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Rüdiger Assmann, Inhaber einer alteingesessenen Hamburger Tabakhandlung, hat sein Leben gut eingerichtet. Manchmal schleust er ein paar Einnahmen am Fiskus vorbei, wie das alle machen, und regelmäßig fährt er zu seinem Pfeifenmacher in Kopenhagen, wobei er sich mit seiner Geliebten trifft und schöne Tage verbringt. Seine Frau, seine Kinder, sein Haus in Volksdorf – so kann es bleiben. Wenn nicht die ständigen Albträume wären, die ihn plagen, nicht dieses Gesicht wäre, das ihn verfolgt, in seinem Rücken, und zu dem er sich nicht umzudrehen wagt. Etwas wartet auf ihn am Rand seines Bewusstseins, etwas Entsetzliches, dem er sich stellen müsste. Aber er wähnt sich in Sicherheit, will nichts ändern – bis eines Tages das Entsetzliche über ihn hereinbricht...
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Seitenzahl: 101
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Rüdiger Assmann, Inhaber einer alteingesessenen Hamburger Tabakhandlung, hat sein Leben gut eingerichtet. Manchmal schleust er ein paar Einnahmen am Fiskus vorbei, wie das alle machen, und regelmäßig fährt er zu seinem Pfeifenmacher in Kopenhagen, wobei er sich mit seiner Geliebten trifft und schöne Tage verbringt. Seine Frau, seine Kinder, sein Haus in Volksdorf – so kann es bleiben. Wenn nicht die ständigen Albträume wären, die ihn plagen, nicht dieses Gesicht wäre, das ihn verfolgt, in seinem Rücken, und zu dem er sich nicht umzudrehen wagt. Etwas wartet auf ihn am Rand seines Bewusstseins, etwas Entsetzliches, dem er sich stellen müsste. Aber er wähnt sich in Sicherheit, will nichts ändern – bis eines Tages das Entsetzliche über ihn hereinbricht.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.
Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).
Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Das Glücksversprechen (2014); Yūomo (2014); Haus der Stille (2014); Abendzug nach Blankenese (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Drei Tage Wicklow (2015); Haut (2015); Der Traum der Delphine (2015); Halleluja (2015); Das Herz ist ein Reisender – Liebesgeschichten (2015).
Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze, Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.
DANTE, GÖTTLICHE KOMÖDIE
EINS
ZWEI
DREI
VIER
Alteingesessener Handel in der vierten Generation, seriöse Lettern: Assmann & Söhne Tabakwaren, Rathausmarkt 5.
Morgens, nachdem Rüdiger Assmann den Laden aufgemacht hatte, saß er im Hinterzimmer und trank seinen Morgentee, einen kräftigen, malzigen Assam, bis die Türglocke läutete.
Gediegenes Interieur, Tresen und Regale aus Eichenholz, Pfeifenschränke, Glasvitrinen, die Blechdosen der Tabake mit bunten Aufklebern, mittlerweile zur Hälfte verschandelt von den Warnhinweisen des Bundesgesundheitsministeriums. Sein Augapfel: die Freehand-Pfeifen von seinem Pfeifenmacher in Kopenhagen und die selbst komponierte Tabakreihe Assmann Nummer Eins bis Vierundzwanzig.
Rüdiger Assmann war Anfang Vierzig, verheiratet, hatte zwei Kinder. Guter Durchschnitt. Assmann war guter Durchschnitt. Sein Verdienst für einen selbständigen Einzelhändler guter Durchschnitt. Das Haus draußen in Volksdorf ein Reihenhaus mit Garten und Garage, guter Durchschnitt. Assmann war mittelgroß, die Haare ergrauten schon, er trug Anzug und Krawatte im Laden, kaufte seine Schuhe bei Sauvage & Woelke im Neuen Wall, deutlich über dem Durchschnitt, und hegte Pläne, in der neu entstehenden Hafencity eine Filiale zu eröffnen.
Assmann war geborener Hamburger, behielt stets die Fassung und verbarg seine Gefühle hinter kühler Freundlichkeit. Gemma, seine Frau, war blond, trug immer eine Kette aus echten Perlen und war ebenso hanseatisch gesittet und gesonnen wie er. Sie passten gut zusammen. Nur die Kinder machten ein wenig Sorgen; den Kleinen hatten sie in eine Waldorf-Schule getan, weil er offensichtlich ein Indigo-Kind war, und die Große kam in die Pubertät.
