Haus der Stille - Rainer Gross - E-Book

Haus der Stille E-Book

Rainer Gross

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Beschreibung

Tom Krauskopf fährt zu einem Sesshin, einer Zen-Meditationswoche im Haus der Stille in Norddeutschland. Als er ankommt, weiß er nicht recht, wo er ist: in der Sommerfrische? im Kloster? in einer Gruppentherapie? Die Leitung hat ein echter Rôshi, ein Zen-Meister aus Japan. Das Sesshin beginnt, und die Dynamik nimmt ihren Lauf. Jeder ringt um den Weg zur Wahrheit, um die Erleuchtung. Unbewusstes wird heraufbeschworen, unbarmherzig werden die Teilnehmer mit sich selbst konfrontiert, es geht an die Substanz. Keiner weiß, was passieren kann, aber was soll schon passieren? Auch Tom gerät in eine tiefe persönliche Krise und sucht Hilfe bei Katja, der Zen-Jüngerin. Beide kommen sich näher. Bis am dritten Tag tatsächlich etwas passiert und die Dinge eine unvorhergesehene Wendung nehmen ...

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Tom Krauskopf fährt zu einem Sesshin, einer Zen-Meditationswoche im Haus der Stille in Norddeutschland. Als er ankommt, weiß er nicht recht, wo er ist: in der Sommerfrische? im Kloster? in einer Gruppentherapie? Die Leitung hat ein echter Rōshi, ein Zen-Meister aus Japan.

Das Sesshin beginnt, und die Dynamik nimmt ihren Lauf. Jeder ringt um den Weg zur Wahrheit, um die Erleuchtung. Unbewusstes wird heraufbeschworen, unbarmherzig werden die Teilnehmer mit sich selbst konfrontiert, es geht an die Substanz. Keiner weiß, was passieren kann, aber was soll schon passieren?

Auch Tom gerät in eine tiefe persönliche Krise und sucht Hilfe bei Katja, der Zen-Jüngerin. Beide kommen sich näher. Bis am dritten Tag tatsächlich etwas passiert und die Dinge eine unvorhergesehene Wendung nehmen ...

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau seit 2002 als freier Schriftsteller bei Hamburg.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen:

Die Welt meiner Schwestern

Das Glücksversprechen

Yūomo

Inhaltsverzeichnis

Ankunft

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Vierter Tag

Fünfter Tag

Ankunft

Acht Stunden auf der Autobahn. Mit dem Motorrad.

Würzburg, Kassel, Hannover, Hamburg.

Dann übers Land nach Dreibäumen. Backsteinhäuser, Pferdehöfe, Rapsfelder.

Es ist Nachmittag. Tom Krauskopf findet das Haus der Stille und fährt durchs Tor auf das Anwesen. Ein Park mit Bäumen, das Haus ein dreistöckiges altes Herrenhaus mit Erkern und Turmgiebeln und einem Anbau mit Terrasse.

Tom Krauskopf hat keinen Krauskopf. Er heißt bloß so. Woher der Name kommt, ist ihm egal. Er ist er, jetzt und hier. Er hat seinen eigenen Weg zu finden. Deshalb ist er jetzt hier. Deshalb studiert er Philosophie, deshalb geht er nicht mehr in die Kirche, deshalb ist er auf den Zen-Buddhismus gestoßen, oder, wie Kenner sagen: Zen.

Er stellt das Motorrad an der Hauswand ab und steigt die Treppe hoch. Bevor er klingeln kann, öffnet sich die Tür. Eine junge Frau steht dort und lächelt.

- Herzlich willkommen, sagt sie. - Ich zeig dir, wo du dein Motorrad unterstellen kannst.

Sie heißt Angela. Sie ist keine Dreißig, hat die Haare zum Pferdeschwanz gebunden und geht in Birkenstocklatschen.

- Woher kommst du?

- Süddeutschland.

- Wie lange hast du gebraucht?

- Neun Stunden.

Angela mustert die Maschine ausgiebig. Ihr gefielen Motorräder, sagt sie, sie habe schon lange selbst eins fahren wollen. Unter dem Vordach des Schuppens ist es trocken untergestellt für die fünf Tage.

- Komm, ich zeig dir dein Zimmer.

Tom stapft hinterdrein, in der Hand die beiden Motorrad-Packtaschen, in denen er seinen Kram hat. Er würde sich gerne umziehen, obwohl die Lederkombi ein Aufzug ist, in dem er sich sicher fühlt.

