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Eine Liebe zwischen Tod und Unsterblichkeit Prag wird die goldene Stadt genannt, doch Mila sieht dort unendlich viel grau. Denn sie hat eine besondere Fähigkeit: Sie kann den Tod vorhersehen. Menschen, die bald sterben werden, verlieren in Milas Augen jegliche Farbe. Verzweifelt versucht sie, diesen Fluch loszuwerden, und gerät dabei in den Kampf zwischen Licht und Dunkelheit. Schnell findet sie heraus, dass Himmel und Hölle ganz anders sind, als sie es sich vorgestellt hat. Für welche Seite wird Mila sich entscheiden? Seit 12 Jahren bedroht ein Ungleichgewicht die Welt. Eigentlich wird sie durch das Gleichgewicht von Gut und Böse, Licht und Schatten, Menschen und Ewigen zusammengehalten. Die Aufgabe der Ewigen ist es, diese Balance zu bewahren. Der Ewige Asher ist im Reich der Dunkelheit zu Hause. Eigentlich hält er sich aus den Angelegenheiten der Menschen heraus, bis sein alter Gegenspieler Tariel plötzlich Interesse an einem Mädchen zeigt: Mila. Zunächst nähert er sich ihr nur an, um die langersehnte Rache an Tariel zu nehmen. Aber dann entdeckt Asher, dass Mila besondere Kräfte besitzt. Kräfte, die ein Mensch gar nicht haben sollte. Und schon bald steht er vor einer schwierigen Entscheidung: Wird er das Mädchen, das er liebt, beschützen - selbst wenn das die gesamte Welt ins Chaos stürzen könnte? In dieser mitreißenden Paranormal Romance ab 14 Jahren erzählt Autorin und Bloggerin Ava Reed die Geschichte von engelsgleichen Wesen und einer großen Liebe, die den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse überstehen muss. Der grandiose Auftakt der Ashes and Souls-Dilogie, die Fantasy-Fans in ihren Bann ziehen wird!
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Seitenzahl: 363
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Prolog – Tariel
Kapitel 1 – Mila
Kapitel 2 – Tariel – Bis heute behaupteten …
Kapitel 3 – Tariel – Lautlos glitt Tariel …
Kapitel 4 – Mila – Besonders war nur …
Kapitel 5 – Asher – Das Feuer im …
Kapitel 6 – Mila – Die ersten Tage …
Kapitel 7 – Asher – Tariel und Mila …
Kapitel 8 – Tariel – »Nun lass uns …
Kapitel 9 – Mila – Das kleine Lämpchen …
Kapitel 10 – Tariel – »Zech, ich sag …
Kapitel 11 – Mila – Es ist dunkel …
Kapitel 12 – Asher – Es war unwahrscheinlich …
Kapitel 13 – Mila – Alles tat weh …
Kapitel 14 – Mila – Mila konnte noch …
Kapitel 15 – Tariel – »Wir gehen jetzt …
Kapitel 16 – Mila – Etwas pochte in …
Kapitel 17 – Asher – Die Warnung traf …
Kapitel 18 – Mila – Wenn man nicht …
Kapitel 19 – Tariel – Wenn die Ewigen …
Kapitel 20 – Asher – Jemand wie Asher …
Kapitel 21 – Mila – Das war … verrückt …
Kapitel 22 – Asher – Die Veränderung war …
Kapitel 23 – Mila – Ich will nicht …
Kapitel 24 – Tariel – »Verfluchte Scheiße!«, brachte …
Kapitel 25 – Mila – Kondition war nie …
Kapitel 26 – Asher – »Das lange Sitzen …
Kapitel 27 – Mila – Der Friedhof. Es …
Kapitel 28 – Asher – Raquels dreckiges Grinsen …
Kapitel 29 – Tariel – »Du miese Schlange!« …
Kapitel 30 – Mila – Es ist dunkel …
Kapitel 31 – Asher – »Ich muss mich …
Kapitel 32 – Tariel – Die Türen gingen …
Kapitel 33 – Mila – Müde und erschöpft …
Kapitel 34 – Asher – Die Tür zum …
Kapitel 35 – Mila – Mila hatte lange …
Kapitel 36 – Tariel – Sein Auftrag war …
Kapitel 37 – Asher – »Ich bereue es …
Kapitel 38 – Mila – Mila fiel es …
Kapitel 39 – Asher – »Dir fallen gleich …
Kapitel 40 – Mila – Wenn sich Mila …
Kapitel 41 – Mila – Ashers Worte wurden …
Kapitel 42 – Asher – »Wenn wir Reia …
Kapitel 43 – Mila – Das Dröhnen in …
Kapitel 44 – Asher – »Niemand weiß, wo …
Kapitel 45 – Mila – Der Raum glich …
Kapitel 46 – Asher – Keine Spur von …
Kapitel 47 – Mila – Reia und Mila …
Kapitel 48 – Asher – »Wenn es nicht …
Kapitel 49 – Mila – Mila schrie und …
Danksagung
≠Für jeden, der sich seine Fantasie, seine Träume und seine Hoffnungen bewahrt. An hellen und an dunklen Tagen.Für meine Leser.
»Dieses Universum wird getragen von Gleichgewicht. Jede Anomalie muss verschwinden. Aber was passiert, wenn man lieber die ganze Welt in Asche legen würde, als diesen Fehler zu zerstören? Was wäre, wenn man beginnt, ihn zu lieben?«
Am Anfang stand das Gleichgewicht.Der Dunkelheit folgte das Licht.Die Ewigkeit traf auf den Tod.
Die Welt stand still. Für einen kurzen Augenblick hielt sie den Atem an und mit ihr jedes Geschöpf, das mehr Ewigkeit als Endlichkeit in sich trug. Dessen war Tariel sich sicher. Er konnte die aus dem Takt geratene Balance ganz genau spüren. Der Fehler war da, begann wie ein zweites Herz in ihm zu pochen. Von einem Moment auf den anderen hatte sich etwas verändert. Etwas, das über die Grenzen des Menschlichen hinausging und nun sie betraf, ob sie wollten oder nicht. Denn dieses Universum war nicht geschaffen für Ungleichgewicht. Alles brauchte ein Gegenstück.
Tariels Hand krallte sich in seinem hellen Hemd über seiner Brust fest. Er biss die Zähne zusammen, während er seinen Blick über die Stadt unter sich gleiten ließ. Über ihre Lichter, Brücken und die roten Dächer. Die untergehende Sonne tauchte alles in Orange, Schatten tanzten umher, der kühle Wind fegte über Tariels Gesicht. Noch immer wartete er darauf, dass der Schmerz abklang.
Diese Veränderung war anders als jene der letzten Jahrhunderte. Solche, die immer wieder entstanden. Kleinere Probleme oder Anomalien, Abweichungen, teils geführt durch Zufall, teils durch Schicksal. Fehler, die sich von selbst erledigten, die nicht nennenswert waren oder sich leicht beheben ließen.
