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Schon kurz nach Entstehung der Psychoanalyse und des Films um 1900 gab es die ersten "Seelenheiler" auf der Leinwand; ihre Geschichte wird bis heute erzählt. Das Hollywoodkino schuf Klischees des allwissenden Heilers, des bösen Seelenmanipulators und der liebenswert-schrulligen "Shrinks". Die Figuren sind nicht nur von filmhistorischem Interesse, sondern prägen die Vorstellung vieler Patienten und Therapeuten darüber, wie "richtige" Psychotherapie gelingen kann. Auch die gesellschaftliche Wertschätzung von Psychotherapie und Psychiatrie wird maßgeblich durch die Darstellung im Kino geprägt. Die zahlreichen Fallbeispiele beinhalten nahezu alle großen Hollywoodfilme, die sich mit psychischen Erkrankungen und deren Behandlung auseinandersetzen.
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Seitenzahl: 196
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Schon kurz nach Entstehung der Psychoanalyse und des Films um 1900 gab es die ersten ''Seelenheiler'' auf der Leinwand; ihre Geschichte wird bis heute erzählt. Das Hollywoodkino schuf Klischees des allwissenden Heilers, des bösen Seelenmanipulators und der liebenswert-schrulligen ''Shrinks''. Die Figuren sind nicht nur von filmhistorischem Interesse, sondern prägen die Vorstellung vieler Patienten und Therapeuten darüber, wie ''richtige'' Psychotherapie gelingen kann. Auch die gesellschaftliche Wertschätzung von Psychotherapie und Psychiatrie wird maßgeblich durch die Darstellung im Kino geprägt. Die zahlreichen Fallbeispiele beinhalten nahezu alle großen Hollywoodfilme, die sich mit psychischen Erkrankungen und deren Behandlung auseinandersetzen.
Dr. med. Rainer Gross ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Chefarzt an der Sozialpsychiatrischen Abteilung des LK Hollabrunn, Österreich.
Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik Herausgegeben von Michael Ermann
M. Ermann: Herz und Seele (2005) M. Ermann: Träume und Träumen (2005) M. Ermann: Freud und die Psychoanalyse (2008) M. Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (2009) M. Ermann: Psychoanalyse heute (2010) R. Gross: Der Psychotherapeut im Film (2012) O. F. Kernberg: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus (2012) L. Reddemann: Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (2011) U. Streeck: Gestik und die therapeutische Beziehung (2009) L. Wurmser: Scham und der böse Blick (2011)
Rainer Gross
Der Psychotherapeut im Film
Verlag W. Kohlhammer
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2008 gehalten hat. Unter www.auditorium-netzwerk. de ist eine Übersicht aller Aufnahmen der Lindauer Psychotherapiewochen einzusehen, die unter [email protected] angefordert werden kann.
1. Auflage 2012
Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
ISBN 978-3-17-021012-7
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-023541-0
epub:
978-3-17-028152-3
mobi:
978-3-17-028153-0
1. Vorlesung Zwischen Traum und Hypnose: Der Psychotherapeut im Stummfilm (1895–1933)
Le Mystère des Roches de Kador (L. Perret 1912)
Das Cabinet des Dr. Caligari (R. Wiene 1920)
Geheimnisse einer Seele (G. W. Pabst 1926)
2. Vorlesung Die goldenen Jahre: Psychoanalyse und Hollywood (1945–1965)
Die „psychoanalytischen Filme“ des Alfred Hitchcock
Abenteurer der Seele: John Hustons Freud 1962
3. Vorlesung In Ungnade gefallen: Psychotherapie als Anpassungs-Agentur (1965–1975)
Einer flog über das Kuckucksnest (M. Forman 1975)
Woody Allen: Der ewige Patient
4. Vorlesung Clowns, Schurken und liebende Frauen: Pluralismus der Darstellungen von Psychotherapie im Film seit 1975
Das Schweigen der Lämmer (J. Demme 1991)
Die Psychotherapeutin im Film: Heilung nur durch Liebe?