Assmann schlürfte seinen Tee, schaute aus dem Fenster hinaus auf den Hinterhof, genoss das Schweigen der Türglocke und überließ sich seinen Montagmorgengedanken es duftet im Laden, Duftladen, Kolonialwaren, würzig, würzige Gewürze aus Indien, gab’s da nicht einen Film? hübsche Inderin, Zimthaut, Beatrix wird im Sommer immer so braun, schwedischer Sommer, Baden in den Schären, Ferienhaus, Ausflug, Wasserglitzern ringsum, schwankendes Boot, ihre Haut, die nach Sonne riecht, wird bald wieder Sommer, Urlaub? will keinen Urlaub, nicht fort von Beatrix, Gemma merkt nichts, Gemma, unschuldig, Gemma, treu, Gemma, zuverlässig, im Bett ein kalter Fisch, merkt nichts, heiß, der Tee, Teeduft, mein Traum, einmal nach Indien, Teegarten, weit fort von Hamburg, Flughafen, die Passagiere des Fluges werden gebeten, Pass, inzwischen abgelaufen, muss ihn verlängern lassen, nächster Termin in Kopenhagen bei Lauridsen, nächste Woche? Kopenhagen im März, da hat’s angefangen, seit vier Jahren, merkt nichts, Beatrix, die Glückselige, Rüdiger, der Rüde, triebig, hitzig, treib’s mit ihr in den hellen Sommernächten, schwedische Sommernächte, Wasserglitzern, Sonnengeruch, ein Traum, ein Traum seit Langem, mein Glück gemacht, Glück kommt von Lücke, da geht’s hindurch durchs Dickicht, flott vorankommen, gelingendes Vorhaben, förderlicher Gang, mein Glück gemacht, die Glückselige, warum stell ich mir Glück immer blau vor, blau wie der Himmel, heiter, magisch, süß, die Türglocke, Mist –
Wenn er nach Hause kam, hatte er schon in einem Lokal zu Abend gegessen. Gemma hatte ein Abendbrot zurechtgemacht, die Kinder aßen Wurstschnitten, er saß dabei, weil es sich gehörte.
Er trank Tee.
Danach hörte Gemma die Kinder ab, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht hatten, das gab Diskussionen und Streitereien. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er einen tragbaren Fernseher stehen hatte. Er mochte die Vorabendsendungen. Der Vorabend gab ihm das Gefühl, den Tag hinter sich gebracht zu haben. Alles war in Ordnung, alles so, wie es sein sollte. Die Nachrichten bestätigten das, indem sie das Weltgeschehen in säuberliche Portionen verpackten. Katastrophen, Kriege, politisches Kabinett – alles wurde an seinen Platz gewiesen. Er wusste gar nicht, wie sehr ihn die Nachrichten von der Ordnung seiner Welt überzeugten. Er wusste nicht, dass er insgeheim nichts mehr fürchtete als Schicksalsschläge. Alles, was die tägliche Ordnung seines Lebens gefährdete, fürchtete er. Auch Krankheiten. Er ging zu Vorsorgeuntersuchungen, wie es die Versicherung empfahl. Keiner in seiner Familie hatte Krebs gehabt oder Irrsinn, seine Frau war gesund, bei den Kindern musste man abwarten. Er zündete sich eine Pfeife ein, weil er im Arbeitszimmer rauchen durfte. Er trank einen Genever dazu, fünf Jahre alt, aus Holland. In geschliffenem Kristallglas, eigentlich ein Sherryglas, aber es ging an.
Um acht erschien Gemma in der Tür und sagte ihm, das die Kinder nun auf ihren Zimmern waren. Er nahm das Glas mit hinunter. ließ die Pfeife im Aschenbecher liegen, um sie später zu reinigen, und schaute mit Gemma einen Film. Er schaute gern Filme, auch Spätfilme. Er mochte besondere, Aufsehen erregende Filme, die sich Gemma nicht anschauen würde. Er liebte Katastrophen- und Actionfilme, in denen Menschen den Kampf gegen das Unheil aufnahmen und letztlich siegten.
