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Kehre deiner Vergangenheit nicht den Rücken zu Liv Jensen bekommt einen neuen Fall auf den Tisch: Ein iranisch-dänischer Mann wurde mit aufgeschnittener Kehle auf der Insel Vorsø gefunden. Von seinen beiden jugendlichen Kindern, mit denen er dort zelten war, fehlt jede Spur. Falls sie den Täter gesehen haben, schweben sie in höchster Gefahr. Livs Ermittlungen führen sie allerdings zunächst in eine ganz unerwartete Richtung: Sie stößt auf einen jungen Flüchtling und ein Verbrechen, das 30 Jahre zuvor im Auffanglager Sandholm begangen und bis heute nicht aufgeklärt wurde. Was Liv nicht ahnt: Shirin, die Tochter des Ermordeten, ist ganz in ihrer Nähe. Sie hat Zuflucht bei Nima Ansari gefunden, einem Freund der Familie, der vor vielen Jahren aus dem Iran floh und heute Livs Nachbar ist.
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Aus dem Dänischen von Hanne Hammer
© Katrine Engberg, 2023
Titel der dänischen Originalausgabe: »De Hvide Nætter« bei Alpha Forlag, Kopenhagen 2023
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Published in agreement with Salomonsson Agency
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Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Covermotiv: Silas Manhood / Trevillion Images
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Cover & Impressum
Widmung
PROLOG
Vorsø, Sonntag, 7. Mai
MONTAG, 8. MAI
KAPITEL 1
Erstaufnahmelager Sandholm, September 1990
KAPITEL 2
KAPITEL 3
Erstaufnahmelager Sandholm, Oktober 1990
KAPITEL 4
DIENSTAG, 9. MAI
KAPITEL 5
KAPITEL 6
Erstaufnahmelager Sandholm, November 1990
KAPITEL 7
KAPITEL 8
Erstaufnahmelager Sandholm, Dezember 1990
MITTWOCH, 10. MAI
KAPITEL 9
KAPITEL 10
Erstaufnahmelager Sandholm, Januar 1991
KAPITEL 11
KAPITEL 12
DONNERSTAG, 11. MAI
KAPITEL 13
KAPITEL 14
Erstaufnahmelager Sandholm, Februar 1991
KAPITEL 15
KAPITEL 16
Erstaufnahmelager Sandholm, März 1991
FREITAG, 12. MAI
KAPITEL 17
KAPITEL 18
Erstaufnahmelager Sandholm, April 1991
KAPITEL 19
KAPITEL 20
SAMSTAG, 13. MAI
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
Wohnung Rønnebærhus, Slagelse, Oktober 1991
SONNTAG, 14. MAI
KAPITEL 24
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Sara, Lebenszeugin und unentbehrliche Freundin
Die Zeltplane flattert im Wind, das Geräusch zerrt Shirin langsam und unerbittlich aus dem Schlaf, obwohl sie sich auf die andere Seite dreht und die Augen zukneift. Die Morgensonne färbt die Zeltwand hellblau, und die Luft ist so feucht, dass Kondenswasserperlen an der Innenseite hängen. Hin und wieder tropft es ihr auf die Wange. Der Schlafsack neben ihr ist leer, Cyrus muss schon aufgestanden sein. Die ganze Nacht hat sie sein Schnarchen gehört, langsam sind sie zu alt, um so eng unter einem Dach zu schlafen.
Sie stützt sich auf den Ellenbogen. Es muss noch früh sein, wenn ihr Vater sie noch nicht geweckt hat. Angeln muss man im Morgengrauen, hat er gestern Abend mehrfach gesagt und noch ein Stück Holz ins Feuer gelegt. Vielleicht ist er weg, denkt Shirin und zieht ihren Schlafsack auf. Hat sich im Lauf der Nacht aufgelöst, ist schließlich verdampft und zu Partikeln geworden. Weg.
Die Gummistiefel haben die Nacht über vor dem Zelt gestanden und sind feucht vom Tau. Sie schlüpft hinein, und die klamme Innenseite widert sie genauso an, wie es sie anwidert, hier zu sein. Allein mit ihrem Bruder und ihrem Vater auf einer einsamen Insel in einem jütländischen Fjord, mit keiner anderen Ablenkung als den Mücken und dem Wind in den Baumkronen. Das Handy im Rucksack hat fast keinen Strom mehr, aber das ist auch egal, denn hier gibt es weder ein Netz noch Internet. Nur nassen Sand, Steine und blauschwarze Bäume.
Shirin streckt sich und denkt an ein lauwarmes Brötchen mit Butter, an eine warme Dusche und was ihre Freundinnen wohl so machen. Sie geht zum Ufer, kauert sich hin, vorsichtig, um nicht auf den runden Steinen auszurutschen. Taucht die Arme in das eiskalte Wasser und spült die Nacht von der Haut, formt mit den Händen eine Schale und hebt sie zum Gesicht. Sie schaudert und schüttelt sich, wiederholt das Manöver aber immer wieder, bis sie ganz sauber ist. So sauber, wie sie hier werden kann.
Das an Land gezogene Kanu liegt neben ihr auf der Seite. Es ist schwer und ramponiert. Shirin spürt ihr Herz in der Brust schlagen. Warum ist sie allein, wo ist Cyrus?
Der Wind trocknet sie langsam, die Wangen werden kalt, und es kribbelt in den Fingern. Sie steht auf und sieht zu dem anderen Zelt hin. Es ist zu, und die Stiefel stehen davor, fein säuberlich auf der einen Seite, sodass die Schuhspitzen auf das Wasser und zu den Fischen hin zeigen, die sich darin verstecken.
Shirin nähert sich langsam und ruft vorsichtig: »Vater, bist du wach?«
Keine Antwort.
Sie geht zum Ufer zurück und sammelt eine Handvoll Steine, wirft einen nach dem anderen planlos ins Wasser und horcht, welcher am lautesten aufschlägt. Es kommt nicht so sehr auf die Größe an wie auf den Bogen, den man wirft. Auf die Absicht. Sie wirft noch einmal, fester diesmal, und über Kopf, und wird mit ein paar lauten Aufschlägen belohnt. Sie trocknet sich die Hände an ihrem Pullover ab und geht zurück zum Zelt ihres Vaters.
»Vater! Wollten wir nicht angeln gehen?«
Sie beugt sich hinunter und zieht den Reißverschluss auf. Eine Wolke feuchter Wärme schlägt ihr entgegen, gemischt mit dem Geruch nach Whisky und stinkigen Socken. Sie weicht zurück und holt tief Luft, bevor sie den Kopf hineinsteckt.
Er liegt im Schlafsack, halb auf der Seite, den einen Arm wie ein Kissen unter dem Ohr gefaltet. So schläft er immer. Still und auf der Hut, den Mund leicht geöffnet, jederzeit bereit zu schimpfen.
Shirin beugt sich in das blaue Licht im Zelt und sieht ihren Vater an. Ein dunkler Fleck unter seinem Gesicht färbt die Isomatte braun. Der Hals ist eine klaffende Wunde, die Haut rot. Wie ein Tier in einer Falle, denkt sie.
Und sie weiß es. Der Traum ist Wirklichkeit geworden. Er ist weg.
Das Stethoskop brannte kühl auf der Haut. Liv Jensen folgte den Anweisungen der Ärztin und atmete tief ein, etwas zu schnell hintereinander. Ihr wurde leicht schwindelig. Die Ärztin gab etwas in den PC ein, holte ein Blutdruckmessgerät heraus und legte es um Livs Oberarm. Die Manschette blies sich auf und kniff in die zarte Haut auf der Arminnenseite. Liv lehnte sich zurück und versuchte zu entspannen. Das Arztzimmer war altmodisch mit einer hohen Decke und einem abgenutzten Linoleumboden. Ein Geruch nach Staub und Feuchtigkeit hing im Raum, den die strengen Putzmittel, die in der Ecke hinter der Tür standen, nicht hatten vertreiben können.
»Keine anderen Symptome? Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen, ein empfindlicher Magen?« Die Ärztin senkte das Kinn, bis sich waagerechte Falten auf ihrer Stirn bildeten, die bis zu der grau gesprenkelten Haargrenze reichten.