Aber diese … diese Veränderung brachte das Gleichgewicht nicht nur in Bewegung, sie zerrte daran, begann, es zu verziehen und zu zerrütten.
Tariel fluchte ausgiebig, bevor er für wenige Sekunden die Augen schloss, versuchte, sich zu beruhigen, und atmete mehrmals tief ein und aus. Er konnte nicht glauben, dass sie es nach dieser Ewigkeit nicht besser wussten.
Ein kurzes und hartes Lachen brach unerwartet aus ihm hervor. Tariel schüttelte den Kopf und reckte das Kinn, als der Schmerz schließlich langsam verblasste. Am Ende blieb er als dumpfes, kaum wahrnehmbares Pochen in ihm zurück, wurde zu einem unguten Gefühl in den hintersten Winkeln seiner selbst. Er würde erst ganz verschwinden, wenn das Problem gefunden und das Gleichgewicht vollkommen wiederhergestellt war.
Es war unbestreitbar und konnte nur eines bedeuten: Jemand hatte sich eingemischt.
Milas Versprechen war gebrochen, lange bevor sie einen Fuß in ihre Heimatstadt gesetzt hatte. Voller Aufregung und Nervosität atmete sie die frische Frühlingsluft ein und genoss die zarte Gänsehaut, die sich kurz darauf auf ihren Armen bildete. Sie beobachtete den Nebel, der zwischen den Gebäuden entlangwaberte, durch die Gassen, über das Kopfsteinpflaster bis hin zur anderen Seite des Flusses. Die ersten Strahlen der Sonne brachen sich darin, erweckten die Stadt langsam zum Leben und zwangen die Schatten zurück in ihre Ecken. Die Häuser und Mauern waren aus längst vergangenen Zeiten. Jeder einzelne Stein, mit dem diese Stadt erbaut worden war, schien Mila eine Geschichte erzählen zu wollen. Es sah aus, als haftete ihnen etwas Lebendiges an, das stetig vor sich hin pulsierte und ihr zuwisperte. Etwas, das Dunkelheit und Licht verband und so viel zu zeigen hatte, wie es zu verbergen wusste: Geheimnisse, Fragen, Antworten. Diese besondere Atmosphäre konnten nur wenige Plätze dieser Welt für sich beanspruchen.
Orte wie dieser besaßen eine Seele.
Mila zog die Jacke fester um sich, schloss sie am Kragen und ließ ihren Blick ein weiteres Mal umherschweifen. Etwas in ihr erkannte diesen Ort wieder, fühlte sich ihm verbunden. Aber sosehr sie sich auch bemühte, die Erinnerungen und Bilder zeigten sich nicht, sondern hielten sich versteckt. Als stattdessen plötzlich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf erklang, schluckte Mila schwer und presste die Lippen aufeinander.
Versprich es mir, Milena, hatte sie gefleht. Geh nicht zurück!
Nickend hatte sie die Hand ihrer Mutter noch ein wenig fester gedrückt und bereits da gewusst, dass es falsch war. Man versprach nichts, von dem man nicht wusste, ob man es halten konnte. Aber ebenso falsch war es ihr vorgekommen, ihre Mutter mit zu vielen Sorgen gehen zu lassen.
Und Mila hatte geahnt, dass es bald so weit sein würde. Sie war aus dem Schlafzimmer gegangen, durch den langen und schmalen Flur ihrer Wohnung nach hinten in die winzige Küche mit dem giftgrünen Vorhang am Fenster. Nachdem sie sich einen Tee gemacht hatte, holte sie ihrer Mutter ein Glas Wasser. Mit den Getränken in den Händen war sie zurückgegangen und noch ehe sie am Schlafzimmer angelangt war, hatte sie es gewusst. Lange bevor sie ihre leblose Mutter und deren schönes, aber eingefallenes Gesicht erblickte, hatte sie es gespürt. Hatte es gesehen. Mila war näher getreten, hatte ihre Mutter gerufen, aber sie war für immer fort. Die Leere und all die Fragen, die sie hinterließ, waren so schmerzhaft, dass Mila das Glas auf den Boden fallen lassen hatte – und sich selbst hinterher. Ihre Mutter hatte dagelegen, friedlich und grau. So unendlich grau …
Diesen Anblick würde Mila nie vergessen.
Sie brach zusammen, brach auseinander. Bis heute.
Ihre Lippen bebten, ihr Mund war trocken, ihr Herz raste. Nun würde sie selbst herausfinden, ob es stimmte, was man sich erzählte. Dass Zeit alle Wunden heilte.
Kurz nach der Beerdigung hatte Mila ihre Sachen zusammengesucht und in der überschaubaren Wohnung Ordnung geschaffen. Das meiste hatte sie verkauft oder weggeworfen, eigentlich alles bis auf ihre Lieblingskleidungsstücke und die wichtigsten Andenken. Die Erbangelegenheiten wurden geregelt, ihre Jobs in der Bücherei und dem kleinen Café hatte sie gekündigt und die Schule abgebrochen. Das Abitur musste warten.
Sie hatte keine Familie mehr, zumindest keine, von der sie wusste. Richtige Freunde gab es auch nicht. Ein paar Bekannte, Nachbarn. Zwar hatte sie immer Freunde gewollt, aber letztlich hatte Mila nie lange verheimlichen können, was sie sah. Was sie belastete. Das hatte aus Freunden schnell wieder Fremde gemacht. Weil Mila ihnen zu seltsam war, sie ihr nicht glauben wollten oder sie schlicht Angst hatten.
Deshalb hatte sie Berlin verlassen. Sie war einfach losgezogen, hatte ihre Mutter in Gedanken immer wieder dafür um Verzeihung gebeten, und jetzt stand sie hier mit ihrem letzten ersparten Geld. Nur, um einem Gefühl hinterherzujagen, von dem sie nicht genau wusste, was es bedeutete. Ohne einen konkreten Plan, ohne Zukunft. Aber Mila wollte Antworten, sie brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Weil sie das Gefühl hatte, ohne sie nicht vollständig zu sein. Nicht ganz sie selbst. Und wenn sie ehrlich war, war es mehr als nur ein Gefühl.
Ihr Fluch musste gebrochen werden. Er musste verschwinden. Vielleicht war diese Stadt der Ort, an dem es endlich gelingen würde.
Ihre Mutter hatte nie über ihre Heimat gesprochen, warum sie aus Praha fortgegangen waren oder weshalb sie daraufhin in Amsterdam, dann in London und letztlich in Berlin gelebt hatten. Wieso sie trotzdem regelmäßig auf Tschechisch mit ihr gesprochen und was diese Stadt ihr angetan hatte, dass sie so große Ehrfurcht, beinahe Angst, vor ihr gehabt hatte. Das war die Spitze eines Eisbergs von Fragen. Denn es gab nur eines, das Mila mit Sicherheit wusste: dass sie weit davon entfernt war, ein normales Mädchen zu sein.