Der Herr der Gezeiten (B. Streisand 1991)
5. Vorlesung Die Heilung der Seele im Kino: Liebe statt Technik?
Psychotherapie auf der Leinwand und Konsequenzen für die Praxis
Möglichkeiten der „Verwendung“ von Filmen in Psychotherapien
Verzeichnis der Filme
Literatur
Dieses Buch ist Helga gewidmet.
Geheimnisse einer Seele – Deutschland 1926 Regie: G. W. Pabst Deutsche Kinemathek/Sammlung Pabst 4.2-85/07
Das „Geburtsjahr“ sowohl des Kinos als auch der Psychoanalyse kann mit 1895 angesetzt werden: Freud veröffentlichte gemeinsam mit Breuer die Studien zur Hysterie1 in Wien, die Gebrüder Lumière präsentierten die ersten öffentlichen Vorführungen ihrer „bewegten Bilder“ in Paris.
Während Freud seine Traumdeutung2 schrieb, drehte George Méliès in Paris seine verblüffenden Kurzfilme: In drei bis fünf Minuten wurden dem Publikum „Zauberkunststücke“ präsentiert. So sah man etwa einen Mann, der eine senkrechte Wand hinauflief oder eine naiv-poetisch bebilderte Reise zum Mond. Während die Gebrüder Lumière das Publikum durch den Realismus ihrer Darstellungen eher erschreckten – bekannt ist die Anekdote vom Publikum, das entsetzt davonlief, als der Zug aus der Leinwand „herausfuhr“ –, versuchte George Méliès, die anti-realistischen Potenziale des Kinos auszutesten. In beiden Fällen aber ging es um Bewegung, um Darstellung von Bewegung. Der überwältigende Eindruck der ersten bewegten Bilder gründete auf dieser erstmaligen technischen Darstellbarkeit von Bewegungsabläufen.
Zur gleichen Zeit beschäftigte sich die Proto-Psychoanalyse mit der Frage, wie die statischen, unbewussten Bilder der traumatisierenden Szenen in der Seele ihrer Patienten durch Sprache, durch die „talking cure“ bewegt und dynamisiert werden könnten, um so eine Heilung zu bewirken. Verblüffend schnell und intensiv interessierten sich die damaligen „Psycho-Wissenschaften“ für das neue Medium des Kinematographen: Schon 20 Jahre zuvor hatten sich die Fotos von Charcots Patientinnen großer Beliebtheit erfreut. Seine Lieblingspatientin Augustine hatte Fotografien ihrer Anfälle für die Fans signiert. Jetzt wurden in der Salpêtrière von Charcots Nachfolgern auch filmische Darstellungen hysterischer Anfälle hergestellt.
Bereits kurz nach 1900 war die filmische Darstellung von abnormen Bewegungsabläufen bei neurologischen und auch psychiatrischen Krankheitsbildern zur Diagnostik und Ausbildung zum Standard in vielen neuropsychiatrischen Kliniken in Europa und den USA geworden. Trotz des Beharrens auf „Objektivität“ wurde kräftig inszeniert. Bekannt ist etwa das Beispiel eines italienischen „Lehrfilms“ über einen hysterischen Anfall von 1908: LA NEUROPATHOLOGIA. Camillo Negro war sowohl Regisseur als auch Darsteller des behandelnden Arztes. Dieser Film bot, wie viele andere Filme der damaligen Zeit, auch erotische „Schauwerte“. Nachdem schon Charcot nur seine weiblichen Patienten fotografieren ließ, blieb auch im Film die Exhibition der Krankheitssymptome von Frauen für ein männliches Publikum zentral.
Unabhängig davon gab es auch schon zahlreiche Versuche, das neue Medium therapeutisch zu nutzen: Bereits 1914 gab es in 24 psychiatrischen Anstalten in den USA regelmäßig Filmvorführungen für die Patienten, angeblich mit sehr positiven Auswirkungen auf deren Zustand. Gezeigt wurden kurze Filme dokumentarischen oder komödiantischen Inhalts: vor allem über Verfolgungsjagden, Tiere, „Eingeborene“ etc.
