Die Welt meiner Schwestern - Rainer Gross - E-Book

Die Welt meiner Schwestern E-Book

Rainer Gross

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Beschreibung

Wenn ich heute darüber nachdenke, was unsere Welt ausgemacht hat, dann denke ich, dass es eine Welt ohne Disteln und Dornen war. Deshalb gingen wir auch meist barfuß. Und wenn ich mich daran erinnere, ist es, als würde alles wieder lebendig und ich wäre wieder die Janine von damals, keinen Tag älter geworden und noch voll naiver Hoffnung. Wir wohnten alle im alten Herrenhaus. Es war unser Zuhause, wir kannten nichts anderes. Mona und Alexia sorgten für uns und waren immer für uns da. Wir konnten Tag und Nacht zu ihnen kommen, wenn wir Sorgen hatten oder Hilfe brauchten. Wenn wir am frühen Abend Tee tranken, saß Lena bei uns im Zimmer. Von ihren Streifzügen brachte sie alle möglichen Blüten und Kräuter mit, die sie uns in den Tee mischte. Niemand wusste so recht, was in ihr vorging. Wir machten uns darüber keine Gedanken. Lena war einfach Lena. Und doch war gerade sie es, die die grauenvollen Geschehnisse ins Rollen brachte. Vielleicht hatte sie von Anfang an gewusst, was passieren würde. Manchmal frage ich mich, wie alles gekommen wäre, wenn sie die Entdeckung des Jungen für sich behalten hätte. Dann wäre womöglich gar nichts passiert. Dann wären wir womöglich immer noch im Herrenhaus, und unsere Welt gäbe es weiterhin: unsere Welt ohne Disteln und Dornen.

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Wenn ich heute darüber nachdenke, was unsere Welt ausgemacht hat, dann denke ich, dass es eine Welt ohne Disteln und Dornen war. Deshalb gingen wir auch meist barfuß. Und wenn ich mich daran erinnere, ist es, als würde alles wieder lebendig und ich wäre wieder die Janine von damals, keinen Tag älter geworden und noch voll naiver Hoffnung. Wir wohnten alle im alten Herrenhaus. Es war unser Zuhause, wir kannten nichts anderes. Mona und Alexia sorgten für uns und waren immer für uns da. Wir konnten Tag und Nacht zu ihnen kommen, wenn wir Sorgen hatten oder Hilfe brauchten. Wenn wir am frühen Abend Tee tranken, saß Lena bei uns im Zimmer. Von ihren Streifzügen brachte sie alle möglichen Blüten und Kräuter mit, die sie uns in den Tee mischte. Niemand wusste so recht, was in ihr vorging. Wir machten uns darüber keine Gedanken. Lena war einfach Lena. Und doch war gerade sie es, die die grauenvollen Geschehnisse ins Rollen brachte. Vielleicht hatte sie von Anfang an gewusst, was passieren würde. Manchmal frage ich mich, wie alles gekommen wäre, wenn sie die Entdeckung des Jungen für sich behalten hätte. Dann wäre womöglich gar nichts passiert. Dann wären wir womöglich immer noch im Herrenhaus, und unsere Welt gäbe es weiterhin: unsere Welt ohne Disteln und Dornen.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau seit 2002 als freier Schriftsteller bei Hamburg.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD bisher erschienen:

Schaum von flüssiger Jade

Ein Sommerhaus im Languedoc

Vom Kuttelessen und Katzenmachen

Wenn ich heute darüber nachdenke, was unsere Welt ausgemacht hat, dann denke ich, dass es eine Welt ohne Disteln und Dornen war. Deshalb gingen wir auch meist barfuß. Und wenn ich mich daran erinnere, ist es, als würde alles wieder lebendig und ich wäre wieder die Janine von damals, keinen Tag älter geworden und noch voll naiver Hoffnung.

Das Anwesen reichte bis an den Strand und ins Hinterland bis zu den Bergen. Die Wälder und Wiesen ringsum waren so ausgedehnt, dass keine von uns je ihr Ende erreichte. Wir waren auf unseren Ausflügen auch immer nur einen, höchstens zwei Tage von zuhause fort. Auf den Chausseen waren wir immer allein, auf den Feldern schien niemand zu arbeiten.

