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Michael Hardt

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Beschreibung

Seit rechte Bewegungen weltweit erstarken, wird die Frage immer dringlicher, wie man demokratische Bewegungen effektiv organisieren kann. Wie lässt sich verhindern, dass Soziale Bewegungen versanden? Wie kann man ohne charismatische Anführer wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Rudi Dutschke gesellschaftlichen Wandel erreichen? Occupy Wall Street und Black Lives Matter haben bereits wichtige Ansätze erprobt. Der Schlüssel, so Michael Hardt und Antonio Negri, liegt in der Macht, die entsteht, wenn die »Multitude« gemeinsam politisch entscheidet und handelt. Ihr Buch ist eine Kritik des Neoliberalismus und der kapitalistischen Produktionsweise sowie ein Plädoyer für innovative demokratische Möglichkeiten und ein Unternehmertum, das auf neuen Formen der Kooperation beruht.

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Michael Hardt, Antonio Negri

Assembly

Die neue demokratische Ordnung

Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Seit rechte Bewegungen weltweit erstarken, wird die Frage immer dringlicher, wie man demokratische Bewegungen effektiv organisieren kann. Wie lässt sich verhindern, dass Soziale Bewegungen versanden? Wie kann man ohne charismatische Anführer wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Rudi Dutschke gesellschaftlichen Wandel erreichen? Occupy Wall Street und Black Lives Matter haben bereits wichtige Ansätze erprobt. Der Schlüssel, so Michael Hardt und Antonio Negri, liegt in der Macht, die entsteht, wenn die »Multitude« gemeinsam politisch entscheidet und handelt. Ihr Buch ist eine Kritik des Neoliberalismus und der kapitalistischen Produktionsweise. Ein Plädoyer für innovative demokratische Möglichkeiten und ein Unternehmertum, das auf neuen Formen der Kooperation beruht.

Vita

Michael Hardt ist Professor für Literaturwissenschaft an der Duke University in den USA. Antonio Negri ist Politikwissenschaftler, er lehrte in Padua und an der Sorbonne in Paris. In den Siebzigerjahren war er einer der wichtigsten Theoretiker der italienischen Linken. Mit ihrem Bestseller Empire. Die neue Weltordnung (2002) wurden sie weltweit bekannt. Bei Campus erschienen von ihnen außerdem unter anderem Multitude. Krieg und Demokratie im Empire (2004) und Common Wealth. Das Ende des Eigentums (2010).

Zu den Leuten zu stehen, die angesichts der ständigenUnterdrückung spontan revoltieren, ist in solchen Nächtenerst einmal gut. Doch sobald der neue Tag dämmert, reicht das nicht mehr aus, denn früher oder später werden Einsatzkräfte bereitstehen, bestens bewaffnet und taktisch versiert, eines dunklen Nachts ein paar von unseren jungen Leuten an irgendeiner Ecke abpassen und Rache nehmen.

Stuart Hall, »Cold Comfort Farm«

Das Anziehende am Kommunen ist das Wissen darum,nicht einfach nur irgendetwas anzufangen, sondern das große Glück zu haben, an etwas zu partizipieren, das groß,unvollständig, unvollendet ist und immer weiter expandiert.

José Muñoz, »The Brown Commons«

Eure erhabene Hoheit

In alten Zeiten waren Autoren stolz auf das Privileg, ihre Werke einer Majestät zu widmen – es war eine noble Sitte und wir wollen sie wiederbeleben. Ob wir es wahrhaben oder nicht, überall umgibt uns Majestät. Nur sind das sicher nicht die letzten Reste der Fürstenmacht in ihrer Lächerlichkeit und schon gar nicht blasierte Politiker und Finanzjongleure, von denen die meisten unter Anklage gestellt gehörten. Da hegen wir schon eher Sympathien für die Tradition von Thoreau, Emerson und Whitman, wenn sie die Herrlichkeit der Berge und die Geheimnisse der Wälder preisen – doch auch das meinen wir nicht. Wir widmen dieses Buch stattdessen jenen, die allen Widrigkeiten zum Trotz weiterhin für die Freiheit streiten, jenen, die eine Niederlage erleiden, nur um unermüdlich wieder aufzustehen und die Herrschaft zu bekämpfen. Euer ist wahre Majestät.

(nach Melville, nach Machiavelli)

Eure erhabene Hoheit

In alten Zeiten waren Autoren stolz auf das Privileg, ihre Werke einer Majestät zu widmen – es war eine noble Sitte und wir wollen sie wiederbeleben. Ob wir es wahrhaben oder nicht, überall umgibt uns Majestät. Nur sind das sicher nicht die letzten Reste der Fürstenmacht in ihrer Lächerlichkeit und schon gar nicht blasierte Politiker und Finanzjongleure, von denen die meisten unter Anklage gestellt gehörten. Da hegen wir schon eher Sympathien für die Tradition von Thoreau, Emerson und Whitman, wenn sie die Herrlichkeit der Berge und die Geheimnisse der Wälder preisen – doch auch das meinen wir nicht. Wir widmen dieses Buch stattdessen jenen, die allen Widrigkeiten zum Trotz weiterhin für die Freiheit streiten, jenen, die eine Niederlage erleiden, nur um unermüdlich wieder aufzustehen und die Herrschaft zu bekämpfen. Euer ist wahre Majestät.