Am 07.12.1913 erschien in der römischen Zeitung Tribuna ein Bericht über eine Filmvorstellung in der Irrenanstalt von Perugia, in dem die heilsamen Wirkungen dieser Vorführungen betont wurden:
„Das Kino muss seine heilenden Wirkungen auf die kranken Geister übertragen und wird mehr erreichen als Zwangswaschung, Zwangsjacke und Gummizelle.“3
Noch in demselben Jahr wurde der Artikel mehrmals nachgedruckt, u. a. für eine österreichische Film-Fachzeitschrift mit dem Titel Das Kino im Irrenhaus.
Dass auch Patienten selbst von der therapeutischen Wirkung des Films überzeugt waren, zeigt ein frühes Beispiel aus Amerika: Mrs. Johanna Goldbach war (laut Motography 1912) der treueste Stammgast im Kino von Long Island. Sie liebte die Stummfilme, die sie in erster Linie als Therapie gegen ihre nervösen Beschwerden aufsuchte. Nun sei sie bereits völlig genesen, komme aber weiterhin aus Freude an den Filmen ...4
Sehr bald tauchten die ersten Therapeuten im Film auf (es handelte sich übrigens lange Zeit ausschließlich um Männer). Diese Filme waren wenige Minuten lang, daher darf man hier keine subtile Charakterzeichnung erwarten. Ein frühes Hollywood-Beispiel dafür ist DR. DIPPY’S SANATORIUM aus dem Jahr 1906: Es handelt sich bei diesem Film um eine harmlose Komödie für die ganze Familie. Die Insassen eines „Irrenhauses“ überwältigen ihre Wärter und brechen aus, können aber vom später im Film auftretenden Anstaltsleiter Dr. Dippy unschwer und gewaltlos wieder zur Räson gebracht werden. Er bringt ihnen einen großen Picknickkorb auf die Wiese, wo sie lagern, der Film endet mit dem gemütlichen gemeinsamen Schmausen von „Apple-Pie“. Natürlich ist dieser Streifen weder aus psychotherapeutischer noch aus filmhistorischer Sicht überhaupt von Bedeutung. Allerdings sehen wir hier bereits ein Klischee des Psychiaters, das in den nächsten fünfzig Jahren fast unverändert und häufig reproduziert wird.
In Dr. Dippy sieht Irving Schneider das erste Beispiel eines der drei „überdauernden Psychiater-Klischees im Hollywood-Film“: Die anderen beiden nennt er Dr. Wonderful und Dr. Evil:5
Dr. Dippy ist eigentlich liebenswert, allerdings ein bisschen lächerlich. Er trägt einen Frack, einen langen Bart und eine Brille. Er bewegt sich etwas ungeschickt, wirkt aber insgesamt freundlich und durchaus um seine Patienten bemüht. Die Vorläufer dieser Klischee-Gestalt finden sich in der Commedia dell’arte, bei Molière und als aufgeblasenpompöser Arzt in zahllosen Theaterstücken. Insgesamt lädt Dr. Dippy eher zum Schmunzeln oder lauten Lachen ein – ebenso wie andere Karikaturen, die eine Autoritätsfigur der Lächerlichkeit preisgeben.
Dr. Evil hingegen entspricht dem Klischee des verrückten Wissenschafters, der seine Patienten ausbeutet oder ihre Krankheit böswilligerweise erst erzeugt. Dr. Evils literarische Vorläufer entstammen der schwarzen Romantik: In der deutschen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts finden wir zahllose dunkle Hypnotiseure, Mesmeristen und sonstige Scharlatane oder Wunderheiler. Je nach Epoche variieren die Attribute dieser bedrohlichen Figuren vom Labor à la Dr. Frankenstein bis zu glitzernden High-tech-Apparaturen. Am gefährlichsten aber wirkt oft die Fähigkeit dieser Bösewichte, durch Suggestion und Einfühlung ihre Opfer zu steuern. Dr. Evil kann immer auch gelesen werden als Sinnbild der Angst vor mentaler Beeinflussung, Gedankenlesen, Gehirnwäsche etc.
