Atemlos in Hannover - Thorsten Sueße - E-Book

Atemlos in Hannover E-Book

Thorsten Sueße

0,0

Beschreibung

Im Alltag erscheint er unauffällig, aber er ist voller Wut, die ihn zum Mörder macht. Immer wieder … Eine Frau wird von einem unbekannten Täter beim Geocaching in Hannover getötet. Es ist der erste Mordfall für Kriminaloberkommissar Raffael Störtebecker nach dessen Versetzung von Hamburg in die niedersächsische Landeshauptstadt. Der Täter verhält sich außergewöhnlich. Er beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, indem er der Mordkommission irritierende Nachrichten sowie Fotos und Videos seiner getöteten Opfer zusendet. Und er kündigt sogar das Datum seines nächsten Mordes an, lässt die Polizei aber im Unklaren, wer das zukünftige Opfer sein wird. Die eiskalt ermordeten Frauen standen in keiner erkennbaren Verbindung zueinander. Aber es muss einen roten Faden geben! Der Leiter der Mordkommission schaltet den Psychiater Dr. Mark Seifert ein, um von ihm mögliche Hinweise auf das Tatmotiv des Killers zu erhalten. Die Polizei steht massiv unter Zeitdruck, wenn sie den nächsten angekündigten Mord noch verhindern will …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 429

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein Mörder tötet aus niedrigen Beweggründen. Auch wenn ich die Beweggründe für seine Tat psychologisch nachvollziehen kann, ist er damit noch lange nicht psychisch krank.Dr. Mark Seifert, Psychiater und forensischer Gutachter

Der Psychothriller spielt in Hannover.Personen und Handlung sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Geschehnissen wären rein zufällig.Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher des Autors erschienen:Toter Lehrer, guter LehrerDie Tote und der PsychiaterSchöne Frau, tote FrauHannover sehen und sterben

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8414-6

Thorsten SueßeAtemlos in HannoverPsychothriller

Prolog

Schweiß strömte seinen Rücken herunter, schon seit einigen Minuten, unaufhörlich. Er spürte die Angst im ganzen Körper.

Ich muss mich verstecken. Sonst ist alles aus.

Die Substanz, die er absonderte, brannte fürchterlich auf der Haut. Sein schwarzes T-Shirt war völlig durchnässt, klebte am Oberkörper wie eine mit Kleister bestrichene Tapete.

Wir dürfen uns auf keinen Fall begegnen. Ich kann nicht hierbleiben.

Sein Herz vollführte einen lauten Trommelwirbel. Der erbärmliche Zustand, in dem er sich befand, war ihm nur zu gut vertraut. Er durchlebte derartige Situationen nicht zum ersten Mal. Den Park, in dem er sich aufhielt, kannte er in- und auswendig.

Vor sich auf einer Rasenfläche sah er eine Gruppe von Menschen, die sich unterhielten und lachten. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt.

Wenn einer mich dabei beobachtet, wie ich es tue, ist mein Leben vorbei.

Er verkroch sich ins Gebüsch, welches den Park von der Zufahrtsstraße abgrenzte. Von hier aus sah er das Haus, welches unmittelbar an den Park grenzte. Es war weiß gestrichen und hatte vier Stockwerke. Es wirkte freundlich von außen, anders als das fünfstöckige Haus, in dem der Tod lauerte.

Das Stechen an den Armen und Beinen wurde unerträglich. Das Gebüsch war voller Stechfliegen, die ihn gnadenlos zu quälen begannen.

Ich muss in das weiße Haus, ohne dass mich jemand bemerkt. Vielleicht habe ich Glück, und heute passiert nichts Schlimmes.

Er duckte sich und rannte los. Der Eingang des Hauses lag vor ihm.

Ich bin viel zu langsam. Meine Kraft ist am Ende. Ich bewege mich wie in Zeitlupe.

Nach einer Ewigkeit erreichte er den Hauseingang. Keiner der lachenden Typen hatte zu ihm herübergeschaut. Die Erleichterung, das sichere Versteck erreicht zu haben, währte nicht lange. Hier im Erdgeschoss nahm er zunehmend einen beißenden Geruch wahr, der sein Atmen erschwerte. Unter diesen Bedingungen konnte er unmöglich die Treppe benutzen, um nach oben zu gelangen. Er blickte sich um, sah die Tür zum Fahrstuhl.

In welchem Stockwerk bin ich am sichersten? Ganz oben, im vierten Stock.

Plötzlich hörte er eine weibliche Stimme.

Oh nein! Ist sie es?

Die Fahrstuhltür öffnete sich. Er sprang in die Kabine und drückte auf den Knopf für die oberste Etage.

Hat sie mich doch gefunden? Es darf nicht sein!

Der Fahrstuhl war erstaunlich schnell. Mit einem Ruck kam er zum Stehen. Die Tür ging auf, er huschte hinaus, und die Tür schloss sich sofort hinter ihm. Er drehte sich um und sah auf das Schild: 5. Etage.

Das ist unmöglich. Das Haus hat nur vier Etagen. Ich bin im falschen Gebäude. Im bin im Todeshaus!

Er wollte zurück in den Fahrstuhl. Aber der war bereits wieder auf dem Weg nach unten.

Die Treppe!

Im Treppenhaus war dieser fürchterliche Geruch.

Steigt da Gas nach oben?

Der Weg über die Treppe war ihm ebenfalls verstellt. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Hastig rannte er den Flur der fünften Etage entlang. Die Appartements waren verschlossen, aber am Ende des Ganges erkannte er eine geöffnete Tür. Der Geruch verfolgte ihn, Umdrehen war nicht mehr möglich.

Er betrat das Appartement, drückte mit beiden Händen die Tür hinter sich zu.

Zum Glück ist niemand da. Sie darf hier nicht rein.

Er zog sich einen Stuhl heran, mit dessen Lehne er die Türklinke blockieren wollte. Aber die Lehne war zu kurz. Er legte das Ohr an die Appartementtür, vernahm jedoch keinerlei Schritte.

Da hörte er hinter sich ein leises Lachen. Er sprang herum, sein Blick suchte jeden Winkel der Wohnung ab.

Kein Mensch zu sehen. Habe ich mich getäuscht?!

Ein Wechselbad von Erleichterung und Angst erfasste ihn. Der Schrank, die Regale, der Tisch und die Stühle … alles war ihm sofort vertraut. Und das versetzte ihn in Panik.

Wieder dieses Lachen. Diesmal lauter als vorhin. Er ahnte, wer sich in unmittelbarer Nähe aufhielt. Das Lachen kam von draußen. Um jeden Preis musste er verhindern, dass sie ihn erwischte. Trotzdem schaffte er es nicht, das Appartement zu verlassen.

Das Lachen breitete sich in seinem Gehirn aus. Er wollte flüchten, aber es zog ihn an wie eine Motte das todbringende Licht.

Schritt für Schritt näherte er sich dem Balkon. Er erkannte ihre Silhouette. Natürlich gehörte das Lachen ihr. Keine andere Person als sie hatte er an diesem Ort erwartet.

Sie saß auf der Brüstung des Balkons, drehte ihm den Rücken zu und schaute in den Park. Zwischendurch lachte sie wieder.

Hoffentlich schaut keiner zu uns herauf!

Er konnte nicht anders. Von hinten trat er an sie heran. Ahnte sie wirklich nichts? Er stieß seine Hände mit aller Kraft nach vorn. Sie konnte sich nicht halten, stürzte mit einem gellenden Schrei in den Abgrund. Im gleichen Moment ließ er sich auf den Boden fallen, um nicht von einem Zeugen erkannt zu werden. Ein vernichtender Schmerz durchfuhr seinen Körper, und er schrie sich die Seele aus dem Hals.

Der Ort um ihn herum veränderte sich nach und nach. Es war dunkel, mitten in der Nacht. Das konnte nicht mehr der Balkon im Todeshaus sein. Er hörte auf zu schreien, fing an zu japsen.

Wo bin ich? Ich krieg kaum Luft.

Sein Körper zitterte, die Kleidung war durchgeschwitzt, er atmete rasch und tief.

Ist das wirklich passiert?

Die Zimmertür wurde aufgerissen, Licht flutete in den Raum. In diesem Moment wusste er, wo er war. Sein Zimmer im Haus seiner Eltern.

„Alles gut, ich bin bei dir“, sagte eine tiefe Stimme. Sein Vater stand im Türrahmen. Mit schnellen Schritten trat er an das Bett seines Sohnes.