Angela schaut im Belegplan nach und steigt die Holztreppen im Haus hinauf, in den zweiten Stock. Tom schaut sich um. Es riecht nach Äpfeln und altem Holz, die Dielen knarren. Die Zimmer haben alle Baumnamen, seins heißt „Birke“. Es ist hell, zwei Fenster an einer Wand, große Schränke mit Fächern an der anderen, zwei doppelte Stockbetten und ein ausgeklapptes Sofa, ein Tisch und Stühle. Er nimmt, weil auf dem Sofa schon eine Reisetasche liegt, das untere Stockbett am Fenster.

- Um sechs gibt’s Abendessen, sagt Angela. - Schau dich ruhig um. Der Park ist schön. Bis dann.

Tom klappt die Taschen aus Hartschale auf und räumt sich ein Fach ein. Auch in den Fächern riecht es nach Äpfeln und Holz. Draußen rauschen die Birken, er ist rasch fertig. Dann zieht er sich um und fühlt sich wohler in Jeans und T-Shirt. Im Badezimmer auf dem Flur hängt er alles auf, was während der Regenstrecken auf der Autobahn nass geworden ist. Dann duscht er und wäscht sich die Haare. Ein Schultermuskel schmerzt, er reibt und drückt, während er die Haare trocken föhnt.

Hoffentlich wird das keine Zerrung. Das hat er manchmal, wenn er angespannt ist oder sich einen Zug geholt hat. Dann jagen ihm jähe Stiche in den Hinterkopf.

Mit duftenden Haaren setzt er sich aufs Bett und holt sein Tagebuch heraus. Im Liegen kann er nicht schreiben, also setzt er sich an den Tisch.

Er liest die Aufzeichnungen von der Fahrt noch einmal durch.

Warum bin ich hier?, schreibt er. Wo bin ich?

Eine Mischung aus Sommerfrische und Volkshochschulkurs, aber er hat von der strengen Disziplin der Sesshins gelesen. Sie werden nach dem Vorbild japanischer Klöster abgehalten.

Die Gemeinschaft hier – wird sie mich aufnehmen?

Wer bin ich? Novize, Kurgast, kritischer Beobachter? Ich weiß es nicht. Muss erst noch herausfinden, wer ich hier sein kann.

Was will ich? Die andere Wirklichkeit erfahren. Sehen, dass diese sichtbare Welt nicht alles ist, dass die Wahrheit dahinter verborgen liegt. In die Wahrheit eindringen und in ihr wohnen wie in einem Tempel. Frieden finden.

Dann steckt er das Spiralheft und den Kugelschreiber weg und macht sich auf den Weg durchs Haus. Im Dachgeschoss gibt es nur ein Einzelzimmer, dort liegt auch schon eine Tasche. Auf dem Flur trifft er wieder eine junge Frau.

- Hallo! Auch schon da?

Kurze Haare, strenges Gesicht, offener Blick.

Sie heißt Katja. Sie ist fünfundzwanzig, zwei Jahre älter als Tom. Sie ist schon seit heute Morgen da. Tom will reden.

- Seit wann machst du Zazen?, fragt er.

Sie hat schon Sesshin-Erfahrung. Sie spricht es „Seschin“ aus, jetzt weiß Tom endlich, dass man die beiden S nicht trennt. Er kennt den Begriff nur aus Büchern. Er weiß einiges über Zen und meditiert seit einem halben Jahr, hält sich gegenüber Katja aber zurück, er will nicht prahlerisch erscheinen.

Tom sieht Zen durchaus kritisch und weiß nicht, ob es ein lebenslanger Weg für ihn sein wird oder nur eine Etappe.

Katja weiß mehr, sagt aber nichts.

Sie hat das Einzelzimmer, weil das einzige Zimmer mit weiblichen Teilnehmern schon belegt war.

- Ich bin hergekommen, weil ich von Yamada Tensei Rōshi schon viel gehört habe, sagt sie. - Er soll ein herzensguter Mensch sein.

Das Wort „herzensgut“ gibt Tom einen Stich in den Magen. Wie sie das sagt! Wie ihre Augen strahlen dabei! Als hätte sie Tom damit ein persönliches Geschenk gemacht.

- Sehen wir uns nachher?, fragt er.

- Erst zum Abendessen, sagt sie.

Sie hat es ab fünf übernommen, die Ankömmlinge zu begrüßen, weil Angela dann mit den Essensvorbereitungen beschäftigt sein wird.

