stieg die Stufen der offenen Veranda hinauf. Die Haustür stand weit auf, und so betrat er die große Eingangshalle, zögerte dann einen Augenblick und ging schließlich weiter und einen breiten Korridor entlang. Das Komische an diesem Korridor war, dass die fröhlich bunten Läufer nicht etwa auf den blanken schwarzen Bodenfliesen lagen, sondern unklugerweise an den Wänden aufgehängt waren.
Zwei junge Constables standen vor der letzten Tür zur Rechten. Sie blickten in seine Richtung, sahen, wer da kam, und standen sofort stramm, wobei sie ihre Zigaretten in der hohlen Hand verbargen.
»Rühren«, sagte Kramer. »Ist schließlich nicht euer Arsch, in den ich treten will. Wer führt hier den Befehl?«
»Was gibts?«, fragte jemand mit hoher Stimme, und dann trat ein Orang-Utan in der Uniform eines Vollzugsbeamten mit rötlichem Bürstenschnitt aus der Tür hinter ihnen.
»Himmel«, sagte Kramer. »Ich hatte es ja geahnt … Wie gehts, Jaap?«
Und Jaap du Preez grinste ihn gutmütig an, wobei er mehr Zahnfleisch als Zähne zeigte in einem Mund, der so groß wie ein Kochtopf war. »Fantastisch, Sir. Alles unter Kontrolle. Warum sollte ich also einen Tritt in den Hintern bekommen?«
»Ach, ich habs mir anders überlegt«, sagte Kramer. »Ich will schließlich keinen Dachschaden verursachen.«
»Wie bitte, Sir?«
Daraufhin machte Kramer Jaap du Preez mit kurzen Worten und einfachen Sätzen den schwerwiegenden Fauxpas klar, einen Hauptzeugen unbeaufsichtigt bei Miss Simson zu lassen, und Jaap du Preez versprach, die zwei Constables zusammenzustauchen, weil sie versäumt hatten, den Postboten ihm gegenüber zu erwähnen; und die Constables protestierten und behaupteten, in der Meldung, die sie von der Streife erhalten hätten, sei keine Rede von einem Postboten gewesen, nur davon, dass die Hausherrin von Woodhollow in Schwierigkeiten sei.
»Dann lassen Sie sich das eine Lektion sein«, sagte Jaap du Preez und stauchte sie trotzdem fröhlich zusammen. »Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen, Lieutenant!«
Sie gingen durch die Tür, durch ein Zimmer mit Bücherregalen rings an den Wänden und in den angrenzenden Raum, der auf einer Seite eine große Schiebetür aus Glas hatte. Das Erste, was Kramer ins Auge fiel, waren eine Posttasche, die mitten auf dem Fußboden lag, und draußen vor der etwas offen stehenden Glastür ein Paar schwarze Stiefel.
»Warum sind Sie barfuß?«, fragte Zondi Ramjut Pillay zum zigsten Mal.
Aber der Briefträger reagierte selbst auf die einfachsten Fragen nicht. In einer eigenen Welt verloren, plapperte er ständig etwas von Eiern vor sich hin.
»Was war los in dem Haus?«, fragte Zondi weiter. »Was haben Sie dort gesehen?«
»Wahrscheinlich einen Geist«, flüsterte Miss Simson, eingeschüchtert durch den leeren Blick des Postboten, dessen Augen von der verschmierten Drahtgestellbrille riesig vergrößert wurden.
»Höchste Zeit, den hirnlosen Kerl zur Besinnung zu bringen«, brummte Major Hamish MacTaggart und schwang schon einmal probehalber seinen Golfschläger. »Geben Sie ihm einen ordentlichen Klaps hinter die Ohren, Sergeant – das wirkt manchmal Wunder bei diesen Typen. Ich erinnere mich an einen indischen Wäscheboy, der die verdammte Unverschämtheit besessen hat, ausgerechnet mir mit einer dreisten Frechheit zu kommen – keineswegs eine Bagatelle, sondern es ging um Betelnussflecken auf einem Festtagskilt –, und ich –«
»O nein, bitte keine Gewaltanwendung!«, flehte Miss Simson und griff sich mit der Hand an die Kehle. »Das würde ich einfach nicht zulassen!«
Trotzdem blitzten ihre Augen dabei auf, wie Zondi bemerkte.