Pferde hatten wir, herrliche Pferde, die wir regelmäßig auf die Weide führten; manche von uns striegelten sie, manche misteten die Ställe aus, und jede durfte sie reiten, wenn es die großen Schwestern erlaubten. Deshalb übernachteten wir manchmal in den Scheunen im Stroh. Die Nächte waren kühl im Vergleich zu den Tagen. Mittags war es oft so heiß, dass wir in unseren Zimmern blieben und Mittagsschlaf hielten.

Wir wohnten alle im alten Herrenhaus. Es war unser Zuhause, wir kannten nichts anderes. Weshalb es „Herrenhaus“ hieß, wussten wir nicht. Es war das einzige Haus auf dem Anwesen.

Mona und Alexia sorgten für uns und waren immer für uns da. Wir konnten Tag und Nacht zu ihnen kommen, wenn wir Sorgen hatten oder Hilfe brauchten. Sie brachten uns vom Einkaufen Kleider mit und neue Schuhe, Schmuck oder die Blütenöle in den winzigen Glasfläschchen, die wir als Parfüm benutzten. Woher das alles kam, wussten wir nicht. Es war egal. Wir hatten immer alles, was wir brauchten.

Ich weiß nicht mehr genau, wie viele wir waren. Zwanzig vielleicht oder dreißig. Zwar kannten wir uns alle, aber wir waren nicht alle eng miteinander befreundet. Wir waren wie Schwestern, als kämen wir alle aus derselben Familie. Hier, im Herrenhaus, waren wir unsere eigene Familie. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass irgendeine von uns vor den anderen dortgewesen oder neu hinzugekommen wäre.

Ich wohnte zusammen mit Alice in einem Zimmer im ersten Stock. Wir hatten zwar keinen Balkon wie Nasti, Suzette und Tess gegenüber, deren Zimmer zum Park hinausging; aber wir hatten dafür nachmittags keine Sonne, sodass es bei uns kühler war und die drei oft herüberkamen. Kim wohnte mit Kristina am Ende des Ganges; die beiden mochten einander zwar, stritten sich aber oft. Wir mussten dann hinüber und schlichten, besonders Anja ertrug keinen Streit. Anja hatte zusammen mit Claire und Lena das Zimmer neben unserem; sie mochte Claire besonders gern, und wenn wir morgens nach der Versammlung loszogen zu einem unserer Ausflüge, steckten die beiden noch zusammen im Bett und hatten die Vorhänge zugezogen.

Nach der Morgengemeinschaft im alten Tanzsaal zogen wir oft los. Wir nannten unsere Ausflüge „Promenade machen“. Promenade – das passte! Wenn wir zum Strand wollten, nahmen wir die Fahrräder, weil wir für den Strecke zu Fuß zu lang gebraucht hätten. Der Strandweg führte durch den Wald, wo es kühl war und die Räder auf den Steinen hoppelten. Dann kamen die Dünen und kleinen Strandgehölze, wo wir abstiegen und den heißen Sand an den Füßen spürten. Dort gab es eine steile Böschung, in der Schwalben ihre Löcher gebaut hatten. Wir saßen auf der Kante und sahen ihnen zu, wie sie heransegelten und abflogen und immerzu ihre spitzen Schreie ausstießen.

Am Strand war für uns ein Zelt aufgebaut, ein großes, rotes Zelt, in dem wir uns müde verkriechen konnten. Bianca hatte so empfindliche Haut, dass sie keine halbe Stunde in der Sonne bleiben konnte; sie blieb immer bleich oder hatte einen Sonnenbrand. Wir nannten sie „Weißchen“. Einmal vertrieben Claire und Anja sie aus dem Zelt, und vor lauter Angst vor der Sonne rannte sie Hals über Kopf in den Wald hinein und verstauchte sich an einer Wurzel den Knöchel. Das Baden in der Brandung machte Spaß. Ich schwamm oft weit hinaus, bis dorthin, wo es tief wurde. Da spürte ich die Kraft der Strömung und die Wucht der Wellen, ich ließ mich schaukeln und treiben und gelangte drüben an die Felsen, wo ich ein Versteck hatte. Alexia, die auf uns aufpasste, sah das nicht gern. Aber sie wusste, dass ich ein vernünftiges Mädchen war. Dort bei den Felsen gab es einen Kiesstrand, die Steine waren rund und glatt und glänzten in allen Farben: dunkelgrün, blau, weiß,. rot. Niemand kannte mein Versteck. Außer Alexia vielleicht, die wusste ohnehin immer alles. Ich kauerte mich in die kleine Höhle, die die Felsen bildeten, und horchte auf die Brandung. Der Sand war nass und die Kühle des Steins tat gut. Dort habe ich viel nachgedacht, über mich selbst und unser Leben hier, und habe mich manchmal gefragt, ob ich glücklich bin. Am liebsten wäre ich auch abends dort gesessen, wenn die Sonne im Meer unterging und mir in der Stille und Einsamkeit ganz weh ums Herz wurde. Ich sehnte mich damals nach etwas und wusste nicht wonach. Irgendetwas schien zu fehlen, obwohl es ein herrliches Leben war, das wir führten. Ich redete nur mit Mona darüber.