Im ersten Stock haben die Zimmer auch Baumnamen. Linde, Eiche, Tanne. In der Küche begrüßt er Angela, die das Essen vorbereitet. Obwohl sie viel zu tun hat, grüßt sie lächelnd zurück.

Er verlässt das Haus und macht sich auf den Weg in den Park.

Ein weiterer Teilnehmer ist angekommen, zu Fuß von der Bushaltestelle aus, wie es scheint. Angela begrüßt ihn genauso freundlich, wie sie Tom begrüßt hat. Nur hat er kein Motorrad.

Hinter dem Haus beginnt ein Sandweg, dem er folgt. Ein Hund springt ihm schwanzwedelnd hinterher und will gestreichelt werden. Eine Mischung, wollhaarig.

- Ja, wer bist du denn?

Guter Hund, dankbar für Zuwendung.

Am Halsband hängt eine Plakette: Jule. Sie ist eine Hündin.

Ein paar Schritte läuft sie ihm noch nach, dann kehrt sie um. Der Weg führt unter Bäume mit weit ausladenden Kronen, Buchen und Eichen und Eschen. Am Wegrand steht vor einem knorrigen Stamm ein merkwürdiges Denkmal. Auf einem Backsteinpodest eine Gipskugel, darauf eine Stele aus Holz mit einem liegenden Sichelmond und einer goldenen Kugel.

Zuerst denkt Tom an moderne Kunst, aber es soll wohl buddhistisch sein. Vielleicht eine Stupa. Das Haus der Stille ist ja nicht nur auf Zen, sondern auch auf Vipassana ausgerichtet, eine Achtsamkeitsmeditation, die aus dem Theravada-Buddhismus stammt. Mehr weiß Tom nicht darüber.

Beim Weitergehen sieht er die Teiche. Schilfgürtel am Rand, Seerosen, zwei Brückchen verbinden Inseln miteinander, dann eine Bank, von der aus man über den Teich hinweg ein Gebäude am Rand des Geländes sieht. Das muss er sich mal anschauen.

Er tritt auf eine Sommerwiese hinaus, wo zwischen den Blumen Schmetterlinge und Hummeln unterwegs sind. Es duftet und summt. Er kommt sich vor wie zuhause im Allgäu. Er geht ein paar Schritte hinein und kniet sich nieder.

Honigduft. Grasgeruch. Das Hummellied.

Einklang. Frieden.

Deshalb ist er hierhergekommen: um einen neuen Weg zu finden. Ein neues Leben anzufangen. Aber wie? Das nützt alles nichts. Hier, auf der Wiese, holt ihn die Sehnsucht wieder ein.

Wie kann ihm Zen helfen? Ablenkung, Konzentration aufs Wesentliche. Was ist das Wesentliche? Meine Wünsche sind es nicht, denkt er. Die Wahrheit.

Wer hierherkommt, dem geht es um die Wahrheit. Das müssen gute Menschen sein, von lauter guten Menschen umgeben, die alle Sehnsucht nach der großen Erleuchtung haben. Nicht alleine sein auf dem einsamen Weg. Trost, Wegweisung. Deshalb ist er hier.

Über den Bäumen ruft ein Kuckuck.

Wie im Märchen, denkt er.

Er umrundet die Teiche und gelangt an das Bauwerk, das er von der Bank aus gesehen hat. Aus Holz, mit Reet gedeckt. Sieht aus wie eine Fischerhütte oder ein Geräteschuppen. Durch die großen Fenster sieht er ins dämmrige Innere. Reihen von Sitzkissen auf einer umlaufenden Empore. Eine Buddhafigur. Niedrige Decke wie aus Bootsplanken, gestützt von Birkenstämmen. Aha.

Muss ein Meditationsraum sein. Das Zazen, die Sitzmeditation, weiß er, findet aber im Zendo statt, in der großen Halle. Vielleicht ist das hier für besondere Anlässe. Oder für welche, die sich zusätzlich absondern wollen. In einer Klause.

Als er zurückkommt, hat sich das Haus gefüllt. In seinem Zimmer sind die übrigen drei eingetroffen. Das Stockbett über Tom bleibt leer.

Er will jetzt noch niemanden kennenlernen. Er gibt sich schweigsam, die anderen auch. Sie räumen ihr Zeug in den Schrank, ziehen sich um.

Einer rennt gleich in einer Mönchskutte herum, ein hagerer Asket mit rasiertem Schädel. Der Johannes, erfährt er. Johannes der Täufer, denkt Tom.