Sehr früh hatte sie gelernt, dass normal sein eine Voraussetzung war, um wirklich akzeptiert zu werden. Auch wenn ihr niemand erklären konnte, was normal eigentlich genau bedeutete. Mila war anders, das war unbestreitbar. Und das Gefühl, dass dieses Anderssein, diese Stadt und die Verschwiegenheit ihrer Mutter irgendwo in losen Fäden zusammenhingen, ließ sie nicht los, trieb sie an und schürte ihre Neugier. Gab es andere wie sie?
Die Uhr an ihrem Handgelenk stand auf kurz vor sechs in der Früh und die Müdigkeit, die Mila all die Stunden in Schach gehalten hatte, begann, sich in ihren Gelenken niederzulassen. Ihre Augen wurden schwer, sie unterdrückte ein Gähnen. Die Busfahrt über Nacht war weder schlimm noch ungemütlich gewesen, trotzdem hatte Mila keinen Schlaf gefunden. Doch da sie erst später in ihrer Unterkunft einchecken konnte, hatte ihr Weg sie gleich hierhergeführt.
Mila schob den Schmerz, die Gedanken an ihre Mutter mit aller Kraft beiseite, legte ihre Finger um den Griff des Koffers und setzte einen Fuß vor den anderen. Sie zog ihn hinter sich her, den Koffer, in dem ihr ganzes Leben war.
Während Mila weiterlief und ihren Gedanken nachhing, zogen Menschen an ihr vorbei, gingen zur Arbeit, begannen ihren Alltag oder den Urlaub. Die Geräusche nahmen mehr und mehr zu, vermischten sich, aber das war ihr gleich, sie blendete sie aus.
Denn sie war am Ziel.
Mila blieb stehen, blickte hinauf zu dem Brückenturm, der über ihr aufragte, massiv und standhaft, aus altem Stein, mit gotischen Zügen und spitzem Dach. Einnehmend, beschützend und einschüchternd zugleich. Einzelne Wappen, Statuen von Königen und Symbole prangten auf der Vorderseite. Der Eingang zur Karlův most, der Karlsbrücke, die die Altstadt mit der Kleinseite verband. Mila wusste, sie war nicht zum ersten Mal hier. Wenn ihr nur die Erinnerung daran nicht fehlen würde …
Der Beweis dafür war eines der beiden kleinen Polaroids, die sie gefunden hatte. Dieses winzige Ding, das sie nun mit Bedacht aus ihrer Tasche zog.
Ihr Blick wanderte von dem in den Himmel ragenden Turm zu dem schwarz-weißen Foto in ihrer Hand. Das Polaroid, das alle verbliebenen Zweifel darüber, ob ihre Entscheidung hierherzukommen richtig war, mit einem Schlag wegwischte. Nur zwei Fotos hatten in dieser alten verstaubten Kiste gelegen, die ihre Mutter in der hintersten Ecke ihres hässlichen Schranks versteckt hatte. Auf der Rückseite war auf diesem Polaroid mit feiner, filigraner Schrift Praha notiert. Die Hand ihrer Mutter musste gebebt haben, hier und da waren die Linien nicht so schwungvoll und glatt wie sonst. Die Vorderseite zeigte ein kleines Mädchen, das lachend über eine Brücke lief, mit ausgestreckten Armen, wehendem Haar und unschuldiger Miene. Milena stand darunter.
Das andere Polaroid befand sich gut verstaut in ihrer Tasche. Es war komplett vergilbt und beinahe verblasst, man konnte nichts mehr erkennen außer dem Gesicht ihrer Mutter, das ihr entgegenblickte – jung und glücklich. Mila konnte kaum glauben, wie ähnlich sie ihr sah. Auf der Rückseite stand Praha, Jílovská. Ein Straßenname, den sie noch nicht hatte zuordnen können. Das waren die einzigen Fotos aus Prag, die ihre Mutter behalten hatte. Sosehr sie all dem hier den Rücken gekehrt und Mila auf dem Sterbebett dieses Versprechen abgenommen hatte, so wenig hatte sie diese Aufnahmen aus ihrer Heimat aus ihrem Leben verbannen können.
»Was ist nur passiert?«, flüsterte Mila leise zu sich selbst, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte.
Während der Koffer hinter ihr her über die Steine holperte und ihr ganzer Halt war, schritt sie durch das hohe und breite Tor. Sie trat auf die Brücke, das Polaroid in ihrer zitternden linken Hand, die von der morgendlichen Kälte gerötet war. Die Brücke lag nahezu vollständig im Schatten. Der Nebel zog sich nur widerwillig zurück, glich einer Mischung aus Watte und Rauch. Die Feuer in den Lampen tanzten einen trägen Tanz, glitten an ihr vorüber und mit ihnen die Statuen der Schutzpatrone, die beide Seiten der Brücke säumten.
Schritt für Schritt fiel Mila das Gehen schwerer. Die Aussicht, besonders über die Moldau, war beeindruckend und einnehmend. Der Nebel bedeckte das Wasser, nur hier und da glitzerte und glänzte es auf, dort, wo die Sonne es schon erreichte.
Ich bin endlich da, schoss es Mila durch den Kopf. Sie kam samt Koffer zum Stehen und legte das Polaroid über das Bild, das sich ihr bot.
Hier war es.
Mila ging in die Hocke, steckte das Foto eilig zurück in die Tasche, um ihre Hand nach dem Boden auszustrecken. Bebend, langsam, schwer atmend. Es war ein alberner Drang, doch sie konnte ihm nicht widerstehen. Sie wollte die Stelle berühren, auf der sie als Kind gestanden hatte. Also ließ sie ihre Fingerspitzen über die kalten Steine fahren, über die glatten Stellen, über die Risse und Unebenheiten, über den Dreck. Es fühlte sich richtig an. Mila betete stumm, die Stadt möge ihr ihre Geschichte erzählen und ihr anvertrauen, was sie selbst vergessen hatte. Sie schloss die Augen, gestattete sich zu träumen. Ihr Kopf fiel leicht nach vorne, ebenso ihr dickes Haar, und der Wind strich über ihren Nacken.
Ich bin zu Hause.
»Jsou v pořádku?«
Jemand berührte Mila so unerwartet an der Schulter, dass sie vor Schreck beinahe ihren kompletten Halt verlor. Gerade rechtzeitig riss sie die Augen auf, verlagerte ihr Gewicht und stützte sich kräftig mit der Hand auf dem Boden ab. Ein Mann mittleren Alters hatte sich zu ihr hinuntergebeugt, steckte seine Hände in die Taschen des abgetragenen Mantels und sah sie durch seine große, eckige Brille durchdringend an.
Geht es Ihnen gut?, hatte er gefragt.
Das Blut rauschte in Milas Ohren. Sie war so gefangen gewesen in ihren Wünschen und Gedanken, dass sie alles andere ausgeblendet hatte. Es war aufmerksam von ihm, zu ihr zu kommen, denn sie kniete mitten auf einer Brücke zu frühester Stunde. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, sich zu beruhigen und ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Nicht nur aufgrund seiner Frage.