(nach Melville, nach Machiavelli)

Vorwort

Hier kommt Poesie einem Aufstand gleich.

Aimé Césaire

Das Muster ist nunmehr bekannt: Eindrucksvoll erheben sich soziale Bewegungen gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, erobern für kurze Zeit weltweit die Schlagzeilen, um dann von der Bildfläche zu verschwinden. Selbst, wo sie einzelne Autokraten stürzten, waren sie bislang nicht imstande, wirklich und dauerhaft Gegenentwürfe zu etablieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben solche Bewegungen entweder ihre radikalen Bestrebungen abgestreift und agieren nun systemkonform oder aber sie wurden Opfer einer gnadenlosen Repression. Warum waren diese Bewegungen, die doch die Bedürfnisse und Wünsche so vieler ansprechen, nicht imstande, einen dauerhaften Wandel herbeizuführen und eine neue, demokratischere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen?

Die Frage stellt sich umso dringlicher, als in zahlreichen Ländern weltweit rechte politische Kräfte erstarken und an die Macht gelangen, die, um gegen ihre politischen Gegner vorzugehen, rechtsstaatliche Normen außer Kraft setzen, die Unabhängigkeit der Justiz und der Presse untergraben, die Überwachung immer weiter ausdehnen, für die verschiedenen subalternen Bevölkerungsgruppen eine Atmosphäre der Angst schaffen, Vorstellungen ethnischer oder religiöser »Reinheit« zu Bedingungen gesellschaftlicher Teilhabe machen, die migrantische Bevölkerung mit Massenabschiebungen bedrohen und vieles andere mehr. Die Menschen protestieren gegen das Vorgehen solcher Regierungen, und zweifellos zu Recht. Doch Protest allein reicht nicht aus. Soziale Bewegungen müssen imstande sein, eine nachhaltige gesellschaftliche Veränderung in Gang zu setzen.

Wir leben heute in einer Übergangszeit, die es notwendig macht, einige unserer grundlegenden politischen Annahmen zu überprüfen. Statt danach zu fragen, wie Macht zu erobern wäre, ist eher danach zu fragen, was für eine Art von Macht wir anstreben und, vielleicht sogar noch wichtiger, wer wir werden wollen. »Es kommt«, heißt es bei Hegel, »alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.«1 Wir müssen lernen, zu erkennen, inwiefern Bewegungen über das Potenzial verfügen, soziale Verhältnisse grundsätzlich neu zu definieren, inwiefern sie also nicht lediglich darauf aus sind, die Macht zu übernehmen, sondern bestrebt, Macht anders zu begreifen, um eine grundlegend neue, demokratische Gesellschaft zu schaffen sowie, ganz entscheidend, neue Subjektivitäten hervorzubringen.

In den bedeutendsten sozialen Bewegungen unserer Zeit gilt »Führung« als ein Unwort – und das aus vielen guten Gründen. Im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts kritisierten Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder und völlig zu Recht die Art, wie zentralisierte, hierarchische Organisationsmodelle, also charismatische Persönlichkeiten, Führungsgremien, Parteistrukturen und bürokratische Institutionen, zu Hindernissen für die Herausbildung von Demokratie und die umfassende Beteiligung aller am politischen Leben wurden. Dementsprechend gehören die Tage, als eine politische Avantgarde im Namen der Massen die Macht erobern konnte, der Vergangenheit an; die Behauptung, politischen Realismus zu verkörpern, und die angebliche Effektivität einer solchen zentralisierten Führung haben sich als vollkommen illusorisch erwiesen. Doch zugleich wäre es fatal, aus der berechtigten Kritik an Hierarchien die Ablehnung jeglicher nachhaltigen politischen Organisation und Institution abzuleiten oder der Vertikalität nur deshalb eine Absage zu erteilen, um im Gegenzug Horizontalität zu fetischisieren und die Notwendigkeit dauerhafter gesellschaftlicher Strukturen zu leugnen. Es ist notwendig, Subjektivität hervorzubringen, um beständige gesellschaftliche Beziehungen zu schaffen, und es ist an den Bewegungen »ohne Anführer«, das zu organisieren.