Liv schüttelte den Kopf. »Nur Fieber, zwei- bis viermal die Woche über ein paar Stunden und nur um die achtunddreißig Grad. Aber genug, dass ich mich unwohl fühle.«
»Wie lange geht das schon so?«
Liv versuchte sich zu erinnern. In den Weihnachtsferien war noch alles okay gewesen, oder? Aber Moment mal, in den Tagen vor Neujahr hatte sie sich unpässlich gefühlt. Da hatte sie nur noch nicht gewusst, dass das keine einmalige Sache war, und hatte es als Erkältung abgetan.
»Ein paar Monate, vielleicht ein halbes Jahr.«
»Nehmen Sie Medikamente? Nahrungsergänzungsmittel?«
»Nein.«
Die Ärztin gab etwas in den PC ein und sprach über das Klappern der Tastatur hinweg. »Legen Sie sich mal auf die Liege und machen Sie die Hose auf, dann sehe ich mir Ihren Bauch an.«
Liv stand auf und wartete, bis die Ärztin Papier auf die Liege gelegt hatte, dann setzte sie sich auf die Kante und legte sich hin. An der Decke über ihr hatte jemand eine Lampe angebracht und wieder entfernt. Ein Metallhaken steckte noch im grauen Putz. Sie richtete den Blick darauf, knöpfte die Hose auf und ließ die Ärztin ihre Arbeit tun. Während ihre kühlen Finger Livs Bauch abtasteten, starrte sie den Haken an und fragte sich, was für eine Lampe dort wohl gehangen und warum man sie entfernt hatte. Erst als das Gesicht der Ärztin in ihrem Blickfeld auftauchte und sie sich räusperte, wurde Liv klar, dass sie auf irgendetwas antworten sollte.
»Entschuldigung, ich habe die Frage nicht gehört.«
»Wie verhüten Sie?«
»Gar nicht.« Liv widerstand dem Impuls, das weiter auszuführen.
»Okay. Es sieht alles gut aus. Sie können sich wieder anziehen.«
Liv knöpfte schnell ihre Hose zu und setzte sich auf. Die Ärztin legte ein Formular vor sie hin, auf das sie diverse Zahlencodes in Rot eingetragen und eine Reihe Aufkleber mit Strichcodes geklebt hatte.
»Fieber ist in der Regel harmlos und verschwindet von selbst wieder, aber es kann auch ein Marker sein.« Sie machte eine kleine Pause und ließ die für sich selbst sprechen. »Deshalb denke ich, dass ich Ihnen heute Blut abnehmen werde, um eine Reihe von Krankheiten ausschließen und hoffentlich einkreisen zu können, was Ihnen fehlt. Leber- und Nierenwerte, Entzündungswerte, HIV-Test und so weiter. Meine Mitarbeiterin macht das gleich im Nebenzimmer. Ich schicke Ihnen die Ergebnisse am Donnerstag nach zwölf auf dem Gesundheitsportal, da werden wir die meisten Werte haben.«
Die Ärztin gab ihr die Hand. Liv nahm das Formular mit zu der Mitarbeiterin und ließ sich acht Reagenzgläser Blut abnehmen, bevor sie mit einem Pflaster über einem Wattepad am Arm die Treppe hinunter auf die Vesterbrogade flüchten konnte. Der Verkehrslärm schnitt ihr in die Ohren. Ein Marker. Sie wusste genau, was die Ärztin meinte. Krebs. Es hilft nicht wirklich, viel Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren, der Krebs schlägt willkürlich zu, und niemand kann sich vor ihm schützen. Nur hoffen und beten. Ihr Großvater war der gesündeste Mensch gewesen, den sie gekannt hatte, bis er Bauchspeicheldrüsenkrebs bekam. Danach ging es sehr schnell.
Sie steuerte die JuiceBar an, die neben der Praxis der Ärztin lag. Einer der Nebeneffekte des Fiebers war, dass sie keinen Appetit hatte, und wenn sie wie heute früh ihr Müsli nicht hinunterbekam, war nicht viel mit ihr anzufangen. In einer Stunde musste sie nach Hellerup zu einer Kundin, die ihren Ehemann der Untreue verdächtigte, um den entscheidenden Beweis abzuliefern. Es war das erste Mal, dass ihr kleines Büro so einen Auftrag erhalten hatte. Anders, als viele glaubten, verbrachten Privatdetektive ihre Zeit nur selten damit, in den privaten Angelegenheiten ihrer Kunden herumzuschnüffeln. In den allermeisten Fällen hatte Liv mit Versicherungsschwindel und dem Bruch von Konkurrenzklauseln zu tun, sie konnte es sich nicht leisten, sich für etwas zu fein zu sein. Nicht angesichts ihrer aktuellen Finanzlage. Außerdem war es die eigene Entscheidung der Kunden, Geld für Beweise auszugeben, statt dass sie einfach miteinander redeten. Nichts ist hässlicher als eine Liebe, die sich selbst überlebt hat und zu Verachtung wird.
Sie war an der Reihe. Sie bestellte einen Proteinshake und einen Muffin, ohne auf den Preis zu achten, und trat beiseite, um auf ihre Bestellung zu warten. Meistens betrachtete sie sich als recht zufrieden mit ihrem Dasein. Sie war allein, na wenn schon, aber auch jung – oder zumindest noch keine dreißig. Und obwohl sie zur Miete wohnte und ihre Arbeitssituation ein Provisorium war, hatte sie ein klares Ziel: eine Wiederanstellung als Ermittlerin bei der Abteilung für Gewaltkriminalität, diesmal in Kopenhagen. Sie wusste, was sie wollte, und die Zeit war auf ihrer Seite.
Aber wenn sie die Zeit doch nicht auf ihrer Seite hatte? Wenn der Traum von einer Karriere eine kürzere Startbahn hatte als erwartet und sie ganz allein krank wurde? Geldsorgen haben etwas fundamental Zermürbendes, und jetzt, da sie selbstständig war, hatte sie kein nennenswertes Sicherheitsnetz mehr, sollte sich herausstellen, dass sie nicht gesund war.
Ihre Bestellung wurde aufgerufen, und sie nahm sie mit nach draußen und setzte sich auf eine Treppenstufe in die Sonne. Mitten in einem Bissen schellte ihr Handy in der Jackentasche.
»LJ Privatdetektive, Sie sprechen mit Liv.«
»Hallo, und guten Appetit. Ich bin’s. Ich rufe von der Arbeit an, deshalb die unterdrückte Nummer.«
»Hey, Petter.« Sie zog das Papier weiter von ihrem Muffin und biss hinein.
»Was isst du da?«
»Einen Blaubeermuffin.«
»Ich hoffe, er bleibt dir im Hals stecken. Ich hatte Haferbrei zum Frühstück, wir sind wieder auf Diät. Moment …« Sie hörte, wie er das Telefon auf eine harte Oberfläche legte und vor sich hin fluchte. »Verdammt, die Leitung, Teufel auch.«
Liv aß weiter und ließ ihm Zeit, sich aus der Leitung des Festnetztelefons zu befreien. Petter Bohm war keine Elfe, und seine tiefe Abneigung gegen das Büro auf Teglholmen machte ihn noch ungeschickter. Als beharrte er in einem kindlichen Protest gegen den Auszug aus Kampmanns altem Polizeipräsidium darauf, mit den neuen Annehmlichkeiten auf Kriegsfuß zu stehen.
Der Hörer wurde wieder aufgenommen, und seine Stimme schnitt ihr ins Ohr. »Das ist doch unglaublich, dass man Millionen von Steuergeldern in ein sogenanntes Superpräsidium investiert, die Festnetztelefone aber nicht schnurlos machen kann.«
»Hast du angerufen, um dich darüber auszulassen? Nicht, dass ich etwas anderes zu tun hätte, aber trotzdem …«
Liv wartete, dass er auf ihre Neckerei einging, aber es kam keine Antwort.
»Petter, bist du noch dran?«
»Ja, ja.« Er klang noch immer gereizt. »Können wir uns treffen?«
»Jetzt?« Liv spürte, wie sich ein Kribbeln in Nacken und Schultern ausbreitete. »Ist etwas passiert?«
Er atmete durch die Nase aus, sodass es im Hörer zischte.
