Wacholderstunden - Rainer Gross - E-Book

Wacholderstunden E-Book

Rainer Gross

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Beschreibung

Streifzüge auf der Alb: unterwegs auf alten Landstraßen wie die Drei im Lied, andächtig in der Abteikirche an der Donau, auf Besuch bei der Pandora von Wasserstetten, an heimlichen Feuern unter Buchen und beim Baden an der Lauter, dem Geheimnis der Lourdesgrotte auf der Spur, im Gespräch mit dem Dorfschmied, vergnügt auf Kartoffel- und Fliegerbergfesten, zu Besuch auf Friedhöfen und Kalvarienbergen, in Museen und Dorfkirchen – dieses Buch berichtet von eindrücklichen Erlebnissen auf der Schwäbischen Alb, von besinnlichen Wacholderstunden, vom Erspüren der Natur und Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, von den Begegnungen mit heimischer Kultur und Historie, mit Land und Leuten. Und manchmal auch entführt der Zauber des lieblich-kargen Hochlandes in Märchenreiche.

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Streifzüge auf der Alb: unterwegs auf alten Landstraßen wie die Drei im Lied, andächtig in der Abteikirche an der Donau, auf Besuch bei der Pandora von Wasserstetten, an heimlichen Feuern unter Buchen und beim Baden an der Lauter, dem Geheimnis der Lourdesgrotte auf der Spur, im Gespräch mit dem Dorfschmied, vergnügt auf Kartoffel- und Fliegerbergfesten, zu Besuch auf Friedhöfen und Kalvarienbergen, in Museen und Dorfkirchen – dieses Buch berichtet von eindrücklichen Erlebnissen auf der Schwäbischen Alb, von besinnlichen Wacholderstunden, vom Erspüren der Natur und Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, von den Begegnungen mit heimischer Kultur und Historie, mit Land und Leuten. Und manchmal auch entführt der Zauber des lieblich-kargen Hochlandes in Märchenreiche.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen:

Die Welt meiner Schwestern

Das Glücksversprechen

Yūomo

Haus der Stille

Drei Tage Wicklow

Guinea

Springinsfeld und Schauinsland

Tagedieb und Taugenichts

könnt ihr denen die zu euch kommen

eine Wacholderstunde anbieten

erdalterlang

MARGARETE HANNSMANN, LANDSCHAFT

Inhalt:

Frühling

Lautermühle

Hochwiese

Sonntagsalb

Weltfern

Verschwundene Dörfer

Burgbrunnen

Wielandstein

On an old country lane

Elsachbröller

Kalvarienberg

Sattlerkapelle

Ostern am Kalkofen

Bremelau

Ostereier

Obermarchtal

Donauwehr

Uracher Wasserfall

Schafzucht

Töpferei in Wasserstetten

Unwetter

Die Prinzessin

Schloss Sigmaringen

Sommer

Aufberger Loch

Pfullinger Unterhose

Familienfoto

Glei bei Blaubeira

Urgeschichtsmuseum

Klosterseminar

Hochaltar

Saraisenbrunnen

Abendständchen

Hoflädle

Genkingen

Laibrunnen

Sankt Michael

Hochzeit am Göllesberg

Alteburg

An der Lauter

Einkehr

Hoher Gießel

Julifeuer

Marbach

Kanufahren

Zwiefalten

Nach dem Gewitter

Alte Mühle in Wimsen

Bauernschrank

Gutenachtgeschichte

Buo

Freilichtmuseum Heuneburg

Laichinger Tiefenhöhle

Höhlenmuseum

Klettergarten

Indelhausen

Geglückter Tag

Lourdesgrotte

Sonderbuch

Jüdischer Friedhof

Federseemuseum

Am Federsee

Hochzeitstag

Villa rustica

Vogelhof bei Erbstetten

Landmetzgerei

Kartoffelfest

Gestütsmuseum Offenhausen

Fliegerbergfest

In Würtingen

Grafeneck

Hohenzollern

Auf der Bärenhöhle

Herbst & Winter

Urselhochberg

Lesung in Münsingen

Herbstbotschaft

Anderswo

Zwiegespräch

Winter auf Greuthau

Weihnachten

Mädlesfels

Versöhnung

Januarblau

Frühling

Lautermühle

Abends gehen Lena und ich über die Brücke bei der Ölmühle. Auf der anderen Flussseite ist das Licht erloschen, die Frühjahrsmücken tanzen. Dumpfe Wasserluft am Ufer, das Mühlrad, der Abzweig des Mühlkanals, die Mäander mit Weidengeflecht verzurrt. Die Truchsessen von Bichishausen bannten im Mittelalter in die hintere Mühle; drei Gänge, im fünfzehnten Jahrhundert an Güterstein verkauft. Wir wandern in den Auwiesen. Die Lauter zieht dunkel und grundlos zwischen nackten Ufern, ein Wasserweg, geologisches Gerinne. Der Boden ist weich und feucht, vollgesogen vielleicht von Schmelzwasserschwemmen. Früher schlossen sie ein kleines Wehr und leiteten die Flut über Kanäle in die Wiesen. Der Abend dauert, hier unten am Fluss.

Hochwiese

Wir folgen dem einsilbigen Schotterweg. In den Wiesen seitab gedeiht Knabenkraut und Hummelorchis, sollen nicht gefunden werden, wegen Naturschutz. Als der Weg ein Wäldchen durch-sticht, riecht es appetitlich. Das kommt vom Bärlauch, sage ich zu Lena, aus dem machen sie inzwischen Nudelpaste. Dann kommen wir hinaus auf die weite Fläche des Ausliegerbergs, wo der Weg sich als Fuhren verliert: Gielsberg.

Ringsum kahler Wald, ein Wind geht darüber hin, die langen Halme nicken freundlich. März-karg der Magerrasen, aber unter den Weidbäumen finde ich Veilchen und Schlüsselblumen und blaue Bauernbübchen traulich beieinander, als hätte jemand Blumenschalen vergraben. Oben, auf der Höhe, singt es vor Heimchen, das Gras wird lebendig unter jedem Schritt, springt in zierlichen Bögen.

Wir bleiben stehen und horchen. Der Wind. Die Vögel. Die Grillen. Feine Stimmchen in dürftiger Zeit, das Lied überm Land heiligt und feiert, denke ich. Es spricht von Wiederkehr, von Neubeginn. Ein junges Leben, das sich aufmacht, oder ein reifes, das sich besinnt und umkehrt, oder ein altes, das zu Ende geht und seine Hoffnung hat. Tod und Auferstehung. Des Lebens Neuwerdung.

Im Dornicht ragt ein Ansitz empor, Lena zaudert wegen des wackligen Gestänges. So steige ich allein hinauf und schaue übers Land, hinüber zu den Traufbergen, hinaus in die Frühlingsferne. Ich will mich hineinlassen in den tiefen Erdsegen, der hier ruht, der sich regt nach dem harten Winter. Die Tiefe des Lebens. Ich finde sie nicht immer.

Sonntagsalb

Die Alb nach dem Winter: kahle Bäume, ein blauer Himmel über allem und warme Sonnengrade. Grießige Schneeäcker, Bussarde in der Luft: das vertraute, liebgewonnene Gefilde. Schau mal, sage ich zu Lena, nachdem wir die Steige gewonnen haben: Dort ist der Hohengenkingen, und erinnere mich an die waldversponnenen Steine auf dem Bühl.

Als wir die Auffahrt zum Lichtenstein nehmen, ahnen wir schon, was uns blüht: Sonntagsalb. Der erste sonnige Sonntag im März! Die Parkplätze sind voll, das Blech reiht sich lückenlos. Lauter Kennzeichen aus dem Unterland, bis nach Ludwigsburg reicht das. Hier am berühmten Schloss ballt es sich, das ist gut so. Kanalisierung der Touristenströme, da bleiben die verborgenen Kleinode verschont. Der Imbiss hat geöffnet, auf den Parkwegen flanieren Paare, Kinder spielen. Das Forsthaus hat wegen Reservierung geschlossen, unverrichteter Dinge kehren wir um.