Statt Führung von vornherein abzulehnen, sollten wir beginnen, ihre zentralen politischen Funktionen herauszuarbeiten, um neue Mechanismen und Praxisformen zu entwickeln. (Ob das dann noch als »Führung« zu bezeichnen ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle.) Zwei Schlüsselfunktionen sind das Herbeiführen von Entscheidungen und die Versammlung der vielen. Um der Kakophonie einzelner Stimmen und der Lähmung des politischen Prozesses vorzubauen, so die Überlegung, müssen Führungspersonen imstande sein, Menschen zu einem kohärenten Ganzen zusammenzubringen, damit schwierige Entscheidungen getroffen werden können, die nun einmal notwendig sind, um eine soziale Bewegung aufrechtzuerhalten und schließlich die Gesellschaft zu verändern. Führung durch die Fähigkeit zur Entscheidung zu definieren, schafft für das neuzeitliche Demokratieverständnis ein Paradox: Führungspersonen treffen Entscheidungen in relativer Abgeschiedenheit und aus der Distanz, doch zugleich müssen jene Entscheidungen auf irgendeine Weise mit der Multitude, den Bestrebungen und Wünschen der vielen verbunden sein. Diese Spannung – oder dieser Gegensatz – führt zu einer Reihe von Anomalien im neuzeitlichen Begriff der Demokratie. Die gleiche Spannung ergibt sich daraus, dass die Führung die Multitude versammeln können muss. Führungspersonen müssen politische Unternehmer und als solche in der Lage sein, Menschen zu gewinnen, neue soziale Kombinationen zu schaffen und sie darauf auszurichten, miteinander zu kooperieren. Doch, wer die Menschen versammelt, gehört selbst der Versammlung nicht an, was zwischen Führung und Gefolgschaft, zwischen Regierenden und Regierten unausweichlich ein Spannungsverhältnis schafft. Demokratische Führung erscheint so letztlich als ein Oxymoron.

Unsere These lautet nun, dass Entscheidung und Versammlung keine zentrale Führungsinstanz voraussetzen, sondern dass die Multitude selbst, gemeinsam und demokratisch, zu beidem imstande ist. Selbstverständlich gibt es und wird es auch weiterhin Punkte geben, die aufgrund ihrer Dringlichkeit oder auch ihrer technischen Natur zentralisierte Entscheidungsprozesse der einen oder anderen Art notwendig machen, doch eine derartige »Führung« muss immer der Multitude untergeordnet bleiben und hat sich in ihrem Einsatz nach dem jeweiligen Anlass zu richten. Sind unter solchen Bedingungen Führungspersonen weiterhin notwendig oder möglich, so nur, weil sie der produktiven Multitude dienen. Es geht, mit andern Worten, nicht um die Beseitigung von Führung, sondern um eine Inversion der politischen Verhältnisse, die sie konstituieren, um eine Umkehrung der Polarität von »horizontal« ausgerichteten Bewegungen und »vertikaler« Führung.

Was also wollen die aktuellen sozialen Bewegungen der vielen? Zweifellos fordern sie Gleichheit, Freiheit und Demokratie, doch geht es ihnen zugleich um Wohlergehen und Wohlstand – freilich nicht als ein Mehren von Besitz, sondern im Sinne der Herstellung stabiler Verhältnisse, die allen den Zugang und die Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums ermöglichen. Einst bezeichnete man diese Forderungen als das Streben nach Glück. Heute ist Glück politisch und sozial kein unrealistischer Traum mehr, sondern in der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Produktion angelegt – das Ergebnis einer gemeinsam produzierenden Gesellschaft und der in Freiheit und Gleichheit hervorgebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse. Das ist der einzige Weg zu einer wirklich demokratischen Gesellschaft.

Solange wir allerdings die Möglichkeiten, die Welt durch demokratische Organisierung zu verändern, einzig aus einem politischen Blickwinkel betrachten, solange wir das Politische als eine autonome Sphäre behandeln, losgelöst von sozialen Bedürfnissen und gesellschaftlicher Produktion, werden wir uns unvermeidlich im Kreis drehen oder in Sackgassen laufen. Tatsächlich müssen wir die geräuschvolle Sphäre der Politik hinter uns lassen, in der sich alles an der Oberfläche abspielt, und uns in die verborgenen Stätten gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion hinabbegeben. Fragen der Organisierung und der Wirkung müssen ebenso wie Versammlung und Entscheidung im gesellschaftlichen Terrain verankert werden, denn nur da lassen sich dauerhafte Lösungen finden. Diesem Problem widmen wir uns in den Hauptkapiteln unseres Buches. Wir weisen dort die Möglichkeiten der Multitude auf, sich selbst zu organisieren, die Bedingungen ihrer Kooperation zu bestimmen und auf der Grundlage dessen, wie die Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf dem Feld gesellschaftlicher Produktion bereits agieren, gemeinsam Entscheidungen zu treffen.