„Hattest du wieder diesen Albtraum?!“, hörte er seinen Vater sagen, der sich zu ihm auf die Bettkante setzte und seine Hand ergriff. Vaters Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung. Es war immer sein Vater, der zu ihm kam, wenn er diesen Traum hatte und im Schlaf zu schreien begann. Mutter hielt sich zurück, als bemerke sie nichts.

„Hast du wieder diese schreckliche Szene gesehen?“, fragte sein Vater als Nächstes.

„Ja.“

„Ich kann verstehen, dass dich das alles belastet.“ Vater versuchte beruhigend zu klingen. „Du hast schlimme Dinge gesehen. Die Gespräche mit dem Psychologen werden dir helfen, dass dich das Ganze nicht mehr so belastet. Du hast doch keine Schuld. Wichtig ist, dass du etwas Geduld hast.“

„Ich weiß“, antwortete er rasch. „Ich habe nichts Böses gemacht.“

Sein Vater sorgte dafür, dass er seinen Schlafanzug wechselte, und blieb noch eine Weile bei ihm.

Er meint es gut mit mir und will mir helfen.

„Geht es wieder?“, sagte sein Vater schließlich. „Willst du das Licht anlassen?“

„Alles klar, du kannst wieder gehen. Und das Licht muss nicht an sein.“

Vater drückte fest seine Hand und verließ langsam das Zimmer.

Wenn ich schlafe, hilft mir auch das Licht nicht.

Er wälzte sich im Bett hin und her.

Papa kennt einige meiner Probleme, aber von den meisten hat er überhaupt keine Ahnung.

Sofort waren die Bilder wieder da.

Doch, ich habe etwas Schlimmes getan. Einen Mord habe ich nicht begangen. Aber ich habe einen Menschen getötet. Das darf niemals jemand erfahren. Nie im Leben.

Die Gedanken schossen ihm weiterhin durch den Kopf. An Schlafen war nicht zu denken. Er wusste aber, dass er irgendwann vor Erschöpfung einschlafen würde. Dabei hatte er in den vergangenen Wochen die Erfahrung gemacht, dass sich meistens, wenn ihn sein Vater in der Nacht getröstet hatte, sein Albtraum in derselben Nacht nicht wiederholte.

Wenn ich erwachsen bin, muss ich auf jeden Fall Polizist werden, um wiedergutzumachen, was ich getan habe. Ich sorge mit aller Kraft für Gerechtigkeit. Böse Menschen, die andere unterdrücken und ausbeuten, werden meine Macht zu spüren bekommen.

Kurze Zeit später war er eingeschlafen.

Kapitel 1

Viele Jahre später …Mittwoch, 2. Mai

Der zweite Schreibtisch im Raum war komplett leergeräumt.

Die sportlich wirkende Frau mit den langen braunen Haaren lehnte allein am Fensterbrett ihres Büros und starrte auf den Drehstuhl, an dem ihr über Jahre Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter gegenübergesessen hatte. Ab heute würde dort jemand anderes sitzen. Wie oft hatten sie in diesem Raum gemeinsam über einem komplizierten Fall gebrütet, dabei ganz unterschiedliche Ansätze verfolgt und sich dennoch ohne viele Worte gut aufeinander abgestimmt.

Fast wie ein altes Ehepaar. … Wobei: ich und Ehe, wohl eher nicht.

Kriminaloberkommissarin Andrea Renner arbeitete wie ihr Kollege Thomas in der Polizeidirektion Hannover, speziell im 1. Kommissariat der Kriminalfachinspektion 1: Straftaten gegen das Leben. Thomas, um einiges älter als sie, war verwitwet und inzwischen wieder fest liiert. Bei Andrea hatte es nie mit einer wirklich festen Partnerschaft geklappt.

Wie werde ich die Tage gemeinsam in einem Büro mit diesem nüchternen, brummigen und wortkargen Typen vermissen!

Andrea schüttelte den Kopf. In was für eine idiotische selbstmitleidige Stimmung manövrierte sie sich gerade?

Thomas war weder tot noch im Ruhestand noch in München tätig. Er war lediglich in ein Büro am anderen Ende des Flurs umgezogen.

Scheiße, ich bin ein Gewohnheitstier. Außerhalb der Arbeit läuft bei mir momentan nicht viel.

Ein neuer Kollege würde heute seinen Dienst in ihrem Kommissariat 1 beginnen. Er kam aus Hamburg, hatte quasi seinen Arbeitsplatz getauscht mit Markus, der zeitgleich von Hannover nach Hamburg wechselte.

Aus diesem Anlass hatte Thomas Stelter dafür gesorgt, die Belegung einiger Abteilungsbüros zu verändern. Er hatte Andrea mit der Aufgabe betraut, den neuen Hamburger Kollegen „an die Hand zu nehmen“ und in die Gepflogenheiten der hannoverschen Dienststelle einzuarbeiten. Andrea ging davon aus, später nicht wieder in ein gemeinsames Büro mit Thomas zurückzukehren. Thomas war weiterhin in der Nähe, aber die Zusammenarbeit würde vermutlich nie mehr so eng sein wie früher.

Die letzten Tage hatte sich Andrea viel mit Schreib­arbeiten beschäftigt und fast keinen Gedanken an den heutigen Tag verloren.

Mit dem Neuen würde sie die nächsten Wochen und Monate zwangsläufig eng kooperieren. Für die Arbeitszufriedenheit war es schon entscheidend, ob der Kollege ein sympathischer Kumpel oder ein arrogantes Arschloch war.

Kollegen fühlten sich an wie Familie. Man konnte sie sich nicht aussuchen und verbrachte viel Zeit miteinander, ob man wollte oder nicht.

Bisher wusste sie nichts über ihn, außer seinem Namen. Und der rief gleich klischeehafte Assoziationen hervor: Norden, Küste, blonder Hüne mit Bart …

Nach einem angedeuteten Klopfen wurde die Bürotür geöffnet. Hauptkommissar Hayo Baumann, braune Haare, Mitte vierzig, betrat das Zimmer.

„Ist dein neuer Partner noch nicht eingetroffen?“, sagte Hayo mit einem Grinsen. Dabei konnte sie sich mit seiner etwas spöttisch klingenden Betonung des Wortes Partner nicht wirklich anfreunden.

„Siehst du ihn hier etwa?!“, antwortete sie schroff.

„Du wirkst angespannt“, entgegnete er ruhig. „Du wirst schon klarkommen mit dem Neuen.“

Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Und die Stimme von Thomas, die sagte: „Und das hier ist Ihr Büro.“

Ein zur Korpulenz neigender Mann mit schütteren grauen Haaren kam herein – Thomas Stelter.

Andrea und Hayo blickten an ihm vorbei auf den Mann neben ihm, der im Türrahmen stehen geblieben war und etwas verlegen wirkte. Er war kein Hüne, eher von durchschnittlicher Größe, dabei weder bärtig noch blond. Stattdessen schaute ein glatt rasierter Mann mit lockigen schwarzen Haaren in die Runde und verkündete: „Mein Name ist Störtebecker.“

„Ach, wie der Klaus?“, entfuhr es Hayo.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf: „Nein, mit c.“

„Ach, Claus mit C …“

„Nein, Störtebecker mit ck.“

Die Sätze gingen ihm flott über die Lippen. Offenbar hatte er sie nicht zum ersten Mal zum Besten gegeben. Andrea fiel sofort auf, dass er das St nicht wie einen Sch-Laut sondern wie S-t aussprach.

Ein angedeutetes, fast spitzbübisches Lächeln war auf seinem Gesicht erkennbar, bevor er erklärte: „Mit dem Piraten oder dem Stralsunder Bier, ohne c, bin ich nach dem jetzigen Stand der Familienforschung weder verwandt noch verschwägert. Ich heiße Raffael Störtebecker.“

Kapitel 2

Dienstag, 8. Mai

Es wurde langsam Abend. Der Himmel bewölkte sich zunehmend, es mochten draußen noch ungefähr fünfzehn Grad sein. Mit dem Rad fuhr er durch Kirchrode, einen Stadtteil von Hannover im Süd-­­osten der Landeshauptstadt, vorbei an einzeln stehenden, gepflegten Häusern mit großen Grundstücken.

Er war unauffällig gekleidet … Sommerjacke, lange Hose, schwarz-weißer Schutzhelm. Ohne besondere Eile steuerte er auf dem Radweg seinem Ziel entgegen. Sein Blick schweifte von links nach rechts. Alles um ihn herum hinterließ sofort den Eindruck eines gehobenen bürgerlichen Stadtteils.