»Sie könnten ihn wenigstens ein bisschen piksen«, schlug Major MacTaggart vor und hielt ihm seinen Golfschläger hin. »Immerhin haben Sie es hier mit einem ausgemachten Idioten zu tun, selbst beim besten Willen. Gott allein weiß, wie er die Stelle bekommen hat – es übersteigt jedes Vorstellungsvermögen.«
Ramjut Pillay wandte sich zu dem alten Herrn um und starrte ihn entrüstet an. Dann fuhr er mit der Hand in die Uniformjacke, zog eine schäbige, ausgebeulte Brieftasche hervor und nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das er auf den Verandaboden knallte.
Zondi faltete es auf und las:
Lieber Student,
mit Bedauern nehme ich zur Kenntnis, dass Sie erneut eine gewünschte Stelle nicht erhalten haben, obwohl Sie das entsprechende Diplom mit Auszeichnung erworben haben. Lassen Sie sich nicht entmutigen! HÖREN SIE NICHT auf jene, die, wie Sie in Ihrem letzten Schreiben berichteten, behaupten, Ihr Diplom sei das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. (Sie würden gleich wissen, was für ein Unfug das ist, wenn Sie die Rechnung für meinen Drucker sähen, das können Sie mir glauben!) Halten Sie durch, mein Freund, halten Sie durch, und denken Sie immer daran, dass die Straße nach Rom auch nicht an einem Tag erbaut wurde. Dabei fällt mir ein, dass aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels inzwischen auch nicht Weiße asiatischer Abstammung eine einträgliche Anstellung im Postdienst erhalten können – haben Sie das mitbekommen? Ich würde einen Mann Ihrer Begabung und Befähigung ohne Zögern für einen solchen Posten empfehlen und Ihnen diesbezüglich gern ein Empfehlungsschreiben ausstellen, falls erforderlich (legen Sie Ihrem nächsten Brief bitte das Rückporto bei).
HochachtungsvollDirektor Dr. Gideon de Bruin, Doktor der Theologie(Alabama),B. A. Hons. (Universität von Südafrika),AFRPS Easiway-Ferncollege
PS: Beiliegend finden Sie das neueste Angebot an zusätzlichen Kursen, zurzeit 20 % ermäßigt für alle brillanten Studenten wie Sie. Ich glaube übrigens, dass Steuerrecht (Teil I) und /oder Küstenschifffahrt durchaus Ihrer Auffassungsgabe entspricht.
Zondi faltete den Brief wieder zusammen, dann gab er Major MacTaggart höflich zu verstehen, dass er ihn gern unter vier Augen sprechen würde, falls irgend möglich.
Sie gingen ans andere Ende der Veranda.
»Sir, ich würde es gern so machen, wie Sie vorgeschlagen haben«, flüsterte Zondi in sehr respektvollem Ton. »Was dieser verdammte Kuli braucht, ist eine gute Tracht – vielleicht ein paar Faustschläge.«
»Dachte mir schon, dass Sie darauf kommen würden. Nur zu, Sergeant, tun Sies! War nicht unbedingt nötig zu fragen, nicht, wenn einer nur seine Pflicht tut.«
»Aber … äh, na ja, die junge Madam, Sir …«
»Ah«, sagte Major MacTaggart. »Knifflig.«
»Es sei denn, Sir, Sie könnten die junge Madam mit ins Haus nehmen – vielleicht auf die Veranda? Für ein paar Minuten?«
»Aha«, sagte Major MacTaggart, »ein Wink genügt, was?«
Ohne recht zu wissen, was er damit meinte, war Zondi erleichtert, als Miss Simson einen Augenblick später unter etlichen sprechenden Blicken zu ihm hinüber von ihm weggelotst wurde, sodass er den Postboten ungehindert verhören konnte, wie er es für richtig hielt.
»Nun denn«, sagte er und gab Ramjut Pillay den Brief zurück. »Wen nannte der alte Narr eigentlich einen Idioten? Jeder kann doch hieraus sehen, dass Sie wirklich ein gebildeter Mann sind – und wir Polizeibeamte haben selten Gelegenheit, mit einem solchen Gelehrten zu sprechen, das ist eine große Ehre für mich.«
»Tatsächlich?«, sagte Ramjut Pillay, setzte sich aufrecht hin und putzte seine Brille.
Die Leiche liegt ganz natürlich da, dachte Kramer. Oft waren die Glieder hässlich verdreht, war ein Arm abartig verbogen oder ein Bein untergeschlagen, aber hier sah es nur nach Ruhe und Erholung aus.