»Ich möchte nur etwas mit dir besprechen. Im Franske Café in einer Stunde?«
Liv sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Die alte ihres Großvaters, die ihr etwas zu groß und nicht sehr schön war. Was konnte so wichtig sein?
»Okay, Petter. Ich habe einen Termin mit einem Kunden, aber den kann ich wohl um ein oder zwei Stunden verschieben. Um was geht es?«
Es rauschte in der Leitung. Er hatte bereits aufgelegt.
*
Die Sonne schien auf den blanken Lack des Schreibtischs und spiegelte sich in Cornelias blauen Augen wider. Hannah Leon erhob sich und ging zu dem großen Fenster, von dem aus man auf das Hauptgebäude des Rigshospitals sah, und ließ die Jalousien herunter. »Ist es jetzt besser?«
Cornelia nickte mehrmals und lächelte, sodass ihre Klammer glitzerte. Immer so höflich. Die Haut im Gesicht war weich und glatt, wie nur die eines Kindes sein kann, doch die dunklen Ränder unter den Augen erzählten eine andere Geschichte.
Mit heruntergelassenen Jalousien war es einfacher, die Betonwelt des Krankenhauses zu vergessen und in dem kleinen Behandlungszimmer des Centers für sexuelle Übergriffe zu entspannen. Sie hatte versucht, es gemütlich zu machen, hatte ein paar alte Lampen von zu Hause mitgebracht – die schönen aus Messing mit dem grünen Glasschirm – und ein paar Plakate in hellen und warmen Farben aufgehängt. Das half den Patienten zu entspannen, doch in Wirklichkeit war es vor allem wichtig für sie, den formellen Rahmen etwas aufzulockern. Nach einer Krankschreibung aufgrund einer Stressreaktion infolge des Suizids ihres Zwillingsbruders war sie erst seit dem 1. Februar wieder in dem Team für Kinder und fühlte sich noch immer verletzlich.
Den meisten Patienten, die hier behandelt wurden, ging es sehr schlecht, und obwohl sie und die anderen Psychologen ihre professionellen Filter hatten, war es schwer, ihre Geschichten nicht zu nah an sich heranzulassen. Und mit Kindern, denen es schlecht geht, ist es ohnehin etwas Besonderes. Hier entwickelt man keinen Panzer, der alles fernhält. Hannah hatte selbst die Erfahrung gemacht, geräuschempfindlich und menschenscheu zu werden, hatte davon geträumt, einfach abzuhauen. Und nun brachte sie ihre eigene Trauer in die Arbeit mit. Die Zeit würde weisen, ob diese Einfluss auf ihren Filter hatte oder nicht.
Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihr Handy, das zum Aufladen auf der Fensterbank lag, und sah, dass ihr Vater wieder angerufen hatte. Zum dritten Mal in einer Stunde. Sie drehte dem Handy den Rücken zu und setzte sich. Sie hatten noch ein paar Minuten, und sie musste sich konzentrieren.
Cornelia hatte sie von ihrem Kollegen Kasper übernommen, der zum Stationsarzt befördert worden war. Das Mädchen war lieb und kooperationsbereit, ließ Hannah aber nicht einen Millimeter unter seinen Panzer. Noch nicht jedenfalls.
»Was ist mit der Theater-AG, probt ihr im Moment für eine Aufführung?«
»Nein, erst wieder nach den Sommerferien.«
Da war er wieder, der kleine Tick. Cornelias Augen blickten grundlos nach links. Sie kannte das von anderen Kindern, die über eine Frage nachdachten, doch Cornelia machte das zu oft, um es als etwas anderes als einen Tick anzusehen. Eine Methode des Körpers, das Ungleichgewicht der Seele zu enthüllen.
»Gehst du nicht mehr gerne dorthin? Du warst doch so begeistert.«
Ein Schatten legte sich über die Augen des Mädchens. Der Mund lächelte weiter. »Mama hat gesagt, dass das zu viel wird. Ich muss mich ja auch um die Schule kümmern und alles.«
»Natürlich ist es wichtig, dass du einen guten Start in der Schule hast. Magst du deine neue Schule? Deine Mutter sagt, dass die Rückmeldungen von deinen Lehrern sehr positiv sind. Gehst du immer noch gerne hin?«
Cornelia nickte eifrig.
»Gibt es jemanden in der Klasse, mit dem du dir vorstellen könntest, befreundet zu sein?«
»Sie sind alle sehr nett, aber ich weiß nicht, ob sie mit mir befreundet sein wollen.«
»Warum sollten sie das nicht wollen?«
Cornelia zuckte die Schultern und lächelte. »Ist die Zeit nicht schon um?«
Hannah sah auf die Uhr. »Ja, du hast recht. Aber ich glaube, das nächste Mal sollten wir noch mal über deine Mitschüler sprechen. Warum du glaubst, dass sie nicht mit dir befreundet sein wollen … Du kannst gerne noch mit deinem Handy hier sitzen bleiben, während ich mir etwas aufschreibe. Dann bringe ich dich hinaus.«
Die Patientin zeigt Anzeichen einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung mit einer unausgesprochenen Sehnsucht nach emotionaler Wärme und einer gleichzeitigen Furcht, sich an andere Menschen zu binden, notierte Hannah in dem Krankenblatt.
Cornelia wich allen Versuchen aus, eine gewisse Vertrautheit aufzubauen, und Hannah war nahezu überzeugt, dass dieses Verhalten auf einen Übergriff hindeutete. Doch das Mädchen erzählte nichts. Vielleicht sollte sie sie ein paar Somatic-Experience-Übungen machen lassen, um in Kontakt zu den Bereichen zu bekommen, wo das Trauma sich im Körper festgesetzt hatte. Ihr dabei helfen, sich sicherer zu fühlen, indem sie sich wieder spürte.
Sie schloss das Krankenblatt und brachte Cornelia zu der braun gefliesten Rezeption, wo die Mutter wartete. Ein paar schnelle Worte wurden gewechselt, dann gingen die beiden zum Ausgang. Der Anblick von Cornelias schmalem Rücken schnitt Hannah ins Herz.
Erst als sie außer Sichtweite waren, ging sie zurück in ihr Büro. An der Rezeption kam eine der Stationssekretärinnen auf sie zu und sprach sie an. »Dein Vater ist am Telefon. Es klingt, als sei es wichtig.«
Hannahs Magen zog sich zusammen wie die Fühlhörner einer Schnecke, die auf Laub treffen. Die Krankheit ihres Vaters verlief in Schüben, und obwohl er krebsfrei erklärt worden war und eine gute, stabile Phase hatte, wusste man nie, wann die Krankheit wieder ihr hässliches Haupt reckte.
Sie folgte der Sekretärin ins Büro, wo das Telefon auf dem Schreibtisch bereitlag. Die Sekretärin ging zu einem offenen Aktenschrank in der Ecke, sodass sie in Ruhe reden konnte.
»Vater, ist etwas passiert?«
»Das heult und piept, als würde sie explodieren. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, und du gehst nicht ans Telefon!« Seine Stimme klang schwach und müde, enthielt aber immer noch ein Echo der früheren Autorität. Jedenfalls für Hannah.
»Ich kann das Handy nicht eingeschaltet lassen, wenn ich Patienten habe, das weißt du. Was ist los? Was piept?«
»Die Waschmaschine.«
Er schaffte es, die zwei Worte so vorwurfsvoll klingen zu lassen, dass sie einen Ansatz von schlechtem Gewissen spürte. Bis zum Tod ihrer Mutter im letzten Jahr hatte ihr Vater sich nie um häusliche Dinge gekümmert. Jetzt versuchte Hannah, ihm die Grundkenntnisse beizubringen, doch alle Haushaltsgeräte stellten potenzielle Gefahren dar. Sie hätte keine Maschine anstellen sollen, bevor sie zur Arbeit gegangen war.
»Siehst du den Knopf, der grün leuchtet? Oder blinkt?«
Sie konnte seine Pantoffeln über die Fliesen des Badezimmers zu der piependen Waschmaschine schlurfen hören.