Einmal fand ich Suzette in meinem Versteck. Irgendwie hatte sie es ausfindig gemacht, vermutlich war sie vom Land her über die Felsen geklettert. Zuerst wollte ich mir nichts anmerken lassen, aber dann wurde ich doch traurig. Sie versprach, es geheim zu halten. Aber ich merkte genau, dass sie es nun als unser gemeinsames Versteck ansah, und das wollte ich nicht.

Von meinem Versteck aus gelangte man über die Felsen in einen lichten Wald. Dort war es windstill, das Harz roch, und an den Sohlen klebten die welken Nadeln. Merkwürdige Bäume gab es da, ihre Blätter fächelten immerzu, auch wenn es windstill war, und das Licht zitterte zwischen ihnen. Ich wusste nicht, was das für Bäume waren. Sie hatten gefiederte Blätter und eine schwammige Borke, die fühlte sich an wie Kork. Lena kannte sich damit aus, Lena konnte man alles fragen, was mit Pflanzen zu tun hatte. Sie kannte jede Blume, jeden Baum, jedes Kraut. Wir nannten sie „die Gärtnerin“. Ihr zeigte ich einmal diese Bäume, und ich sehe sie noch vor mir, wie sie zierlich und klein unter den hohen Stämmen stand, die Borke befühlte, den Kopf in den Nacken legte, um in die Wipfel emporzuschauen. Ich blickte in ihr schmales Gesicht, sie hatte die Brille abgenommen, und das Muttermal unter ihrem rechten Auge war deutlich zu sehen. Vielleicht trug sie die Brille auch nur, um es zu verdecken.

„Das sind Flaumeichen“, sagte sie dann leise. „Solche Bäume sind selten. Die gibt es nur hier.“

Später blieb sie oft verschwunden und kam erst zum Abendessen zurück, wir vermuteten, dass sie wieder auf einem ihrer Streifzüge war. Erst Tage später kam ich zufällig noch einmal dorthin und entdeckte sie unter den Flaumeichen sitzen, die Augen geschlossen, als ob sie schliefe. Ich traute mich nicht, sie anzurufen, und schlich leise davon.

Wenn wir am frühen Abend Tee tranken, saß Lena bei uns im Zimmer. Von ihren Streifzügen brachte sie alle möglichen Blüten und Kräuter mit, die sie uns in den Tee mischte. Das schmeckte herrlich. Wenn wir sie dann lobten, wurde sie rot und schaute weg. Schweigend saß sie unter uns, hörte uns zu, lachte ein wenig mit, freute sich an unserem Zusammensein. Aber niemand wusste so recht, was in ihr vorging. Wir machten uns darüber keine Gedanken. Lena war einfach Lena: mit ihren Blumenketten und bunten Sträußen, mit denen sie unsere Zimmer schmückte, mit ihren blauen Augen und der Brille. Keine hatte sie je für etwas Besonderes gehalten. Und doch war gerade sie diejenige, die die ganzen Geschehnisse ins Rollen brachte. Vielleicht hatte sie von Anfang an gewusst, was passieren würde. Vielleicht hatte sie von Anfang an geahnt, was ihre Entdeckung in Wirklichkeit bedeutete. Manchmal frage ich mich, wie alles ausgegangen wäre, wenn sie es für sich behalten hätte. Dann wäre womöglich gar nichts passiert. Dann wären wir womöglich immer noch auf dem Anwesen, im Herrenhaus, und unsere Welt gäbe es weiterhin: unsere Welt ohne Disteln und Dornen.