Herauszufinden, wo sie wohnte, war überraschend einfach. Ihre Adresse stand schlichtweg im Telefonbuch. Für ihn ein Ausdruck weltfremder Gutgläubigkeit … oder nachlässiger Gewohnheit.

Er hatte sich die nähere Umgebung ihres Hauses im Internet bei Street View angesehen, wobei das Haus selbst unkenntlich gemacht worden war. Sein Smartphone hatte er zu Hause gelassen.

Einige ihrer Vorlieben waren ihm bestens bekannt. Sie fuhr regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit, immerhin von Kirchrode bis in die Innenstadt. Außerdem nutzte sie das Rad für ihr Hobby Geocaching.

Früher hatte er sich ebenfalls für einige Zeit mit Geocaching beschäftigt. Es ging darum, einen kleinen versteckten wasserdichten Behälter aufzuspüren, der ein Logbuch enthielt, in das sich der Finder mit seinem Nickname eintragen konnte. Derartige Geocaches waren inzwischen auf der ganzen Welt mit unterschiedlichen Schweregraden versteckt. Hinweise, wo sich ein Geocache befand, erhielt der Sucher, der sogenannte Geocacher, über entsprechende Internetseiten, auf denen sich Hinweise wie GPS-Koordinaten befanden. Um einen Geocache zu finden, benötigte man zumindest ein GPS-Handgerät oder ein Smartphone mit GPS-Empfänger.

Endlich tauchte ihr Haus vor ihm auf. Es handelte sich um ein Eckgrundstück an zwei kleinen Nebenstraßen in einem Wohngebiet. Das Einfamilienhaus stand in einem Garten, der sich durch hochgewachsene Büsche und Bäume zur Straße abgrenzte. Die niedrig geschnittene Buchsbaumhecke im Vorgarten gewährte eine ungehinderte Sicht auf den Eingangsbereich des Hauses.

Er bremste, stieg ab und schob das Fahrrad bis zu der Laterne, die sich auf dem Gehweg neben dem seitlichen Teil des Gartens befand. Ihm war bekannt, dass hier ganz in der Nähe ein Geocache versteckt sein musste.

Um sie zu töten, brauche ich den richtigen Moment und den richtigen Ort. Geht das auf dem Grundstück? In den nächsten Tagen?

Kein Mensch war momentan in der Nähe. Während er einige Schritte am Doppelstabmattenzaun des Gartens entlangschlenderte, versuchte er sich einen möglichst genauen Überblick vom seitlichen und hinteren Teil des Hauses zu machen, wobei die dichten Büsche nur eine eingeschränkte Sicht auf diesen Bereich zuließen.

Ich darf mich hier nicht zu lange aufhalten. Sonst erinnert sich später ein Zeuge daran und kann mich beschreiben.

Er hörte die Stimmen von zwei Frauen, die wahrscheinlich über die Terrasse in den Garten gingen. Dann erkannte er Nadine Odem, dunkelblonde Kurzhaarfrisur, Mitte vierzig. Die andere Frau, vermutlich gleichaltrig, konnte ihre Ehepartnerin sein.

Die beiden haben mich sicher noch nicht bemerkt. Aber das ist ganz schön brenzlig und womöglich eine Nummer zu groß für mich.

Er stieg auf sein Rad und fuhr los, bewusst nicht in die Richtung, aus der er gekommen war.

Soll ich meinen Plan canceln?

Kapitel 3

Mittwoch, 9. Mai

Die Versetzung von Kriminaloberkommissar Raffael Störtebecker von Hamburg nach Hannover lag jetzt gut eine Woche zurück. Andrea Renner wusste, dass er in Hamburg ebenfalls mit der Aufklärung von Tötungsdelikten zu tun gehabt hatte. Ansonsten waren sie über sein Privatleben noch nicht groß ins Gespräch gekommen. Das würde sich heute Abend vielleicht ändern.

Andreas junge Kollegin Emma Falkenberg hatte ihr kürzlich im Vertrauen zugeraunt: „Wenn ich nicht gerade einen festen Freund hätte, wäre dieser unverschämt gut aussehende Kerl auch etwas für mich gewesen. Ich beneide dich um die enge Zusammenarbeit mit ihm.“

Raffael und Andrea verließen gemeinsam den großen Gebäudekomplex der Polizeidirektion an der Waterloostraße 9 im zentralen hannoverschen Stadtteil Calenberger Neustadt. Im vierten Stockwerk eines weißen fünfstöckigen Gebäudes befanden sich die Diensträume ihres Kommissariates. Von hier aus waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zum Biergarten am Maschsee. Andrea hatte Raffael dort zum Feierabendbier eingeladen, um „ein wenig das Eis zu brechen“.

Raffael war freundlich und sympathisch. Gerne würde Andrea das eine oder andere mehr über ihn erfahren.

Sie schlenderten nebeneinander die Waterloostraße entlang, eine Allee, an deren Ende sie die HDI-Arena sehen konnten.

Inzwischen waren sie, wie im Kommissariat üblich, beim „Du“ gelandet. Besonders beschäftigt hatte Andrea Raffaels merklich hörbarer hanseatischer Akzent. Anstelle der inzwischen allgemein üblichen süddeutschen Aussprache Sch-t und Sch-p sagte er konsequent S-t und S-p. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, die Schauspielerin Heidi Kabel oder Käpt’n Blaubär aus dem Kinderfernsehen hatten so gesprochen. Aber bei Andreas letzten Besuchen in Hamburg hatte sie niemanden mehr so reden hören, außer vielleicht sehr alte Leute. Und Raffael war erst Mitte dreißig, also ähnlich alt wie sie.

Sehr behutsam sprach sie ihn darauf an.

„Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel“, begann sie vorsichtig, „aber woher kommt deine markante hanseatische Aussprache? Ich kenne niemanden mehr, der so spricht.“

Er blickte im Gehen kurz zu ihr herüber, dann antwortete er: „Ich war als Kind häufig bei meiner Oma, zu der ich eine enge Bindung hatte. Und ich habe früher viele Jahre bei meiner Tante verbracht. Beide haben so gesprochen, und ich habe es geliebt.“

„Und deine Eltern?“

„Meine Mutter ist Hamburgerin, Jahrgang 1962. Sie hat den Akzent gehasst. Und mein Vater, zwei Jahre älter, ist Italiener.“

„Störtebecker ist demnach nicht der Name deines Vaters?“, setzte Andrea nach.

„Nein.“

„Folglich heißt du wie deine Mutter …“

„Meine Eltern waren nicht verheiratet, wenn du das wissen willst“, sagte er forsch. „Ist doch nicht schlimm, oder?“

Seine Stimmung schien zu kippen.

„Ist absolut okay“, äußerte Andrea beschwichtigend.

„Meine Eltern haben aber viele Jahre zusammengewohnt“, brummelte er.

Andrea verkniff sich eine weitere persönliche Frage.

Zwischen ihnen trat eine merkwürdige Stille ein, die Raffael unvermittelt unterbrach: „Hattest du das auch schon mal? Du rufst im Beerdigungsinstitut an – sind alle Leitungen tot.“ Er lachte.

„Wie …?“, murmelte Andrea erstaunt. „Was soll das denn?“

„Kleiner Scherz“, strahlte ihr Gegenüber.

Der Kollege hat eine merkwürdige Art von Humor.

Sie erreichten die Robert-Enke-Straße und die HDI-Arena. Raffael wollte einiges zu Hannover 96 wissen.

Am Nordwestufer des Maschsees setzten sie sich in der Nähe des Courtyard Hotels in einen Biergarten, der schon gut besucht war. Andrea hatte für sie zwei Gläser Bier besorgt. Sie saßen sich gegenüber, die Gäste auf der Bank neben ihnen waren in ihre eigenen Gespräche vertieft.

„Störtebeker zapfen sie hier leider nicht“, grinste Andrea, und Raffael lächelte zurück.

„Ist eh nicht meine Marke.“

Andrea hatte einige Sätze zu ihrer eigenen privaten Situation erzählt. Sie lebte allein in einer Mietwohnung eines Mehrfamilienhauses, hatte noch zwei Geschwister und Eltern, die alle in der Region Hannover wohnten. Das Verhältnis zu ihnen war weitgehend „okay“, wobei sich der Kontakt in Grenzen hielt.