»Soll ich auf den Knopf drücken? Kommt dann nicht das ganze Wasser raus?«
»Drück einfach, Vater.«
Sie hörte ihn herumhantieren. Dann war es still.
»Ach. Jetzt kann ich mich wieder denken hören.«
»Vater, das geht so nicht, dass du mich auf der Arbeit anrufst. Nur im Notfall. Wenn ich nicht ans Handy gehe, ist das, weil ich Patienten habe.«
»Ja, ja.« Er klang nicht sonderlich schuldbewusst.
»Lass die Wäsche einfach in der Maschine, ich hänge sie auf, wenn ich nach Hause komme. Ich habe heute schon um drei frei.«
Er seufzte.
»Kommst du so lange klar, Vater?«
»Ja, ja«, wiederholte er und legte auf.
Hannah blieb einen Moment mit dem Hörer in der Hand stehen, bevor sie auflegte und zurück in ihr Büro ging. Es deutete nicht viel darauf hin, dass ihr Vater ahnte, dass sie bald ausziehen und ihn allein zurücklassen würde.
*
»Ich drehe mal eine Runde und sehe mich selbst etwas um, wenn das okay ist?«
»Natürlich, dann mache ich uns in der Zwischenzeit einen Kaffee.«
Nima sah den Immobilienmakler mit seinem Clipboard unter dem Arm auf die Brücke verschwinden und ging in die Kombüse des Schleppboots hinunter, um kochendes Wasser über die frisch gemahlenen Kaffeebohnen in dem Filter zu gießen. Er öffnete den Kühlschrank, doch bis auf zwei Dosen Bier, ein paar Eier und eine Tube Remoulade war er gähnend leer. Er musste einkaufen, bevor er in die Werkstatt fuhr. Der Platz im Boot war begrenzt und in mehrere kleine Ebenen unterteilt, unprätentiös und funktionell, wie er in der E-Mail an den Immobilienmakler geschrieben hatte. Jetzt mussten sie sehen, ob sie sich einig wurden.
Während das Wasser durch den Filter lief, schaltete er das Radio an und sah nach seinem kleinen Projekt. Die Glocke auf der Fensterbank ließ durch die matte Plastik das Tageslicht nur träge herein. Vielleicht hätte er sie wegstellen sollen, bevor der Makler kam? Jetzt war es zu spät. Nima kniete sich auf das braune Sofa, sodass er den Inhalt besser in Augenschein nehmen konnte. Auf dem Boden lag ein kleiner Berg Leca-Kugeln, aus denen ein paar zarte Pilze mit kleinen, runden Köpfchen herausguckten. Der Psilocybe cubensis, der Kubanische Kahlkopf, stand in dem Ruf, der am leichtesten selbst zu züchtende Psilocybin-Pilz zu sein, was wohl auch stimmte. Der erste Versuch, sogenannte Kuchen aus braunem Reis und Vermiculite herzustellen und sie mit Sporenpulver zu infizieren, war zwar fehlgeschlagen, weil er nicht ordentlich desinfiziert hatte, doch der zweite Versuch schien geglückt. Es war ein umständlicher Prozess, die Pilze mussten regelmäßig gegossen und in den Kühlschrank gestellt und gelüftet werden, doch jetzt hatte er Pilze für den Eigenbedarf. Vielleicht konnte ein gelegentlicher Pilz mit der Zeit seinen inzwischen täglichen Jointkonsum ersetzen, der nicht nur ins Geld ging, sondern auch schlechte Zähne und eine graue Haut verursachte.
Die kleine Autowerkstatt in Vesterbro, die ihm gehörte und in der er alleine arbeitete, warf genug ab, dass er sich keine Sorgen machen musste, zumindest nicht so lange, wie er auf einem alten Boot im Südhafen wohnte. Eine Wohnung kostete leicht über zehntausend Kronen im Monat, und der Gedanke, sich in dieses Hamsterrad zu begeben, verursachte ihm Gänsehaut. Doch die Entscheidung war gefallen. Vielleicht wartete eine Frau, mit der er sich ein gemeinsames Zuhause schaffen konnte, ja gleich um die Ecke. Nicht, dass er davon träumte, aber man wusste schließlich nie. Dann war es wohl vorbei mit den Pilzen.
Nima goss zwei Tassen Kaffee ein und ging damit an Deck, reichte eine dem Makler, der telefonierte, dann stellte er sich an die Reling, um seinen Kaffee mit der Meeresluft in der Nase zu genießen. Er winkte Planken-Jørn zu, der mit seinem Hund und einem Dosenbier in der Hand auf dem Kai vorbeiging. Er trank in großen Schlucken.
»Guten Morgen! Sollen wir heute angeln?«, fragte Planken-Jørn und leerte die Dose.
»Ich muss gleich in die Werkstatt. Es ist doch Montag. Kannst du dich an damals erinnern, wo du wie alle anderen montags gearbeitet hast?«
»Glücklicherweise nicht! Dann muss ich eben für uns beide genug fangen, fel meshmesh.« Planken-Jørn verdrehte die Augen und ging weiter den Kai entlang.
Nima grinste über die arabische Redewendung, die er dem Nachbarn beigebracht hatte, und versuchte sich zu erinnern, was für ein Auto er heute hereinbekam. Es stand im Kalender, aber der lag in der Werkstatt, voll mit Bleistiftgekritzel, Wörtern und Telefonnummern. Analog, so zog er es vor. Sollte heute der silbergraue Opel Manta von 1971 kommen? Oder der Volvo P1800? Er reparierte nur alte Autos, am liebsten Amerikaner, weil er sich für die interessierte und es sich gerade so leisten konnte, wählerisch zu sein. Ein Vorteil davon, billig auf einem Boot zu wohnen, sagte er sich und zündete sich noch eine Zigarette an. Die ersten drei des Tages waren die besten.
»Das stimmt so nicht, Thomas, wir haben achtzig ausgemacht. Das habe ich per Mail, das weißt du!« Der Makler brummte mürrisch etwas ins Telefon, und Nima lehnte sich an die Reling und betrachtete ihn, während seine Gedanken auf Wanderschaft gingen. Fel meshmesh. Direkt übersetzt bedeutete das: wenn der Aprikosenbaum blüht. In Nahost gebrauchte man die Wendung, um zu unterstreichen, dass es bei den höheren Mächten lag, ob etwas passierte oder nicht. Das Blühen des Aprikosenbaums ist ebenso notorisch unberechenbar und flüchtig, wie es schön ist. Das hatte sein Vater immer gesagt, wenn das Frühjahr kam und er mit Harke und Baumschere in den Garten ging. Nima versuchte, sich an eine Zeile aus einem Gedicht zu erinnern, etwas mit einer Wasserstoffbombe und Milch und zermahlenen Knochen, die Aprikosenbäume waren da, aber das Dunkel war weiß, wie war das noch?
»Können wir reingehen?« Der Makler hatte sein Gespräch beendet, behielt das Handy jedoch in der Hand. Die Kaffeetasse hatte er irgendwo auf Deck abgestellt.
»Yes.« Nima warf die Zigarette ins Wasser und ging mit dem Makler nach drinnen. Der sah sich kritisch um und stieg die kleine Treppe in den Schlafbereich hinunter. Nima blieb in der Kombüse stehen, lehnte sich mit seinem Kaffee an den Küchentisch und hörte den Nachrichten zu, die mit einer Sondermeldung begannen.
Die Polizei von Südostjütland gab auf einer Pressekonferenz am Vormittag bekannt, dass die Leiche eines achtundvierzigjährigen Mannes von einem Naturpfleger auf Vorsø im Horsens Fjord gefunden wurde. Der Tote lag in einem Zelt am Strand, und die Polizei bestätigt, dass er ermordet wurde. Die Identität des Toten ist der Polizei bekannt. Er ist etwa ein Meter achtzig groß und iranischer Herkunft und hat als besonderes Merkmal einen Namen auf das rechte Handgelenk tätowiert.