»Ich denke, sie lag schon so da, als es passierte«, meinte Dr. Christiaan Strydom, der etwas klein geratene Kreisarzt, und kratzte sich hinten an seinem grauen Haarschopf. »Aber fragen Sie mich nicht, warum sie dabei nackt war.«
»Ach, muss ich wohl auch gar nicht«, sagte Kramer. »Dort liegen ihre Kleider und gleich hier neben der Couch ihr nasser Badeanzug. Ich vermute, dass sie das Teil gerade ausgezogen hatte und dann nur ein bisschen ausruhen wollte, ein paar Minuten lang wieder zu Atem kommen nach zwanzig Runden – und dann zack.« Er machte eine Bewegung, als steche er zu.
»Hm«, brummte Strydom, untersuchte ihre Seite noch gründlicher und veränderte den Winkel seiner kleinen Stablampe. »Ja, das würde den Fakten entsprechen, soweit wir sie erkennen, aber wieso ist sie um ein Uhr nachts geschwommen? Sie haben ja gesehen, welche Körpertemperatur sie hatte – sie kann nicht früher gestorben sein.«
»Sie war doch Schriftstellerin, nicht wahr? Vielleicht hat sie gern nachts gearbeitet und wollte sich mit Schwimmen nur ein bisschen erfrischen. Wie ich gesehen habe, steckt noch eine Seite in ihrer Schreibmaschine im Nachbarzimmer, sie wollte also vielleicht weiterarbeiten.«
»Und wenn sie nun so von Hausangestellten gesehen worden wäre?«
»Nachts um eins rechnet doch niemand mit Hausangestellten, oder? Außerdem scheint kein Personal auf dem Gelände gewesen zu sein. Aber das überprüfen die Beamten gerade.«
»Sie sprudeln ja nur so über vor Vermutungen, Tromp«, knurrte Strydom und nahm sein Vergrößerungsglas zur Hand. »Dann raten Sie mal, womit sie erstochen wurde.«
Aber Kramer blieb vorerst, wo er war, ein paar Meter weit weg in der Nähe der Schiebetür. Das war seine letzte Gelegenheit, Naomi Stride noch halbwegs menschlich zu sehen, und er wollte sich ein Bild von ihr machen, eine persönliche Vorstellung, an die er sich halten konnte, wenn er nur noch aus zweiter Hand etwas über sie erfuhr.
Sie war das, was die dralle Witwe Fourie als zierlich bezeichnen würde, höchstens 1,55 groß und wahrscheinlich genauso leicht wie ein normaler gut gefüllter Golfbeutel. Die Witwe Fourie bediente sich gern des Vergleichs mit dem Golfbeutel, was dem irrationalen, kaum verhüllten Neid entsprach, den eine solche Frau bei ihr erregte. Was Naomi Strides Figur betraf, war sie nicht schlecht für eine Frau in mittleren Jahren, sofern man der Tatsache Rechnung trug, dass der Bauch durch den Tod schon ein wenig aufgetrieben war, da es am Tag gut über dreißig Grad heiß war. Vielleicht waren auch die Schenkel etwas praller als vorher, doch der Polstereffekt, den der Bereich um das dunkle Dreieck herum dadurch hatte, war ohne Zweifel attraktiv; ihre Brüste waren jedenfalls erstaunlich jugendlich, was die Vermutung nahelegte, dass sie, falls sie Kinder hatte, diese sicher mit der Flasche ernährt hatte. Es war ein Jammer, dass das Blut, das aus dem Loch in ihrer oberen linken Körperseite geströmt war, über ihre Brustwarzen geflossen und wie aus unwillkürlicher posthumer Schamhaftigkeit darüber geronnen war. Trotzdem war noch ein wenig von dem raueren Warzenhof auf beiden Seiten erkennbar, ein sauberer Kreis von der Größe eines Cents, der die Illusion von Jugendlichkeit verstärkte. Ihr herzförmiges Gesicht hatte ebenfalls etwas Unschuldiges, war jedoch überraschenderweise völlig ohne Lachfalten. Ein solcher Mund, klein und vollkommen geformt, um leichte, liebevoll belustigte Küsse zu verteilen, hätte von einem Kranz feiner Fältchen umgeben sein müssen; auch die leuchtend blauen Augen unter der hohen Stirn hatten keine Krähenfüße in den Winkeln, die bestätigt hätten, dass sie das Leben oft von seiner heiteren Seite betrachtet hatte.