Heutzutage trägt die Produktion einen zunehmend sozialen Charakter und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen wird immer stärker gemeinschaftlich produziert, in Netzwerken sozialer Kooperation und Interaktion, zum anderen sind die dabei entstehenden Produkte nicht einfach nur Waren, sondern ebenso sehr gesellschaftliche Beziehungen und letztlich die Gesellschaft selbst. Auf diesem doppelten Terrain der gesellschaftlichen Produktion entwickeln und zeigen sich die Fähigkeiten der Menschen, sich selbst zu organisieren und zu regieren, gleichzeitig ist dies auch das Feld, auf dem die Multitude mit den entscheidenden Herausforderungen und mit den gravierendsten Formen von Herrschaft konfrontiert ist, darunter den Mechanismen der Finanz- und Geldökonomie sowie des neoliberalen Regierens.

Eine wichtige Auseinandersetzung auf dem Feld der gesellschaftlichen Produktion dreht sich um die Nutzung, Verwaltung und Aneignung des Kommunen, das heißt jener natürlichen Ressourcen und gesellschaftlichen Reichtümer, die wir teilen und deren Nutzung wir gemeinsam regeln. Das Kommune ist zunehmend sowohl Grundlage als auch Ergebnis der gesellschaftlichen Produktion. Wir sind, mit anderen Worten, auf geteiltes Wissen und gemeinsame Sprachen, auf Beziehungen und Kooperationszirkel ebenso angewiesen wie auf den gemeinschaftlichen Zugang zu Ressourcen, um produzieren zu können; und was wir produzieren, ist (zumindest potenziell) wiederum Gemeingut, also etwas, was sich teilen und dessen Nutzung sich gesellschaftlich regeln lässt.

Im Wesentlichen lassen sich heute zwei grundlegend divergierende Arten des Umgangs mit dem Kommunen ausmachen. Die eine pocht auf das Recht, das Kommune als Privateigentum anzueignen, und damit auf ein Prinzip, das von Anfang an zum Kapitalismus gehörte. Tatsächlich funktioniert die Kapitalakkumulation zunehmend durch die Ausbeutung kommuner Ressourcen, durch Öl- und Gasförderung im großen Stil, durch gewaltige Bergwerke und landwirtschaftliche Monokulturen ebenso wie durch die Extraktion des Werts, den gesellschaftliche Formen des Kommunen wie Wissensproduktion, soziale Kooperation, kulturelle Aktivitäten und Ähnliches hervorbringen. Eine zentrale Rolle spielt bei diesen Aneignungsprozessen, die für die von ihnen erfassten natürlichen und sozialen Ökosysteme gleichermaßen verheerend sind, die Finanzökonomie.

Der entgegengesetzte Ansatz bemüht sich, den Zugang zu den Gemeingütern offen zu halten und unseren darin liegenden Reichtum demokratisch zu verwalten. Eine solche Haltung macht die bereits bestehende relative Autonomie der Multitude deutlich und verweist auf deren Potenzial, diese zu erweitern. Die Menschen sind gemeinsam immer weitgehender in der Lage, zu bestimmen, wie sie miteinander kooperieren und wie sie ihre Beziehungen untereinander und zur Welt gestalten wollen, wie sie neue Kombinationen menschlicher und nicht menschlicher Kräfte, sozialer und digitaler Maschinen, materieller und immaterieller Elemente schaffen können. Aus diesem Blickwinkel wird zugleich deutlich, dass die Verwandlung des Kommunen in Privateigentum, das Beschränken des Zugangs und die Monopolisierung von Entscheidungen über dessen Nutzung und Entwicklung zu Fesseln künftiger Produktivität werden. Wir alle sind umso produktiver, je offener unser Zugang zu Wissen ist, je ungestörter wir miteinander kooperieren und kommunizieren können und je mehr Ressourcen und Reichtum wir teilen. Das gemeinsame Entscheiden über und die Sorge für das Kommune liegen in der Verantwortung der Multitude und diese gesellschaftliche Funktion hat unmittelbare politische Folgen im Hinblick auf Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie.

Dabei ist – böse Geister flüstern es unüberhörbar – der Zustand unserer Welt durchaus nicht verheißungsvoll. Der Neoliberalismus scheint das Kommune und die Gesellschaft selbst vollständig seiner Herrschaft einverleibt und Geld als einziges Maß nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern auch in unseren Beziehungen zueinander und zur Welt etabliert zu haben. Die Finanzökonomie beherrscht die Produktion in nahezu jeder Hinsicht und hat sie in die eisigen Fluten des Weltmarkts geschleudert. Vielleicht, fahren die bösen Geister fort, hätte eure Umkehrung politischer Rollen irgendeinen Sinn, wenn es Unternehmer wie die Kapitalisten früherer Zeiten gäbe, Persönlichkeiten, die dafür gerühmt wurden, dass sie den Mut zur Innovation unterstützten. Doch jene Unternehmer werden immer seltener. Risikokapitalisten, Investoren und Fondsmanager haben das Kommando – genauer gesagt, ist es das Geld, das die Richtung vorgibt, und den Genannten bleibt die Rolle der Getreuen und Vollstrecker. Der kapitalistische Unternehmer von heute ist kein Ahab, der sein Schiff durch unbekannte Meere steuert, sondern eher ein eingesetzter Priester, der die endlose Orgie der Akkumulation auf den Finanzmärkten zelebriert.