Sie lenkte das Gespräch mit einem unverfänglichen Thema wieder in Raffaels Richtung: „Du kommst aus einer tollen Stadt wie Hamburg. Was reizt dich an Hannover, dass du dich hast hierher versetzen lassen?“

„Niemand aus meiner Familie lebt mehr in Hamburg.“ Er machte eine kurze Pause. „Hamburg ist mir auch zu groß und unübersichtlich. Und nennenswerte Kontakte, die mich halten würden, hatte ich dort nie.“

„Deine Familie ist auch aus Hamburg weggezogen?“

„Mein Vater ist nach Italien zurückgekehrt, seine Heimat Südtirol. Meine Tante ist nach Lüneburg umgezogen. Großeltern habe ich nicht mehr.“

„Und deine Mutter?“

„Die hat Hamburg ebenfalls vor Jahren verlassen.“ Er schaute betrübt. „Sie lebt in der Schweiz.“

„Bist du nie verheiratet gewesen?“

„Doch, früher.“ Er umfasste mit beiden Händen sein Bierglas und wechselte freudestrahlend das Thema: „Ich finde es toll, wie ich hier in Hannover aufgenommen worden bin. Die Arbeitsatmosphäre ist super, und du hast die letzte Woche viel dazu beigetragen. Die Kollegen sind sehr nett. Ich bin total zufrieden.“

Andrea war überrascht von diesem positiven Statement. Nach ihrer Einschätzung hatte es noch gar nicht so viele persönliche Berührungspunkte zwischen Raffael und den anderen Kolleginnen und Kollegen gegeben.

Aber ist ja prima, wenn er sich bei uns wohlfühlt.

„Und warum hast du dich ausgerechnet nach Hannover versetzen lassen?“

„Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, in Hannover zu wohnen und zu arbeiten“, erklärte er mit fester Stimme. „Ein Cousin von mir lebt schon seit Langem in der Region Hannover und hat oft davon geschwärmt, was Hannover alles landschaftlich und kulturell zu bieten hat.“

Andrea grinste erneut: „So, so, und du hast die Schwärmereien deines Cousins für bare Münze genommen …? Hoffentlich bist du hinterher nicht enttäuscht.“

„Du wirst es nicht glauben“, sagte Raffael freundlich lächelnd, „aber ich habe mich bereits seit Längerem intensiv mit der Region Hannover beschäftigt. Vereinzelt hab ich in Hamburg sogar schon die Hannoverschen Nachrichten gelesen. Ihr habt hier viel zu bieten, was ich sehr schätze.“

„Finde ich klasse, wenn sich ‚Auswärtige‘ für Hannover begeistern. Das sind wir hier gar nicht gewohnt. Aber du hast recht. Was interessiert dich denn besonders?“

Er musste kurz überlegen, dann erklärte er: „Burg Dankwarderode. Davon habe ich zum Beispiel gelesen.“

Andrea musste schlucken: „Burg Dankwarderode liegt nicht in der Region Hannover, sondern in Braunschweig.“

„Sorry, ich hab mich versprochen“, meinte er kopfschüttelnd. „Ich meinte natürlich die andere Burg bei Hannover.“

„Schloss Marienburg …?“

„Genau.“

„Davor kann ich dich nur warnen“, meinte Andrea mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Du solltest hier nie Hannover mit Braunschweig verwechseln.“

„Schon klar, war nur ein Versehen.“ Er lachte. „Und mit deiner Hilfe werde ich hier schon schnell Fuß fassen.“

Kapitel 4

Freitag, 11. Mai

Die letzten Tage waren ihm die Bilder nicht aus dem Kopf gegangen: Nadine Odem, und was er mit ihr anstellen wollte. Sollte er es tun? Und wenn ja – wo und wann?

An diesem Abend wich er von seinem üblichen Tagesprogramm ab und fuhr mit dem Rad erneut nach Kirchrode. Jetzt kannte er bereits die Strecke und die wichtigsten Details im Umfeld des Hauses.

Es war mäßig warm und sollte am Wochenende so bleiben. Fürs Radfahren günstige Temperaturen. Er konnte problemlos eine Sommerjacke tragen, die seine Körperkonturen verdeckte.

Auf der Straße, die an ihrem Haus vorbeiführte, aber in einiger Entfernung, spielten zwei jüngere Kinder mit einem Ball.

Er stellte sein Fahrrad in der Nähe von Nadines Haus ab, behielt den Schutzhelm auf, als er zur seitlichen Umzäunung ihres Hauses ging. Eine ältere Frau, einen Hund an der Leine, entfernte sich mit dem Rücken zu ihm auf dem Gehweg. Als er zwischen den Büschen in den Garten spähte, durchfuhr ihn plötzlich ein eisiger Schreck. Nadine Odem stand mit einer kleinen Schaufel auf dem Rasen und schaute ihm fast direkt ins Gesicht.

Er spürte den Adrenalinschub, der durch seinen Körper schoss. Abhauen, bloß weg hier!, war sein erster Gedanke. Und dann: Zu spät!

Wenn er sich jetzt übermäßig auffällig verhielt, war sein Plan endgültig undurchführbar. Unter gewaltiger innerer Anspannung blieb er wie angewurzelt stehen.

Nadine kam langsam auf ihn zu.

Wahrscheinlich habe ich es gleich verkackt!

*

Nadine Odem liebte die Abwechslung. Bei einer verantwortungsvollen Arbeit wie ihrer, die viel mit Sitzen in Räumlichkeiten zu tun hatte, war ein entsprechender Ausgleich unverzichtbar. Sie fuhr beinahe jeden Tag Rad, werkelte möglichst oft im Garten und suchte nach Geocaches, wobei sie dieses Hobby noch nicht lange betrieb.

Jetzt war endlich Wochenende für sie.

An diesem Freitagabend entdeckte sie zwischen den Büschen an ihrem Gartenzaun einen Mann, offensichtlich Fahrradfahrer, der sich suchend umblickte.

Vor einem Jahr hätte sie das vielleicht noch irritiert, aber als Geocacherin waren ihr inzwischen derartige „Besucher“ vertraut. Sie ging auf den Mann zu und merkte sofort, dass ihm das unangenehm war. Das bestätigte ihre Vermutung.

Er war bestimmt ebenfalls Geocacher. In unmittelbarer Nähe vor ihrem Zaun war ein Cache versteckt, der schwierig zu finden war. Die GPS-Angaben waren beim Geocaching nicht auf den Meter genau, sondern beschränkten sich auf ein Areal von einigen Metern Durchmesser, in dem nach dem „Schatz“ gesucht werden musste. Nadine hatte schon öfters Geocacher vor ihrem Zaun angetroffen, die intensiv die Gegend absuchten und nicht fündig wurden, zumal, wenn es sich um noch unerfahrene „Schatzsucher“ handelte. Nicht in das Spiel eingeweihte Passanten wurden von den Geocachern als „Muggles“ bezeichnet, denen gegenüber man geheim halten musste, was man dort tat.

In diesem Fall passte alles zusammen. Der Mann an ihrem Zaun gehörte dazu!

„Suchen Sie möglicherweise einen kleinen Behälter?“, fragte sie freundlich und signalisierte damit, dass sie gleichfalls Geocacherin war. Untereinander war es üblich, sich zu erkennen zu geben und bei der Suche Tipps auszutauschen.

Er antwortete nicht, überlegte offenbar, wie er ihren Satz auffassen sollte.

War er doch kein Geocacher?

In diesem Moment nickte er und sagte leise: „Ja … natürlich. Hab ihn bisher nicht gefunden.“

Na also!

„Wir haben das gleiche Hobby“, outete sie sich. „Möchten Sie, dass ich Ihnen einen kleinen Tipp gebe?“

Er wirkte erleichtert, nickte erneut.

„Es ist rund und führt in die Unterwelt“, meinte sie scherzhaft. „Ich hoffe, das reicht … Ich bin übrigens Miraculine.“

Das war ihr Nickname beim Geocaching, eine Anspielung auf ihre Lieblingscomicfigur Miraculix.

Der gesuchte Cache befand sich in einem winzigen Nano-Behälter, der als Schraube getarnt im runden Gullydeckel neben dem Gehweg versteckt war.

„Danke“, murmelte ihr Gegenüber und wandte sich ab. Seinen Nickname verriet er ihr nicht. Er machte einen recht unerfahrenen Eindruck. Sicherlich ein Anfänger! Aber mehr würde sie ihm nicht verraten. Sie drehte sich um. Ihre Ehefrau Mareike kam auf sie zu.

„Ich hatte recht“, verkündete Nadine zufrieden und zeigte mit dem rechten Daumen über ihre Schulter hinter sich. „Er gehört dazu.“

„Du und dein Geocaching!“, lachte Mareike und steuerte auf die Terrasse zu.