Das positive Gegenbild zur Bedrohung durch Dr. Evil ist der idealisierte Heiler mit übermenschlichen Kräften: Dr. Wonderful! Dieselben empathischen und intellektuellen Qualitäten, die Dr. Evil zur Bedrohung für die ganze Welt machen, sind bei diesem positiven Kontrastbild die Garantie für Hilfe und Heilung – oft Heilung durch Liebe zu seinen Patientinnen. Dr. Wonderful evoziert (Übertragungs-)Gefühle von Bewunderung und Verliebtheit. Je nach Bedarf kann er edelvergeistigt und asketisch oder aber als sinnlicher Traumprinz auftreten.
Alle drei Psychiater-Klischees des Kinos sind Erben alter Figuren des Theaters oder des Rituals, alle drei Klischees illustrieren jeweils unterschiedliche Gefühle gegenüber geliebten, gehassten oder verlachten Autoritätsfiguren. Jedem dieser drei Klischees entspricht ein Filmgenre: Dr. Dippy eignet sich wunderbar als Komödienfigur, während Dr. Wonderful meist in Melodramen auftritt. Das Reich des Dr. Evil hingegen ist der dunkle Thriller, der Film noir. Über Jahrzehnte der Filmgeschichte kann man auch die Abfolge verschiedener Klischees bei der Darstellung einer ganz spezifischen therapeutischen Praxis nachzeichnen: So erleben wir Psychoanalytiker im Kino bis zu den Fünfzigerjahren meist als Dr. Wonderful, danach häufig als dämonische Vertreter des Dr. Evil, seit den Neunzigerjahren wahrscheinlich am häufigsten als skurrile Dr. Dippys. Diese Abfolge in der „Übertragungsbeziehung“ Hollywoods zur Psychoanalyse wiederum ist ein getreues Abbild des gesamtgesellschaftlichen Stellenwertes dieser Methode.
Eines der frühesten Beispiele für Dr. Wonderful im Kino zeigt uns einen Therapeuten, der durch die Macht der Filmbilder eine todgeweihte Patientin heilt und rettet:
1912 entstand ein Stummfilm, der anlässlich seiner Wiederentdeckung bei einem Festival im Jahr 1995 in Pordenone als „erster Film über die Psychoanalyse”6 gefeiert wurde – eine fast schon rührende Fehleinschätzung: LE MYSTÈRE DES ROCHES DE KADOR (in Deutschland und Österreich wurde er unter dem weniger „trashigen“ Titel: EWIGE ZEUGEN gezeigt). Der Regisseur Léonce Perret schuf ein lupenreines Melodram mit einer klassischen Dreiecks-Konstellation:
Die junge Suzanne de Lormel lebt bei ihrem Vormund Graf Fernand de Kéranic in der Bretagne. Der verschuldete Vormund drängt sein Mündel zur Heirat, um an ihr Erbe zu gelangen. Sie aber ist glücklich verliebt in den Kapitän Jean d’Erquy. Als Graf Kéranic dies entdeckt, lockt er den Kapitän – durch Fälschung eines Briefes in Suzannes Handschrift – zu einem Stelldichein in der Meeresbucht bei den Felsen von Kador. Dort will er ihn und Suzanne töten, denn auch im Falle ihres Todes oder einer unheilbaren Krankheit fällt das Vermögen an ihn!