Dann drängten sich zu viele Details auf. Die Fliege, die in dem klebrigen Blut an der unteren Brust festsaß, eine andere, die sich in ihrem Schamhaar verfangen hatte, wo das Blut versickert war, und am unangenehmsten war, dass an ihrem linken kleinen Zeh ohne ersichtlichen Grund der Nagel fehlte – eine jüngere Verletzung, die im Heilen begriffen war. Kramer kniff die Augen zusammen und schaute sich den Körper so noch einmal an, diesmal nur in der Absicht, einen Gesamteindruck zu bekommen.
Was er dabei sah, brachte ihn zum Lächeln, denn die Blässe ihrer Haut, ihr tiefschwarzes Haar und der rote Lippenstift machten aus ihr ein gewagtes Ebenbild von Walt Disneys Schneewittchen, bei dem unverkennbar gerade einer der sieben Zwerge Dienst tat.
»Was ist denn so komisch?«, wollte Strydom wissen.
»Nichts, Doc! Aber ich habe wohl recht mit meiner Behauptung, dass die Lady ihren Swimmingpool nachts benutzt hat. Sehen Sie, wie blass sie ist? Wo ist die Sonnenbräune, wenn sie normalerweise tagsüber rausgegangen wäre?«
»Ah ja, das hilft weiter – jeder ihrer Freunde könnte Ihnen das wahrscheinlich sagen«, sagte Strydom. »Was ich aber immer noch wissen möchte, ist, wie sie erstochen wurde.«
Kramer nahm ihm das Vergrößerungsglas ab und bückte sich tief über die Wunde.
»Ja, jetzt sehe ich, was Sie meinen … das Loch hat eine merkwürdige Form, nicht wahr? Wieso eigentlich ein Stich? Woran sehen Sie, dass es sich nicht um eine dicke Kugel handelte?«
»An der Art und Weise, wie die Haut verschoben und eingedrückt ist. Außerdem sind keine Brandspuren da. Was immer eingedrungen sein mag, heiß war es jedenfalls nicht.«
»Hm, klingt logisch.«
»Ich muss sie wohl in die Leichenhalle bringen und einen Schnitt hier mittendurch machen, dann weiß ich mehr.«
»Und wann wäre das?«
»Sobald die Spurensicherung eingetroffen ist und Aufnahmen gemacht hat, würde ich sagen. Um die Sache zu beschleunigen, habe ich ihren Hausarzt herbestellt, der sie identifizieren wird.«
»Können wir einen Zeitpunkt ausmachen, damit ich da sein kann?«
»Sagen wir doch zwei Uhr, Tromp«, sagte Strydom nach einem Blick auf seine Uhr. »Dabei fällt mir ein: Wo ist eigentlich der verdammte Idiot Van Rensburg mit dem Leichenwagen geblieben? Sie haben ihn nicht direkt auf dem Weg hierher überholt, oder?«
»Nicht direkt«, sagte Kramer.
Allmählich stellte sich die übliche Partyatmosphäre ein, je mehr Polizeiwagen in die Einfahrt einbogen und Männer ausspuckten, die nervös Witze machten und laut lachten. Viele waren hinbestellt worden, um Aufgaben zu erfüllen, die sie zu Spezialisten an einem Tatort machten. Die meisten anderen waren ungebetene Gäste, uniformierte Streifenpolizisten aus benachbarten Revieren, die durch die aufgeregten Funksprüche neugierig geworden waren. Die Neuankömmlinge drängten sich auf der Terrasse und warfen verstohlene Blicke durch die Glasschiebetür auf ihre Gastgeberin am heutigen Nachmittag, die jetzt ein rosa Laken aus dem belüfteten Wäscheschrank trug.
Als Dr. Strydom mit kurzem Nicken zu Jaap du Preez hinüber das Haus verließ, wurden zwei Spurensicherungsexperten eingelassen. Einer machte sich sofort daran, mit Staubpuder und Marderhaarpinsel Zaubertricks zu vollführen und verborgene Fingerabdrücke aus dem Nichts in Erscheinung zu bringen, während sein Partner das Laken zurückschlug und anfing, Aufnahmen zu machen, wobei er mit derselben Hochachtung wie ein Gesellschaftsfotograf um sein Objekt herumstolzierte.
Das Gemurmel auf der Terrasse wurde zum Cocktail-Small-Talk, es fielen einige recht unanständige Bemerkungen über die hingestreckte Gestalt, und dann schauten sich alle um, abgelenkt von jähem Lärm. Den machte ein Polizeihund, der mit Gespür für die herrschende Stimmung beschlossen hatte, im Swimmingpool baden zu gehen, und dabei unabsichtlich seinen Herrn, der auf Zehenspitzen gestanden hatte, aus dem Gleichgewicht geworfen und mit sich ins Wasser gezogen hatte. Das brachte den beiden, die wie wild paddelten, einige begeisterte Anfeuerungsrufe ein, während ein athletischer Sergeant auf das Sprungbrett turnte und Anweisungen hinunterbrüllte, wobei er beinahe selbst ins Wasser fiel. Noch mehr begeisterte Zurufe, und als sich dann alle wieder umdrehten, lag das Laken wieder an Ort und Stelle, und Sergeant Van Rensburg, der fast aussah wie ein dicker fetter Butler, brachte gerade seine Bahre herein.