Gemma ging um zehn im Bett, er saß noch bis halb zwölf und genoss die Muße.
Viele Gedanken gingen ihm beim Fernsehen durch den Kopf. Gemma störte ihn nur, wenn sie ein Gespräch mit ihm beginnen oder Dinge planen wollte.
Eigentlich hatte er Handelskaufmann werden wollen, doch das Geschäft forderte ihn, die vierte Generation. Er hätte sich Besseres vorstellen können, als Tabakwaren zu verschieben. Er wollte international tätig sein. Er wollte Fernreisen unternehmen müssen, von denen er nach Hause kam mit exotischen Souvenirs im Gepäck. Er wollte essen gehen mit den Kollegen, den Kaufleuten, in teuren japanischen Restaurants und sich auch seine Anzüge bei Sauvage & Woelke kaufen können. Er wollte in einem alten Patrizierhaus in der Innenstadt wohnen, am Rothenbaum oder draußen in Blankenese. Er wollte eine Villa mit Garten an der Alster und jemanden kennen, der mit Schiffen zu tun hatte. Besuche im Hafen, geschäftlich. Schiffe, die nach Riga oder Toronto fuhren, Telefonkontakte nach Kapstadt, Singapore und Mumbai.
Irgendwann hatte er sich damit abgefunden. Man hat nur ein Leben, und die Weichen werden früh gestellt. Von Aufbruch und Neuanfang hielt er nichts, das brachte nur Unruhe, Not und Verwirrung. Mit Gemma würde er alt werden. Die Kinder würden sie beide noch lange besuchen, familienverbunden, den Laden würde er bis ins hohe Alter in Schuss halten. Nebenher schleuste er ein paar Einnahmen aus Dänemark am Fiskus vorbei, so wie das jeder tat. Seit Jahren, das Risiko einer Entdeckung war äußerst gering.
Er goss sich einen Genever nach, kostete den schnapsigen Wacholdergeschmack aus, gab seiner Frau einen Wangenkuss, als sie zu Bett ging, und saß zufrieden da. Zufrieden in der Aussicht, noch anderthalb Stunden für sich zu haben, aufgehoben und sicher an diesem gewöhnlichen Wochenabend müde? kein bisschen, wird ein Kampf, bis ich einschlafe, leichte Kopfschmerzen, Sodbrennen, Magentablette vergessen, noch einmal aufstehen? nächste Woche in Kopenhagen, Lauridsen die neuen Mischungen anweisen, guter Vorwand, der alte Lauridsen, wie käme ich sonst nach Kopenhagen, nach Hälsingborg, Beatrix im Sommerkleid, barfuß, noch zu kühl, aber der weite Himmel dort, der Fährenhimmel, der Horizonthimmel, der Haufenwolken-die-nordwärts-ziehen-Himmel, weithin über die ganze Welt, Mutters Singen am Bett, sollten wir bei dem Kleinen auch machen, ist schon sieben, egal, braucht man immer, Gutenachtliedchen, den Tag abschließen, die dunkle Nacht, Gott hält die Wacht, ihn einen guten Mann sein lassen, wer hat das gesagt? Silberberg, der mit seinen Havannas, jede Woche eine Kiste, dem gefällt’s im Humidor, sagt, das erinnert ihn an Kuba, will dort gewesen sein, anno vierundvierzig, wer’s glaubt, Silberberg sagt, Gott einen guten Mann sein lassen, Mann mit Bart, gut für die Kinder, die Große wollte nicht zur Konfirmation, der Kleine, was will der Kleine, das weiß er selber nicht, wir sollten’s wissen, wir Erwachsene, jeder ist seines Glückes Schmied, dunkle Nacht, da kann alles Mögliche passieren, Erdbeben Sturmflut, Flugzeugabsturz, Raubüberfall, Entführung, in der Nacht, heimlich und verhohlen, nur weil die Erde der Sonne abgekehrt, Blödsinn, niemand wacht, muss selber wachen, Sicherheitsfirmen machen das, bewahren vor allem, was ist heut? Mittwoch, kein Alptraum heute, immer samstags, komisch, warum? immer derselbe Traum, müsste ihn gewohnt sein, aber nein, jedesmal schweißnass, Gemma weckt mich, ihr vertrautes Gesicht, tut gut, wie als Kind, sie tröstet mich, manchmal glaube ich, in Hälsingborg aufzuwachen, Beatrixens Gesicht, ich erschrecke zu Tode, im Halbschlaf, als wäre ich ertappt, als müsste ich schnell, hunderte Kilometer im Schlafanzug nach Hause, damit Gemma nichts merkt, merkt nichts, tröstet mich, treue Seele, bin ein Windbeutel, Vertrauensmissbrauch, Ehemissbrauch, Gemma liebt mich hab mich lieb wen liebe ich wen oder was Fuß unter ihre Decke warm zutraulich sie spüren jemanden spüren allein jetzt im Schlaf jeder allein eigene Welt Sternenhimmel Erbarmen
Niemand konnte etwas von Assmann wollen. So sah er es. Ja, er hatte eine Geliebte, und ja, er hinterzog ein paar Steuern. Aber das tat jeder. Er vergrub keinen Giftmüll, verkaufte keine Waffen nach Schwarzafrika, veruntreute keine Millionen, beutete keine Arbeitskräfte in der Dritten Welt aus, schändete keine Kinder, ermordete niemanden.
