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Als Müßiggänger streift der Ich-Erzähler über die Schwäbische Alb, tuckert mit seinem Motorrad über die Hochfläche, sucht die Stille von Kapellen, verbringt den Nachmittag bei den Pferden, kriecht in Höhlen, entdeckt Schlucklöcher und Karstquellen, stöbert in Burgennestern, fängt Grillen und trifft am Wallfahrtsort auf Vergils Erbe – kurz: Er tut alles, was ein Tagedieb und Taugenichts tut, während andere arbeiten müssen. Er gerät dabei auf Seitenpfade und Abwege und spürt die verborgenen Geheimnisse der Landschaft auf, die sich nur dem Kundigen und Empfänglichen öffnen. Die Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, der Tages-zeiten, der Wetterstimmungen. Augenblicke intensiven Alleinseins mit der Natur ebenso wie die Begegnung mit der heimischen Kultur und Historie, mit Land und Leuten. Und manchmal auch entführt der Zauber des lieblich-kargen Hochlandes in Märchenreiche.
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Seitenzahl: 145
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Als Müßiggänger streift der Ich-Erzähler über die Schwäbische Alb, tuckert mit seinem Motorrad über die Hochfläche, sucht die Stille von Kapellen, verbringt den Nachmittag bei den Pferden, kriecht in Höhlen, entdeckt Schlucklöcher und Karstquellen, stöbert in Burgennestern, fängt Grillen und trifft am Wallfahrtsort auf Vergils Erbe – kurz: Er tut alles, was ein Tagedieb und Taugenichts tut, während andere arbeiten müssen. Er gerät dabei auf Seitenpfade und Abwege und spürt die verborgenen Geheimnisse der Landschaft auf, die sich nur dem Kundigen und Empfänglichen öffnen.
Die Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, der Tageszeiten, der Wetterstimmungen. Augenblicke intensiven Alleinseins mit der Natur ebenso wie die Begegnung mit der heimischen Kultur und Historie, mit Land und Leuten. Und manchmal auch entführt der Zauber des lieblichkargen Hochlandes in Märchenreiche.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.
Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).
Bei BoD erschienene Romane:
Die Welt meiner Schwestern
Das Glücksversprechen
Yūomo
Haus der Stille
Drei Tage Wicklow
Guinea
Springinsfeld und Schauinsland
Es liegt an Orten; Orte beschwören’s herauf.
GERD GAISER
Frühling
Blaue Mauer
Kranewitt
Abendwacht
Schafswäsche
Zwischen den Dörfern
Hohenwittlingen
Erntbrunnen
Galthaus
Hallstatt-Siedlung
Burgennester
Hülbenhof
Evangelium des Kupferstechers
Spiritus loci
Wackerstein
Die Nacht des Großen Bären
Hofener Höhle
Kapelle St.Georg
Sattlerkapelle
Kerzenkapelle
Landgericht
Himmelswiesen
Pfingsten auf der Nebelhöhle
Randecker Maar
Lauterer Hochland
Sperberseck
Am Heimenstein
Reußenstein
Zauberwort
Minnesang
Eisenrüttel
Schelklingen
Schmiecher See
Dolfer Weg
Der Philosoph
Sommer
Greifenstein
Fronleichnam
Johannistag
Im Wacholder
Taugenichts
Räß
Gasthaus zum Tänzelnden Pony
Les jeunes filles en fleurs
Schachen
Sommerkirch
Steffesloch
Gottesvolk
Der Hirte
Aglishardt
Steinriegel
Hanfsamenbuche
Riedernberg bei Willmandingen
Verborgenheit
Felsenmomente
Mutterkraut
Heilkunde
Wental
Rock am See
Military-Shop
Gerümpelturnier
Am Sternberg
Forellen
Im Kräuter
Der Bildstock
Albwasser
Loretto
Fohlenhof
Hinterm Wald
Tagedieb
Gütersteiner Wasserfälle
Das Geheimnis
Rutschenfelsen
Jägerstube
Heidengraben
Tuffseen
Buchhausen
Herbst & Winter
Do you come from Australia?