Der Tote war mit seinen zwei Kindern, die beide im Teenageralter sind, auf Campingtour. Die Polizei bittet eventuelle Zeugen, die sich am Samstag oder Sonntag auf oder in der Nähe von Vorsø aufgehalten und den Mann alleine oder zusammen mit anderen gesehen haben, Kontakt zur Polizei aufzunehmen…
»Haben Sie die Leitungen selbst verlegt? Das sieht nicht ganz legal aus.«
Nima stellte das Radio aus und folgte dem Makler zum Verteilerkasten. Das Echo eines Gedankens schlich sich in seinen Hinterkopf. Vielleicht war es nur die Situation. Ermordet in einem Zelt auf einer Campingtour, pfui Teufel! Er ging zum Schlafbereich, doch ein Kälteschauer hielt ihn zurück. Es war der Name auf dem Handgelenk, die Tätowierung. Er kannte jemanden, der so eine hatte.
Die Wäsche flattert an der Schnur, die zwischen dem Fenster der Baracke und dem Stacheldrahtzaun gespannt ist. Unterhosen, Strümpfe und Babykleidung haben einen verwaschenen gräulichen Fleischwurstton angenommen, der darauf schließen lässt, dass sich ein rosa Teil in die weiße Wäsche verirrt hat. Tami Ansari duckt sich unter der Leine hindurch und geht weiter in Richtung des gelb gestrichenen Verwaltungsbaus. Er ist von Rosenbeeten und kurz gehaltenem Rasen umgeben, und Tami mag es, an den Blumen vorbeizuschlendern und so zu tun, als ginge er spazieren.
Heute wird er fünfzehn, doch er weiß nicht, ob er das jemandem sagen soll. Prinzipiell ist es am klügsten, den Mund zu halten, das hat er in den letzten Monaten im Iran gelernt. Außerdem ist er erst seit vier Tagen in dem Erstaufnahmelager und kennt eigentlich noch niemanden. Es sind viele andere Iraner hier, zweiundvierzig insgesamt, doch die meisten sind erwachsen, und bis jetzt war er zu schüchtern, einen von ihnen anzusprechen. Der Mitarbeiter, der ihm die neunstellige Nummer zugewiesen hat, die er in Zukunft bei Ladungen zu einem Gespräch benutzen soll, hat gesagt, dass er bald mit der Schule beginnen kann, aber er weiß nicht, was »bald« bedeutet. Er weiß, dass auf Dänisch unterrichtet wird, und der Gedanke an die Sprache, bei der er die Zunge verknoten muss, macht ihn nervös. Eigentlich ist er ziemlich sprachbegabt und gut in der Schule, doch Dänisch zu lernen fühlt sich an, als würde er die Brücke abbrennen, die nach Hause führt. Der Mitarbeiter hat auch gesagt, dass Tami in ein Erstaufnahmelager für Kinder überführt werden soll. Wenn er denn minderjährig ist, wie er behauptet. Das würden sie erst überprüfen, und so etwas könne dauern. Tami fragt sich, wie so ein Test aussehen soll. Sie können ihm schließlich nicht den Arm durchschneiden und die Jahresringe zählen?
Es ist erst drei Wochen her, dass er mit Saied in einem Café in Qaem-Schahr Eistee getrunken hat, wie so oft auf dem Heimweg von der Schule. Sie haben draußen an einem der Tische gesessen und die Tauben, die sich zu nah herangewagt haben, mit den Schuhspitzen angestupst, während sie über alles Mögliche geredet haben. Einer Eingebung folgend erzählte Tami, dass sein Vater verhaftet worden war. Die Gefahr hatte schon lange bestanden. Ihr Telefon wurde abgehört, und der Vater war von der Revolutionsgarde oder anderen Abteilungen des Sicherheitsdienstes regelmäßig zum Verhör einbestellt worden. Trotzdem hatte es nicht den Eindruck erweckt, als wäre es tatsächlich ernst, vielleicht, weil seine Mutter versucht hatte, es so darzustellen. Sein Vater war nicht kriminell, er war nur Journalist, er würde also bald wieder nach Hause kommen.
Zu dem Zeitpunkt war Tami der Begriff der Kollektivschuld nicht bekannt gewesen, aber er wurde schnell klüger. Wenige Tage später wurde er selbst bedroht. Als er die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, wurde er von schnellen Schritten eingeholt und von Armen hochgehoben, die die Luft aus ihm herauspressten. Er versuchte, um Hilfe zu rufen, konnte es aber nicht. Der Mann hielt ihm die Hand vor den Mund und drückte ihn gegen die Mauer.
»Glaubst du, wir wissen nicht, was du treibst? Spiel bloß nicht den Unschuldigen, wir wissen, dass du deinem Vater hilfst, Propaganda zu verbreiten.«
Die Stimme schnitt ihm in die Ohren. Tamis Herz hämmerte, sein Brustkasten schien zu explodieren. Es dauerte nur einen Moment, dann lockerte der Mann seinen Griff und ließ ihn auf den Boden sinken, während er die Treppe hinunter verschwand. Tami blieb liegen, wo er zusammengesunken war, ihm war übel vor Angst, aber sonst fehlte ihm nichts. An dem Abend erhielten sie die Nachricht vom Tod des Vaters, und seine Mutter begann, von Flucht zu reden.
Ein Vogelzug fliegt tief über das Erstaufnahmelager, schwarze Vögel, nur ein kleiner Schwarm. Tami legt den Kopf in den Nacken und sieht sie über den Bäumen außerhalb des Zauns kreisen. Sie flattern von Ast zu Ast, unruhig, in Bahnen, die fast einem Muster gleichen. Eine Differenzialgleichung erster Ordnung, mit unsichtbaren Linien in der Luft. Er geht zurück zu den Baracken und verläuft sich auf den gewundenen Wegen und Pfaden. Die grau gestreiften Gardinen erinnern ihn an Kriegsfilme und Arbeitslager, ihr Anblick macht sein Herz schwer. Es hat geregnet, er rutscht im Matsch aus. Die Schuhe werden schmutzig, und er hat keine anderen. Er hat nichts, er ist niemand mehr. Der Besitzer eines Paars matschiger Sportschuhe und einer neunstelligen Nummer.
Tami fasst sich an den Hals. Etwas besitzt er, und zwar die Halskette, die seine Mutter ihm um den Hals gelegt hat, als die Tasche mit Geld, Adresslisten, einem Satz Kleider zum Wechseln und einem Essenspaket gepackt war. Eine zarte Goldkette mit einem kleinen Anhänger, der eine weiße Aprikosenblüte darstellt. Seine Mutter hat sie getragen, solange er zurückdenken kann, aber jetzt gehört sie ihm. Er spürt immer noch die Wärme ihres Körpers in dem Gold und hört ihre Abschiedsworte. »Wir sehen uns bald wieder, mein Schatz. Fel meshmesh.«
Tami streichelt den Anhänger und denkt an den Tag, an dem er seine Mutter wiedersehen wird. Der Gedanke erfüllt ihn mit einer Sehnsucht, die so stark ist, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann. Ein Weinen drängt sich vor, aber er will ihm nicht nachgeben. Was nützt es zu weinen, wenn niemand da ist, der einen tröstet?
»Du bist der Neue, nicht wahr? Der Ansari-Junge?«
Tami dreht sich zu der Stimme um und sieht einen großen Mann mit einem grau melierten Schnurrbart und einem belustigten Funkeln in den braunen Augen. Er spricht Farsi mit nordiranischem Akzent, hat eine etwas zu große Windjacke an und macht den Eindruck eines Menschen, der sich über das meiste, was das Leben zu bieten hat, amüsiert.
»Stimmt etwas nicht, mein Freund?«
Tami schüttelt den Kopf.
Der Mann legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Am Anfang ist es nicht leicht. Du bist alleine hier?«
»Meine Mutter kommt bald nach. Sie muss nur noch das Geld beschaffen.«
Der Mann lächelt und zeigt unter dem Bart eine Reihe schöner weißer Zähne.