Er hatte Werte. Toleranz zum Beispiel. Er hatte nichts gegen Juden, nichts gegen Muslime, nichts gegen Schwule. Jeder nach seiner Fasson. Oder Bildung: Bildung war ihm wichtig, der Gebrauch der Vernunft zeichnete einen zivilisierten Mitteleuropäer aus. Oder Gerechtigkeit: Jeder sollte bekommen, was er verdiente, sei es Belohnung oder Strafe. Es ging nicht an, dass Konzerne Grundwasser vergifteten und ungeschoren davonkamen; umgekehrt war es undenkbar, dass ein rechtschaffener Mann unter zahlreichen Schicksalsschlägen zu leiden hatte. Er wusste, dass die Welt nicht unbedingt so eingerichtet war. Aber dafür hatte man Werte: um für eine bessere Welt einzutreten.
Er liebte seine Frau, trotz allem. Er liebte seine Kinder, auch wenn er derzeit mit der Großen, mit Sandrina, seine Schwierigkeiten hatte. Die nötige Geduld im Umgang mit ihr brachte nur Gemma auf. Manchmal reizte ihn schon der bloße Anblick seiner Tochter. Sie war an sich hübsch, aber wie sie sich präsentierte, war ein Schlag ins Gesicht. Fand er. Sie wirkte grotesk, richtiggehend hässlich. Sie hatte sich die Haare stoppelkurz scheren lassen, trug mittlerweile vier Piercings in ihren wulstigen Lippen, Hosen, die ihr viel zu weit waren, sodass man ihren schlaffen Hintern und die Fettpölsterchen um die Hüfte sah, hatte ständig die Ohrhörer ihres mp3-Players auf und war kaum ansprechbar. Aber den Kleinen mochte er. Ihr Sorgenkind. Ob die Sache mit dem Indigokind stimmte, bezweifelte er, Gemma vertrat es entschieden, auf jeden Fall war er sensibel und hochbegabt. Assmann wollte ihm den Weg ins Leben so gut ebnen, wie er konnte.
In der Mittagspause ging Assmann zuweilen zum Hafen und schaute von den Landungsbrücken aus den auslaufenden Schiffen zu. Er saß da, am Cafétisch, einen Beuteltee in der Glastasse vor sich, und unwillkürlich griff seine Hand in die Hosentasche und holte das Komboloi heraus, eine Kette aus Türkisperlen an einem Lederband. Er spielte damit zwischen den Fingern, ließ die Perlen eine nach der anderen hindurch gleiten, befühlte sie, drehte sie, verlor sich an das zerstreuende Spiel. Es war keine Gebetskette, da war er sicher. Manche hielten es dafür und ihn für einen Griechen oder Muslim, das kümmerte ihn nicht. Er hatte das Stück auf einem Krämermarkt in Kopenhagen erstanden, am Stand eines Schwarzafrikaners. Ein besonders schöner Herbsttag war es gewesen, er hatte die Zeit bis zum Treffen mit Beatrix herumgebracht mit dem Schlendern über den Hans-Christian-Andersen-Boulevard. Der