Bärenthal
Das Schloss
Der letzte Herbst
Hollerbusch
Herbstlese
Großer Bühl
Gräbelesberg
Die Sägemühle
Haid
Saure Kutteln
Heilig Abend
Schneeteich
Stahleck
In diesem Buch sind Texte über meine Erlebnisse und Begegnungen auf und mit der Alb gesammelt, über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren hinweg, von meinen ersten Studiumsjahren bis hin zu Besuchen in der alten Heimat von Norddeutschland aus. Die Texte sind nicht chronologisch geordnet, sondern folgen dem Lauf der Jahreszeiten. Deshalb mischen sich alte und junge Texte, und deshalb auch haben sich manche Orte seit meinem Besuch verändert. Wenn Sie also die Orte selbst aufsuchen und nicht mehr vorfinden, was ich beschrieben habe, dann waltet hier nur die übliche Vergänglichkeit.
Dass diese Texte nun endlich – in den Bänden Springinsfeld und Schauinsland und Tagedieb und Taugenichts – erscheinen, erfüllt mich mit großer Freude. Die Texte liegen mir am Herzen, und ich möchte die beiden Bände als ein Geschenk an die Alb verstanden wissen und an all jene, die zu ihr eine ähnliche Zuneigung empfinden wie ich. Möge Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, die Lektüre dieser Texte ebensoviel Freude bereiten wie mir ihre Niederschrift!
Heimfahrt von der Universität. Das Burgholz in Schräglage, die Maschine federt, oben Panorama. Der Blick geht über die weite Felderebene auf die blaue Mauer des Albgebirges. Fernblau, Landfall. Kalkstein-Riesenplatte, tektonisch erhoben und zum Trauf gesteilt. Die Buchten, Berge und Hochflächen lagern hintereinander wie Schiffe in verborgenen Häfen. Wohltuender Formengang: die langauslaufenden, ebenen Auslieger, in blassen Indigotönen bis zu körperlosen Schemen gestaffelt. Regen gehen dort nieder, trüben die Gestalt. Keiner weiß, was für ein Reich da oben wartet, welche Wege überland. Ja, ein Hochland, ein Überland. Es ist weit weg, auch wenn ich alle Steigen kenne, die hinaufführen. Heute bleibe ich zu seinen Füßen. Als ich in die Hochhaussiedlung einfahre, riecht es nach nassem Asphalt und der Wärme wie nach einem Sommergewitter. Den Abend verbringe ich bei Freunden.
Die Alb schläft noch. Das macht die lange schneelose Kälte, der fehlende Regen. Als ich oben am Beutenlay ankomme, ziehen Wolken auf. Fades Licht, zage Vogelstimmchen im Gezweig. Weidbuche, Hütebuche: die kahlen, silbergrauen Greisinnen im dürftigen Kleid. Die Wacholderheide ist bleich vom Wintergras, von rostrotem Laub und Zweigen bestreut. Manchmal kollern dürre Blätter im Wind, hüpfen eichhörnchenhaft über den Rasen, täuschen Leben vor. Ein Schlehdorn, dick verkrustet mit Flechten, aschig und giftgelb, dazwischen durchscheinend die ersten Knospen.
Auf der Kuppe, am Südhang, finde ich eine Bank mit einem Wacholder im Rücken. Mannshoher, grantiger Kerl, ein rechter Kranewitt, die Beeren dicht und klein am Zweig, meergrün, jadegrün, mit dem weißen Dreiecksstern der Blütennarbe Er stupfelt, wenn man hinlangt. Informationstafeln belehren über die Steppenheide, manche Bilder verbleicht zu futuristischen Kunstwerken, zeugen von sommerlichen Sonnenstunden. Im Heutal unten zieht die Bundesstraße mit leisem Verkehr, eine Brücke quert die Eisenbahn, dahinter die Kuppen und Wälder der Münsinger Alb. Der Wind geht hier oben wie eine einsame Uhr. Manchmal kommt die Sonne durchs Gewölk und wärmt.