Dann fuhrwerkt ein kleiner Japaner durchs Haus und kloppt scheppernd auf einen Handgong, dass es sicher nicht zu überhören ist.

Abendessen.

Das ist Felix, meint ein Bauingenieur aus dem Rheinland, Fritz heißt er. Mitte Fünfzig, kleiner Bauch, Frohnatur. Das ist der Assistent vom Rōshi, sagt er. Was die anderen alles wissen.

Das Abendessen findet im Speisesaal statt, eine lange Tafel für dreißig Leute, Angela deckt ein und trägt auf. Rein vegetarisch, eine Teilnehmerin braucht glutenfreie Kost, sie muss ihr Essen selbst mitbringen.

Sachtes Schwatzen, Besteckklirren, dann kommt der Rōshi durch die Tür. Manche schwatzen weiter, er ist ja keine Exzellenz. Ein kleiner Mann, barhäuptig in grauer Mönchskutte, Sandalen an den Füßen. Sehr japanisch. Felix hinter ihm wie der Ministrant. Er grüßt höflich auf Englisch, setzt sich an die Stirnseite der Tafel.

Sein Erscheinen zeigt den Beginn des Essens an. Yakuseki heißt es auf japanisch. Der Rōshi hebt die Hände, Handflächen aneinander. Er rezitiert das Gokan no ge. Fünf Betrachtungen. Tom kann sie nicht auswendig. Erstens: Ungezählte Mühen haben dieses Essen hervorgebracht. Viertens: Wir müssen frei sein von Gier; um unser Leben zu erhalten, nehmen wir dieses Essen. Tischgebet auf japanisch. Dann verbeugt sich der Rōshi und alle anderen auch. Gassho.

Nein, man isst nicht mit Stäbchen. Es gibt Reis und Gemüse und Soße, dazu Salat. Während des Essens wird geschwiegen. Seltsam. Tom lauscht der Stille, wartet ab, dann hält er sich daran. Ein Stummfilm, wenn da nur die Essensgeräusche nicht wären. Unwillkürlich kaut man leise und achtet darauf, nicht zu schmatzen. Rituelles Mahl. Das kann ja heiter werden.

Heimlich schaut Tom sich um. Außer dem Leiter des Hauses, Kanakamuni, und seinem Mitarbeiter Frank, dem Rōshi und Felix sind es sechsundzwanzig Teilnehmer. Fünf Frauen, Katja mitgezählt. Beim Essen sehen manche völlig normal aus, wie Leute, die sich zu einem Sportkurs angemeldet haben und die Technik erlernen wollen. Manche sehen durchgeistet aus, manche wild. Einer von Toms Zimmergenossen, Patrick, von Fritz nur „der Schuffler“ genannt und anscheinend ein Bekannter von ihm, hat einen Ohrring links, einen Drachen auf dem mageren Oberarm tätowiert und lange Haare, zu einem Zopf geflochten, dazu drei Ketten um den Hals, zwei Anhänger, sehen aus wie Amulette.

Was für eine Gemeinschaft ist das wohl?, fragt sich Tom. Was wird in ihr geschehen? Nur Gutes, denkt er. Oder? Bin ich zu naiv? Es menschelt überall, auch unter Zen-Jüngern. Was soll passieren? Wart’s einfach ab.

Und der Rōshi? Er hat ein gütiges Gesicht, ist freundlich, lächelt oft. Beim Essen ist er ein Mann mittleren Alters, dem ein Reiskorn an der Lippe klebt, der kurz und hektisch kaut, der nach dem Wasserglas greift.

Tom mustert ihn. Sieht man ihm seine Erleuchtung an? Wie ist das, wenn man als Erleuchteter lebt? Hält das ununterbrochen an? Sieht man die Welt durchsichtig, auf das Leuchten des Einsseins im Hintergrund hin? Denkt er nicht „ich“, und wenn ja, was dann? Oder kämpft auch er jeden Tag neu darum, ein ständiges Wechselspiel, ein Ringen gegen die menschliche Natur?

Tom kann es sich nicht vorstellen. Nun sitzt er ihm leibhaftig gegenüber, und es ist ein Mensch, kein Buddha.

Der Rōshi isst schnell. Unausgesprochen ist klar, dass das Essen beendet ist, wenn der Rōshi fertig ist. Tom hat getrödelt und kriegt seinen Teller nicht mehr leer. Der Rōshi steht auf und geht, die anderen räumen zusammen, erste Gespräche beginnen wieder.