»Ano, děkuji«, erwiderte sie mit belegter, aber fester Stimme und geröteten Wangen. Es geht mir gut, danke.
Der Mann nickte knapp, ging weiter seines Weges und Mila schluckte schwer. Ein Grauer. Er war ein Grauer.
Mit wild klopfendem Herzen ermahnte sie sich selbst. Sie durfte es nicht an sich heranlassen. Immer wieder rief sie sich das ins Gedächtnis. Mitleid machte sie nur traurig, Wut lähmte sie. Und beides würde dem Grauen nicht helfen. Nichts und niemand konnte das noch. Also ließ sie ihn ziehen, sah ihm nicht länger nach und bemühte sich, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.
Zu oft verfolgte sie dieser Fluch.
Die Brücke war nun weitaus belebter, die Sonne schien heller und die Laternen brannten nicht mehr. Wie lange hatte sie dort verweilt, ohne es gemerkt zu haben?
Es wurde Zeit.
Mila stand auf, klopfte sich den Dreck von den Händen und seufzte leise. Ihre Finger versicherten sich, dass beide Polaroids in der Tasche und nicht aus Versehen hinausgefallen waren, bevor sie kehrtmachte und zurück Richtung Altstadt ging. Sie würde wiederkommen.
In der Nähe des Rathauses wollte sie einen Kaffee trinken oder eine heiße Schokolade, um wach zu werden und sich zu stärken, bevor sie das Hotelzimmer aufsuchte. Sie musste sich ausruhen, sie brauchte Schlaf. Anschließend würde sie die Stadt erkunden.
Irgendwo hier warteten Antworten auf sie. Alles, wonach sie suchte. Das wollte sie glauben, nein, darauf hoffte sie.
Doch sie hatte nur eine Idee, nur eine Möglichkeit, die sie wirklich weiterbringen konnte. Und die war es, herauszufinden, warum ihre Mutter einen Straßennamen auf ein Polaroid geschrieben hatte, das in einer geheimen Kiste versteckt gewesen war und aus einer Zeit, aus einer Stadt stammte, die sie vergessen wollte. Jílovská. Vielleicht gab es dort Menschen, die ihr helfen konnten.
Es war ein Strohhalm, nach dem sie griff, das war ihr klar, aber sie hoffte, er würde genügen, um sie ans Ziel zu führen. Prag war ihr einziger Anhaltspunkt.
Milas Wurzeln waren hier und sie wollte sie erforschen. Wenn alles klappte, konnte sie sogar diesen Fluch loswerden. Oder zumindest endlich verstehen, woher er kam und warum er auf ihr lag.
Bald, sagte sie sich. Bald wird alles anders sein.
Tief einatmend umklammerte sie innerlich den letzten Funken Hoffnung, den sie sich bewahrt hatte.
Die Sonnenstrahlen begannen, Mila zu wärmen, und während sie zu einem der Cafés in der Nähe des Rathausplatzes schlenderte, öffnete sie den Reißverschluss ihrer Jacke ein Stück. Die Altstadt war wunderschön, verströmte einen einzigartigen Charme. Besonders die Rathausuhr, vor der sie stehen blieb, zeugte von purer Handwerkskunst und Schönheit.
Vor ihrer Abreise hatte sich Mila vor allem über einzelne Gebäude und die Kultur ihrer Heimat erkundigt. Sie wusste, dass diese astronomische Uhr ein wertvolles Denkmal und bereits im Jahre 1410 erbaut worden war. Lange Zeit fand man darauf keine unnötige Schnörkelei oder Figuren, sondern lediglich reine astronomische Kunst. Erst später wurde ein Kalendarium darunter hinzugefügt, Kreis an Kreis. Die Uhr selbst besaß drei Zeiger. Einen für die zwölf Sternzeichen, einen für die Sonne und einen für den Mond. Die Apostel und andere Figuren setzten sich zu jeder vollen Stunde zwischen neun Uhr morgens und abends in Bewegung. Es war ein Kunstwerk, das Mila den Atem raubte. Legenden, historische Orte und Gebäude – Geschichte im Allgemeinen – faszinierten sie.
Nur widerwillig löste sie den Blick von der Uhr und setzte ihren Weg fort. Ihr laut knurrender Magen und ihre müden Augen ließen ihr kaum eine andere Wahl. Direkt um die Ecke fand sie ein kleines, charmant wirkendes Café und ließ sich dort auf einem der beigefarbenen Stühle draußen auf der Terrasse nieder.
Kaffee bekam ihr auf leeren Magen nicht besonders gut, daher widerstand sie dem Verlangen danach und bestellte stattdessen eine heiße Schokolade mit viel Sahne. Sie umfasste die Tasse, die die Kälte in ihren Fingern vertrieb, und bemühte sich, den Kakao mit leichtem Pusten abzukühlen.
Die Schokolade wärmte sie von innen, und als Mila langsam anfing, sich zu entspannen, schenkte sie ihrer Umgebung wieder mehr Aufmerksamkeit. Der Trubel hatte seinen Weg hierhergefunden. Menschen schlenderten oder hetzten die Straßen entlang, bogen ab und verschwanden, bevor kurz darauf weitere um die Ecke kamen. So viele verschiedene Gesichter und Geschichten. Nicht eines oder eine davon kannte Mila. So viel Farbe und so viel Grau. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich fast daran gewöhnt, bis ihre Mutter …
Seit sie fort war, wurde die Last zu schwer. Nur sie hatte Mila geglaubt, hatte von ihrem Fluch gewusst, ihn ernst genommen – und war trotzdem bei ihr geblieben. Niemand sonst. Niemand.
Wie konnte man das, was einem auf der Brust saß und niederdrückte, das, was einem den Atem raubte und Albträume bescherte, das, was der Welt die Farbe nahm, nicht verabscheuen? Und wie sollte nicht etwas in ihr zerbrechen, nun, da der einzige Mensch, der sie geliebt hatte, nicht mehr da war?
Wenn es um die Menschen und Dinge ging, die man liebte, war es immer etwas anderes. Es war tiefer, heftiger und schmerzhafter. Wenn man liebte, wurde alles intensiver. Milas Fluch war stets schlimm gewesen, doch als er ihre Mutter vor ihren Augen grau werden ließ, hatte sie das Gefühl gehabt zu fallen. Bis jetzt hatte sie Angst davor, niemals damit aufhören zu können.
Du bist, wer du bist, Milena. Aber die Welt sieht das vielleicht anders. Manche Geheimnisse sollte man bewahren.
Die Stimme ihrer Mutter hallte in ihr wider, so laut und klar, als würde sie neben ihr stehen, sie in den Arm nehmen und ihr die Worte direkt ins Ohr flüstern. Mila hatte diesen Rat nicht nur irgendwann verstanden, sondern begonnen, ihn zu beherzigen. Immer. Egal, wie weh es getan hatte. Wie weh es auch jetzt tat.