Der Neoliberalismus erzwang nicht nur die Reorganisation der Produktion und Akkumulation des Reichtums sowie der privaten Aneignung des Kommunen, sondern reorganisierte auch die politische Macht der herrschenden Klassen. Teil der Machtausübung wurde die vermehrte Anwendung von Gewalt gegen Arme, wodurch deren Lage verschlimmert wird. Polizeieinheiten werden so immer häufiger zu Milizen, die Jagd auf Arme, auf People of Color, auf die im Elend Lebenden und Ausgebeuteten machen; umgekehrt sind Kriege zu globalen Polizeiaktionen geworden, die sich wenig um Fragen nationaler Souveränität oder um die internationale Rechtsordnung kümmern. Von der Politik des Ausnahmezustands bröckelt der Lack des Außerordentlichen ab, sofern überhaupt je vorhanden, und die Ausnahme wird zum Normalzustand der Macht. »Arme kleine Träumer«, rufen die bösen Geister mit all der Arroganz, Herablassung und Verachtung, mit der die Mächtigen rebellischer Naivität begegnen.

Doch spielen noch andere Dinge eine Rolle. Glücklicherweise gibt es unzählige Formen alltäglichen Widerstands und zugleich das episodische, wiederkehrende Aufbegehren starker sozialer Bewegungen. Man darf sich fragen, ob hinter der Verachtung, mit der die Mächtigen Rebellion und Protest begegnen (und auch hinter der Unterstellung, ihre Opponenten könnten niemals erfolgreich sein, solange sie nicht ihrerseits traditionelle Führungsstrukturen übernähmen), nicht die Furcht steckt, die sozialen Bewegungen könnten vom Widerstand zum Aufstand übergehen – die Furcht also, die Macht zu verlieren. Dabei wissen (oder ahnen) jene Mächtigen, dass ihre Macht nicht so sicher und stabil ist, wie sie zu sein vorgibt. Die Vorstellung vom allgewaltigen Leviathan gehört ins Reich der Märchen und dient lediglich dazu, den Subalternen Angst einzujagen, damit sie sich weiterhin unterordnen. Macht ist immer ein Kräfteverhältnis oder vielmehr ein Verhältnis unterschiedlicher Kräfte: »Unterwerfung lässt sich«, so Ranajit Guha, »nur verstehen als der eine Pol eines binären Verhältnisses, dessen anderer Herrschaft ist.«2 Die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung bedarf der ständigen Regulierung und Neuverhandlung dieses Verhältnisses.

Der Konflikt ist Teil unseres gesellschaftlichen Seins. Er ist in diesem Sinn eine ontologische Tatsache. Die Welt, wie sie ist – so verstehen wir Ontologie –, ist durch soziale Kämpfe geprägt, durch den Widerstand und die Revolten der Subalternen sowie deren Streben nach Freiheit und Gleichheit. Die Herrschaft über diese Welt liegt in den Händen einer winzigen Minderheit, die das Leben der vielen bestimmt und sich den gesellschaftlichen Wert aneignet, den jene durch die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft schaffen. Es ist, mit anderen Worten, eine durch gesellschaftliche Kooperation erbaute Welt, jedoch entzweit durch die Macht der herrschenden Klassen, ihre blinde Aneignungswut und ihren unstillbaren Hunger nach Akkumulation von Reichtum.

Das gesellschaftliche Sein erscheint daher sowohl in Gestalt totalitärer Unterwerfung als auch als widerständige Kraft der Befreiung. Eins teilt sich in zwei, die Einheit der Macht spaltet sich, die Ontologie ist bestimmt durch gegensätzliche Positionen, die ihrerseits dynamisch und konstruktiv sind. Diese Trennung zieht zudem eine epistemologische Unterscheidung nach sich: Auf der einen Seite findet sich eine abstrakte Affirmation des Wahren, die sich unabhängig von der Art und Weise seines Zustandekommens als festgefügte, organische, permanente und natürliche Ordnung präsentiert, auf der anderen Seite gibt es eine Suche nach dem Wahren in Form einer gesellschaftlichen Praxis »von unten«. Erkennbar ist im einen Fall die Fähigkeit zur Unterwerfung, im anderen das Vermögen zur Subjektbildung, das heißt zur selbstbestimmten Entfaltung von Subjektivität. Eine solche Herausbildung von Subjektivität wird dadurch möglich, dass das Wahre nicht gegeben ist, sondern geschaffen wird und dass es nicht Substanz, sondern Subjekt ist. Das Vermögen, etwas zu schaffen und aufzubauen, wird hier zum Prüfstein der Wahrheit. Aus den sich in der Praxis entfaltenden und darstellenden Subjektbildungsprozessen erwachsen dergestalt ein Wahres und eine Ethik von unten.