»Sie nennen mich den Oberst.« Er reicht Tami eine Packung Zigaretten und blinzelt. Das Weiße in seinen Augen ist von kleinen roten Blutadern durchzogen. »Du siehst wie ein kluger Junge aus. Kannst du gut schreiben? Dann habe ich vielleicht eine kleine Aufgabe für dich.«
Tami nimmt eine Zigarette und hält sie unbeholfen am Filter fest. Er hat noch nie geraucht, obwohl er vor seinen Kameraden damit geprahlt hat. Der Oberst knipst ein Feuerzeug an und gibt ihm Feuer. Tami klemmt die Zigarette zwischen den Lippen fest und saugt vorsichtig. Es gelingt ihm, den Rauch wieder auszustoßen, ohne zu husten, doch der Schwindel kommt sofort.
Der Oberst lacht und zündet sich selbst eine an. »Rauch nur, mein Freund. Deine Mutter ist ja noch nicht hier.«
Liv näherte sich dem Franske Café am Sortedamssø, sie zählte die Schritte rückwärts. Wozu, wusste sie nicht, doch Treffen mit Petter sah sie immer erwartungsvoll entgegen. Die Metalltische, die auf der gekiesten Seepromenade standen, waren leer, aber unter der Markise vor dem Café saßen mehrere Zeitungsleser und tranken Kaffee. Sie ergatterte einen Tisch in der Ecke, sodass sie ihn sehen konnte, wenn er kam. Im Frühjahr war es um die Beine noch kalt, doch über ihr brachte eine Wärmelampe die Haut um Ohren und Nacken zum Brennen. Am Nachbartisch saß ein älterer Herr mit einem Taschentuch in der Jacketttasche und einer leeren Espressotasse vor sich und sah sie neugierig an. Liv drehte sich auf ihrem Stuhl herum, um einen Augenkontakt zu vermeiden. Vielleicht sah sie Petter deshalb nicht, bevor er direkt vor dem Tisch stand.
»Wartest du schon lange?«
»Fünf Minuten. Ich habe noch nicht bestellt.«
»Ich hole uns was.« Er streifte sich den Schulterriemen der Ledertasche über den Kopf und ließ sie auf den Stuhl sinken. Die Jacke saß schief über den breiten Schultern, und der Bauch schien langsam über den Hosenbund hinauszuwachsen. »Eine Cola, nehme ich an?«
Liv nickte und sah ihn nach drinnen zu Theke und Registrierkasse verschwinden. Sie hätte ihnen auch etwas zu trinken holen können, dachte sie. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie die tief verwurzelte Rollenverteilung zwischen ihnen abschüttelte. Nur weil er an der Polizeischule ihr Lehrer gewesen war und sie anschließend unter seine Fittiche genommen hatte, hieß das nicht, dass er auf ewig bezahlte.
Petter kam mit Kaffee für sich und einer bauchigen Flasche Cola für sie zurück. Er stellte die Tasche auf den Boden und setzte sich mit einem angestrengten Stöhnen. Erst jetzt nahm sie wahr, wie müde er aussah. Die Haut unter den Augen war durchsichtig, die Wangen waren unrasiert. An einem Zeigefinger war ein Tropfen Blut durch ein Pflaster gesuppt, was nicht sehr hygienisch aussah.
»Was ist da passiert?«
Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nichts, ich war einfach ungeschickt.« Er trank einen Schluck Kaffee und sah sie über den Rand der Tasse hinweg scheel an, als wäre sie für den Geschmack verantwortlich. »Sonst alles okay? Grüße von Susanne.«
Sie nickte und blickte über den See.
Petter trank noch einen Schluck und hustete in das Pflaster. Es war nicht mehr lange hin zu seinem zweiundsechzigsten Geburtstag, und in der letzten Zeit sah man ihm sein Alter auf eine neue Weise an: die Tränensäcke, die Falten, die sich von der Nase zu dem weichen Kinn hinunterzogen, und der Blick, der zu flackern begonnen hatte, wenn es ihm nicht bewusst war. Er fluchte und trocknete sich den Mund mit einem Taschentuch ab, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte. »Kann ich auf deine Verschwiegenheit zählen?«
»Diese Frage brauchst du mir nicht zu stellen, Petter, das weißt du.«
»Ja, das weiß ich. Aber das, was ich mit dir besprechen muss, ist von einer Brisanz, die ein Disziplinarverfahren oder eine direkte Entlassung nach sich zieht, wenn herauskommt …«
Sie nickte ernst.
»Gut. Am Sonntagnachmittag wurde die Leiche eines dänisch-iranischen Mannes auf einer einsamen Insel im Horsens Fjord gefunden. Er lag mit durchgeschnittener Kehle in einem Zelt.« Petter demonstrierte unnötigerweise, was das hieß.
»Scheiße!« Liv hielt mit dem Glas an den Lippen in der Bewegung inne. Zu Messermorden kommt es in der Regel bei kopflosen Wirtshausschlägereien, die aus dem Ruder laufen, und nicht bei regelrechten Hinrichtungen, wie es hier der Fall zu sein schien.
»Die Polizei von Südostjütland ist mit dem Fall betraut. Da das Opfer aber aus Kopenhagen stammt, sind wir auch involviert. Am Rande.«
»Wann haltet ihr eine Pressekonferenz ab?«
»Die Story ist bereits raus. Die Polizei von Südost konnte sie nicht zurückhalten, nachdem die Kriminaltechniker am Sonntagnachmittag im großen Stil am Ufer des Horsens Fjord angerückt sind.«
Sie nickte. »Jetzt, wo du es sagst … ich habe im Radio von dem Todesfall gehört. Aber nichts über die Mordmethode oder wer das Opfer ist.«
»Das geben wir erst in einer Stunde bekannt. Wir mussten erst versuchen, die Angehörigen zu erreichen.« Er verdrehte die Augen. »Aber die Story wird wohl die ganze Woche die Titelseiten beherrschen. Ein gewöhnlicher Familienvater, der mit seinen beiden Kindern auf Angeltour ist.«
»Kindern?!« Sie riss die Augen auf. »Wie alt?«
»Vierzehn und siebzehn. Sie haben im Nachbarzelt geschlafen.«
»Sind sie okay?«
Petter spielte an seinem Pflaster. Es war nicht klar, ob er versuchte, es abzuziehen oder fester zu drücken.
»Das weiß niemand. Sie sind weg.«
»Wie weg?«
»Weg eben. Es gibt keine Brücke zu der Insel. Sie ist so etwas wie ein Vogelreservat. Die Familie ist am Samstag mit einem Kanu rübergefahren, das sie bei einem Verleih am Husodde-Strand ausgeliehen hatten. Am späten Sonntagabend hat die Polizei das Kanu zweihundert Meter von dem Verleih entfernt am Ufer gefunden. Jemand hat es an Land gepaddelt, und die Kinder sind weg. Niemand hat seit Samstagvormittag von ihnen gehört, und ihre Handys sind ausgeschaltet. Wir haben von allen Masten in der Nähe Daten herangezogen, aber es wurde keine Aktivität verzeichnet.«
»Das klingt nicht gut.«
»Nein. Das Opfer ist mit den Kindern im eigenen Citroën gefahren und hat ihn neben dem Bootsverleih geparkt, als sie zu der Insel hinübergepaddelt sind. Dort haben wir den Wagen am Sonntag gefunden, wie es scheint unberührt.«
»Scheiße!«
»Das kannst du laut sagen.« Petter atmete tief aus.
Liv goss sich den letzten Rest Cola ins Glas. Sie hatte so viele Fragen, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Die primäre war, warum er ihr das überhaupt erzählte.
»Was ist deine Rolle?«
»Ich assistiere, wie gesagt, bei dem Kopenhagener Teil der Ermittlung. Das Opfer wohnte mit beiden Kindern in einer Wohnung in Albertslund. Wir untersuchen sie gerade auf Spuren und sind dabei, uns einen Überblick über das familiäre Netzwerk zu verschaffen, befragen Kollegen, Schulkameraden und Nachbarn.«
»Hatte er eine Frau?«
Petter schüttelte den Kopf. »Sie sind geschieden, sie ist vor drei Jahren zurück in den Iran gegangen. Wir versuchen natürlich, sie zu finden.«
Liv zermalmte einen Eiswürfel mit den Zähnen. Nichts deutete darauf hin, dass er vorhatte, irgendetwas zu erklären.