Von Felix bekommt jeder ein paar fotokopierte Zettel. Die wichtigsten Rezitationen und Gebete, buddhistische Gelöbnisse, das Herz-Sutra und der ganze japanische Text mit englischer Übersetzung, dazu den Tagesplan.

Im Zimmer wird darüber diskutiert. Johannes sagt gar nichts, der kennt das schon, meint Fritz. Fritz pfeift durch die Zähne und freut sich: klösterliche Disziplin, das tue gut. Benno, der Berliner, kam durch Zen von seiner Drogensucht los, raus aus der Szene und hat nun einen geregelten Job. Benno schaut betroffen, als wüsste er nicht, ob er das schafft. Der Schuffler lächelt süffisant und meint, das erinnere ihn an seine Zeit in Japan, alles easy, muss auch mal wieder sein.

Tom selbst ist verwirrt. Das nimmt sich aus wie bei den katholischen Mönchen, findet er. Jede Minute verplant. Fünf Uhr früh aufstehen. Vor dem Frühstück, das hier Shukuza heißt, schon Zazen und eine Morgenrezitation. Zazen bis zum Mittagessen um zwölf, mit Dokusan.

Das freut Tom. Persönliche Unterredung mit dem Rōshi. Zur Besprechung von Meditationsfortschritten und der Kōan-Arbeit, die kennt er nur aus Büchern. Der Schüler bekommt ein paradoxes Rätsel als Denkaufgabe, an der er sich die Zähne ausbeißen soll. Zwei Hände ergeben durch Klatschen einen Ton – Wie klingt der Ton der einen Hand? Der Verstand kommt an seine Grenze, das Kōan wird zu einer glühenden Eisenkugel, die man verschluckt hat und nicht mehr los wird, man sucht verzweifelt nach einer Lösung und bricht schließlich durch zur Erleuchtung. Kenshō. Satori. So ist es zumindest gedacht.

Johannes hat vom Rōshi schon vor einem Jahr sein erstes Kōan bekommen, erzählt Fritz leise. Johannes ist ein Schüler des Rōshi und will nach diesem Sesshin ins Kloster eintreten. Der ist ernsthaft auf dem Weg, sagt Fritz.

Sein Bruder, Markus, sei auch hier. Im Nebenzimmer. Sein jüngerer Bruder, es heißt, Johannes habe ihn zum Zen geführt.

- Das ist jetzt ein bisschen schwierig für ihn, meint Fritz. Das erste Sesshin für seinen kleinen Bruder, er will sich aber nicht besonders um ihn kümmern.

- Warum nicht?

- Er muss selbst seinen Weg finden. Da zählen brüderliche Gefühle nicht mehr.

Tom findet das scheiße. Er hat selbst einen älteren Bruder, der ihm in der Pubertät oft geholfen hat, den eigenen Weg zu finden. Und hier sollte er so tun, als wäre er ein Fremder?

- Johannes meint es wirklich ernst, wiederholt Fritz. - Er will sich hier ganz aufs Wesentliche konzentrieren.

Brudergefühle sind nicht wesentlich, das versteht Tom.

Nach dem Mittagessen laut Plan anderthalb Stunden Arbeit, Samu genannt. Dann Zazen und Tee und Unterweisung in buddhistischer Lehre, Teishō. Vor dem Abendessen Zazen und Abendrezitation, danach Zazen bis zehn. Nachtruhe. Dazwischen eingestreut das Kinhin, das Umhergehen in einer Reihe, um die Muskeln zu lockern, Meditation im Gehen.

Tom ist froh, dass er vieles davon schon kennt aus seinen Büchern. In einem Film hat er das Leben der Mönche in einem japanischen Kloster kennengelernt. Obwohl er kein Frühaufsteher ist, freut er sich über den strengen Plan. Eine Ordnung, in die er sich fügen und die ihn aufrechterhalten wird.

Die anderen unterhalten sich noch, Johannes schweigt und liegt auf seinem Bett, das Gesicht zur Wand. Tom schreibt Tagebuch. Fritz fragt ihn, was er da schreibe. Tom erzählt ihm ein wenig von seinem Zen-Werdegang, Fritz ist beeindruckt.

- In deinem Alter, sagt er anerkennend, hatte ich noch nicht dieses Bewusstsein.

So hat Tom es noch nie gesehen. Er ist eher beschämt, dass er schon mit dreiundzwanzig in dieser Welt nicht mehr zurechtkommt.