Unsere Promenaden führten uns auch ins Hinterland. Dort gab es weite Felder und Kiefernhaine und Buchenwälder, in denen wir umhertollten wie in einem hellen, hohen Saal. Wir hatten einen kleinen Fluss, das war einer unserer Lieblingsplätze, das Wasser strömte kalt und klar über Felsblöcke und bildete dunkle Becken, aus deren Tiefe der Kiesgrund wie Gold heraufschimmerte. Dort saßen wir oft, wenn es auf den Feldern zu heiß war. Eine Höhle gab es auch; wenn wir dort saßen, konnten wir den ganzen Platz überblicken. Suzette war die erste gewesen, die die Höhle erkunden wollte. Eines Tages nahm sie eine Lampe mit und kroch einfach hinein. Keine von uns getraute sich, ihr zu folgen. Ich selber hatte zwar keine Angst vor der Höhle, aber an einem schönen Tag durch Lehm und enge Löcher zu kriechen schien mir nicht sehr erstrebenswert. Die einzige, die Suzette folgte, war Kim. Sie hatte sich zuvor nackt ausgezogen, und als sie wieder herauskam, war sie von oben bis unten mit Dreck beschmiert. Suzette war schlauer gewesen, sie hatte alte Kleider angezogen, die sie hinterher im Wasser wusch. Kim aber zitterte vor Kälte. In der Sonne wärmte sie sich auf und ließ den Lehm auf der Haut trocknen. Nur um zu sehen, wie sich das anfühlte. Dann sprang sie ins Wasser und tauchte in einem der Becken bis auf den Grund. Tief unten im Grün sah ich sie schwimmen wie ein seltenes Tier. Ihr langes schwarzes Haar floss wie ein Schleier hinter ihr her. Als sie auftauchte, war sie weiß und sauber. Sie stieg heraus, schüttelte sich, und ich konnte ihr in die grünen Augen schauen. Sie waren so grün wie das Wasser in den Becken. Das war mir nie zuvor aufgefallen. Wassertropfen hingen wie Perlen an ihren Wimpern, ihre Brauen sahen aus wie mit einem Tuschpinsel gezogen, Kim war schön. Wie oft hatte ich das bemerkt, und wie oft gleich wieder vergessen. Dann wollte sie mich ins Wasser schubsen, aber stattdessen sprang Suzette hinein und spritzte uns alle nass.

Am Fluss waren wir meist alle gemeinsam, wir zehn Freundinnen. Den Weiher aber kannten nur wenige von uns. Er lag ostwärts in einem Waldstück zwischen Wiesen und Feldern. Der Weg dorthin war besonders schön. Für ihn nahmen wir uns viel Zeit. Trotz der Mittagshitze schlenderten wir gemütlich den Sandweg entlang, meist strahlte der Himmel tiefblau, und von Süden her türmten sich Wolken auf. Manchmal sprangen und hüpften wir, weil wir vor Freude nicht still sein konnten, manchmal sangen wir aus vollem Hals und versuchten dabei, einander die Hüte vom Kopf zu stoßen. Nasti pflückte einen Strauß aus wilden, struppigen Feldblumen, aber Lena riet ihr, Gräser und Kamille hineinzuflechten, und schon war aus dem garstigen Gebinde ein herrlicher Strauß geworden. Nasti verehrte ihn Tess, die nahm ihn mit einem übertriebenen Knicks und umarmte Nasti, als wären sie ein Liebespaar. Dann legten wir uns mitten ins Feld und schauten zwischen den schwankenden Ähren hindurch in den Himmel hinauf. Die Erde war warm und trocken, Raubvögel zogen am Himmel, und manchmal konnten wir zusehen, wie einer flügelschlagend auf der Stelle stand und sich dann plötzlich wie ein Stein fallen ließ.

Nasti fing an zu dichten. Die Verse reimten sich nicht, aber das war nicht so wichtig. Wir zogen die Blusen aus, lüfteten unsere Röcke, streckten die Beine in die Sonne. Ich konnte Tess’ Nabel sehen, der wirklich so weit hervorstand, wie die anderen immer behaupteten. Er sah aus wie eine runde Insel im Meer. Nasti kitzelte sie, bis sie sich kichernd wegdrehte. Claire fiel immer das besondere Licht auf, das am Himmel herrschte.

„Ein Brauthimmel“, sagte sie dann. „Heute haben wir wieder einen richtigen Brauthimmel. Wer will sich verheiraten?“

Wir lachten und schlugen scherzend Anja vor.

„Anja ist die richtige Braut“, riefen wir.

Anja freute sich. Sie wurde übermütig und krabbelte auf Claire hinauf, die beiden kugelten herum, bis Claire plötzlich aufsprang. Ich sah die Wut in ihrem Gesicht, bevor sie lachen und einen Scherz machen konnte.