Geheimnisse waren nichts Gutes. Geheimnisse machten einsam. Das war etwas, das ihre Mutter ihr vorenthalten hatte. Aber Mila wusste, dass es genauso einsam machte, sie zu verraten. Manche Geheimnisse waren ein Fluch. Ihres war einer. Auch mit Flüchen konnte man überleben. Mila war der beste Beweis dafür.
Doch sie wollte mehr als das. Sie wollte leben.
Bis heute behaupteten sie, diese Welt wäre das perfekte Beispiel für Balance. Heute, nach diesem Moment des Stillstands vor all den Jahren. Nach diesem unerträglichen Schmerz.
Dennoch war der Fehler weiterhin da, er hatte sich nicht von selbst erledigt und keiner hatte ihn finden können. Er hatte das Gleichgewicht nicht zerrissen oder gekippt – noch nicht. Das bedeutete nicht, dass er aufhörte, daran zu ziehen. Wer wagte es schon, von Gleichgewicht zu sprechen, wenn es mit jedem Tag in Gefahr war?
Sollten sie sich ruhig selbst belügen. Sollten sie sich ruhig einreden, dass diese Anomalie kaum der Rede wert war. Dabei konnte es jeder von ihnen spüren, wenn er sich nur stark genug konzentrierte. Jeder, der das Wort Balance in den Mund nahm, solange das Problem nicht behoben worden war, sollte sich von Tariel fernhalten.
Nicht, dass Tariel es besser wusste. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte oder gar Informationen. Aber sein Instinkt hatte seit diesem Vorfall vor zwölf Jahren nicht aufgehört, ihn anzuflehen, es ernst zu nehmen. Wenn er seinem Ziel oder wenigstens den Antworten zu seinen Fragen näher gekommen wäre. Doch er hatte den Makel nicht ausfindig machen können, geschweige denn denjenigen, der ihn verursacht hatte. Frustration und Ratlosigkeit breiteten sich mehr und mehr in ihm aus – und nach all der Zeit auch der Wunsch nach Ruhe. Tariel lebte schon so lange, dass er sich kaum mehr an jedes seiner Lebensjahre erinnern konnte. Ja, er sehnte sich nach Ruhe, dennoch konnte er nicht aufgeben.
Grob und schnell fuhr er sich durch sein kurzes Haar und schob all die Gedanken beiseite. Lange würde er sie nicht zurückdrängen können, das wusste er, aber wenigstens für einen kurzen Augenblick würde es ihm gelingen. Denn dieser Platz gab ihm das Gefühl, über den Dingen zu stehen, die ihn beschäftigten. Die Sphäre des Lichts.
Die Menschen nannten diesen Ort Himmel, Tariel nannte ihn Zuhause. Er war Teil der Erde und doch wieder nicht, denn er befand sich in einer Sphäre zwischen der Welt und dem Rest des Universums, an der Schwelle von Hier und Dort. Dieser Ort war Teil der Unendlichkeit, sowohl in Zeit als auch in Raum.
Es war kein Geheimnis, dass die Sterblichen seit Ewigkeiten an viele Götter und den Himmel glaubten. Wenn sie wüssten, dass sie letztendlich alle dasselbe meinten und trotzdem keinen blassen Schimmer davon hatten. Wenn sie wüssten, wie weit entfernt sie von der Wahrheit waren. Wie weit sie davon entfernt waren zu verstehen, wer Tariel wirklich war.
Engel. So bezeichnete man sie. Und irgendwie hatte der Name, den man ihnen gegeben hatten, sich gefestigt. Obwohl sie sich selbst lieber als Ewige oder Hüter betrachteten, übernahmen sie ihn teilweise. Aber sie waren keinesfalls das, was die Menschen in ihnen sahen. Gesandte Gottes. Darüber konnte Tariel nur lachen. Die Tatsache allerdings, dass die Menschen überhaupt von geflügelten Wesen wussten und sich ihre eigenen Wahrheiten zusammenreimten, war ihre eigene Schuld.
Tariel schüttelte den Kopf, bevor er seufzend seinen Blick schweifen und die Umgebung auf sich wirken ließ.
Vollkommene Stille umfing ihn hier. Er genoss sie, atmete tief ein und aus, während er das Energiefeld hinter sich ließ, durch das er hergekommen war. In all der Zeit hatte er sich nicht an diese Art zu reisen gewöhnen können. Dieses Gefühl, die fremde Energie, die auf ihn einwirkte und ihn durchdrang, mochte er nicht besonders. Nein, er hasste es sogar. Danach überkam ihn stets das Bedürfnis, seine Flügel zu rufen, sie auszubreiten und zu strecken. So wie jetzt. Tariel war sich Feder um Feder bewusst, fühlte ihre Bewegungen ganz genau, obwohl kein Windhauch zu spüren war, keine Kälte oder Hitze.
In dieser Sphäre existierte die Dunkelheit nicht, es gab keine Nacht, und wenn man um sich blickte, entdeckte man nichts als Licht. Eine Helligkeit, die nicht blendete, sondern angenehm war. Die dafür sorgte, dass niemand erahnen konnte, wie weit sich dieser Ort und der Horizont erstreckten.
Tariel konnte ein wohliges Seufzen nicht unterdrücken, bevor die großen weißen Flügel auf seinem Rücken wieder verschwanden, sich in ihre kleinsten Partikel auflösten und davonstoben. Sie waren längst fort, als er die schmalen, eleganten Stufen vor sich hinaufging, von denen jede unter seinen Schritten golden aufleuchtete.
Das typische Kribbeln, das einer statischen Aufladung glich, überzog Tariels Haut, kurz bevor er das Gebäude vor sich betrat. Gleich würde die Ruhe vorbei sein. Er konnte die Gegenwart der anderen bereits spüren. Wenn er sich anstrengte und seine Schutzmauern vollkommen niederriss, würde er sogar jeden einzelnen Ewigen des Lichts fühlen. Ihre Macht und ihre Gedanken würden in ihm wie ein Echo pulsieren, sich mit seinen vermischen, ein Chaos bilden und jeglichen Sinn verlieren. Das war etwas, das jeder Ewige zu vermeiden versuchte, weil es Schmerzen verursachte und auf Dauer vollkommen auslaugte. Diese Macht unter Kontrolle zu halten war anstrengender, als die anderen auszuschließen und seinen eigenen Geist zu schützen.
Tariel hob seine rechte Hand, legte sie auf die große Flügeltür vor sich und spreizte die Finger. Dann ließ er einen Teil seiner ureigenen Kraft durch seinen Körper fließen, konnte fühlen, wie sie seine Handfläche durchströmte und auf die Tür übersprang. Das Licht in ihm trug eine Signatur, die von der Tür erkannt wurde, und nach einem Augenblick schwang diese mit einem leisen Klicken auf.