Wir fahren weiter zum Landgasthof, biegen nach Holzelfingen links in die Weiden hinein, das schmale Sträßchen zum Greifenstein. Ich zeige Lena Pauls Wiese, wie sie mageren Grases und laubloser Bauminseln in der Gegend liegt, und erinnere mich an das Sommerfest der Gemeinde. Unfern, denke ich, liegt das Waldstück, in dem ich seinerzeit einen Rehschädel fand.

Das Gehöft heißt gästewimmelnd willkommen. Der Parkplatz voll, aber wir finden eine Lücke. Auf der Terrasse laben sich Wanderer, Radfahrer und Ausflügler, aber meist Hiesige. In den Fluren reger Betrieb, der Sonntagsspaziergang mit Stöckelschuhen oder Wanderstiefeln auf Asphalt. Wir kriegen gleich einen Tisch, setzen uns und bestellen. Die Bedienung hat einen blonden Pferdeschwanz und einen slawischen Akzent. Ich nehme Linsen mit Spätzle und Saiten, Lena den Wacholderlammbraten mit Rosmarinkartoffeln; dazu für mich einen halben Liter Most.

Wir sitzen und atmen auf. Die Sonne tut’s wählig und heiter, das Getriebe nimmt uns ein, umfängt uns mit Gemeinschaft. Alle sind heute solidarisch, alle wollen Lust und Muße, alle lassen einander in Frieden. Ich stütze das Kinn in die Hände und grinse über beide Backen. So fotografiert mich Lena und will mich schicken an ihre Schwester im Fränkischen, aber die Alb hat ja kein Netz.

Manche warten auf einen freien Tisch. Einer legt sich in einen der aufgestellten Liegestühle und bestellt ein Bier. Radfahrer kommen an und tun es ihm gleich. Eine schwergewichtige Frau fragt um den dritten Stuhl, weil sie im Stehen nicht warten kann. Leere Biergläser, Kaffeetassen mit Innenrand, zerknüllte Servietten. Hunde kommen zum Wassernapf, neben dem drei Frauen auf der Eckbank sitzen und Sekt trinken. Als ich einmal ins dämmrige Innere dringe und die steile Treppe zu den Toiletten hinabsteige, fällt mir unsere Hochzeit ein, die wir hier gefeiert haben, an einem verregneten Tag Ende Juni. Das beruhigt: Hinter allem verbirgt sich eine Geschichte.

Weltfern

Aus dem hinteren Winkel kommen wir, Dorf, Tal und Ruine. Bussarde segnen die Flur mit ihrem Wächterflug, die Touristenströme verlaufen sich hier, wir suchen ein Wirtshaus und eine Tasse Kaffee. Wir kommen durch Dörfer, die nicht einmal einen Gasthof haben. In Trochtelfingen das Rössle hat zwischen vier und fünf keine Küche, und zum Kaffee gibt’s nicht einmal Kuchen. Ein stattliches Fachwerkhaus entpuppt sich als Apotheke, ein anderes als Music Pub. Draußensitzen in der Sonne, auf behaglicher Terrasse – dafür scheint es noch zu früh, jetzt im März. Auch die Höhlen, die Schlupfwinkel und Albkavernen, die Venedigerlöcher und Goldkammern sind noch verriegelt, wegen der Fledermäuse. Wir queren die Kuppenalb, fahren einsame Landstraßen zwischen Hörschwag und Meidelstetten. Die Dorfgassen wie ausgestorben. Kahle Feldflur mit Sonntagsfrieden, die Äcker umgebrochen, manche dunkel von ausgebrachter Gülle. Braungelb das Land, ausgezehrt vom Winter, Frühlingsdunst am fernen Himmel. Supermärkte auf freiem Feld, Holzverarbeitung, Spanungstechnik. Im Auto öffnen wir das Dachfenster, allmählich wird die Gegend vertrauter, wir kommen auf unsere Haus-Alb zurück und finden blind den Weg. Der Landgasthof hat Tische und Stühle draußen, aber es ist frisch an der Hauswand, gerade drei Tische sind belegt. Wir setzen uns nach drinnen ins Warme, wir sind wie zurück von einer langen Reise, waren weit fort in entlegenen Gefilden. Wir stellen fest: das Mittelgebirge erstreckt sich.