„Janine ist auch eine Braut“, rief sie.

Sie stand über uns wie ein Leuchtturm, das durchsichtige Kleid wehte im Wind, sie breitet die Arme aus und hob sie gen Himmel, legte den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus, einen langen, stieß einen Schrei aus, einen langen, schrillen Schrei, sodass mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Jetzt sah sie aus wie eine Prophetin, eine verrückte Seherin, die in die Zukunft schauen konnte und die sich im nächsten Moment in die Lüfte schwingen würde, emporgerissen von einer unsichtbaren Kraft. Claire im Himmel – so nannten wir sie seither.

Am Weiher gab es eine große Wiese, die von Holunderbüschen umstanden war. Die Büsche waren zu einem Dickicht verwachsen, bildeten regelrecht Höhlen und Gänge, in denen wir herumkriechen konnten. Oft kam man ganz woanders heraus, als wo man hineingekrochen war. Es gab auch kleine, vom Holunder überwölbte Kammern, in denen wir es uns behaglich einrichteten. Im geheimnisvollen grünen Zwielicht hörten wir einander in nächster Nähe kichern und reden und konnten einander doch nicht sehen. Wir hatten Rucksäcke dabei mit Trinken und Obst und Keksen und hielten es so ganze Nachmittage dort aus. Anja und ich hatten uns eine Kammer ausgesucht; wir aßen von den Keksen und teilten die Äpfel miteinander, und weil Anja großen Durst hatte, überließ ich ihr die Flasche Wasser allein. Eine Zeit lang saßen wir schweigend nebeneinander. Anja strich mit ihren Händen nachdenklich über ihre Beine. Sie schien über etwas sprechen zu wollen und traute sich nicht.

„Hast du Sonnenbrand?“, fragte ich entgegenkommend.

Sie lächelte verschämt und strich ihre dunklen Härchen glatt, die sie verstruwwelt hatte.

„Sonnenbrand? Nein. Aber… ich hätte gerne auch so blonde Haare wie du, Janine. Die sieht man fast gar nicht. Das ist nur so ein goldener Schimmer bei dir. Meine sieht man überall. Das sieht hässlich aus.“

„Ach was“, widersprach ich. „Das sieht man gar nicht. Du hast Dinge, die viel schöner sind als blonde Haare.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Deine blauen Augen zum Beispiel. Meine sind wie helles Wasser, Anja. Aber deine sind tiefblau wie der Himmel oder das Meer.“

„Ach, du schmeichelst mir bloß“, sagte sie und lächelte verlegen. „Ich wäre lieber blond. Bist du“, fuhr sie atemlos fort, als dürfte sie den Schwung nicht verlieren, „eigentlich überall blond?“

Sie sah weg, als sie das fragte.

„Was meinst du?“, stellte ich mich dumm.

„Na, was wohl!“ stöhnte sie übertrieben und wurde rot. „Nicht nur auf dem Kopf und an Armen und Beinen, meine ich.“

„Ja, ich bin auch unter den Achseln blond“, sagte ich und tat immer noch, als hätte ich nicht verstanden.

Jetzt kicherte Anja nervös und drehte sich hin und her. „Nein, nicht die Achseln“ kicherte sie. „Ach, Janine, du weißt, was ich meine!“

Jetzt nickte ich und wurde ernst. Ich wollte prüfen, ob es Anja auch ernst war oder ob sie nur herumalberte. Mit diesen Dingen alberte man nicht herum. „Du meinst, zwischen den Beinen?“

Sie wurde wieder rot und starrte auf den Boden zwischen ihren Füßen. „Ich will’s eben wissen“, murmelte sie.

„Was genau willst du denn wissen?“, fragte ich weiter. „Ja, ich bin auch da unten blond. Aber das ist es doch nicht, was…“

„Darf ich mal sehen?“, sagte sie plötzlich eifrig und rückte zutraulich an mich heran.

Anja war mir anvertraut, wenigstens ein bisschen. Jede von uns hatte eine jüngere Schwester, um die sie sich mehr als um andere kümmerte. Bevor Mona und Alexia es übernahmen, jede in die Geheimnisse unserer Jungfernschaft einzuweihen, standen wir für vertrauliche Gespräche und peinliche Fragen zur Verfügung.