Sobald man einen der äußeren Eingänge passiert hatte, wurde man automatisch in das Zentrum des Gebäudes teleportiert. Von hier aus konnte man ohne Probleme oder Anstrengungen in jede Ecke dieser Sphäre gelangen. Vorausgesetzt, man hatte die Genehmigung für gewisse Bereiche.
Tariel stand nun fernab von dem Platz, an dem er die Flügeltür durchschritten hatte.
Dieser zentrale Punkt war eine erste Anlaufstelle und ein Ort, der gewissen ungeschriebenen Gesetzen unterlag. Man war seit jeher bemüht, jeglichen Ärger aus dieser Sphäre fernzuhalten – besonders hier. Laster und Spaß waren etwas für die dunkle Seite.
Tariel sah sich um und vernahm das übliche und vertraute geschäftige Treiben. Unzählige Ewige kamen und gingen, wandten sich an den Informationsschalter, hetzten vorbei oder unterhielten sich angeregt. Die meisten hier trugen helle Kleidung, denn sie waren der Meinung, dass das Licht sich zu jeder Zeit in allem widerspiegeln sollte. Ein weiteres ungeschriebenes Gesetz. Manchmal kam Tariel nicht umhin, sich zu fragen, warum sie so große Anstrengungen für ein äußeres Bild unternahmen, das niemanden interessierte außer sie selbst. Es war eine Verschwendung von Zeit, Gedanken und Ressourcen und dennoch etwas, dem sich Tariel nicht entziehen wollte oder konnte. Sosehr er es infrage stellte, so wenig wollte er etwas daran ändern. Es würde schon seine Richtigkeit haben. Daran glaubte er.
Das Gebäude, in dem er sich befand, war eine Mischung von Epochen. Weißer Kalkstein und Marmor, große Säulen in der Halle, kunstvolle Verzierungen an den Decken verbunden mit Metall und Eisen. Alle paar Hundert Jahre passte man das Aussehen an aktuelle Befindlichkeiten oder Notwendigkeiten an – bis auf wenige Ausnahmen. Der Rat entschied in gewissen Abständen über ein neues Design. Sosehr man an Routine, Regeln und alten Gewohnheiten hing, so sehr sehnte man sich auch irgendwann nach kleinen, unbedeutenden Veränderungen. Jene, die etwas veränderten und doch nichts. Die keinen direkten Einfluss hatten. Besonders dann nicht, wenn man ewig lebte.
Dieses Gebäude war das Konstrukt einer Idee, eine Zusammenstellung aus kleinsten Teilen, ein Stück Universum. So wie alles andere. Wenn die wenigen Architekten unter den Ewigen ihre Macht konzentrierten, konnten sie nur mit ihren Gedanken Stein um Stein gestalten, die Materie formen und nach ihren Wünschen zusammenfügen. Den anderen Ewigen war dies nur begrenzt möglich, erst recht nicht mit großen Sphären. Architekten waren weder Krieger noch große Denker. Sie verwendeten ihre Energie allein für diese eine Aufgabe, sodass ihre restlichen Fähigkeiten beinahe verkümmerten. Diese Art der Magie erforderte große Konzentration und machte angreifbar. Noch einige Zeit nach einer solchen Anstrengung war bereits die schwächste Form der Magie schon zu stark. Auch eines der Dinge, die man zu vermeiden versuchte.
»Tariel, du Schwerenöter!«, dröhnte plötzlich eine Stimme hinter ihm und kurz darauf stellte sich Micael direkt vor ihn. Wie eh und je mit einem lässigen, überaus frechen Grinsen im Gesicht und hoffnungslos zerzausten Haaren.
»Du redest wohl von dir«, erwiderte Tariel, während Micaels Grinsen breiter wurde.
»Meistens«, gab er lachend zu und klopfte Tariel freudig und kräftig auf die Schulter. Es war ungewöhnlich, Micael zu dieser Zeit hier anzutreffen.
»Hast du heute keinen Außendienst? Sag nicht, du hast erneut eine Abmahnung erhalten. Wie viele Ordner stehen mittlerweile bei dir herum? Haben sie inzwischen ihr eigenes Zimmer bekommen?«
»Also, Abmahnung klingt so negativ. Ich sehe das Ganze mehr als nettes und unterhaltsames Geplänkel, das mich bei Laune hält.« Micaels Augen funkelten vergnügt und er verschränkte die Arme vor der Brust. Er trieb mal wieder seine Spielchen mit den Ewigen der Rechtsabteilung.
»Dir ist schon bewusst, dass sie irgendwann einen Weg finden werden, das Ganze zu beenden und dich in helle, schlichte Kleidung zu stecken, oder?«
»Bestimmt! Und ich freue mich, wenn der Tag kommt. Schließlich dauert der Spaß bereits Jahrhunderte und irgendwann sollten wir doch mal ein neues Spiel wagen.«
Tariel konnte nicht anders, als missmutig den Kopf zu schütteln. Langeweile hin oder her, Micael musste aufpassen. Vor allen Dingen sollte er aufhören, ständig in Jeans mit unzähligen Löchern, auffälligen dunklen Boots und schwarzem Hemd, das stets aufgeknöpft war, hier aufzutauchen. Wenigstens trug er heute nicht diese hässliche Lederjacke. Nicht, dass das verboten wäre. Nichts war wirklich verboten. Die Rechtsabteilung war letztlich eine Art Scheininstitution, die gewisse Dinge in der Spur halten sollte und unwichtigen Papierkram erledigte. Wo keine Regeln waren, konnte man schließlich keine brechen. Dennoch sorgte die Abteilung dafür, dass bestimmte Vorstellungen eingehalten wurden. Sie war die helfende Hand der ersten Ewigen. Des Rates. Wer wusste schon, wie lange sie Micael seine Spielchen durchgehen lassen würde?
Die Regeln, die keine waren, mussten nicht schriftlich festgehalten werden, weil klar war, dass ihnen manches schlicht nicht zustand. Sie waren das Licht. Sie trugen kein Schwarz. Jeder kannte diese unsichtbaren Grenzen ihrer Existenz, jeder spürte sie und besaß so etwas wie einen moralischen Kompass. Auch Micael. Allerdings war er zu dem Schluss gekommen, dass die Ewigkeit mehr Abwechslung brauchte und sein lichter moralischer Kompass ihn in dieser Sache mal kreuzweise konnte. Aus diesem Grund stapelten sich in seinem Zimmer die Ordner mit Abmahnungen, in denen er wieder und wieder dazu aufgefordert wurde, diesen Unfug zu unterlassen.
Tariel kniff die Lippen zusammen und musterte Micael von oben bis unten.
»Was genau erhoffst du dir eigentlich von alldem? Ist das eine Art Rebellion? Oder gefallen dir die Sachen einfach? Ich verstehe es nicht.«
Nur für einen kurzen Moment entglitt Micael das Grinsen und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. So kurz, dass Tariel daran zweifelte, dass es gerade wirklich passiert war. Wahrscheinlich hatte er einen wunden Punkt getroffen. Dabei interessierte er sich schlicht dafür, warum sein alter Freund so fasziniert, ja nahezu besessen war von dieser kleinen Trotzaktion, die letztlich zu nichts führte.