Verschwundene Dörfer

Horgenloch

Hier ist es gewesen! Der Finger zeigt in die Landschaft, wir müssen fantasieren. Da ist der Gestütshof und das Wirtshaus und die Wälder und Wiesen, das muss alles weg! Selbst das Wirtshaus von siebzehnhundert ist modern renoviert. Auch weg! An seiner Stelle eine Kapelle, Johannes dem Täufer geweiht, zu der die Mönche der Kartause Güterstein spazierten. Wallfahrt am Johannistag, Hochamt und Kräuterkränze. Daneben der Weiler Horgenloch, zu dem die Kapelle gehörte. Um elfhundert trat ein Ritter ins Kloster ein und schenkte dafür aus Horgenloch fünf Huben und einen Wald. Fünfhundert Jahre später beweidete Upfingen den Bezirk und zahlte Wieszins und Kühmiet. Um 1650 war Horgenloch schon ein öder Weiler.

Im Gestütshof läuft der Brunnen, eiskalter Schluck aus der Hand. Wegekreuz. Waldsäle, hoheitlich. Stock und Stein markierten einst den feudalen Bezirk. Wir gehen die Ahornallee entlang zum Fohlenhof. In den Feldern sprosst es, sie strecken sich weit und leer bis zum Waldrand. Hier ist es gewesen!, sage ich wieder. Und diesmal erscheinen die Häuser der Wüstungen im Hitzedunst, Fata Morgana der Historie. Hesilibuoch, Burkhusin. Heselbuch da, wo jetzt der Wald ist, und Burghausen dahinter, auf dem Rutschenfeld. Gehörten alle zur Herrenburg auf dem Runden Berg. Und dort, zeige ich wieder, mitten im Acker, grub das Denkmalamt keltische Rennöfen aus, mit denen Bohnerz verhüttet wurde. Drüben beim Eulenbrunnen, die Doline dort mit dem Gestrüpp, siehst du, da lag die Siedlung. Kaum zu glauben! Magnetfeldanomalien sprenkeln das Erdreich. Rezentes Nichts, vom Gewesenen schwanger. Wir fangen nie von vorn an, Lena, doziere ich. Wir sind nicht neu, mit unserem Wissen und Weltblick, mit Wunsch und Angst, mit nichts. Ja ja, sagt Lena, aber das Heute ist es, was zählt. Aber man muss, ereifere ich mich, das Heute aus dem Gestern begreifen! Mehr sehen, als da ist! Lena schüttelt den Kopf und genießt die frühe Sonnenwärme. Ich seh nix, sagt sie.

Gangstetten

Am Ortsausgang Meidelstetten geht es links ab nach Engstingen. Zufahrt bis Gangstetten frei, sagt ein Verbotsschild und meint die zwei Huben, die dort angesiedelt wurden. Ich halte an und habe den Blick über die Mulde, eingefasst von Waldsäumen. Das Gehöft, breite Äcker und Holzinseln bis hinüber zum Wald, wo der Trecker zieht. Holzapfel an der Straße und Zwetschgen. Zwei Häuser, Stallungen, der Maschinenschuppen; Wäsche auf der Leine. Hinterm Haus eine Kinderwippe, ein Stück Betonmauer, fünf Meter Rasen bis zum Kornfeld. Kindheit zwischen den Dörfern. Aber das ist nicht Gangstetten. Das eigentliche ist an selber Stelle schon im sechzehnten Jahrhundert wüst gefallen. Der Name hat sich gehalten. Auch hier Bauernkaten, vielleicht ein Herrenhof, Dreifelderwirtschaft, Fron für die Burg auf dem Reifenbrünnelesfels. Gräben und Mauersockel dämmern dort, ein Falke steigt auf und gibt seinen Wanderruf, kreist über dem abseitigen Winkel. Die Zeit, die flüchtige, ist anwesend wie nie. Die Gegenwart ein Durchwobensein, prickelnd, flimmernd. Wir stehen im Kreuzfeuer des Gewesenen. Wir schauen nur. Wir wissen nichts.