„Na, wie wär’s?“, rief Nadine ihr hinterher. „Sonntagmittag eine Cacher-Tour mit dem Rad durch den Misburger Wald? Natürlich nach einem gemütlichen Frühstück.“

Mareike drehte sich zu ihr um: „Ohne mich! Radfahren ja, aber nicht immer wieder anhalten und zwischen irgendwelchen Zeckengräsern nach Plastikröhrchen suchen!“

„Na gut, dann fahr ich allein.“

*

Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen. Als Nadine ihn ansprach, hatte er schnell begriffen, worum es ging. Sie stufte ihn als Geocacher ein.

Insofern hielt er sich während des Gespräches zwischen den beiden Frauen weiterhin am Zaum auf. Nadine musste davon ausgehen, dass er über ihren Hinweis erst nachdenken musste. So schnappte er noch die paar Sätze auf, die Nadine und ihre Lebenspartnerin miteinander gewechselt hatten.

Schlagartig konkretisierte sich der Plan in seinem Kopf.

Die Infos sind Gold wert. So könnte es klappen. Hasta la vista, Baby!

Kapitel 5

Sonntag, 13. Mai

Rechtzeitig vor zwölf Uhr hielt er sich wieder in der Nähe ihres Hauses auf. Dieses Mal merklich weiter entfernt, im Schatten eines Baumes, der am Straßenrand stand. Er hatte den Fahrradhelm gewechselt, trug heute ein graues Modell. Sein Fahrrad sowie einen Rucksack hatte er an den Baum gelehnt. Er achtete darauf, möglichst nicht von Passanten gesehen zu werden. Zum Glück war sonntags um diese Zeit nicht viel los auf der Straße.

In der linken Hand hielt er ein Smartphone, welchem er vermeintlich seine Aufmerksamkeit schenkte. Mit der rechten Hand wischte er gelegentlich über das Display, mittlerweile eine der unauffälligsten Verhaltensweisen von Menschen in Warteposition. Wobei das Smartphone nur ein Fake war. Es handelte sich bei dem Gerät um ein ausrangiertes Modell, welches gar keine SIM-Karte mehr enthielt. Er führte es lediglich als Requisite zur Tarnung offen mit sich herum.

Als ein Auto die Straße entlangfuhr, drehte er den Kopf weg, um nicht unnötig sein Gesicht zu präsentieren.

Er hatte sich ein kleines Zeitfenster gesetzt, in dem er im Umkreis ihres Hauses warten wollte. Wenn sie sich in diesem Zeitraum nicht auf den Weg machte, würde er wieder verschwinden und sein Vorhaben vertagen. Auf keinen Fall durfte er sich durch ein zu langes Verweilen an einem Ort verdächtig machen.

Die Chance war groß, dass Nadine Odem um diese Zeit zu ihrer Geocaching-Tour in den Misburger Wald aufbrechen würde.

Was sprach dagegen? Dass sie es sich kurzfristig anders überlegt hatte. Oder dass sie unter „Sonntagmittag“ dreizehn Uhr oder später verstand. Und sollte sich Nadines Ehefrau doch dazu durchringen, sie zu begleiten, ließ sich sein Plan ebenfalls nicht durchführen.

Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Bereits kurze Zeit nach seiner Ankunft kam Nadine aus dem Haus. In der Eingangstür stand ihre Ehepartnerin und rief ihr etwas zu.

Nadine war mit einer dunkelroten Windjacke und einer langen Blue Jeans bekleidet. Einen Rucksack hatte sie ebenfalls dabei. Aus der Garage, welche unmittelbar ans Haus grenzte, holte sie ihr Fahrrad. Zuvor hatte sie ihren schwarz-weißen Schutzhelm aufgesetzt.

Die Partnerin winkte ihr kurz und schloss die Eingangstür.

Ein Abschied für immer!

Nadine trat in die Pedale und fuhr los. Er ließ ihr einen kleinen Vorsprung, dann fuhr er in ausreichendem Sicherheitsabstand hinter ihr her.

Ihren Fahrstil hatte er richtig eingeschätzt. Sie war eine geübte Radfahrerin, fuhr durchschnittlich schnell, ohne Ambitionen zu rasen. Es war kein Problem für ihn, ihr zu folgen. Er konnte sich ruhig etwas zurückfallen lassen, da er wusste, wohin die Fahrt gehen würde. Rechtzeitig vorm Wald würde er den Abstand wieder verkürzen. Er würde sie nicht entkommen lassen.

Im Wald bist du dran!

*

Nadine Odem freute sich auf die nächsten Stunden. Ungefähr zwanzig Minuten veranschlagte sie mit dem Fahrrad von ihrem Haus zum Misburger Wald, der sich in einem nordöstlichen Stadtteil von Hannover befand.

Zu Hause hatte sie eine Route ausgearbeitet, die sie in einem Rundweg durch den Wald von einem Geocache zum nächsten führen würde. In einigen Fällen hatte sie zuvor am PC einige Rätsel lösen müssen, um die Koordinaten der versteckten Behälter zu erhalten. Dabei handelte es sich um sogenannte Mystery-Caches. Bei den anderen Caches, die sie heute finden wollte, war der Fundort frei zugänglich auf einer digitalen Karte für Geocacher verzeichnet.

Sie radelte durch Wohngebiete, passierte den Hermann-Löns-Park und später einen Kleingartenverein.

Schade, dass Mareike keine Lust zum Geocaching hat. Aber sie nervt die ständige Unterbrechung eines Spaziergangs oder einer Fahrradtour, ‚nur um im Dreck nach diesem Schnickschnack zu suchen‘, wie sie sich ausdrückt.

Nadine erreichte den Misburger Wald, der Teil eines größeren Landschaftsschutzgebietes war, zu dem auch das Altwarmbüchener Moor gehörte. Der Wald bestand aus Laub- und Nadelbäumen. Irgendwo gab es hier einen idyllischen See und mehrere Hundert Jahre alte Bäume, die als Naturdenkmal galten.

Zunächst fuhr sie einen breiten geraden Weg entlang und überholte zwei Spaziergänger. An ihren Lenker hatte sie eine Halterung für ihr Smartphone montiert, auf dem sie mithilfe einer Geocaching-App ihre Ziele anvisierte. Neben den breiten Wegen, ideal für Radfahrer und Spaziergänger, führten seitlich immer wieder Pfade durch das üppig grüne Walddickicht. Die Caches lagen in der Regel etwas abseits, um die Gefahr, dass sie zufällig von Muggles entdeckt wurden, zu verringern.

Ein Rennradfahrer, bekleidet mit einem blau-gelben Trikot, starrer Blick nach vorne, kam ihr zügig entgegen und schoss an ihr vorbei. Ein Radtrikot mit kurzen Hosen, wie er es trug, wäre für sie völlig unpassend. Als Geocacherin musste sie einplanen, dass der Weg zum Schatz durch Dornengestrüpp und Brennnesseln führte.

Behälter und Logbuch konnten unterschiedliche Größen aufweisen. Es gab Minibehälter, meistens magnetisch, die beispielsweise an der Hinterseite eines metallischen Hinweisschildes angebracht waren. Das Logbuch bestand in diesem Fall aus einer winzigen Papierrolle. Bei den meisten Behältern handelte es sich um PETlinge, eine Art Reagenzglas aus Kunststoff mit Schraubverschluss, oder um Filmdosen. Die dazugehörigen Logbücher waren in der Regel zusammengeheftete Papierstreifen im Längsformat.

Hier im Wald und seiner Umgebung musste Nadine damit rechnen, dass die Caches in Astlöchern, in Baumstümpfen, unter Steinen im Gebüsch oder im Hohlraum eines Pfostens versteckt sein konnten. Die entsprechende Geocaching-Ausrüstung – Teleskopmagnet, Inspektionsspiegel, Pinzette, Draht, Einmalhandschuhe – führte sie im Rucksack mit sich. Zusätzlich hatte sie in der Jackentasche ein Notizbuch mit Kugelschreiber.

Sie stoppte ihre Fahrt.

Hier in der Nähe muss der erste Cache sein.

Sie blickte sich nach eventuellen Muggles um. Kein Mensch zu sehen bis auf einen Radfahrer, der weit entfernt hinter ihr haltgemacht hatte und vom Rad gestiegen war.

Jetzt kann ich es wagen.

Sie stellte ihr Rad am Wegesrand ab und schlug sich ins Gebüsch. Einen Hinweis, wo sich der Behälter befand, gab es nicht. Immer wenn es darum ging, mit den Händen in der Erde zu graben oder in dunkle Öffnungen zu greifen, in denen sie unmittelbare Bekanntschaft mit Käfern und Spinnen machen konnte, war sie froh, sich ihre Einmalhandschuhe anziehen zu können. Auch bei diesem Cache kamen die Handschuhe zum Einsatz.