In einer hochdramatischen Szene sieht der getäuschte Kapitän die vom Grafen vergiftete und ohnmächtige Suzanne am Strand liegen, eilt verzweifelt zu ihr, wird vom Schurken de Kéranic angeschossen, versucht noch, sich und Suzanne ins rettende Boot zu schleppen, bricht zusammen. Suzanne erwacht aus ihrer Ohnmacht, sieht den Geliebten reglos im Sand liegen, hält ihn für tot – ihr schwinden neuerlich die Sinne … Viele Wochen später ist jedoch der Kapitän wieder genesen. Suzanne aber verharrt durch den Schock in Apathie und Stupor, in „unheilbarer Umnachtung“, reagiert auf keinerlei Reize. Der böse Vormund kann daher ihr Erbe für sich in Anspruch nehmen. Aber es gibt noch Hoffnung: Der verzweifelte Verlobte bittet den berühmten Professor Williams um Hilfe, „einen der bedeutendsten Ärzte der Neuzeit“, der „mit der Anwendung der Kinematographie auf Gemütskranke“ berühmt geworden ist. Dieser Professor dreht jetzt gemeinsam mit dem Verlobten einen „Film im Film“, in dem dargestellt wird, was in der für Suzanne traumatischen Szene wirklich geschah. Suzanne wird im Rollstuhl in den Vorführraum gebracht, der Film wird ihr gezeigt, und während der Vorführung erwacht sie wunderbarerweise aus ihrem halb-komatösen Zustand. Sie wankt auf die Leinwand zu, erkennt sich im Film und fällt geheilt und glücklich ihrem Verlobten in die Arme … (Zwischentitel des Stummfilms: „Sie weint, sie ist gerettet. Sie ist geheilt, ihre Erinnerung kehrt zurück.“).7
Sigmund Freud wäre wohl wenig amüsiert gewesen über die Rezension, die in der „Ersten Internationalen Filmzeitung“ von Hans Joachim von Winterfeld geschrieben wurde:
„Ärzte-Kreise wird der Film besonders interessieren. Versucht er doch die Freud’sche Theorie, daß das getrübte Unterbewusstsein durch Wiederholung der Vorgänge geweckt werden kann, zu erhärten.“8
Realistischerweise kann man die „Quellen“ des Regisseurs Léonce Perret eher in einen kulturellen Kontext des damaligen französischen Interesses sowohl für Parapsychologie als auch für moderne Technologien einordnen. Trotzdem ist der Verweis des Rezensenten auf die Psychoanalyse verständlich. Immerhin heißt es zu Beginn der „Studien zur Hysterie“:
„Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung, dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgrund zur voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen […] und wenn der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab.“9
Das Bild muss also zum Wort und zur Erzählung werden, damit die Heilung eintreten kann.
Die oben genannten frühen Beispiele aus jenen Jahren, als die Bilder im Kino „laufen lernten“, können wir uns vorstellen als Mischung von „bebilderter Wochenschau“, möglichst verblüffenden Tricks und „Kulturfilmen“ über exotische Völker und Tiere. In den ersten Filmen ging es um Jahrmarkt, Kirmes und Budenzauber, nicht um Theater und Hochkultur. Im Rückblick auf diese Kinderjahre des Kinos schrieb Kracauer 1947:
„Der Film in jener ganzen Zeit trug die Züge eines Gassenjungen und war wie ein verwahrlostes Geschöpf, das sich in der Unterschicht der Gesellschaft umhertrieb.“10
Dies war wohl auch der wichtigste Grund dafür, dass Freud das Kino in seinen Anfangsjahren und auch später „nicht einmal ignorierte“: Abgesehen von seinem prinzipiell eher konservativen Kulturgeschmack versuchte er peinlich, jegliche Nähe zu Hypnose, Scharlatanerie und Jahrmarktzauber zu vermeiden – immerhin war die auch von ihm geteilte Begeisterung für die Hypnose und ihre Heilwirkungen erst wenige Jahre vorbei, und die Gleichsetzung von Hypnose, Hellseherei, Mesmerismus mit den beginnenden psychoanalytischen Behandlungsmethoden waren nicht dazu geeignet, den so ersehnten wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse zu festigen. Entschieden hätte sich Freud sicher von jenem amerikanischen Film distanziert, in dem 1925 zum ersten Mal im amerikanischen Kino das Wort „Psychoanalytiker“ verwendet wurde:11
BOOMERANG erzählt die Geschichte eines Arztes, der aus Mangel an Patienten ein Sanatorium gründet und dafür eine Krankenschwester anstellt, die sich als Hellseherin entpuppt. Die beiden verlieben sich ineinander, heilen ihre Patienten, das Sanatorium floriert – Happyend!