Laubhausen

Der Fahrweg führt in die Ackerflur hinaus. Das Dunkel des Geeggten und das zarte Grün des Gesäten: moderne Reliefkunst. In einer Gehölzinsel liegt die Stelle, Bänke und Tisch, eine Tafel, der Brunnen steht in einer Mulde. Es ist bloß das übliche Mauerrund, bemoost, drei Meter tief, unten schwarz der Wasserspiegel und ein Rost darüber, der Zweigfall abfängt. Der Brunnen ist das Einzige, was von Laubhausen geblieben ist.

Er stand mitten auf dem Platz, versammelte die Häuser um sich. Zwanzig Häuser, Hofraiten, Viehweide, der Holzpflug biss sich in den Kalkgrund, Frauen kamen mit Krügen und schöpften. Menschen stifteten den Ort. Der Ort machte sichtbar, was schon da war: bewohnbares Land. Der Ort machte das Land erst zu Lebensraum.

Was weiß die Geschichte schon? Eine Urkunde von 1393 verzeichnet Laubhausens Wälder als Lehen, Ende des sechzehnten Jahrhunderts kaufte jemand das verbliebene Laubhäuser Hüttlein. Der Weiler war schon abgegangen, die Markung blieb – und der Brunnen. Er versammelt noch heute, mitten im Acker, er sammelt eine Welt um sich, die es nicht mehr gibt. Sie prägt sich ein ins Heute wie ein Wasserzeichen.

Wettishausen

Von der Straße aus ist nichts zu sehen. Ein Acker, ein Steinriegel, der Wald, irgendein Stück auf der Straße von Meidelstetten nach Steinhilben. Ein Erd-Ort. Die gerade Linie der Straße, der rechtwinklig abgehende Feldweg, das ungeeggte Feld in der Frühlingssonne: eine wohltuende, sinnvolle Schlichtheit. Eine unlesbare Chiffre, dieser Ort.

Ich wandere gemächlich den Rain entlang. Der Acker hat einen sonnenbleichen Erdton, von Kalkscherben durchsetzt. Erdbrocken liegen darauf wie unmerklich ziehendes Geröll, eine im Fluss erstarrte Halde. Ich blicke über die Leere der Flur bis hinüber zu den Häusern des nächsten Dorfes. Im Wald rufen Krähen. Ein Flugzeug zieht am Himmel. Alle paar Minuten fährt ein Auto. Sonst Stille.

Ich lausche auf den Ort. Ein Stupsen mit der Schuhspitze zwischen den Schollen. Ofenkacheln, Gürtelschnallen, Wasserkrüge, graben will hier keiner. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Gegend damals aussah. Ganz anders als jetzt: Zelgenflur, Küchengärten, Gänseweiden, die Lichthölzer der Allmend. Wettishusin, dreizehntes Jahrhundert. Altsiedelland. Die Gegend hatte bis in den kleinsten Winkel immer schon Namen, alles gehörte irgendwem und war abgabenpflichtig. Jeder Schritt tritt Geschichte fest.

Das sieht man heute nicht mehr. Nichts sieht man mehr: Hier sieht man das Nichts. Das Fehlen. Das Verschwundensein. Eine leere Gegenwart, gegen die das rechthaberische Wissen der Historiker nicht ankommt. Ich gehe zurück zum Wagen und pinkle in die Bauernbübchen.

Und doch, denke ich.

Zizelhausen

Das Zizelhauser Tal mündet ins Degental, wo die Gächinger Lauter fließt, und bildet eine Au am Fuß eines Hügels. Ein Bächlein rinnt, eine Hüle steht mit Rohrkolben, Weidenbusch am Lauterufer. Nebenan weiden Schafe. Lena sitzt im Gras, ich streife umher.

Ein Geviert zwischen Bühl, Schafspferch, Fluss und Klärwerk, siebzig auf vierzig Schritt.

Quellen vereinen sich zu dem Bächlein, das dem Fluss zuläuft. Im Weiher blinken die Froschaugen als silberne Blasen. Ein Lesesteinhaufen, überkrautet von Wintergras, birgt einen Hungerbrunnen. Sonst Vogelsang, Bachgeplätscher, das Gebäh der Schafe. Der Wind in den Bäumen.