Doch bevor er sich weiter Gedanken machen und mehr hineininterpretieren konnte, als vielleicht da war, ertönte Micaels schallendes Lachen.
»Ich nenne es Forschung. Wir sind das Licht, wir alle hier. Ich kenne meinen Platz genauso gut wie du. Es ist ein kleiner Zeitvertreib nebenbei. Nicht mehr. Ich sehe es nur zu gern, wenn die Rechtsabteilung ins Schwitzen gerät und tatsächlich einmal etwas zu tun bekommt. Etwas Richtiges.«
»Du bist der Einzige, mit dem sie sich seit Jahrhunderten beschäftigen.«
»Der Einzige, von dem wir wissen«, konterte Micael frech, während er Tariel freundschaftlich gegen den Arm boxte und ihm zuzwinkerte, was diesem sogar ein leichtes Lächeln entlockte.
»Du genießt das Ganze. Pass nur auf, mehr verlange ich gar nicht. Man kann auch unsichtbare Grenzen überschreiten.«
»Wow!« Micael riss den Mund gespielt entsetzt auf und seine Hand kam auf der Brust direkt über seinem Herzen zum Stillstand. »Das überrascht mich jetzt wirklich! Sind wir heute Morgen in den Kummertopf gefallen? Seit wann bist du so ein Griesgram? Okay, das war die falsche Frage. Seit wann bist du noch griesgrämiger und ernster als sonst?«
Tariel wich Micaels Blick aus und schwieg.
Mehr und mehr Ewige zogen an ihnen vorbei, geschäftig, dennoch freundlich. Einige grüßten. Viele von ihnen kannten sich seit Anbeginn der Zeit. So auch Tariel und Micael, sie waren mit die Ersten aufseiten des Lichts gewesen.
»Spuck es aus. Was ist los?«
»Nichts, verdammt!«, grummelte Tariel mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ah, ich sehe das Problem.« Micael nickte mitfühlend – und Tariel sah den Schalk in seinen Augen aufblitzen. Er wusste, was jetzt kam.
»Auf keinen Fall«, begann er zu protestieren, aber dafür war es bereits zu spät.
»Poker! Heute Abend! Es wird Zeit. Zu viele Jahre sind vergangen. Da kann man schon mal schlechte Laune bekommen.«
»Ich will nicht …«
Noch ehe Tariel weiterreden konnte, dröhnte eine viel zu laute Durchsage durch das Foyer und ließ den Boden erbeben.
»Micael, du alter Haudegen! Zieh dich gefälligst mal ordentlich an. Die schreiben dir hier gerade wieder ein Mahnschreiben.«
Tariel entwich beinahe ein verzweifeltes und zugleich angespanntes Stöhnen, als er erkannte, wer an der Sprechanlage saß.
»Entschuldigung?« Ein Aufseher der Ewigen fuhr dazwischen. In so hoher Tonlage, dass es beinahe in den Ohren wehtat.
»Oh, und beim Poker bin ich dabei!«
»Entschuldigung! Was tun Sie da? Finger weg!« Die Stimme des Aufsehers überschlug sich fast, wurde lauter, bevor ein kurzes Rauschen ertönte.
»Hey, was soll das? Gehört das Mikro etwa nur euch? Das macht echt Spaß …«
Es krachte und knarzte. Danach erklang ein Gänsehaut erzeugender Ton, der jeden zusammenfahren ließ und die Mikrofonanlage einen Moment später ganz zum Erliegen brachte. Entweder war dieser Ton schuld oder Ezechiel. Tariel tippte auf Letzteren.
»Ach, Zech«, jubelte Micael und hob beide Daumen grinsend nach oben, weil er wusste, ihr Freund würde es durch die Kameras bestimmt sehen können. Eine der kompakten Kamerawolken flog direkt über ihnen hinweg. Sie wirkte wie Zuckerwatte.
Währenddessen musterten ein paar andere Ewige sie schräg von der Seite. Tariel drehte sich in einer Mischung aus Belustigung und Genervtsein um und lief in Richtung Ratssaal. Nur mit Mühe gelang es ihm, nicht die Augen zu verdrehen.
»Ey, Ty! Heute Abend. Gleiche Zeit, gleicher Ort!«, rief Micael ihm hinterher. Er war der Einzige, der ihn so nannte, und der Einzige, den er nicht davon abbringen konnte. Spitznamen waren eine lächerliche Erfindung, der er nichts abgewinnen konnte.
Tariel winkte ab und bahnte sich seinen Weg durch die Menge, ohne zurückzublicken.
Lautlos glitt Tariel über den makellosen Boden. Über ihm flogen metallische weißgoldene Glühwürmchen, so groß wie Stare, und erweckten den Raum unterhalb der hohen Decken zum Leben. Sie waren kreiert worden, um Nachrichten von einem Ort zum anderen zu bringen. Jeder leuchtende Glühwurm trug gerade eine Botschaft an einen Ewigen in sich. Doch wie immer war das Micael nicht schnell genug, weshalb er allen damit in den Ohren lag, sie durch E-Mails und Computer zu ersetzen, um effektiver arbeiten zu können. Schließlich habe man auch den ganzen anderen Schnickschnack, wie er es nannte, übernommen.
Man hatte ihn übernommen und stets wieder verworfen. Das schien Micael zu vergessen. Wie die Faxgeräte, die vor ein paar Jahren beinahe Gebäude B1 komplett ausgeräuchert hatten, als sie alle in Flammen aufgegangen waren. Oder die Kopierer, die am Ende einfach nur das Papier gefressen hatten. Es war nicht überraschend, dass Micael immer dabei war, wenn etwas schiefging. Das war einer der Gründe, warum niemand einen Toaster in der Kantine wollte oder einen Grill. Und niemand verstand, was Micael an diesen menschlichen Dingen fand. Er hatte eine Schwäche für die Menschen und ihre Welt.
Tariel ging weiter durch die breiten Gänge, die an manchen Stellen von antiken Statuen oder von farbenfrohen Gemälden an den Wänden geziert wurden.
Die Größe dieses Gebäudes war unendlich. An den wichtigsten zentralen Stellen befanden sich Knotenpunkte. Der Fluss, der diese Welt, die Sphären und alles, was sie ausmachte, mit Energie versorgte und sie zusammenhielt, wurde dort verbunden. Dadurch konnten Teleportfelder oder ganze Portale geformt werden. Sie leuchteten in hellen, goldroten Farben mit silbrigem Schimmer und dienten dazu, bestimmte Ziele schneller und leichter ohne zu großen Energieverlust zu erreichen.