Nichts blüht. Ich gehe ein paar Schritte und entdecke etwas Violettes im Gras, Krokusse, denke ich, aber plötzlich bin ich umringt von Küchenschellen. Auf haarigen Blattknäueln strecken sich die lila Blütentrichter und bergen im Inneren die goldgelben Stempel. Was hier alles unterm Gras liegt und schläft, denke ich. Wird alles hervorkommen. Bald.
Die Kurven zwischen Waldhängen hinunter nach Hundersingen. Fahles Licht, das Tal liegt schon verschattet. Inmitten der kahlen Buchen ragen grüne Fichtensäulen, und in den Wipfeln schweben vereinzelt duftige Blütenwolken: die ersten blühenden Weiden. Die Hänge stehen hoch und ernst, und auf einmal auf seinem Bergsporn der Hohenhundersingen, nackt, nah, weithin sichtbar. Sein Mauerwerk, der Quaderturm, der Fels, selbst der Wanderpfad im Gelände klar kenntlich. Die laublose Zeit enthüllt sein Geheimnis, entblößt sein Schweigen. Die Stille der Welt: Denn sie weiß, es ist die Wacht über ihr bestellt. Im Tal strömt der Fluss silbern und geschwollen von Frühlingswassern. Die Talränder rücken heran und beugen sich, geben der Au ihr Maß. Überall blickt der Himmel herein, die Menschen erscheinen wie kleine Saat.
Ein Bronzedenkmal, auf der Lauterbrücke in Wasserstetten. Ein kühler, sonniger Frühlingstag, das Tal halb ins Licht erwacht. Vor dem Haus neben der Brücke sitzt eine alte Frau auf der Bank und schaut mir zu. Ein Junge kurvt mit seinem Mountainbike und wundert sich über mein Motorrad. Die Stelle am Ufer zeigt nichts, das übliche Gras, das gewohnte Gewässer. Die Lauter wurde mit einem Bretterdamm aufgestaut, die Schafe hineingetrieben, Schafswäscher in Bütten hinter dem Wehr wuschen die Tiere im Überlauf des Dammes, tausend Tiere am Tag, zwanzigtausend in einem Frühjahr, hundert Jahre lang bis zum Ende des Weltkriegs. Die Schäfer kamen mit ihren Herden sogar aus der Pfalz und dem Bayrischen. Aber wieso gerade hier? An diesem Platz am drei Meter breiten Bach?
Ich sitze am Wasser abseits der Brücke. Gänseblümchen und Scharbockskraut blühen früh im Gras, die Lauter strömt und spült, als wollte sie wieder Schafe waschen, ein emsiger, reiner Laut in den Auwiesen. Der Wind streicht kühl durchs Tal. Die Frau auf der Bank ist ins Haus gegangen. Vielleicht hätte ich sie fragen können. Wohin denn die alte Arbeit verschwunden sei, und ob die neue sich nun besser anlasse. Broterwerbe kommen und gehen, was bleibt, sind Geschichten.
Die Fluren sind frühlingskahl; manche Äcker noch umgebrochen, manche schon geeggt, auf manchen das erste Grün der Wintersaat. Laublose Buchenwälder, durch deren Pelz hindurch man jede Kuppe, jede Schroffe sieht. Leinhalde, Telle, Hirnberg. Ich komme an ein Wegekreuz mit einem Baum. Eine weibliche Esche mit ihren dürren Flügelsamen, ein Schild sagt: Spaßmacherbaum. Eine Bank und ein gusseiserner Wegweiser im alten württembergischen Schwarzgelb. Carl Eugens Commun-Ordnung: Zur Ersparung vieler Botten seynd auf allen von einem Ort zu dem anderen gehenden ordinari-Scheide-Wegen in Feldern und Wäldern Weg-Weiser zu sezen: nemlich eine Saul mit so vielen Armen, als Wege seynd. Hier kreuzt der Weg von Stahleck nach St. Johann die alte Heerstraße, die von Gomadingen nach Eningen führt. Der Weiser zeigt die vier Strecken in Kilometern. Feine Risse im Farbbelag, der blättrig aufspringt und Rostgeschwüre entblößt. Der rote Dreiblock des Albvereins nennt seine eigenen Ziele, wundersame Frühlingsvergnügen. Und noch ein Schild: Landschaftsschutzgebiet.