Hier sollen sie gestanden haben, sagen die Urkunden, die Seldnerhäuser mit ihren Schopfen und Misthaufen, Obstwiesen, vielleicht ein paar Äcker, an der einst römischen Heerstraße durchs Degental. Uzilishusen, alemannische Gründung, um elfhundert erstmals erwähnt, im sechzehnten Jahrhundert bereits abgegangen. Wie kommt es, dass Leute wohnen und auf einmal nicht mehr? Krieg, Pest, Wassermangel, Bauernlegen. Klimaverschlechterung. Verlorener Erwerb. Hier soll das Kloster Offenhausen zu sehr gedrückt und die Leute vergrault haben.

Ich steige barfuß ins Bächlein und wate stromauf, damit die Schlickwolken mir die Sicht nicht trüben. Grasufer, gerade mal einen Schritt breit. Idyllisch schwatzt es eiskalt, trägt vielleicht seit Jahrhunderten seine Körnchenlast aus der Wiese in die Lauter. Einmal bücke ich mich und hole eine graue Scherbe zwischen den Kieseln hervor. Ich beäuge das nasse Stück und weiß: Das ist was. Was Altes, Menschengemachtes: sachte Wölbung, großer Umfang; dünnwandig, ohne Fingerstrich; unvollkommener Brand, die Innenseite dunkel verfärbt. Albware? Römisch? Es müsste keltisch sein. Mal Ulrich fragen. Ich stecke den Lesefund ein und wandere weiter, verträumt, blinzelnd im Licht.

Lena sonnt sich.

Burgbrunnen

In wenigen Tagen sind die Säfte gestiegen. Die Buchenwälder grün behaucht, erster festlicher Blütenschmuck in den Hecken, die Frühblüher stecken ihre Sterne auf. Den Parkplatz beim Römerstein kennt Andi, mein Bruder, schlechte Erinnerungen hat er daran, das wusste ich nicht. Eine Verstimmung herrscht.

Über die Weite gehen wir auf dem Asphaltweg, kuppenauf kuppenab, zur Ruine Sperbers-eck. Drüben ein Reiterhof, vorn der Trauf mit seinem lichten Waldsaum. Hochlandrinder lagern hinterm Stromzaun um den Futterhaufen, die Hörner laden aus wie Helme, mit den Stirnfransen scheint’s, als ästen sie an Odins Tafel. Eines säuft aus dem Wassertank, die anderen däuen. Der Himmel über uns macht die Gedanken frei. Eine Feldlerche, endlich einmal sichtbar, rüttelt, sinkt, rüttelt, landet im Gras, und augenblicklich verstummt das Lenzlied.

Wir finden den Wegweiser zur Burg. Am Waldrand, rechts vom Weg, stoßen wir auf den Burgbrunnen, ein gemauertes Gewölbe mit einem kühlen Wasserrund. Ein Becken ist angelegt und als Überlauf eine Steinrinne, die sich im Hanglaub verliert. Eine zweite Quelle tritt aus und gesellt sich, die Karte zeigt mit den blauen Punkten die wasserstauende Schicht. Im Sommer ein verkrauteter Ort, jetzt nur Moos und Licht und Laub. Wir beugen uns hinab und schauen ins Loch, aus dem es dumpf haucht. Ein stetiges Rieseln, vermutlich sommers ausgetrocknet. Die Wässer, die in den Hang ablaufen, bilden kleine Sumpfstellen, wo Trollblumen hochkommen. Eine Grillstelle wurde eingerichtet, aber wer hat im Ernst hier am Wegrand sein Feuer? Kein verwunschener Ort. Ein wenig belanglos, ein wenig romantisch. Zur Burg ist es eine Strecke. Und das mit Wassereimern!, meint Andi. Dafür wurden Unfreie verpflichtet, sage ich, die Bauern der Burgsiedlung, schuften, dass es die Herren auf ihrer Veste aushalten. Da haben wir’s besser.

Wir setzen uns ins Gras, hören dem Rinnsal zu, Vögel singen und umflirren das kahle Gekron mit Frühlingskadenzen. Eine Rast, bevor die Ruine uns hat. Andi gefällt’s. Er hat das lange nicht gehabt: Brunnen am Wegrand, auf der Alb, mit seinem Bruder. Ein bescheidenes Wasserloch im trockenen Karst. Trinken wollen