Führung müsste dann, sollte sie überhaupt noch eine Rolle spielen, eine unternehmerische Funktion übernehmen, die nicht darin bestünde, über andere zu gebieten, in deren Namen zu handeln oder sich gar anzumaßen, sie zu repräsentieren: Ihre Aufgabe wäre das Arrangieren von Versammlungen innerhalb einer selbstorganisierten Multitude, die, um Wohlstand zu produzieren, in Freiheit und Gleichheit kooperiert. Unternehmertum in diesem Sinn wird zum Agens des Glücks. Im vorliegenden Buch werden wir deshalb nicht nur die Widerstandsbewegungen und Aufstände der Multitude in den vergangenen Jahrzehnten untersuchen und hervorheben, sondern auch unsere These vom demokratischen Unternehmertum der Multitude entfalten. Nur, wenn wir die Gesellschaft so nehmen, wie sie ist, und sehen, wie sie werden kann, das heißt, ein Ensemble von Kooperationen weithin heterogener Subjektivitäten, die das Kommune in seinen verschiedensten Formen hervorbringen und sich seiner bedienen, sind wir imstande, ein Projekt der Befreiung zu begründen, was einschließt, eine der Produktion des Gemeinsamen adäquate Gestalt politischen Unternehmertums zu entwerfen.

Nun mag es vollkommen fehl am Platz erscheinen, dem Unternehmertum eine solch wichtige Rolle zuzuschreiben, denn schließlich sind es die Ideologen des Neoliberalismus, die unaufhörlich die unternehmerischen Tugenden preisen, eine unternehmerische Gesellschaft entstehen sehen wollen und sich ehrfürchtig vor mutigen Risikokapitalisten verbeugen, während sie uns alle ermahnen, zu Unternehmerinnen und Unternehmern unserer selbst zu werden, vom Kindergarten bis ins greise Alter. Gewiss sind die Heldensagen vom kapitalistischen Unternehmertum nur leeres Gerede, doch, davon abgesehen, findet sich heute überall jede Menge unternehmerisches Handeln – es organisiert neue gesellschaftliche Kombinationen, erfindet neue Formen sozialer Kooperation und schafft demokratische Mechanismen, wenn es um Entscheidungen über das Gemeinsame geht, um Zugang, Nutzung und Partizipation. Es ist daher wichtig, den Begriff des Unternehmertums für uns zu reklamieren. Tatsächlich gehört der Kampf um Begriffe, die Klärung oder Transformation ihrer Bedeutung, zu den vordringlichen Aufgaben des politischen Denkens. Unternehmertum bildet eine Art Scharnier zwischen den Formen der Kooperation, welche die Multitude in der gesellschaftlichen Produktion eingeht, und der Versammlung der vielen als politische Form.

An anderer Stelle haben wir bereits eine Reihe von ökonomischen Gegebenheiten benannt, die für ein solches Projekt grundlegend sind; in diesem Buch werden wir daran anknüpfen und das Ganze weiter ausarbeiten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ein wenig schematisch wären zu nennen: (1) Die Gemeingüter und das Kommune – das heißt der vielgestaltige gesellschaftliche und natürliche Reichtum, den wir teilen, zu dem wir Zugang haben und über den wir gemeinsam verfügen – rücken immer stärker in den Mittelpunkt der kapitalistischen Produktionsweise. (2) Mit der wachsenden ökonomischen Bedeutung des Gemeinsamen verändert sich zugleich der Charakter der Arbeit. Die Produktion des Werts, ob in Unternehmen oder in der Gesellschaft, stützt sich zunehmend auf die Kooperation, auf das soziale und wissenschaftliche Wissen, auf die Sorge und die Herausbildung gesellschaftlicher Beziehungen. Die sozialen Subjektivitäten, die Kooperationsverhältnisse eingehen, verfügen dabei tendenziell immer schon über ein gewisses Maß an Selbstständigkeit der Herrschaft des Kapitals gegenüber. (3) Die Arbeit verändert sich zudem durch neue intensive Beziehungen und verschiedene Arten materieller und immaterieller Maschinen, die für die Produktion unverzichtbar werden. Hierzu gehören digitale Algorithmen ebenso wie der General Intellect, jener »allgemeine Verstand«, der nicht zuletzt extensiv das gespeicherte soziale und wissenschaftliche Wissen einschließt. Der Multitude fällt, wie wir zeigen werden, die Aufgabe zu, diese Formen des fixen Kapitals als unverzichtbare Produktionsmittel zurückzugewinnen und sich zu eigen zu machen. (4) Das Gravitationszentrum der kapitalistischen Produktionsweise verschiebt sich von der Ausbeutung der Arbeitskraft in der großen Industrie zur Extrahierung von Wert (häufig mithilfe von Finanzinstrumenten), das heißt zur Ausbeutung des Kommunen: der Erde und der kooperativen gesellschaftlichen Arbeit. Dabei handelt es sich nicht in erster Linie um eine quantitative Verschiebung und tatsächlich mag auf globaler Ebene die Anzahl der in Fabriken Arbeitenden nicht zurückgegangen sein. Doch tatsächlich wichtiger ist die qualitative Dimension der Ausbeutung des Kommunen in seinen verschiedenen Formen, sei es die der Erde (etwa durch die Förderung von Erdöl oder anderer Bodenschätze oder auch durch monokulturelle Landwirtschaft), sei es die der gesellschaftlichen Produktion (wozu Bildung und Kultur, das Gesundheitswesen, routinisierte und kreative kognitive Arbeit sowie nicht zuletzt die Pflegearbeit gehören), also die tendenzielle Reorganisation und Neuzusammensetzung der kapitalistischen Weltwirtschaft als Ganzes. Eine neue Phase in der Entwicklung des Kapitalismus zeichnet sich ab, auf Manufaktur und große Industrie folgt nun eine durch die gesellschaftliche Produktion gekennzeichnete Phase, die in hohem Maße Autonomie, Kooperation und »Commoning« der lebendigen Arbeit voraussetzt, das heißt deren aktive Beteiligung am Kommunen. (5) Der Wandel der kapitalistischen Produktion und der in deren Zentrum stehenden lebendigen Arbeit verändert zudem grundlegend die Bedingungen, wie Widerstand gegen Ausbeutung und gegen das Extrahieren von Wert zu organisieren ist. Die Veränderungen schaffen Voraussetzungen für ein Umkehren der Vorzeichen, also dafür, dass die Multitude das Kommune dem Zugriff des Kapitals entziehen und eine tatsächliche Demokratie schaffen kann. Das Problem der Organisation (und dementsprechend der Vertikalisierung horizontal orientierter Bewegungen) fällt hier mit dem Problem einer »Konstitutionalisierung« des Kommunen zusammen – das betrifft sowohl die in den Kämpfen der sozialen Bewegungen und der Arbeitenden verfochtenen Ziele als auch die Institutionalisierung freier und demokratischer Formen des Lebens.