Nadine brauchte eine Weile, bis sie die kleine Dose in einem vermoderten Baumstumpf entdeckt hatte. Der Eintrag ins Logbuch mit Nickname und Datum diente dazu, den Erfolg ihrer Suche zu belegen. Der Fund wurde zusätzlich in der Geocaching-App geloggt.

Als sie wieder den größeren Weg betrat, registrierte sie, dass der Radfahrer hinter ihr seinen Standort nicht verlassen hatte.

Sie fuhr weiter. Die Handschuhe hatte sie wieder abgestreift. Der nächste Cache war einfacher zu finden. Er lag unter Ästen versteckt hinter einem Baum. Ein Spaziergänger tauchte in der Nähe auf, vor dem sie sich verborgen hielt. Ein uneingeweihter Passant sollte nicht sehen, wie sie im Wald mit einem vermeintlichen Reagenzglas hantierte.

Beim nächsten Halt waren ihre langen Hosen wieder von Vorteil. Links vom Weg ging ein sehr schmaler Trampelpfad durch ein Feld von hohen Brennnesseln, umrahmt von Buchen, Ahornbäumen und Kiefern. Der Trampelpfad machte einen Schwenk nach links und verschwand hinter dem dichten Grün der Bäume.

Ein ideales Versteck für einen Cache. Kein Muggle latscht freiwillig durch die Brennnesseln. Und hinter den Bäumen kann ein Geocacher von niemandem auf dem Waldweg gesehen werden.

Die Koordinaten dieses traditionellen Geocaches waren im Internet für jeden Interessierten frei zugänglich.

Sie lehnte das Fahrrad an eine Buche neben dem Trampelpfad. Das permanente Rauschen fahrender Autos war im Hintergrund zu hören. Die A37 war nicht weit entfernt.

Gerade als sie die ersten Meter durch die Brennnesseln zurückgelegt hatte, sah sie im Augenwinkel einen Radfahrer ankommen. Genau aus ihrer Richtung. Sie überlegte, ob sie einfach weitergehen, stehen bleiben oder auf den Waldweg zurückgehen sollte.

Sie entschied sich dafür, in den Brennnesseln zu verharren, zumal sie plötzlich die Eingebung hatte, den Mann zu kennen. Er hatte einen grauen Schutzhelm auf, trug eine Jacke zur langen Cargohose, zudem auf dem Rücken einen Rucksack.

Als er näher kam, war sie sich sicher: Der Geocacher, mit dem ich vorgestern vor meinem Haus gesprochen habe.

Er nickte freundlich, als er mit seinem Rad vor ihr auf dem Waldweg zum Stehen kam.

„Haben Sie ihn gefunden, vorgestern?“, fragte sie.

Er lächelte, guckte leicht nach unten: „Oh ja, durch Ihren Tipp haben Sie es mir einfach gemacht. Ich war vorgestern bei Ihnen noch erfolgreich.“

Sie zeigte auf das Smartphone in seiner Hand: „Sind Sie auch auf Cacher-Tour?“

„Ja“, bestätigte er. „Ich gehe davon aus, dass wir an dieser Stelle nach derselben Sache suchen. Geht wohl dort den Trampelpfad entlang …?“

„Das war meine Vermutung.“ Sie blieb stehen und machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

„Ich bin noch nicht lange dabei“, bekundete er. „Aber Geocaching ist ein tolles Hobby. Ich habe dadurch schon etliche freundliche Leute kennengelernt. Man ist sofort auf einer Wellenlänge.“

Nadine fasste Vertrauen zu dem Mann. Mit Geocachern, egal ob Mann oder Frau, hatte sie in vergleichbaren Situationen im Wald oder auf Feldwegen bisher ebenfalls nur gute Erfahrungen gemacht.

„Ich hab ja schon vorgestern gesagt, dass ich Miraculine bin“, äußerte sie und blickte ihn auffordernd an: „Und mit wem habe ich es zu tun?“

„Spirou 13.“

„Spirou – wie der Comic-Held …?“

„Genau.“

Der Hinweis, dass er sich womöglich für eine francobelgische Comic-Reihe wie „Spirou und Fantasio“ interessierte, machte ihn gleich für sie sympathischer. Nadine hatte schon immer eine Vorliebe für die francobelgischen Asterix-Comics gehabt.

„Und warum 13?“, fragte sie nach.

„Das ist meine Glückszahl.“

„Wir können ja zusammen nach dem Cache gucken“, meinte sie schließlich. „Vier Augen sehen mehr als zwei.“

„Ich bin dabei“, strahlte er und lehnte sein Fahrrad an das ihre.

*

Seine Einschätzung aus der räumlichen Entfernung hatte sich als richtig erwiesen. Der Ort, an dem er sein Vorhaben umsetzen konnte, durfte nicht vom Waldweg aus einsehbar sein. Hier schien alles perfekt. Der Lärm von der Autobahn konnte Geräusche übertönen. Momentan war außer Nadine niemand zu sehen. Was sich natürlich von einer Minute zur nächsten verändern konnte. Er brauchte für sein Vorhaben etwas Zeit, sodass es dringend notwendig war, dass er mit ihr hinter den Bäumen verschwand. Und an dem bewussten Ort zielte sein Plan darauf ab, dass sie ihm den Rücken zuwandte.

Er hatte sich die letzten beiden Tage gut präpariert. Natürlich musste er davon ausgehen, dass sie sich im Wald einem fremden Mann gegenüber misstrauisch verhalten würde. Insofern setzte er voll und ganz auf den Geocacher-Bonus. Nadine hatte ihn schon in Kirchrode für ein Mitglied der Cacher-Community gehalten. Im Misburger Wald war sie auf Cacher-Tour, sein Rucksack mit Werkzeugen, die für Geocacher typische Cargohose und seine Einmalhandschuhe müssten ihr eigentlich vertraut vorkommen. Ihren Cacher-Namen hatte er sich gemerkt. „Miraculine“ hatte sofort die Assoziationen Miraculix und Asterix bei ihm ausgelöst. Er setzte darauf, mit dem Namen „Spirou“ eine Gemeinsamkeit zu schaffen, um bei ihr zu punkten. Den Versuch war es wert. Und wenn er ihr einen Cacher-Namen präsentierte, trat an die Stelle seiner Anonymität eine vermeintliche Vertrauenswürdigkeit. Selbstverständlich war der Name „Spirou 13“ nirgendwo auf den Geocaching-Seiten im Internet registriert. Aber da er angeblich neu dabei war, würde es Nadine nicht verwundern, dass sie seinen Namen noch nie gelesen hatte.

Da sie in Sachen Geocaching eindeutig über mehr Erfahrung verfügte als er, übernahm sie selbstverständlich die Führung und ging als Erstes den Trampelpfad entlang. Er spürte gleich, dass sie es auch in anderen Zusammenhängen gewohnt war, selbstbewusst voranzugehen. Mit zwei Meter Abstand folgte er ihr. Wie sie hatte er sich seinen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Permanent schielte sie auf das Smartphone in ihrer Hand, um sich an der angezeigten Karte zu orientieren. Die App gab Auskunft, wie viele Meter ungefähr sie noch vom Cache entfernt war. Er hatte die ganze Zeit darauf geachtet, dass sie nicht sehen konnte, dass sich auf dem Display seines Smartphones gar keine Geocaching-App befand. Die für ihn tatsächlich wichtigen Gegenstände befanden sich in den seitlich aufgesetzten Taschen seiner Hosenbeine.

Der Trampelpfad endete auf einer kleinen Lichtung. Nadine stoppte und blickte konzentriert auf die Baumstämme und den Waldboden davor.

Sie hat nur noch Augen für die Suche nach dem Cache!

Eine Notwendigkeit, dass sich eine zweite Person daran beteiligte, bestand nicht. Nadine hatte den Cache sofort unter einigen Rindenstücken vor einem Baumstamm gefunden.

Dabei bemerkte sie nicht, dass sich ihr Begleiter hinter ihrem Rücken ein Paar Einmalhandschuhe übergestreift hatte. Dieses Mal handelte es sich bei dem Behälter um eine Art Tupperdose, in der sich außer dem Logbuch eine kleine Figur und mehrere Aufkleber befanden.

Während sie damit beschäftigt war, sich mit einem Kugelschreiber in das Logbuch einzutragen, hatte er mit der rechten Hand sein Springmesser aus der Beintasche gezogen. Die zweischneidig geschliffene Klinge sprang aus dem Messerheft. Blitzschnell trat er von hinten an Nadine heran, ließ seinen rechten Arm um sie herumschnellen und durchschnitt kraftvoll mit der scharfen Klinge von links nach rechts ihren Hals.