Tariel steuerte einen dieser Knotenpunkte an, um sich direkt zur Hauptzentrale, zu einem ganz bestimmten Raum, befördern zu lassen. Er befand sich im exakten Mittelpunkt der Sphäre. Seine Beine trugen Tariel immer weiter, bis seine Füße auf der vorgegebenen Markierung angelangt waren und er seine Macht mit der des Knotenpunktes verband. Die Gedanken auf sein Ziel konzentriert, verschwand Tariel. Er wurde Teilchen um Teilchen davongetragen.
Wenige Sekunden später materialisierte er sich genau vor dem Zimmer, zu dem er wollte. Tariel verließ die Kraftquelle, streckte sich unauffällig und konnte dabei nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. Er zog das Fliegen vor, verließ sich lieber auf seine eigenen Kräfte, aber innerhalb dieser Räumlichkeiten war dies eine der Regeln, die nicht existierten: keine Flügel.
Hier war es ruhiger als im Rest des Gebäudes, wahrscheinlich, weil sich außerhalb des Raumes, vor dem er nun stand, selten jemand herumtrieb. Auf dieser Ebene gab es nur dieses eine Zimmer. Nicht einmal die sirrenden Glühwürmchen flogen umher. Er genoss die Stille sonst, doch diese hier war unangenehm und erdrückend. Die Luft war wie aufgeladen, glich der Ruhe vor einem Sturm.
Tariel räusperte sich leise, seine Unentschlossenheit dauerte nur einen Wimpernschlag an, war nahezu unmerklich, aber dennoch war sie da gewesen. Und er hasste es. Sein Zögern, dieses Teleportfeld, diesen Raum, den er im nächsten Moment betreten musste, und die immer gleichen Berichte.
Bevor Tariel den Kopf hob, das Kinn reckte und die breiten Schultern durchdrückte, sammelte er sich. Er überprüfte seine Kleidung, sorgte dafür, dass sein Hemd korrekt saß und jeder Zentimeter von ihm Kontrolle ausstrahlte.
Alles sah perfekt aus. Gespielt sicheren Schrittes steuerte er auf die gigantische mahagonifarbene Flügeltür zu, auf deren Mitte zwei helle Handabdrücke prangten. Tief eingebrannt stachen sie einem Mahnmal gleich aus dem Holz hervor. Je nach Lichteinfall schimmerten sie schwach grau oder silbern und bildeten die einzige Unebenheit darin. Man könnte sie für einen Makel halten, wenn man es nicht besser wusste. Sie waren eine Warnung und eine Demonstration von Macht, die niemand aussprach. Die Energie, die von ihnen ausging, war so groß, dass Tariel stets ein Keuchen unterdrücken musste, wenn er sich ihnen näherte. Die Abdrücke umgab ein Zauber, man hatte ihnen so etwas wie Leben eingehaucht, und jedes Mal wenn er hindurchtreten musste, kam ihm der Gedanke, dass sich so Katzen fühlen mussten, die man gegen die Fellrichtung kämmte. Alles in ihm sträubte sich.
Je näher Tariel der Tür kam, umso stärker wurde dieses Gefühl, und wenn die Tür bereits auf ihn diesen Effekt hatte, es ihm als Ewigem der zweiten Ordnung so ging, wollte er gar nicht wissen, wie sich die jüngeren fühlen mussten. Die, die noch nicht so lange lebten und diese Macht schlechter ertragen konnten.
Schwäche hatte hier nichts zu suchen. Tariel verachtete sie. Genauso sehr wie diese Machtspiele.
Diese Tür war unnötig, man brauchte sie nicht. Nein, nicht wirklich.
Niemals würde er diesen Gedanken laut aussprechen, aber er überkam ihn schon, seit er denken konnte. Die Tür war nur eine weitere unausgesprochene Regel, eine weitere unsichtbare Grenze, und sie gehörte zu den Dingen, die man instinktiv verstand, ohne dass sie gesagt werden mussten. Es gab eine Rangordnung und Details wie diese hier erinnerten daran. Denn es kostete Kraft, diesen Zugang zu öffnen, ohne daran zugrunde zu gehen – ganz zu schweigen davon, dass nicht jeder die nötigen Fähigkeiten dazu besaß.
Es gab genau drei Engel, die vor Tariel existiert hatten – und somit vor allen anderen –, und die seit jeher den Rat bildeten. Niemand stellte das infrage. Nicht damals, nicht heute. Nicht an diesem Ort.
Tariel hasste diese Türen. Trotzdem würde er niemals am Rat und an seinen Absichten zweifeln.
Schließlich hob er die Hände und spreizte seine Finger. Er biss die Zähne zusammen, sein Kiefer mahlte. Dann trafen seine Hände auf das glatte Holz, fügten sich in die Abdrücke ein und seine Finger folgten den Konturen, bis sie sich vollständig angeschmiegt hatten. Sofort erhitzten sich die Abdrücke, das Holz unter seinen Handflächen glomm, wurde glutrot und golden und von Licht durchflutet. Äußerlich wirkte er ruhig, distanziert. Innerlich schrie Tariel auf, als eine Welle der Energie durch ihn floss, die nicht die seine war und ihm Schmerz bereitete. Seine Hände begannen zu verbrennen, verschmolzen mit den Abdrücken auf der Tür, der Energiestoß hatte jeden Zentimeter seines Körpers erreicht, und obwohl der Schmerz nur wenige Augenblicke andauerte, kam es ihm wie eine Ewigkeit vor. Das Gefühl war ekelhaft, intensiv und auf gewisse Weise intim. Es war, als würde die Energie der Türen ihn durchleuchten, ihn und alles, was ihn ausmachte, blank legen, jeden Gedanken erraten und jede Erinnerung einsehen. Als würde sie ihm jedes Mal einen kleinen Teil von ihm stehlen.
Wie von selbst öffnete sich die Flügeltür, glitt ohne Vorwarnung nach innen und gab Tariels verwundete Hände frei. Gleich würden sie wieder heilen.
Der Raum dahinter wirkte nahezu steril. Großzügig bemessen, beinahe gigantisch in Höhe und Breite, aber nur spärlich eingerichtet. Er war ein Abbild purer Ordnung. Raquel, Ahru und Artas saßen darin auf den großen ledernen Sesseln mitten im Raum, sichteten Akten, tranken und unterhielten sich dabei. Dicke weiße Teppiche bedeckten den ganzen Boden, das Leder der Sessel war der einzige Farbton im Raum, ein schönes dunkles Grün, leicht abgewetzt, aber dennoch stilvoll. In der Mitte stand ein einzigartiger Tisch in ovaler Form, dessen Glasplatte sich hob und senkte wie die Wellen des Meeres mit einzelnen Einkerbungen zum Abstellen von Gläsern. An den Wänden stauten sich Schränke mit Akten, Briefen, Notizen, wichtigen Überlieferungen und Berichten.
»Tariel, schön, dich zu sehen«, erklang Raquels Stimme als erste im Raum und schallte als leises, sanftes Echo von den Wänden wider. Leicht sarkastisch, provokant und im Gegensatz dazu doch weich und lieblich klingend. So doppeldeutig und gefährlich wie die Ewige, zu der sie gehörte.