Die genannten Punkte lassen uns zu der Überzeugung gelangen, dass es für die Multitude sowohl möglich als auch erstrebenswert ist, die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern und letzten Endes die Macht zu übernehmen – vor allem aber, sie auf eine andere Art zu übernehmen. Mit der Fähigkeit, die notwendige Strategie zu entwickeln, um die Gesellschaft zu verändern, bilden die Bewegungen der Multitude auch die Fähigkeit heraus, sich das Gemeinsame anzueignen und so Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Wohlstand eine neue Gestalt zu geben. »Auf eine andere Art« bedeutet daher, nicht die alten Fehler zu wiederholen und Freiheit (ohne Gleichheit) als ein Konzept der Rechten, Gleichheit (ohne Freiheit) hingegen als eine Forderung der Linken anzusehen, und es steht ferner für die Weigerung, Gemeinsames und Glück voneinander zu trennen. Übernehmen die Bewegungen die Macht, müssen sie ihre weitreichenden Unterschiede und ihre extensive Vielfalt nachdrücklich herausstellen, das heißt, sie müssen als Multitude handeln. Doch genügt das noch nicht. »Auf eine andere Art« bedeutet zugleich, dass die Multitude, wenn sie die Macht übernimmt, neue unabhängige Institutionen schaffen muss, die jegliche Identität entmystifizieren und die Zentralität der Macht selbst infrage stellen – also staatliche Macht desavouieren und nichtsouveräne Institutionen aufbauen. Subversiv die Macht bekämpfen, um die Souveränität zu überwinden, ist ein wesentliches Moment jenes »Auf eine andere Art«. Doch selbst das genügt noch nicht. All das bedarf eines materiellen Gerüsts. Und diese Notwendigkeit weist den Weg, den die Multitude einzuschlagen hat, um den Reichtum zurückzugewinnen und um das fixe Kapital in die eigene Ordnung produktiver gesellschaftlicher Kooperation zu integrieren, einen Weg, der die Macht im Kommunen verankert.

Ein neuer Fürst erscheint am Horizont, geboren aus den Leidenschaften der Multitude. Die Empörung über eine korrupte Politik, die Bankern, Investoren, Spitzenbeamten und Reichen ständig die Taschen füllt, die Entrüstung über das erschreckende Ausmaß an gesellschaftlicher Ungleichheit und Armut, die Wut und die Sorge über die Zerstörung der Erde und ihrer Ökosysteme und ebenso die Ablehnung des scheinbar unaufhaltsam sich ausbreitenden Systems von Krieg und Gewalt – die meisten Menschen empfinden all dies, doch fühlen sie sich außerstande, etwas daran zu ändern. Empörung und Wut, wenn sie sich aufstauen und gären, ohne zu irgendetwas zu führen, drohen in Verzweiflung und Resignation umzuschlagen. Ein neuer Fürst weist hier einen Weg in Richtung Freiheit und Gleichheit und, diesen Weg zu gehen, erfordert, das Kommune in die Hände aller zu legen und demokratisch darüber zu verfügen. Wobei »Fürst« selbstverständlich weder ein Individuum noch eine Partei oder ein Führungsgremium bezeichnet, sondern für eine politische Artikulation steht, der es gelingt, die in den heutigen Gesellschaften anzutreffenden unterschiedlichen Formen des Widerstands und des Kampfes um Befreiung zu verknüpfen. Der Fürst erscheint daher als ein Schwarm, als eine Vielheit, die sich als Ganze bewegt und so implizit das Bestehende bedroht.