Blut floss in großem Schwall sofort aus der Wunde und durchtränkte die Windjacke der Frau. Nadine röchelte, machte einige ruckartige Bewegungen. Zum Schreien war sie nicht mehr in der Lage. Dann kippte sie nach vorne, dabei zeigte sie noch eine Schnappatmung.

Gleich ist es zu Ende.

Sie verlor kurz darauf das Bewusstsein und lag regungslos auf dem Waldboden. Der starke Blutverlust führte innerhalb kürzester Zeit zum Tod.

Er nahm sich Zeit und betrachtete sein Opfer eine Weile.

Der Plan ist aufgegangen!

Dann holte er die Fotokamera aus seinem Rucksack.

Kapitel 6

Sonntag, 13. Mai

Der Tatort im Misburger Wald war weiträumig mit rot-weißen Bändern abgesperrt.

Kriminaloberkommissarin Andrea Renner war für diesen Sonntag zusammen mit einem Kollegen vom Kommissariat 3, zuständig für Sexualdelikte, zur sogenannten „Mordbereitschaft“ eingeteilt. Mit Raffael Störtebecker hatte sie die Tage zuvor abgesprochen, dass sie ihn – zwecks Einarbeitung – hinzurief, falls es zu einem Einsatz kommen sollte.

Es war kurz nach sechzehn Uhr. Andrea und Raffael standen auf einem Waldweg am Absperrband, wo sie von Max Quast, einem Kollegen vom Kriminaldauerdienst im weißen Ganzkörperoverall, mit den wichtigsten bereits bekannten Informationen vertraut gemacht wurden. Hinter dem Absperrband beschäftigten sich zahlreiche weitere Kolleginnen und Kollegen in Overalls mit der Spurensicherung. Dr. Ulrich Lindhoff, der Rechtsmediziner von der Medizinischen Hochschule Hannover, hatte ebenfalls schon seine Arbeit am Tatort aufgenommen.

„Zwei Männer, die hier im Wald mit dem Fahrrad unterwegs waren, haben die Leiche gefunden und sofort die Polizei angerufen“, erklärte Max und zeigte Andrea und Raffael gleichzeitig ein Foto auf seinem Smartphone, welches er von der Toten gemacht hatte. „Wir haben bei der Frau ihren Personalausweis gefunden. Sie heißt Doktor Nadine Odem, ist fünfundvierzig und wohnt in Hannover-Kirchrode. Sie liegt dort hinter den Bäumen an einer Stelle, die vom Waldweg nicht eingesehen werden kann.“

„Was hat denn die beiden Männer zu diesem abgelegenen Fundort geführt?“, fragte Andrea erstaunt.

„Die beiden sind Geocacher, falls ihr wisst, was das ist …?“

„Nicht genau.“ Andrea runzelte die Stirn.

Aber Raffael konnte damit etwas anfangen: „Das ist eine Art GPS-Schnitzeljagd. Ein Kollege aus Hamburg hat sich damit beschäftigt.“ Mit einigen Sätzen erläuterte er Andrea, worum es beim Geocaching grundsätzlich ging.

„Die beiden Männer wollten genau an dem Punkt, wo jetzt die tote Frau liegt, nach einem versteckten Geocache suchen.“ Max führte aus, dass die Geocacher als Erstes das einzelne Fahrrad, welches an einem Baum lehnte, bemerkt hätten. Dann wären sie über einen kleinen Trampelpfad zum mutmaßlichen Versteck des Geocaches gegangen.

„Ich vermute mal, dass die Geocacher so einige Spuren zertrampelt haben …?“, äußerte Raffael.

„Ja.“ Max zog die Mundwinkel nach unten. „Und in ihrer Aufregung noch mehr, als eh unvermeidbar gewesen wäre.“

Der Tatort mit seinen Büschen und Bäumen war ein schwer überschaubares Areal, welches für die Spurensicherung eine überdurchschnittliche Herausforderung bedeutete, der sich der Kriminaldauerdienst in routinierter Kleinarbeit stellte.

Dr. Ulrich Lindhoff gesellte sich zu ihnen.

„Der Frau wurden mit einem scharfen Gegenstand die Halsgefäße durchtrennt“, begann er. „Welche Organe durch den Schnitt beschädigt worden sind, kann ich euch im Detail nach der Obduktion sagen. Auf jeden Fall ist der Schnitt für den Tod des Opfers verantwortlich.“

„Ist die Frau an der Stelle getötet worden, wo sie gefunden wurde?“, wollte Andrea wissen.

„Davon ist auszugehen.“

„Kannst du schon etwas zum ungefähren Todeszeitpunkt sagen, Ulrich?“

„Die beginnende Totenstarre verweist darauf, dass der Tod vermutlich vor zwei, drei Stunden eingetreten ist. Weitere Auskünfte gibt uns die Smartwatch, die die Frau am rechten Handgelenk trägt.“

Das war das Stichwort für Max Quast: „Die digitale Armbanduhr hat kontinuierlich ihre Herzfrequenz gemessen und die Daten per Bluetooth auf ihr iPhone übertragen. Ich hab bereits das iPhone mit dem Daumenabdruck der Toten entsperrt und einen Blick auf die Daten geworfen. Demnach hat ihr Herz gegen 12:45 Uhr aufgehört zu schlagen.“

„Das ist doch schon einmal was“, meinte Andrea Renner anerkennend und wandte sich wieder an den Rechtsmediziner: „Hast du Abwehrverletzungen gesehen?“

„Nein. Kein Anhalt dafür, dass sie sich gewehrt hat.“

„Und Anzeichen, dass sie vergewaltigt worden ist?“

„Bisher kein Hinweis darauf.“

Max mischte sich erneut ein: „Das Opfer hatte außer dem iPhone ein Portemonnaie mit Geldscheinen bei sich. … Also kein Raubmord.“

„Auf dem Foto von der Toten habe ich einen Rucksack gesehen …“, fiel Andrea ein.

„Die Sachen im Rucksack scheinen Geocaching-Utensilien zu sein“, entgegnete Max. „In ihrem iPhone war eine Karte fürs Geocaching, die den Misburger Wald zeigt, geöffnet.“

Max schloss daraus, dass Nadine Odem vor ihrer Tötung hier selbst nach Geocaches gesucht hatte.

„Spuren vom Täter?“, meldete sich Raffael zu Wort.

Max schüttelte den Kopf: „Bisher nicht. Der Ort wird offenbar häufig von Geocachern betreten. Viele kommen vermutlich mit dem Fahrrad hierher, wie das Opfer. Den beiden Männern, die die Tote entdeckt haben, ist ansonsten nichts Verdächtiges aufgefallen. Aber ihr könnt ja gleich noch selbst mit ihnen sprechen.“

„Wir werden später überprüfen lassen, wessen Handy sich im Tatzeitfenster hier in der nächsten Funkzelle eingeloggt hat“, ging Andrea spontan durch den Kopf. „Und wenn auch der Täter nicht mit einem eingeschalteten Handy unterwegs war, so finden wir vielleicht einen Zeugen, der uns einen hilfreichen Hinweis geben kann.“

„Da muss ich dich enttäuschen“, antwortete Max. „Hörst du, was ich höre? … Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe der Autobahn. Die Funkzelle, die dieses Waldstück abdeckt, ist auf jeden Fall auch für die A37 zuständig. Die Datenmenge lässt sich kaum bearbeiten. Es wird die Aktivität jeglicher SIM-Karten erfasst. Allein in den heutigen modernen Autos sind das mitunter zehn und mehr SIM-Karten, die ständig Daten senden und empfangen.“

„Schade eigentlich …“, murmelte Andrea.

Kapitel 7

Sonntag, 13. Mai

In ihrem Dienstwagen, einem grauen VW Passat, waren Andrea Renner und Raffael Störtebecker gegen 17:30 Uhr auf dem Weg nach Hannover-Kirchrode. Andrea saß am Steuer, Raffael auf dem Beifahrersitz. Wenn sie in den vergangenen Jahren mit Thomas Stelter unterwegs gewesen war, hatte er es sich nie nehmen lassen, den Dienstwagen zu steuern. An dieser Stelle merkte sie wieder, dass die alten Zeiten mit Thomas vorbei waren.

Raffael las ihr Passagen aus einem Zeitungsartikel der Hannoverschen Nachrichten vor, der knapp zwei Wochen alt war. Kollegen hatten den Artikel im Internet entdeckt und ihn Andrea und Raffael als PDF-Datei aufs Smartphone geschickt.