„Nein, Anja“, sagte ich bestimmt. „Jetzt nicht.“

„Warum nicht?“

Sie zupfte am Saum meines Rockes und beugte sich vor. Da ich, wie wir alle, darunter nackt war, hätte sie ihre Neugier durchaus stillen können. Aber so ging das nicht. Ich zog meinen Rock zurecht und sagte freundlich:

„Anja, warte damit, bis wir zuhause sind. Heute Abend in unserem Zimmer, ganz für uns allein. Das ist etwas Heiliges und Kostbares, das man nicht einfach so im Freien herumzeigt. Das wäre frivol.“

Anja war mit der Antwort nicht zufrieden. Sie druckste herum und nahm einen überhasteten Schluck aus der Flasche, sodass sie sich verschluckte und husten musste. Ich klopfte ihr auf den Rücken.

„Ich hab heute Morgen versucht, mir zwischen die Beine zu sehen. Vor dem Spiegel.“

„Und?“

„Da war alles so dicht behaart, ich konnte gar nichts erkennen. Ist das bei dir auch so?“

„Was wolltest du denn sehen?“

„Ob es stimmt, was Nasti sagt: dass das wie ein Mund aussieht.“

„Wie ein Mund? Du meinst die Schamlippen?“

„Ja“, sagte sie kläglich. „Nasti hat das gesagt, als sie zu mir ins Bett kam. Und stimmt es auch, dass man das Häutchen sehen kann?“

Jetzt musste ich doch lachen. Was Nasti so alles einfiel. Anja war noch zu jung, um Nastis anzügliche Späße zu verstehen. Ich strich ihr durch das Haar, in dem ein bläulicher Schimmer spielte, und antwortet ernst:

„Wir sind Jungfrauen, Anja. Ob wir es sehen können oder nicht. Das weißt du doch. Niemand hat je unsere Scham entblößt. Nur wir dürfen das tun. Warum willst du es sehen?“

„Weil ich nicht verstehe, was das heißt: eine Jungfrau. Wir sind doch alle Schwestern.“

So eine Frage hätte ich eher von Kristina erwartet. Die machte sich über solche Dinge Gedanken, darüber, was wir tun durften und was nicht und weshalb.

„Eine Jungfrau ist wie eine verborgene Quelle. Eine ungeöffnete Blüte. Eine Perle, die noch kein Lichtstrahl je berührt hat. Sie trägt in sich das Heilige und Reine, und deshalb ist sie zugleich das Schönste und Wahrste, was es auf der Welt gibt. Sie ist ein versteckter Garten, eine wartende Erde, die empfangen will und noch von keinem Geist belebt wurde.“

Ich verstummte und dachte über meine eigenen Worte nach. Mona hatte es mir so erklärt, als ich ihr einmal die gleiche Frage gestellt hatte. Ihre Antwort hatte ich nicht ganz verstanden, und ich begriff immer noch nicht, wozu wir Jungfrauen waren, wenn es doch nur uns Schwestern gab. Worauf sollten wir denn warten? Da konnte nichts kommen. Wir waren uns selbst genug. Jede für sich. Dass wir als große Familie beieinander waren, verdankten wir nur einem großen Glück. Das Anwesen war unsere Zuflucht.

Ich war gespannt, ob Anja nicht ebenso unbefriedigt war von dieser Antwort, doch offensichtlich begnügte sie sich damit.

Zum Schluss meinte sie: „Kann ich zu dir kommen, wenn… wenn ich wieder eine Frage habe?“

Ich nahm sie in den Arm und sagte: „Natürlich, jederzeit.“ Und ich freute mich, Anja eine richtige Schwester sein zu können.

Manchmal war es einfach zu heiß oder wir waren müde. Dann blieben wir zuhause oder kehrten am Nachmittag schon zurück und verkrochen uns in den Zimmern. Durch die Steinwände war es dort kühl, wir konnten die Vorhänge offen lassen. Die Sonnenwärme wich rasch von unserer Haut, wir verglichen, wie braun wir geworden waren. Durch die Fenster flutete weißes Licht. Wir stellten uns davor, und unsere Haut schimmerte silbern vom zarten Haarflaum, der im Licht leuchtete. Auch die Kleider, die wir anhatten, leuchteten. Wir betrachteten einander aus dem Innern des Zimmers heraus. Wenn wir hinaussahen, hinaus in den Nachmittag, sahen wir alle Wege, alle Felder und Wiesen und Waldränder, wo wir gewesen waren. Draußen wartete noch alles auf uns, nichts würde verloren gehen, wir würden jederzeit wiederkommen können.