Viel Verkehr überland, scheint es, aber nur alle paar Minuten fährt ein Auto. Ich setze mich und stecke mir ein Pfeifchen an. Ein Motorflieger brummt am dunstigen Himmel. Vogelchor aus den Wäldern, Krähen zetern unsichtbar über den Äckern. Die Eggfurchen fluchten einstimmig mit den Weglinien: wohltuend. Die ersten Käfer schwirren. Güllegeruch. Ein Wind geht durch die flache Mulde und lässt die Haut frösteln. Manchmal lüpft er mir den Hut, als sollte ich ihn gefälligst grüßen. Ein Laster dröhnt in einer Staubfahne heran, donnert vorbei, hüllt mich in einen stickigen Schwall, hinterlässt fahle Wolken auf der Straße. Drüben zieht ein Trecker die Egge durchs Feld, auf ihr steht einer und gibt Gewicht.
Ich würde gern wissen, warum der Baum so heißt, wie er heißt. Eine Reiterin ist nicht von hier; als sie weiterreitet, ist noch lange das Klippediklopp der Hufe zu hören. Ein Jungbauer lacht ratlos und spöttisch, Spaßmacherbaum?, lacht er, so sait mr halt! Ein alter Bauer auf seinem kabinenlosen Deutz zuckt nur die Schultern, lächelt versonnen, auf der Wange zeichnen Äderchen ein Altersmal.
Lange sitze ich noch auf dem Bänkchen. Landstraßengefühl, als müsste ich die Sohlen prüfen, ob sie’s noch halten werden. Wohin will ich heut noch? Wie weit werd ich kommen? Zwischen den Dörfern kreuzen sich Wege und führen überallhin.
Ein früher Frühling. Zwanzig Grad im Februar, die Knospen treiben, in der Sonne ist es warm. Auf dem Parkplatz beim Gehöft liegen noch Schneereste. Es haucht frostig hier, wo die Sonne nicht hinkommt. Auf der Apfelbaumallee marschiert es sich munter durch Obstwiesen. Dort vorn das Hofgut, ein Herrenhaus, David Friedrich Weinland saß hier und schrieb den Rulaman. Gelehrtenexistenz in Rock und Zylinder. Ausflug mit vier Kindern die Steinstufen im Buchenwald hinab zum Höhlentor: Tulka-Höhle. Gut Wittlingen, vom Vater erbaut. Herbstlaub auf den Kieswegen, in der Schreibstube scharren Stuhlbeine über die Dielen. Feder und Tintenfass: der Vater der heimatlichen Urgeschichte.
Die Burg dann mit Vor- und Kernburg, einer Schildmauer, kühn stirnend überm Ermstal. Der Zwinger liegt grasig und kahl zwischen weißen Mauern, oben auf dem Turm habe ich den Falkenblick übers Land. Ein Wind noch voll Frost, das Tal tief unten, blauschattig, bleichgrundig, in dem sich dunkel das Flüsslein windet. Auf der Hochfläche ringsum würfeln sich Dörfer in die Flur.