Der Titel unseres Buches, Assembly, steht für die Macht des Zusammenkommens und eines gemeinsamen politischen Handelns. Doch entwickeln wir weder eine Theorie der Versammlung noch analysieren wir unterschiedliche Praxisformen des Zusammenkommens im Detail. Stattdessen nähern wir uns dem Konzept eher transversal, ausgehend von der Frage, wie es in einem weiten Geflecht politischer Prinzipien und Praktiken seinen Widerhall findet: Dazu zählen Vollversammlungen, wie sie zahlreiche zeitgenössische soziale Bewegungen praktizieren, ebenso wie die legislativen Körperschaften in der politischen Geschichte der Neuzeit, das Versammlungsrecht, das sich in verschiedenen Rechtstraditionen garantiert findet, ebenso wie die Vereinigungsfreiheit, ein zentraler Pfeiler gewerkschaftlicher Organisation, ferner die verschiedenen Formen der Zusammenkunft religiöser Gemeinschaften und nicht zuletzt der philosophische Begriff des maschinischen Gefüges, das neue Subjektivitäten konstituiert. Das Konzept der Versammlung ist wie eine Linse, durch die sich neue demokratische politische Möglichkeiten erkennen lassen.3

An verschiedenen Stellen des Buches phrasieren wir den Rhythmus der Argumentation durch den Einschub sogenannter Calls und Responses. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine Aufforderung oder einen Ruf und eine Antwort in dem Sinn, dass mit der Antwort die Aufforderung bereits erledigt wäre. Vielmehr bewegen sich beide, Call und Response, in einem Spannungsverhältnis und offenen Dialog. Etwas Ähnliches findet sich manchmal in afroamerikanischen Predigttraditionen, verlangen sie doch die aktive Beteiligung der gesamten Kirchengemeinde. Indes trifft dieser Bezug nicht ganz das, was wir meinen. Im religiösen Ritus sind die Rollen der Rufenden und der Antwortenden deutlich unterschieden: Die Aufforderungen des Predigers beantwortet die Gemeinde mit einem bekräftigenden »Amen«, wodurch sie den Prediger drängt, fortzufahren. Doch uns interessieren umfassendere Möglichkeiten der Beteiligung, bei denen die Rollen gleichberechtigt und austauschbar sind. Ein besseres Beispiel bieten vielleicht Arbeitslieder mit einer Call-Response-Struktur, in der sich Motive und Erwiderungen begegnen, etwa Shantys, wie sie auf den Handelsschiffen im 19. Jahrhundert von den Seeleuten gesungen wurden. Die Lieder dienten dazu, sich die Zeit zu vertreiben und die Arbeit zu synchronisieren. Die damit verbundene Arbeitsdisziplin macht freilich auch die Shantys zu einem eher zweifelhaften Referenzpunkt. Eine eindeutigere Inspiration für uns waren – und wir kehren damit in die Geschichte der afroamerikanischen Kultur zurück – die Worksongs der Sklavenarbeiterinnen und -arbeiter auf den Plantagenfeldern, Titel wie beispielsweise »Hoe, Emma, Hoe«. Sie haben ihre Ursprünge in westafrikanischen Musiktraditionen und dienten dazu, wie andere Worksongs auch, den Arbeitsrhythmus beizubehalten; mitunter jedoch nutzten die Arbeiterinnen und Arbeiter die Texte, um Botschaften zu übermitteln, ohne dass ein Aufseher, obwohl er direkt neben ihnen stand, etwas verstand, Botschaften, die dazu dienten, der Peitsche des Aufsehers zu entgehen, die Arbeitsdisziplin zu untergraben oder sogar eine Flucht zu planen. Es ist nun an der Zeit, zueinanderzufinden und zusammenzukommen. Wie Machiavelli schreibt: Die Gelegenheit soll man nicht vorübergehen lassen.

Teil I: Das Problem der Führung

Niemals frommt Vielherrschaft im Volk, nur einer sei Herrscher, Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei.

Homer, Ilias

Unser Experiment wird zeigen, da habe ich keine Bedenken, dass es Menschen durchaus zuzutrauen ist, sich ohne einen Herrn selbst zu regieren.

Thomas Jefferson an David Hartley, 1787