An diesem Punkt tat Kramer, der nie viel Zeit an Partys verschwendet hatte, das, was er in solchen Fällen immer machte: Er verzog sich in ein ruhiges Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Das Zimmer, das er sich dazu ausgewählt hatte, war das mit der Schreibmaschine und Büchern in Regalen rings an allen Wänden bis oben zur Balkendecke. Er setzte sich in den großen Drehsessel am Schreibtisch, zündete sich eine Lucky Strike an, stopfte das gebrauchte Streichholz in seine Brusttasche und lehnte sich zurück, um den Augenblick hinauszuschieben, in dem er nachschauen würde, welches die letzten Worte von Naomi Stride gewesen waren. Er hatte so ein Gefühl, als würden sie eine Enttäuschung sein.
Nicht, dass Kramer hochgesteckte literarische Erwartungen an die Frau gestellt hätte, und noch weniger hatte er je etwas von ihr gelesen, da ihn die stark abgegriffene Sammlung verbotener Werke in den Diensträumen des Sittendezernats nicht interessierte. Es war nur, dass ihn die Arbeit im Raub- und Morddezernat, wenn überhaupt etwas, dann die traurige Wahrheit gelehrt hatte, dass die meisten Menschen starben, wenn sie am wenigsten darauf vorbereitet waren, und höchst selten stilvoll. Das Höchste, worauf er hoffen konnte, war, dass sie gerade getippt hatte: »Und dann …«
Stattdessen wandte er seine Aufmerksamkeit dem Raum und seinen Einrichtungsgegenständen zu. Ein seltsames Durcheinander, das ihn an etwas erinnerte. Er ließ seinen Kopf leer werden und konzentrierte sich nur noch auf das Glimmen seiner Zigarette. Und dann hatte ers: Boy Joshuas Schubkarre.
Boy Joshua war eine der bekanntesten Figuren in Kwela Village, der ausgedehnten schwarzen Township mit ihren völlig identischen Zwei-Zimmer-Hohlblocksteinhäuschen, in der Zondi mit seiner Familie lange gelebt hatte. Ohne Ausnahme sah man Boy Joshua jeden Tag diese mit Stoff ausgeschlagene Schubkarre herumschieben, mit der er als Opfer einer tropischen Krankheit, die die Hoden zu monströser Größe anschwellen lässt, seine Eier abstützte. Die Leute staunten über deren Größe, und selbst diejenigen, die an den Anblick gewöhnt waren, versäumten selten, Boy Joshua eine gewisse Verehrung entgegenzubringen, was er – wie auch seine drei Frauen – sehr genoss. Einmal hatte ein weißer Arzt, der in der Tuberkuloseklinik der Township tätig war, Boy Joshua rufen lassen und ihm versprochen, ihn sozusagen über Nacht von seinem auffälligen Leiden zu befreien, da es eine sehr einfache Heilmethode dafür gäbe. Augenzeugenberichten zufolge hatte Boy Joshua die Klinik sehr schnell verlassen und seine Schubkarre ganz den Berg hinaufgeschoben, ohne einmal anzuhalten, was für sich genommen schon eine Heldentat war, die ihm weitere Berühmtheit eintrug. Man brauchte die Karre nur zu sehen, um das beträchtliche Gewicht zu ermessen, selbst wenn sie leer war. Boy Joshua hatte sie seit Jahren geschmückt, er hatte aus Kleiderbügeln und anderen kurzen Drahtstücken einen hohen Bogen gebastelt, am vorderen Karrenende angebracht und daran allen Krimskrams befestigt, der ihm irgendwo begegnet war. Zu den relativ leicht erkennbaren Dingen gehörten alte Zündkerzen, Schlüssel, Zahnräder, verbrauchte Kugelschreiber, Spiegelscherben, zerbrochene Kämme, Radmuttern, verchromte Tankdeckel, Glühbirnen, Kupferrohrstöcke, Getränkedosen, Wegwerffeuerzeuge, Kolbenringe und bunte Elektronikschaltungen.