Der Wind fährt mir ins Federkleid und lüftet mir die Schwingen. Mich plustern will ich, mich vorneigen und abspringen, die Flügel spreizen und mich hineinfallen lassen in das Luftkissen, das mich erfasst und nach oben trägt. Mich aufwärts schrauben in den Himmel, in der Höhe gleiten und spähen, die Wärmeschläuche und Kältelöcher fühlen und meinen ruhigen Weg durchs luftige Terrain navigieren.
Stattdessen knöpfe ich mir die Jacke zu. Die Sonne ist bald unter, dann kommt der Winter zurück. Auf dem Rückweg fallen die Schatten der Apfelbäume lang über die Wiese.
Ein kahler Ort in kahlem Wald, winterwüst. Eine Reihe von Erdfällen, in einem entspringt der Quell, zwei steinerne Becken sind gefüllt mit Winterlaub. Das Gezweig der Buchen, jetzt im Frühjahr, schützt den Ort nicht, er liegt fast frei unterm Frühlingshimmel. Das Wässerchen dringt unter einem Steinhaufen hervor und wird von einem Plastikrohr gefasst, rieselt in das eine Becken, sickert durchs Laub in das zweite und bildet dort Tümpelchen. Ein Poem auf einer Tafel bedichtet es, die schwülstigen Reime nehmen sich peinlich aus in der Nüchternheit.
Ich setze mich daneben und warte. Das Lied der Quelle wird vernehmlicher. Das Rinnsal schüttet launig, schuckert und wird manchmal im Schwall lauter, dann dünnt es wieder und flüstert, es plappert nach den Regeln des Karstwassers, das durch die Klüfte läuft. Ich koste das Wasser in der Schale meiner Hand: Es schmeckt süß und kalkig. Drüben, auf der Landstraße nach Würtingen, lärmt der Verkehr; die Felder, die Hausdächer, das einstige Sperrholzwerk, der Turm der Andreaskirche.
Ich warte. Allmählich kommen die gefiederten Sänger zurück, die meine Ankunft vertrieben hat; sie finden sich ein rundherum und beginnen ihr Tagwerk. Ein Gimpel mit seinem Finkenschnabel, ein Stieglitz mit seinem dudidelet, die Meislein mit ihren blauen Scheiteln. Dann hüpft eins von ihnen heran, zögert, hüpft näher, trinkt aus dem Becken, hüpft hinein und nimmt mit zwirbelnden Flügeln ein Bad. Ich fühle mich wie Franziskus und rühre mich nicht. Wenig später kommt wieder eins – oder dasselbe? – und kurz darauf ein Buchfink mit braunem Bauch und schwarzweißgelben Flügeln.
Das hier ist ein Vogelbad, erkenne ich. Ein Vogelort. Ein Ort, um den Vögeln zu predigen. Oder sie mir.
Eine bukolisch-karge Flur, hier oben über Hettingen, eine Hirtenflur aus Steinriegeln, Feldkreuzen und Hütten. Märzengang der Landschaft, friedvoller Himmel. Die Karte nennt das Gebäu „Schafhaus“, aber in Wahrheit ist es ein Galthaus, das im Mittelalter den Hütern des Galtviehs Unterschlupf bot, Jungvieh und solches, das keine Milch gab. Drinnen drängten sich Vieh und Hirte zur Nacht, Fundamente und Steinpflaster stammen noch aus dieser Zeit. Die Hirten blieben die heißen Sommer oben auf der Hochfläche, träumend, mit sich redend, das Getier zum Bruder. Man hat das Andenken bewahrt und restauriert, eine Grillstelle eingerichtet, landwirtschaftliches Gerät zwischen Stroh und Staub gesammelt, alte Pflüge und Leiterwagen und Heuschlitten. Auch die Hüle, aus dem das Vieh soff, ist trockengefallen, nur noch eine Senke in der Wiese, und selbst der einstige Brunnen führt als fünf Meter tiefer Schacht in leche Schichten. Vielleicht denkt noch einer der Heutigen daran, wenn er sich ins dürre Gras unterm Dornicht eines Steinriegels lagert, den Hütestab neben sich: Milch und Honig sind hier nie geflossen.