Trotz dieser im Rückblick rührend primitiven Darstellungen sind die ersten „Psychos“ in den Stummfilmen sicher für sehr viele Menschen „wirkmächtig“ geworden in der Formung ihrer inneren Bilder davon, worin die „Therapien“ dieser „Psychodoktoren“ bestünden. So haben sie wohl schon damals die Erwartungshaltung potenzieller Patienten vorgeprägt, bevor diese zum ersten Mal das Behandlungszimmer betraten.
1900 erschien Freuds Traumdeutung, bereits 1901 bot die französische Pathé einen Drei-Minuten-Film mit dem Titel TRAUM UND WIRKLICHKEIT an. Der naive Streifen amüsierte ein Jahrmarkts-Publikum, faszinierte aber auch die Schriftsteller des Fin de Siècle mit ihrem Interesse an seelischen Vorgängen und psychischen Störungen. Sie versuchten zu ergründen, warum die so primitiven, flackernden Bilder etwas leisten konnten, was ihre subtilen Texte oft vergeblich anstrebten. So schrieb auch der so elitäre Dichter Hugo von Hofmannsthal schon 1913 ein „Traumspiel“ als Filmskript: DAS FREMDE MÄDCHEN. Auch er machte sich Gedanken über die Funktion des Kinos für ein Massenpublikum:
„Was die Leute im Kino suchen, ist der Ersatz für die Träume. Sie wollen ihre Phantasie mit Bildern füllen, in denen sich Lebensessenz zusammenfasst, Bilder, die aus dem Inneren des Schauenden gebildet sind. Denn solche Bilder bleibt ihnen das Leben schuldig. Dass diese Bilder stumm sind, ist ein Reiz mehr. Stumm wie die Träume.“12
Im Kino wurden also die Träume der Massen geprägt und formatiert: Bis heute ist für uns Hollywood die „Traumfabrik“ geblieben: So lautete schon der Titel eines trivialen (aber auch kritischen) Romans von Ilja Ehrenburg aus dem Jahr 1931. Schon vor 1911 gab es im deutschsprachigen Filmverleih über hundert Filme, deren Titel auf einen Traum anspielte. Dem entsprach auch das Interesse vieler Freud-Schülerinnen und -Schüler am Kino als einer Kunstform, die den Begriffen der Traumarbeit, der freien Assoziation in der Analyse näher kam als die Literatur:
Otto Rank wurde durch den Film DER STUDENT VON PRAG (1913) zu seiner berühmten Studie Der Doppelgänger angeregt und betonte die Überlegenheit des neuen Mediums, das durch seine deutliche Bildsprache psychologische Tatbestände klarer fassen könne als die Dichter und dadurch das Verständnis dieser Vorgänge erleichtere.13
Obwohl es in Wien um 1910 schon an die hundert „Film-Theater“ gab, blieb Freud selbst am Kino weiterhin desinteressiert. Laut seinem Biographen Ernest Jones konnte er erst 1909 anlässlich eines Besuches in New York von seinem aufgeschlosseneren Schüler Sandor Ferenczi zumindest einmal zu einem Kinobesuch überredet werden. Neben dem aufgeregten Ferenczi verfolgte er jedoch nur still vergnügt „einen jener primitiven Filme voll wilder Verfolgungen“14. Zumindest einmal aber spüren wir aus einem Brief Freuds an seine Familie, dass auch er der Magie des Kinos nicht völlig gleichgültig gegenüberstand: 1907 berichtete er aus Rom von einer „kinematographischen Vorführung“ auf der Piazza Colonna, beschrieb die Spannung im Publikum und den „Zauber“ dieser Bilder.15