Der Artikel enthielt interessante Informationen über die getötete Frau.

Dr. Nadine Odem war seit Kurzem Vorstandssprecherin des hannoverschen Bankhauses Berlinger, einer vor hundert Jahren gegründeten und immer noch im Familienbesitz befindlichen Privatbank mit derzeit hundert Mitarbeitenden. Der Aufsichtsrat der Bank hatte Nadine Odem wegen „kontinuierlich überdurchschnittlich guter Leistungen“ auf diesen Posten berufen, wie es hieß. Die Frau war zwanzig Jahre im Bankhaus Berlinger beschäftigt gewesen und hatte berufsbegleitend Betriebs- und Volkswirtschaft in Hannover studiert.

Der Zeitungsartikel ging in der zweiten Hälfte auf Nadine Odems Privatleben ein. Sie war mit einer Berufsschullehrerin verheiratet, hatte keine Kinder. Außerdem wurde erwähnt, dass sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit kam, gerne im Garten arbeitete und am Wochenende seit einem Dreivierteljahr mit großer Begeisterung ihr Hobby Geocaching ausübte. „Ich bin aufs Geocaching aufmerksam geworden durch Menschen, die alle an meinem Gartenzaun auffällig unauffällig nach etwas suchten“, wurde sie in dem Artikel zitiert.

*

Mareike Keppler saß zusammengesunken in einem Sessel ihres Wohnzimmers und wischte sich zwischendurch immer wieder eine Träne aus dem Gesicht. Die Nachricht von der gewaltsamen Tötung ihrer Ehefrau hatte sie sehr mitgenommen.

Andrea Renner und Raffael Störtebecker hatten auf einem Sofa ihr gegenüber Platz genommen. Der geflieste Raum wirkte modern und freundlich eingerichtet, mit liebevollen kleinen Details, was die Dekoration in der Schrankwand und auf dem Fensterbrett im Erker anging.

Alles sieht so harmonisch aus, ging Andrea durch den Kopf. Und jetzt kommen wir mit unserer Todesbotschaft und machen alles kaputt.

Mareike trug eine modische beigefarbene Bluse mit Kelchkragen zur schwarzen Jeans.

Sie ist eher die Elegante, Nadine die Sportliche.

Mittlerweile hatte sich Mareike so weit gefangen, dass sie sich in der Lage sah, Andreas Fragen zu beantworten. Raffael nahm die Rolle des stillen Beobachters ein. Mit Mareikes Einverständnis hatte er ein kleines Aufzeichnungsgerät auf dem Wohnzimmertisch postiert, um das Gespräch, wie bei Zeugenbefragungen üblich, mitzuschneiden.

Seit fünf Jahren lebten Nadine Odem und Mareike Keppler zusammen, seit einem Jahr waren sie verheiratet.

„Ich hatte auf sie gewartet und mir Sorgen gemacht, obwohl es schon manchmal später geworden ist, wenn sie ihre Geocaches gesucht hat“, äußerte Mareike und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre mittellangen braunen Haare. „Ich hatte heute Nachmittag bereits versucht, sie auf dem Handy anzurufen, aber sie ging nicht dran.“

Nach Mitteilung von Mareike hatte sich Nadine nicht mit einem anderen Geocacher zu ihrer letzten Tour verabredet.

Andrea erkundigte sich, wann genau Nadine das Haus verlassen und was sie zu dem Zeitpunkt bei sich gehabt hatte.

Anscheinend hat der Täter seinem Opfer tatsächlich nichts entwendet.

„Ich mache mir solche Vorwürfe“, stieß Mareike hervor. „Sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme. Und ich habe abgelehnt.“

Andrea versuchte vergeblich, Mareike zu beschwichtigen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre Nadine nicht ermordet worden, wenn ihre Frau sie begleitet hätte. Aber woher hätte Mareike das ahnen sollen …?!

Ihre Ehe bezeichnete Mareike als glücklich und insgesamt konfliktfrei.

Andrea stellte die klassische Frage: „Hatte Ihre Frau Feinde?“

„Nadine war immer ein freundlich zugewandter Mensch. Ich weiß nichts von Feinden.“

„Verärgerte Bankkunden …?“

„Dass wir keine Feinde haben, können Sie schon daran ablesen, dass Nadine nie einen Grund dafür gesehen hat, unsere Adresse aus dem Telefonbuch löschen zu lassen. Die Verpixelung unseres Hauses bei Street View haben noch die Vorbesitzer veranlasst.“

Ich in Nadines Position hätte das anders gehandhabt. Aber ich beschäftige mich auch täglich mit den bösen Seiten des Lebens.

Andrea fragte weiter in diese Richtung: „Hat Ihre Frau nie Konflikte am Arbeitsplatz erwähnt? Schließlich war sie Vorstandssprecherin einer Bank. Gab’s da keine Neider?“

„Na ja, es hatten sich wohl noch andere Hoffnungen auf diesen Posten gemacht. Aber von einem ernsthaften Konflikt ist mir nichts bekannt.“

„Stress mit Nachbarn, Bekannten oder Verwandten?“

Mareike schüttelte den Kopf.

„Und die Tatsache, dass Sie beide als …“, Andrea zögerte kurz, „… als gleichgeschlechtliches Paar zusammenleben, hatte nie zu problematischen Reaktionen Ihrer Umwelt geführt…?“

„Zugegeben, wir haben immer wieder mit Menschen zu tun, die eine lesbische Beziehung für eine psychopathische Fehlentwicklung halten.“ Mareikes Stimme gewann an Kraft und Lautstärke. „Aber die Phase, wo wir uns verstecken mussten, haben wir lange hinter uns gelassen. Nadines Bankhaus und die Berufsschule, an der ich arbeite, haben auf jeden Fall mit unserer Lebensweise keine Probleme.“ Sie lachte bitter. „Die sehen uns eher als Aushängeschild für ihr modernes Diversity-­Konzept.“

„Sie waren als lesbisches Paar“ – Andrea griff auf Mareikes Wortwahl zurück – „also keinen erkennbaren Anfeindungen ausgesetzt?“

„Nein.“

Keine Konflikte, scheinbar alles in bester Ordnung? Dennoch ist Nadine Odem Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Zufällig?

Andrea kam noch einmal auf Nadines Hobby zurück: „Gibt es zwischen Geocachern so etwas wie Konkurrenzkämpfe?“

„Bestimmt keine, wo der eine den anderen umbringt. Nadine hat immer davon gesprochen, wie freundlich und zugewandt Geocacher miteinander umgehen. Vor ein paar Tagen war zuletzt einer an unserem Gartenzaun, und Nadine hat ihm Tipps zu dem Geocache in der Nähe unseres Grundstücks gegeben.“

„Kannten Sie den Mann?“

„Nein. Nadine hatte die Vermutung, er wäre schon zwei Tage zuvor da gewesen. Jedes Mal hat er in unseren Garten geschaut. Beim ersten Mal war er schon weg, bevor Nadine ihn ansprechen konnte.“

Andrea fiel sofort der Zeitungsartikel wieder ein. So etwas war in der Vergangenheit offenbar schon öfters vorgekommen und nicht unbedingt etwas Besonderes. Trotzdem ließ sie sich von Mareike genau schildern, was sie wann beobachtet hatte.

„Eigentlich habe ich von dem Mann nur den schwarz-weißen Fahrradhelm erkannt“, bekundete Mareike. „Gesicht, Größe und Alter konnte ich durch die Büsche von meiner Position aus nicht erkennen. Nur Nadine ist an den Zaun gegangen und hat kurz mit ihm gesprochen.“

„Können Sie etwas zu seiner Stimme sagen?“

„Er hat nur wenig und leise gesprochen. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Denken Sie denn, der Mann könnte mit dem Mord etwas zu tun haben?“

„Es geht mir zunächst nur um die Sammlung von Fakten.“

„Mir fällt ein, dass der Mann gerade zu dem Zeitpunkt am Zaun stand, als Nadine mich auf ihre geplante Fahrradtour heute ansprach.“

„Könnte er verstanden haben, worum es in Ihrer Unterhaltung ging?“

„Weiß nicht … schon möglich.“

Leider hatte Nadine gegenüber ihrer Frau keine weiteren Angaben zu dem Mann gemacht. Es war auch unklar, ob der Mann nach dem kurzen Gespräch mit Nadine den Geocache in der Nähe des Hauses gefunden und sich in das Logbuch eingetragen hatte.

Auch wenn nachher nichts dabei herauskommt, dachte Andrea, wir werden das Logbuch des Geocaches überprüfen lassen.