Hinter Kettenacker stelle ich ab und steige den Fahrweg hinauf ins Riedlinger Wäldle. Die Fluren sind feiertäglich verlassen, die Sonne brennt, ich komme ins Schwitzen. Auf dem Waldweg ist’s kühler, dann zeigt die Karte einen Kreis in einer Mulde am Wegrand: Hallstatt-Siedlung. Aus der Literatur ist nichts zu erfahren. Grabhügel gibt es hier, das würde passen. Ein steiler Geländeabsatz mit anstehenden Schroffen im Buchenwald, sonst Unterwuchs und Totholz. Was könnte hier gestanden haben? Wieso in der Mulde und nicht oben, hinter einer Palisade? Was fände man im Boden, wenn man grübe? Holzpfähle, Küchengruben, Rennöfen. Eine Fibel im Wurzelwerk eines Windwurfs.
Ich kraxle die Böschung hinauf und will mir vom Hochsitz einen Überblick verschaffen. Hallstatt-Zeit, Eisenzeit. Klimasturz: zunehmende Abkühlung und Niederschläge. Die Siedlungen wanderten in Höhenlagen, Salz wurde nötig zur Fleischkonservierung. Ich blicke ins Rund und könnte meinen: einen verflachten Graben, der den Hang heraufzieht; zwei verebnete Rechtecke als Hausplätze; einen zweiten Graben nach Norden zu. Das könnte auch neuzeitlich sein, oder gar natürlich.
Auf dem Rückweg scharre ich nutzlos im Laub und lese Kalkscherben, prüfe sie, werfe sie weg. Vergebliche Müh’, ziellos und lächerlich, weil da vielleicht nie etwas war. Man glaubt es, wenn man Spuren findet, Hinterlassenschaften, überkommene Artefakte. Aber wenn sich da bloß ein Kartenfehler generationenlang vererbt hat? Ich breche durchs kahle Gestrüpp und verstehe nicht, worauf ich da gehe. Nichts wird sichtbar. Ja: Das Nichts erscheint. Das Einst des Wohnens ist bloß Wald und Schattigkeit, Vergessenheit im Verhau, eine Stelle, wo es kühl haucht und die Bewandtnis schillert. Dabei bleibt alles so still und verwaist, so belanglos und unheimlich, dass es nicht zu lösen ist. Vielleicht gehen Geister um, vielleicht auch nur der Förster einmal im Jahr zum Rundgang.
Ich bin froh, als ich wieder in die Sonne trete und bergab gehe, dem Ort den Rücken wende. An der Straße blitzt der Spiegel meines Motorrads. Was war das nun mit diesem Ort?, frage ich mich. Ein Unort, ein ungereimter Zuruf, ein paar Zeilen im Paret hätten Gewissheit geschaffen. So aber: ein Gaukel. Unbehaglich. Beim Starten des Motors wird mir wohler.
Ein festes Haus auf seiner Schroffe nennt man Burgstall. Altehrenfels überm Glastal. Vom Wanderweg steigt ein Pfad über Vorsprünge in den Wald hinauf, doch das Gemäuer ist abgegangen. Nichts als der Turm, ein Schuttwall, Laubgräben sind geblieben. Der Turm ist von innen nicht zu erklettern, auch wenn ich mit den Fingern in den Fugen klemme. Erst vom Hang her findet sich ein Stäffelchen. Oben, am Rand des Schachtlochs, wächst eine Birke. Die Felsenmispel raschelt rau mit ihren Blättern, erste Erdbeeren blühen und gelber Steinbrech. Moosnester, Nadelfall, hier oben tut sich wenig. Ein Specht klopft im Hangwald. Zwischen den flimmernden Bäumen silbert Wasser herauf, Glastal, Weidental, läute laute lillo. Haben meine Lieder Macht über böse Geister? Lange sitze ich hier, versunken ins Lauschige.