Die zweite Generation der Analytiker aber war fasziniert vom psychologischen Potenzial des Kinos: In ihrem Essay-Tagebuch In der Schule bei Freud von 1912/1913 beschrieb Lou Andreas-Salomé ihre vergnüglichen Kinobesuche gemeinsam mit Viktor Tausk im Wiener Urania-Kino. Als naive Zuschauerin schwärmte sie von den Tierfilmen, als Analytikerin erkannte sie aber auch die Möglichkeiten des Kinos, durch die Raschheit der Bildfolge die Sprunghaftigkeit des menschlichen Vorstellungsvermögens zu imitieren und dadurch seelische Erregungen darzustellen.16
Hanns Sachs lieferte in seinem Aufsatz zur Psychologie des Films 1929 auch Hinweise, wie ein Regisseur durch Betonung von Details Emotionen „aufdecken“ könne:
„Der Film scheint eine neue Art zu sein, die Menschheit zur bewussten Anerkennung des Unausdrückbaren (gemeint: des Unbewussten) zu treiben durch Verschiebung der inneren Vorgänge auf kleine, zufällige äußere Handlungen.“17
Dieser Befund wurde von der Filmwissenschaft voll inhaltlich bestätigt: So zitiert Kracauer Horace Kallen zur psychologischen Funktion von Nahaufnahmen, in denen beiläufige Handlungen „zu sichtbaren Hieroglyphen bislang nicht wahrgenommener Dynamik menschlicher Beziehungen“ aufgewertet würden.18 Sachs und Kracauer beschreiben also fast identisch die Macht der filmischen Gestaltung zur Übersetzung inneren psychischen Erlebens in äußerlich wahrnehmbare, durch formale Gestaltung bewegende Bilder. Im Gegensatz zu den Traumbildern gehören diese Eindrücke nicht nur dem Träumer, sie werden vom gesamten Publikum geteilt, können beliebig oft betrachtet und „bearbeitet“ werden – analog zu Tagträumen. Diese der Literatur überlegene Fähigkeit des Kinos zur Visualisierung von Phantasien, zur Vermittlung einer „Traumarchitektur“ beschäftigte natürlich vor allem jene Schriftsteller, die mit der Auflösung klassischer, linearer Erzählmuster experimentierten:
Virginia Woolf beschrieb ihre Faszination im Kino durch „eine geheime Sprache, die wir fühlen und sehen, aber niemals sprechen.“19 Diese geheime Sprache, dieser fast hypnotische Einfluss der Bilder auf den Zuschauer in seiner dunklen Kinohöhle wurde aber auch als potenzielle Massenhypnose und Gefahr empfunden. Der Experte für die literarische Darstellung der Angst, Franz Kafka, ging gern und oft ins Kino. Er stellte fest, dass der Film das bis dahin „unbekleidete Auge“ uniformiere, dass dabei aber die Leinwandbilder die Herrschaft übernahmen durch die Raschheit ihrer Bewegungen und dem schnellen Wechsel der Bilder: „Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blicks.“20 Das Kino wird also von den Intellektuellen erlebt als Chance zum Sichtbarmachen von Traumbildern, zum Träumen eines gemeinsamen Traums, aber auch als Gefahr, von diesen Bildern hypnotisiert zu werden.