»Petter, wofür brauchst du mich? Du weihst mich doch gewöhnlich nicht in einen schwebenden Fall ein, sodass ich annehme, da ist noch was.«
Er riss das Pflaster von seinem Finger ab und warf es mit einem wütenden Grunzen auf den Boden, als wäre das kleine Stückchen Stoff der Quell aller Schlechtigkeit in seinem Dasein.
»Das ist aber eine ziemliche Schramme!«
»Habe ich nicht gesagt, dass es nichts ist?« Er griff nach einer Serviette und betupfte die Wunde, die zu bluten begonnen hatte.
Sie senkte den Blick, das Herz schlug ihr gegen die Rippen.
»Entschuldige, Liv. Ich bin zurzeit nicht ich selbst. Deshalb brauche ich auch deine Hilfe.« Er holte tief Luft. »Nur, um mich mit dir auszutauschen, du musst nichts tun. Einfach zuhören und deinen Input einbringen, ganz diskret. Ich bezahle dich natürlich für die Zeit, nennen wir es ein Beratungshonorar.«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Der Blick war fern.
»Was meinst du damit, dass du nicht du selbst bist?«
»Vielleicht bin ich mehr Elvis …« Er zog die Oberlippe nach oben, sah jedoch schnell ein, dass der Witz keine Wirkung zeigte, und zuckte die Schultern. »Das war ein ereignisreicher Frühling mit der Neubesetzung von zwei Führungspositionen und der Umorganisation und leck mich irgendwo. Ich bin einfach etwas … konfus.«
»Konfus?« Liv spürte einen kalten Zug im Nacken. Ihr alter Freund und Mentor war die Definition von messerscharf.
»Sieh mich nicht so an, ich muss mich nur bald mal etwas ausruhen.«
»Okay.«
»Ich meine das so, Liv. Ich brauche deine Besorgnis nicht, nur den Austausch mit dir.«
Sie nickte und riss sich zusammen. »Habt ihr schon eine Theorie?«
»Das ist ein bisschen tricky. Es ist eine unbewohnte Insel, bis auf den Naturpfleger. Nach den beiden Kindern wird natürlich landesweit gefahndet. Wir haben alles mobilisiert, um sie zu finden, aber wir wissen nicht, ob wir nach zwei Opfern oder zwei Tätern suchen.«
»Auf der Flucht oder schlimmer?«
»Genau. Sind sie geflohen und verstecken sich, oder haben die Täter sie mitgenommen?«
»Warum hätten sie das tun sollen? Wenn die Kinder den Mord mitbekommen hätten und wenn man sie hätte eliminieren wollen, hätte man das doch auch gleich vor Ort tun können.«
Er nickte. »Das kann leider auch der Fall sein. Vielleicht sind sie bereits tot, und wir haben die Leichen nur noch nicht gefunden, aber bis auf Weiteres glauben wir das Beste und fürchten das Schlimmste. Vorerst konzentrieren wir uns darauf, sie zu finden, technische Spuren sicherzustellen und den Naturpfleger zu befragen, der zweihundert Meter von den Zelten entfernt wohnt. Er hat die Leiche gefunden und am Sonntagmittag die Polizei alarmiert.«
Liv riss die Augen auf. »Wohnt er alleine da draußen?«
»Jepp. Mein Psychopathen-Alarm klingelt auch.«
»Habt ihr die Mordwaffe gefunden?«
Petter schüttelte den Kopf, kramte in der Innentasche seines Wollblazers und zog sein Handy heraus, klickte etwas auf dem Bildschirm an und legte es zwischen sie auf den Tisch. »Dafür wurde dieser Film auf dem Handy des Opfers gefunden. Er war als Letztes bei den Videos gespeichert und wurde wahrscheinlich gestern um sechs Uhr morgens aufgenommen.«
»Also zur Zeit des Mordes?«
Petter nickte. »Das macht ihn potenziell interessant. Die Obduktion erfolgt erst heute, doch derzeit sieht es so aus, als wäre der Mord in der Nacht von Samstag auf Sonntag oder früh am Sonntagmorgen passiert. Ich habe die Aufgabe übernommen herauszufinden, ob die Aufnahme für den Mord von Bedeutung sein kann oder nicht.«
Liv beugte sich vor und guckte.
Zuerst war es dunkel, dann bewegte die Kamera sich schnell durch die Luft, bis sie ein Stück Papier auf einem unebenen hellbraunen Hintergrund fokussierte, bevor die Aufnahme endete. Sie dauerte insgesamt sieben Sekunden.
»Sind wir uns einig, dass die Kamera in einer Tasche eingeschaltet und herausgeholt wurde, um den Zettel zu filmen?«
Petter nickte erneut. »Jemand hat verbergen wollen, dass er das aufnimmt. Aber hör mal. Ich drehe mal lauter, damit du es besser verstehst. Mein Gott, reden die Leute laut.« Er sah wütend zu den anderen Gästen hin, drehte die Lautstärke hoch und spielte das Video noch einmal ab. Ein Wortwechsel in einer Sprache, die Liv nicht verstand. Zwei Stimmen, ein Mann und eine Frau, es ließ sich nicht sagen, ob sie erregt waren oder ob es nur die Intonation war, die sie wütend klingen ließ.
»Ist das Arabisch?« Er drückte wieder auf Play, und sie lauschten schweigend.
»Im Iran spricht man Farsi. Aber die Stimmen gehören jedenfalls Erwachsenen. Sie waren auf der Insel.«
»Es sei denn, die Aufnahme ist von einem anderen Tag und hat nichts mit dem Mord zu tun. Wir müssen herausfinden, wo und wann sie aufgenommen wurde.«
»Auf allen Bildern und Filmen, die man mit einem Handy aufnimmt, ist ein Datum. Zeit, Ort, Auflösung und so weiter.«
»Ja, aber das lässt sich manipulieren, die Techniker müssen die Datei untersuchen.«
Liv griff nach dem Handy und hielt die Aufnahme an, sodass sie bei dem Schlussbild stehen blieb. Ein handgeschriebener Zettel mit zwei Worten. »Was steht da?« Sie zoomte es mit zwei Fingern heran und las.
Milad Kharazmi
»Ein Name, das könnte Persisch sein. Was hat das zu bedeuten, Petter?«
»Das weiß ich nicht. Im Moment habe ich keine Ahnung.«
»Hast du eine Übersetzung der Aufnahme in Auftrag gegeben?«
Er zog die Brauen dicht zusammen, sodass sie zu einem langen Strich wurden. »Ich kümmere mich heute darum.«
»Kann ich das Video haben? Dann kann ich es mir nachher noch einmal genauer ansehen. Ich muss nur erst einen Job erledigen.«
Er zögerte.
»Ich zeige es niemandem, Petter. Aber wenn ich dir helfen soll …«
»Ja, ja.« Er tastete auf dem Bildschirm herum und steckte das Handy in die Tasche. »Noch etwas: Der Name des Opfers ist Tami Ansari.«
Liv zog die Brauen hoch. »Ansari? Wie Nima, der Automechaniker in meinem Hinterhof. Ist das ein gebräuchlicher Name, oder könnten sie verwandt sein?«
Petter zog eine Schulter hoch und ließ sie als Antwort wieder sinken.
»Ah, das ist es, ich soll dir helfen, das herauszufinden?«
»Verstehst du dich nicht ganz gut mit ihm?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Petter riskierte seinen Job, indem er die Schweigepflicht verletzte und eine Zivilistin in eine laufende Mordermittlung involvierte, selbst wenn die Zivilistin eine Polizeiausbildung hatte. »Warum befragst du ihn nicht selbst, ganz offiziell?«
»Wenn es sich nicht als absolut notwendig erweist, würde ich das gerne vermeiden. Wir haben schließlich eine Vorgeschichte, dein Mechanikerfreund und ich.«
Liv senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen, das sie nicht unterdrücken konnte. Petter musste selbst entscheiden, in welchem Ausmaß und mit wem er seine Arbeit teilte. Das Vertrauen, das sie über die Jahre aufgebaut hatten, seit sie sich auf der Polizeischule begegnet waren, war für sie einmalig. Warum sollte es das nicht auch für ihn sein? Der Gedanke, dass er sie brauchte, ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern.
»Ich bin auf dem Weg zu einem Kunden, um einen Auftrag abzuschließen, aber ich werde ihn nachher schon noch erwischen.«
»Versicherungsschwindel?«
»Untreue.« Sie senkte den Blick. »Von etwas muss man ja leben. Glaubst du, Nima weiß, wer Milad Kharazmi ist?«
Er hob mahnend den Finger. »Langsam, ich will nur wissen, ob er mit dem Opfer verwandt ist. Den Rest überlässt du der Polizei.«
*
Toastbrot, Schokoladenflocken, Scheuerschwämme und Dosentomaten, verdammt, warum gab es so viele verschiedene Sorten? Mit einem schalen Geschmack im Mund, der sowohl von den drei Tassen Pulverkaffee und den zwei Zigaretten zum Frühstück als auch von einer lauernden Nervosität im Magen herrührte, rollte Nima den Korb durch die schmalen Gänge des Supermarkts.
Der Makler hatte sich mit einem schlaffen Händedruck verabschiedet und versprochen, sich bald mit einem Angebot für einen Verkaufspreis zu melden. Etwas sagte Nima, dass er niedrig sein würde. Er passierte einen Zeitungsständer. Die Leiche auf der einsamen Insel stand auf der Titelseite, und darunter: Wo sind die Kinder? Er ging weiter. Ein Schauer lief ihm langsam vom Kopf aus die Wirbelsäule hinunter, kleine eiskalte Tropfen in einem warmen Nacken. Es war die Tätowierung, die ihm im Kopf herumspukte. Die und die beiden Kinder und das Angeln. Er setzte sich auf den Rand einer Kühltheke mit Joghurt und Skyr und schob den Korb unter die Beine, damit er nicht im Weg stand. Er musste sich kurz sammeln.
Nima erinnerte sich an ein Gartenfest, auf dem sein Vetter Tami ihm einen Hotdog gereicht hatte, erinnerte sich an den tätowierten Namen auf seinem Handgelenk. Tamis schmutzige Finger, die den Hotdog hielten, hatten ihm eine Gänsehaut verursacht, und er hatte ihn weggeworfen, ohne ihn zu probieren, sobald der Vetter nicht hinsah. Es war der Geburtstag eines der Kinder gewesen, er wusste nicht mehr, von welchem, aber es war vor Yasmins Abreise. Sie hatten ihn in der Schrebergartenkolonie gefeiert, und alles hatte dänisch sein sollen, niemand sollte etwas daran auszusetzen haben. Es gab Milchbrötchen und Marmelade, Torte mit einer Flagge darauf und Würstchen vom Grill – halal, das ja, aber trotzdem. Welcher Iraner mit Selbstachtung grillt Würstchen?
Sein Vetter hatte eindeutig getrunken, bevor sie gekommen waren. Er trug ein Clownskostüm mit einer gestreiften Schlaghose, hatte einen nackten Oberkörper und eine Lockenperücke. Die Kinder hatten ihn peinlich gefunden.
Nima holte sein Handy heraus und öffnete eine Internetzeitung. Die Meldung kam als erste in aufblitzenden Großbuchstaben, und Artikel mit klickfreundlichen Überschriften füllten die gesamte Seite. Er wurde auf eine Frau aufmerksam, die direkt vor ihm stand und lächelte, aber er hörte nicht, was sie sagte. Schließlich griff sie mit einer Entschuldigung hinter ihn und nahm sich einen Liter Milch. Er ignorierte sie und öffnete einen Artikel über den Mord.
Die Polizei nannte jetzt den Namen des Opfers und bat um Hilfe bei der Suche nach den Kindern. Tami Ansari, las er. Langzeitarbeitslos, wohnhaft in Albertslund und Vater von Cyrus, siebzehn, und Shirin, vierzehn.
Nimas Handy fiel auf den Boden, und er musste sich danach bücken. Der Kaffee schoss in die Speiseröhre und wurde zu Säure im Gaumen, ihm war schwindelig, und er hielt sich an der Kante der Kühltheke fest.
Als Kind hatte er zu dem acht Jahre älteren Tami aufgeblickt, er war so etwas wie ein Vorbild gewesen. Klug und belesen, der Beste in seiner Klasse. Der tüchtige, vielversprechende Tami, der mindestens Hirnforscher oder Physiker werden würde und der so lieb war, seine Vettern und Cousinen mit zum Angeln zu nehmen und ihnen zu erklären, was Blinker und Leinen, Wurf und Spiel waren. Er war der Erste in der Großfamilie, der flüchtete, nachdem das Regime seinen Vater verhaftet hatte. Alleine über die Berge Richtung Norden, nach Dänemark, wo der Vater in Journalistenkreisen Bekannte hatte. Eine beängstigende Reise für jeden und fast nicht zu bewältigen für ein Kind. Durch Europa, um Asyl zu beantragen und den Weg für den Rest der Familie zu ebnen. Die Flucht machte ihn noch großartiger und verlieh ihm in Nimas Erinnerung fast Heldenstatus.
Tami hatte es geschafft. Er hatte in Dänemark Fuß gefasst, einen Job gefunden und mit einer schönen iranischen Frau eine Familie gegründet. Jetzt war er tot, und seine beiden Kinder waren verschwunden.
Cyrus, der stille, altkluge Junge mit den dunkelbraunen Augen, und die kleine, widerspenstige Shirin mit dem verwuschelten Haar und den aufgeschlagenen Knien, die ihre Mutter anmeckerte, weil sie versuchte, das Mädchen dazu zu bewegen, Schuhe anzuziehen.
Als sie klein waren, hatte Nima sie hin und wieder gesehen.
Sie konnten mehr erwachsene Aufmerksamkeit brauchen, als sie bekamen, und die Rolle des coolen Onkels mit den amerikanischen Autos hatte ihm gefallen. Doch mit der Zeit war ihm Tami zu anstrengend geworden, und sie sahen sich nur noch äußerst selten.
Er fand in seinen Kontakten eine Telefonnummer von Cyrus, aber die Mailbox sprang sofort an, sodass er sich dumm vorkam. Noch ein Kunde wollte an die Milchprodukte. Nima stand auf und ging zum Ausgang, ohne den Korb mitzunehmen. Er konnte später einkaufen, die Werkstatt musste heute ohne ihn auskommen. Die Kinder konnten nicht einfach verschwunden sein, er musste versuchen, sie zu finden. Er setzte sich in den Mustang und ließ den Motor mit einem Aufbrüllen anspringen. Bevor er losfuhr, öffnete er noch einmal die Tür und spuckte den schlechten Geschmack in seinem Mund auf den Asphalt.
Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf und brannte sich fest. Vetter Tami, die Kehle von einem Ohr bis zum anderen durchschnitten, wie ein blutiges Clownsgrinsen.
*
Die weiß verputzte Villa lag in der Rygårds Allé in Hellerup. Eine schwarz lackierte Haustür, die von Kübeln mit in Form geschnittenen Buchsbäumen flankiert wurde, erzählte der Welt etwas über die Bewohner. Liv parkte ihren alten Fiat vor dem Haus und holte die Mappe mit den Bildern heraus. Die Kundin hatte darum gebeten, sie persönlich und analog ausgehändigt zu bekommen, und Liv hatte nicht nachgefragt, warum, sondern die zusätzliche Arbeitszeit und die Ausgaben für den Fotoladen mit auf die Rechnung gesetzt.
Sie war etwas zu früh und rief Petters Film auf dem Handy auf, sah ihn sich noch einmal an, öffnete den Browser und gab den Namen auf dem Zettel in das Suchfeld ein.
Milad Kharazmi
Sieben Seiten mit Bildern und Links zu unterschiedlichen Männern erschienen. Profile auf den sozialen Medien, Nennungen auf akademischen Seiten und in Berufsportalen, einiges in Englisch, anderes in einer fremden Sprache, von der sie annahm, dass es Farsi war. Unmittelbar fanden sich keine Links in Dänisch, weder in dem Nachschlageportal Krak noch auf LinkedIn oder in den sozialen Medien, nichts, das relevant schien.