Zu dieser Faszination passen auch zwei Erzählungen von der hypnotischen Macht des Kinos: Der geheimnisvolle englische Filmregisseur und Hypnotiseur Geoffrey Mulins kam (laut Filmwoche von 1917) auf die Idee, seine Schauspieler zur Steigerung ihrer darstellerischen Leistungen zu hypnotisieren – angeblich mit Erfolg! Und 1921 wurde (laut Kinorundschau) im Kinosaal einer Moskauer Universität ein Film über Hypnose und Suggestion vorgeführt, in dem ein Professor die Hauptdarstellerin hypnotisierte. Dieser Professor war bei der Vorführung des Films anwesend und gab dem Publikum zusätzliche Informationen. Angeblich völlig unerwartet sowohl für ihn als auch für alle Anwesenden fielen mehrere Personen im Publikum schon bei der ersten Szene in hypnotische Trance … Laut damaligem Artikel „… glaubte man, dass die Möglichkeit der parallelen Hypnose sich auch wissenschaftlich ausbeuten lassen wird“.21
Und wirklich interessierte sich schon damals die noch junge Wissenschaft der Psychologie für diese Schnittstelle von individuellem und kollektivem Unbewussten und vor allem für die Möglichkeiten der Manipulation im Kino und durch den Film: 1916 beauftragte das Hollywood-Studio Paramount Pictures den Experimentalpsychologen Hugo Münsterberg von der Harvard University mit der Entwicklung filmischer Testverfahren für die „Publikumsforschung“. (Die entstandene Serie von Testfilmen mit dem schönen Titel TESTING THE MIND ist leider nicht erhalten …). Die Faszination durch das „Optisch-Unbewusste“ wurde auch von der Werbung und vor allem von der Politik aufgenommen:
In einem ersten Rückblick kurz nach der Katastrophe des Nationalsozialismus zeichnet Siegfried Kracauer 1947 in seinem filmwissenschaftlichen Klassiker Von Caligari zu Hitler22 die psychologische Geschichte des deutschen Films in der Zwischenkriegszeit nach: Er betont die Urangst der Deutschen in der Weimarer Republik vor dem Verlust ihrer Seele, dem Entzug des eigenen Willens. Diese Angst vor der hypnotischen Wirkung eines dämonischen Führers (aber auch die Sehnsucht eben danach) erklärt das massenhafte Auftreten der dunklen und allmächtigen hypnotischen Verführer im expressionistischen deutschen Film: Auch wenn sie am Ende des Films besiegt oder bestraft werden, bleibt der dämonische visuelle Eindruck auf das Publikum ungebrochen! Zwei der Namen dieser allmächtigen „Psycho-Schurken“ haben ihren prominenten Platz sowohl in der Filmgeschichte als auch in der Populärkultur bis heute behalten: Nicht nur Filmkenner wissen auch heute noch, wofür Dr. Caligari und Dr. Mabuse stehen – Verführung durch hypnotisch-charismatische Persönlichkeiten bis zum Verlust des freien Willens ihrer hilflosen Marionetten, die in ihrem Auftrag morden …
Kracauer beschreibt in seiner Studie das damalige Massenmedium Film als Versuchsstation und Laboratorium für jene Mechanismen der Verführung und Propaganda, die später von Joseph Goebbels perfektioniert wurden. Interessanterweise argumentiert er durchgehend psychologisch, erwähnt aber Freud und die gesamte psychoanalytische Literatur auf vielen hundert Seiten nur ein einziges Mal! Gerade aber am Anfang von Freuds Therapieversuchen stand ebenfalls die Hypnose, deren Wirkung eben darauf beruht, dass das Bewusstsein durch Suggestion fast beliebig modellierbar ist. Dadurch wurde „hypnotisch“ zum Schlüsselwort der 1920er-Jahre – als Synonym für die Verletzbarkeit des freien Willens des Einzelnen – und zum Deutungsmuster einer Epoche, in der das Individuum als „Massenteilchen“ sich als hochgradig gefährdet in seiner sozialen und auch physischen Existenz fühlte.23 Die Verunsicherung in ganz Europa, speziell aber in Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg 1918, wurde noch dadurch intensiviert, dass nach der Katastrophe des „großen Krieges“ und dem Versagen einer staatlichen Autorität, die Millionen junger Männer in den Tod geschickt hatte, nun jegliche Autorität als zumindest potenziell verderblich betrachtet wurde! So schlug der Auftritt des Dr. Caligari ein Jahr nach Kriegsende 1919 wie ein Blitz ein. Der Name Caligari wurde zur Chiffre für eine übermächtige Bedrohung.
Interessanterweise waren die Ausgangspunkte für das Drehbuch einerseits ein Angsttraum, andererseits ein reales traumatisches Erlebnis mit einem Psychiater im Krieg – so zumindest schildert es Kracauer nach den persönlichen Aufzeichnungen eines der beiden Drehbuchautoren. Die beiden beklagten sich später bitterlich darüber, dass ihr Skript, das sie als revolutionären Aufruf zum Misstrauen gegen jegliche Autorität verstanden, durch die Hinzufügung einer Rahmenhandlung praktisch ins Gegenteil verkehrt wurde: