Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Frauen sind jung, schön – und tot. Eine Mordserie versetzt die Region Hannover in Angst. Offensichtlich sucht sich der Täter seine Opfer gezielt aus, bevor er sie überwältigt, fesselt und anschließend erdrosselt. Neben jeder Toten lässt er ein Grablicht und eine Spielkarte zurück. Die ermordeten Frauen kommen aus dem Umfeld einer renommierten psychiatrischen Privatklinik, in der es in letzter Zeit zu dramatischen Vorfällen gekommen ist. Was steckt hinter den mit präziser Gleichförmigkeit ausgeführten Morden? Eine tiefgreifende psychische Störung, gekränkter Stolz, Rache …? Hauptkommissar Thomas Stelter steht unter Erfolgsdruck. Um weitergehende Hinweise auf das Motiv des Mörders zu erhalten, wendet sich Stelter an Dr. Mark Seifert, den in forensischer Begutachtung äußerst erfahrenen Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Der Hannoversche Psychiater stellt eigene Ermittlungen an und muss erfahren, dass der Täter auch nicht davor zurückschreckt, brutal in Mark Seiferts Privatbereich einzudringen …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 447
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Titelseite
Impressum
Über den Autor
Ouvertüre
Teil 1: Herzzehn – das rothaarige Opfer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Teil 2: Kreuzzehn – das blonde Opfer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Teil 3: Pikzehn – das schwarzhaarige Opfer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Teil 4: Karozehn – ...
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Danksagung
Thorsten Sueße
3. Fall mit Dr. Mark Seifert
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:
Toter Lehrer, guter Lehrer
Die Tote und der Psychiater
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com
eISBN 978-3-8271-9790-0
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing
www.ansensopublishing.de
Der Kriminalroman spielt in der Region Hannover. Personen und Geschehnisse sind frei erfunden, Parallelen zur Realität jedoch unvermeidbar. Die Beschreibung der unmittelbaren Tatorte, an denen es zu kriminellen Handlungen kommt, ist ausgedacht.
Über den Autor:
Dr. med. Thorsten Sueße, geboren 1959 in Hannover, verheiratet, zwei Kinder, wohnt seit vielen Jahren mit seiner Familie am südlichen Rand seiner Geburtsstadt. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, leitet den Sozialpsychiatrischen Dienst der Region Hannover. Bei der Darstellung der Handlung seiner Kriminalromane orientiert er sich an seinem ei genen Arbeitsalltag, der durch eine regelmäßige Zusammenarbeit mit der Polizei Hannover geprägt ist.
Der Autor veröffentlichte ansonsten ein Fachbuch über die NS-„Euthanasie“ in Niedersachsen, ein Theaterstück und zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Anthologien, außerdem schrieb er ein Drehbuch für einen Spielfilm. Daneben betätigt er sich als Schauspieler, hauptsächlich im Bereich Theater, hat aber auch Sprechrollen in Fernseh- und Kinoproduktionen.
Er ist Mitglied im Bundesverband junger Autoren und Autorinnen.
Weitere Informationen über den Autor unter:
www.thorsten-suesse.de
Das gefährlichste Raubtier aber ist der männliche Homo sapiens, störanfällig und unberechenbar.
Freitag, 7. November.
Der Scheibenwischer kämpfte auf höchster Stufe gegen die Regenmassen an, die durchgängig von den starken Windböen gegen die Frontscheibe gedrückt wurden. Es war ungefähr zehn Minuten nach neun – morgens. Ganz Hannover steckte unter einer einzigen grauen Wolkendecke, aus der es wie aus Kübeln schüttete.
Der graue VW Passat fuhr trotz der schwierigen Straßenverhältnisse recht zügig auf dem zweispurigen Messeschnellweg in nordöstlicher Richtung. Kriminaloberkommissarin Andrea Renner ließ die Fahrbahn vor sich nicht aus den Augen, obwohl sie lediglich auf dem Beifahrersitz saß. Mit der rechten Hand stützte sie sich gegen die Konsole ihres Dienstfahrzeugs ab. Ihr Kollege und Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter, hatte es sich wie üblich nicht nehmen lassen, den Wagen zu steuern.
„Fahr schon rüber, du Idiot“, raunzte Stelter, als sich ihr Fahrzeug dem schwarzen BMW annäherte, der vor ihnen etwas zögerlich auf der Überholspur fuhr. Andrea missfiel Stelters momentanes Fahrverhalten, sie verzichtete jedoch darauf, dazu einen Kommentar abzugeben.
Der BMW zog auf die rechte Spur, und Stelter trat aufs Gaspedal.
„Na also, geht doch“, murmelte er und atmete hörbar die Luft ein und aus. Direkt danach fuhr der Passat durch eine große Pfütze, geriet dadurch für einen kurzen Moment ins Schlingern.
Das war Andrea zu viel, und ihr entfuhr spontan: „Eine Leiche reicht doch für heute ...“
„Ich hab das hier schon im Griff“, kam postwendend Stelters polternde Antwort. „Aber nur, wenn ich bei diesem Scheißwetter nicht noch nervös gemacht werde.“
Andrea konnte die Anspannung ihres Kollegen geradezu körperlich spüren. Seit einiger Zeit wirkte er dünnhäutig und leicht reizbar.
„Schon gut, schon gut“, versuchte Andrea abzuwiegeln, „solche Wetterverhältnisse beim Autofahren machen mich immer unruhig.“
Stelter reduzierte leicht die Geschwindigkeit und wechselte auf die rechte Fahrspur.
„Tut mir leid, wenn ich eben etwas heftig reagiert habe“, schlug er einen versöhnlichen Tonfall an. „Aber im Augenblick kommt bei mir einiges zusammen. Und dann eben noch die Nachricht von dem neuen Todesopfer. Das setzt mich alles unter Dampf.“
Bereits seit sechs Jahren arbeitete Andrea eng mit Stelter bei der Polizeidirektion Hannover zusammen. Andrea kannte ihn als ruhig und sachlich, zwar ein wenig zugeknöpft, aber durchweg freundlich. Seine Veränderung in den letzten Wochen war nicht zu übersehen gewesen.
Der Regen schränkte die Sicht merklich ein. Andrea nahm erleichtert zur Kenntnis, dass ihr Kollege das Tempo erneut drosselte. Es war unverkennbar, dass er den Fundort der Leiche schnell erreichen wollte. Beinahe hätte er die zweispurige Ausfahrt Richtung Medizinische Hochschule verpasst. Im letzten Moment setzte er den Blinker und riss den Wagen nach rechts. Der davon überraschte Fahrer hinter ihnen hupte zu Recht.
„Ja, ja, okay ... okay“, brummelte Stelter eine Art Entschuldigung vor sich hin. Danach fuhr er deutlich langsamer, und Andrea quittierte es mit einem dankbaren Lächeln.
Sieben Minuten später erreichten die beiden Kriminalbeamten ihr Ziel. Vor ihnen tauchten parkende Einsatzfahrzeuge der Polizei, flatternde Absperrbänder und durch den Regen huschende Uniformierte auf. Ein völlig ungewohntes Szenario in dem freundlichen Wohnviertel mit den zahlreichen Einfamilienhäusern und ihren sorgsam gepflegten Gärten.
Schon beim Betreten der Wohnung wurde Andrea und Stelter klar, dass Fund- und Tatort identisch waren.
„Verdammte Scheiße“, brachte Stelter es auf den Punkt, als er die junge Frau mit den aufgerissenen starren Augen halbnackt auf dem Boden liegen sah, gefesselt und geknebelt. Alle Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Die Frau war genauso zielgerichtet und mit derselben Tötungsart wie die anderen Frauen ermordet worden. Wie immer hatte der Mörder seine rätselhaften Visitenkarten am Tatort zurückgelassen.
Die Mitteilung von Max Quast, Mitarbeiter der Spurensicherung vom Kriminaldauerdienst, überraschte weder Andrea noch Stelter: „Wieder hat das Opfer etwas mit dem Gesundheitswesen beziehungsweise der Psychiatrie zu tun. Und wieder gibt es eine Beziehung zur Klinik Dr. Ludendorff.“
„Wir haben schon so viel rumgewirbelt“, schüttelte Stelter den Kopf, „aber wir haben nicht verhindern können, dass dieses abartige Schwein erneut zuschlägt. Der Druck auf uns, endlich den Kerl zu erwischen, steigt noch mal erheblich.“
Wohl wahr, ging es Andrea durch den Kopf, und die aktuelle Zusammenarbeit mit dir wird dadurch leider auch nicht einfacher.
Das planvolle Töten der Frauen war offensichtlich das Werk eines schwer psychisch gestörten Täters. Erst vor gut einem Monat hatte er begonnen, durch sein Vorgehen das Umland von Hannover in Angst zu versetzen ...
Sonntag, 28. September.
Mit schnellen Schritten näherte sich Florian.
„Ich brauche dringend Ihre Unterstützung, Schwester“, hauchte er, „ich halte den Druck nicht mehr aus.“
Die Frau sah ihn aufmerksam an.
„Ist es wieder so schlimm wie beim letzten Mal?“, fragte sie, wobei in dem etwas hart klingenden Akzent, der sie als Zuwanderin aus Osteuropa auswies, durchaus Verständnis für die Verfassung ihres Gegenübers anklang.
„Noch viel heftiger“, beklagte der Mann. „Wenn Sie mir nicht augenblicklich helfen, weiß ich nicht mehr, wie ich damit umgehen soll.“
Die Frau trug eine weiße Schwesternhaube mit einem kleinen roten Kreuz darauf.
„Die Behandlung geht aber nicht auf Krankenschein“, erklärte sie. „Nur über Zuzahlung.“
„Einverstanden“, nickte er. „Wenn ich nur schnell Linderung bekomme. Preis wie immer?“
„Ja.“ Sie zeigte zur Tür und sagte: „Ich mache auf.“
Die rothaarige Frau verschwand aus der Fahrerkabine des Wohnmobils und öffnete gleich darauf von innen die Tür an der Seite.
Florian ließ seinen Blick über die in Weiß gekleidete Frau schweifen. Sie trug wie üblich einen BH mit jeweils einem roten Kreuz über den Brustwarzen, einen Minirock, von Strapsbändern gehaltene Strümpfe und hochhackige Pumps. Neben der Eingangstür zum Wohnbereich war ein rechteckiges Schild befestigt mit der Aufschrift: „Madeleine – Fachkrankenschwester für sexuelle Zufriedenheit“.
„Komm rein“, gurrte sie vielversprechend. „Schwester Madeleine baut deinen Druck ab.“
Er folgte ihr ins Innere des Wohnmobils und schloss hinter sich die Tür. Sofort fiel sein Blick auf das große Bett in der Mitte, das vollständig von einer dunkelroten Decke mit zwei ebenfalls roten Kissen mit kleinen Schleifen verziert wurde. An den Wänden waren rote Lichterketten befestigt, an der Decke über dem Bett hing ein großer Spiegel. Schon des Öfteren hatte er sich Schwester Madeleines „Behandlung“ im Lovemobil gegönnt. Ihre Arbeitsutensilien wie Einmalhandschuhe, Klistiere, Fixiergurte oder Mundkeile waren ihm angenehm vertraut.
„Erst gutes Geld, dann gute Behandlung“, verkündete Madeleine und hielt ihrem Besucher auffordernd die rechte offene Handfläche entgegen.
Der Mann kannte Madeleines Minimalpreise genau, manchmal musste er für Sonderleistungen noch einen Zuschlag zahlen. Auch heute nahm sie mit einem angedeuteten Lächeln sein Geld und ließ die Scheine in einer kleinen Schachtel auf dem Fußboden verschwinden.
„Na los, dann lass uns zur Sache kommen“, säuselte Madeleine und entledigte sich dabei gekonnt ihres BHs. Als der Mann sein Hemd aufknöpfte, taxierte er Madeleine, die ihm selbstbewusst ihre straffen Brüste präsentierte.
Während sie ihn duzte – er hatte sich schon bei seinen letzten Besuchen als „Florian“ vorgestellt, was sie immer wieder vergaß – blieb er beim „Sie“, was für ihn zum Reiz des folgenden Spiels dazugehörte.
Es sollte Florians letzter Besuch bei Schwester Madeleine werden. Weder er noch sie ahnten, dass sie zwei Tage später Opfer eines brutalen Verbrechens sein würde.
Montag, 29. September.
„Por mi vi estas la plej bela virino en la tuta mondo“, sagte ich leise und streichelte dabei liebevoll Annas rechten Handrücken. Wir saßen uns zu zweit gegenüber am Frühstückstisch in ihrer Wohnung in Hannover-Linden. Gestern, am Sonntag, hatten wir den ganzen Tag und anschließend die Nacht miteinander verbracht.
Mein Kompliment auf Esperanto, dass Anna für mich die schönste Frau auf der ganzen Welt wäre, erwiderte sie mit einem spitzbübischen Lächeln: „Vi troigas, sed pro tio mi amas vin, mia psikuleto.“ Was so viel hieß wie, dass ich zwar übertreiben, sie mich dafür aber lieben würde.
Die Plansprache Esperanto war unsere gemeinsame Leidenschaft, die wir besonders in den Momenten pflegten, wenn wir uns sehr Persönliches mitteilen wollten. Anna Sonnenberg als Englisch- und Französischlehrerin am Lindener Hermann-Hesse-Gymnasium gab regelmäßig Esperanto-Unterricht an ihrer Schule im Rahmen einer AG. Vor drei Jahren hatten Anna und ich uns kennengelernt. Durch beharrlichen Einzelunterricht bei ihr lernte ich Esperanto und Anna intensiv lieben.
„War deine Schmeichelei das Vorgeplänkel für eine Bitte, Mark?“, wechselte Anna wieder ins Deutsche und sah mich erwartungsvoll an.
Irgendwie durchschaute sie mich immer, obwohl ich doch der Psychiater war. Jetzt kam der unangenehme Teil des Morgens.
„Oh ja, fast hätte ich es vergessen“, tat ich so, als käme ich erst jetzt wieder darauf. „Ich habe eine Einladung zu einer Vernissage heute Abend in Hannover, die ich nicht absagen kann. Moderne Malerei. Hast du Lust, mich zu begleiten?“
Schon bevor Annas Mundwinkel rasant nach unten klappten, war mir natürlich klar, dass sie auf moderne Malerei in keiner Weise abfuhr. Schon wieder ein Abend, den wir nicht gemeinsam verbrachten. Wie leider schon so oft in den letzten Monaten.
„Also für moderne Malerei versäum ich auf keinen Fall die Lunda Rondo“, verkündete sie erwartungsgemäß und strich dabei schwungvoll ihre langen blonden Haare zurück. „Aber dir scheint moderne Malerei ja wichtiger zu sein als unser fester Termin.“
Die Lunda Rondo war der Name für das Treffen der Hannoverschen Esperanto-Sprecher, welches jeden Montag in einer Kneipe in der Nordstadt stattfand.
Mein untröstlicher Gesichtsausdruck, kombiniert mit einem kurzen Schulterzucken, animierte Anna zu der Frage: „Wieso musst du eigentlich zu dieser Vernissage?! Hat dich der Regionspräsident persönlich eingeladen?“
„Nein, das nicht“, ließ ich die Katze aus dem Sack. „Ich habe die Vernissage quasi selbst initiiert.“
Anna holte tief Luft, ehe sie feststellte: „Und dann fällt dir erst ein paar Stunden vorher ein, mich zu fragen? Wo und mit wem ist das Ganze denn überhaupt?“
„Die Vernissage findet im Bankhaus Berlinger statt. Daniel Stelter, der ja seit einigen Monaten bei mir arbeitet, ist der Künstler. Er kann wirklich ganz fantastisch malen. Und da ich weiß, dass das Bankhaus regelmäßig Ausstellungen von Hannoveraner Künstlern in seinen Räumen veranstaltet, hab ich als guter Kunde der Bank mal den Vorschlag für eine Ausstellung mit Daniels Bildern gemacht. Und heute Abend wird die Ausstellung offiziell eröffnet.“
„Daniel Stelter, der Sohn von unserem Hauptkommissar ...?“, stellte Anna verwundert fest.
„Ja, in dem Jungen steckt viel mehr kreatives Potenzial, als man zunächst denkt.“
Daniel Stelter war seit April Jahrespraktikant für Sozialpädagogik in einer der zwölf Beratungsstellen, die zum Sozialpsychiatrischen Dienst gehörten, der wiederum von mir als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie geleitet wurde. Mit seinem Vater, Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter, hatten Anna und ich in den letzten Jahren einige Male beruflich zu tun gehabt.
Warum hatte ich Anna nicht schon gestern oder sogar vor zwei Wochen auf die Einladung zur Vernissage angesprochen? Gute Frage. Bei meiner inneren Antwort schwankte ich zwischen Verdrängung und gutgemeinter Unterlassung (um dadurch Annas Verschnupfung auf das geringstmögliche Zeitmaß zu begrenzen).
„Nimm doch stattdessen Katharina mit“, schlug sie vor, wobei ihr Gesichtsausdruck nur eingeschränkte Begeisterung signalisierte. Anna und Katharina, meine 22-jährige Tochter, lagen etwas im Clinch miteinander.
„Ja, ich könnte sie fragen“, nahm ich den Ball vorsichtig auf. „Manchmal hat sie ja spontan Lust und Zeit für so was.“
„Im Gegensatz zu mir. Vielleicht inspiriert die Ausstellung deine Tochter, sich auch einmal in künstlerischen Sphären auszuprobieren.“
„Das ist nicht nett von dir”, stellte ich fest, da mir Annas schnippischer Unterton nicht entgangen war. Anna spielte darauf an, dass Katharina vor Kurzem ihr Studium geschmissen hatte und stattdessen in eine noch ungewisse beruflich-persönliche Findungsphase eingetreten war.
„Na ja, deine Tochter ist auch alles andere als nett zu mir“, beschwerte sich Anna. „Und sie mischt sich von Monat zu Monat mehr in unsere Beziehung ein, Mark. Das gefällt mir gar nicht.“
Ich konnte Anna gut verstehen. Katharina kam schlecht damit klar, dass Anna und ich ein Paar waren. Das zeigte sie Anna immer wieder.
Ich stand auf, ging zu Anna und legte ihr meine Arme um die Schultern.
„Lass uns nicht streiten. Du hast ja recht, Katharina benimmt sich dir gegenüber manchmal unmöglich.“ Zögerlich erwiderte Anna meinen Kuss auf ihren Mund, und ich flüsterte: „Amatinjo, vi estas parto de mi.“
Sie lächelte wieder auf die Art, die ich so an ihr liebte.
„Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich Katharina frage, ob sie heute Abend mitkommt?“, versicherte ich mich zögerlich.
„Ja, ernsthaft. Sie ist deine Tochter. Solange du nicht auch noch mit deiner begüterten Ex Ulrike dorthin gehst, hab ich überhaupt nichts dagegen.“
Mit „begütert“ meinte Anna offenbar Ulrikes Villa und den Umstand, dass meine Ex-Frau zusätzlich von ihrem Vater letztes Jahr Anteile eines Immobilienfonds im Wert von mehreren Hunderttausend Euro übertragen bekommen hatte.
Ich setzte meinen Humphrey-Bogart-Blick auf: „Ulrike nehm ich auf keinen Fall mit, versprochen.“
Die Wogen zwischen Anna und mir schienen geglättet, aber irgendwie sagte mir mein Bauchgefühl, dass der heutige Abend noch ein unangenehmes Nachspiel haben würde.
Sein ganzer Körper war wie elektrisiert. Er hatte sich endgültig dafür entschieden, seinen Plan umzusetzen. Zwischenzeitlich hatten ihn immer wieder starke Zweifel gepackt, aber die hatte er jetzt im Griff. Morgen würde er Madeleine töten. Die unterschwellige Angst wurde von dem erhebenden Gefühl gewaltiger Macht überdeckt.
Die Bilder ließen ihn nicht los. Er wusste genau, wann und wo er es tun würde – und auf welche Art. Madeleines Lovemobil stand an der B65, in der Einfahrt eines kleinen Waldstücks, ungefähr einen Kilometer vom Ortseingang Ilten entfernt. Einem Ort mit fünftausend Einwohnern, in dem sich die große psychiatrische Privatklinik Dr. Ludendorff befand.
Der Mann hatte zu Hause alles gründlich durchdacht und vorbereitet. Bei sämtlichen Gegenständen, die er am Tatort zurücklassen würde, hatte er dafür gesorgt, dass sich später darauf keine Fingerabdrücke von ihm finden ließen. Jetzt umkreiste er den Tisch in seinem Wohnzimmer, auf dem er alles Nötige für morgen Abend bereitgelegt hatte: die Handschuhe, die Kabelbinder, die Spielkarte, das Grablicht, die Flasche mit dem Chloroform ...
Katharina Seifert hatte telefonisch zugesagt, ihren Vater Mark heute Abend zur Vernissage zu begleiten. Schon am frühen Nachmittag war die junge Frau von der Arbeit nach Hause gekommen. Nicht ungewöhnlich, denn diese Woche hatte sie Frühschicht. Seit letztem Jahr wohnte sie wieder in ihrem Elternhaus, einer Villa in Hannovers gutbürgerlichem Stadtteil Waldhausen, direkt am Stadtwald Eilenriede. Katharina lebte dort mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zusammen, hatte wieder ihr früheres Zimmer im ersten Stock bezogen.
Inzwischen war es 18:30 Uhr. In einer Stunde ging die Veranstaltung los. Katharina stand fertig angezogen in ihrem Zimmer. Sie hatte sich entschieden, zur Vernissage ein Kleid anzuziehen. Das kleine Schwarze, das sie vor zwei Jahren gekauft, aber nur einmal wirklich getragen hatte. Im Alltag trug sie fast ausschließlich Jeans.
„Bist du so weit?!“, rief sie ihrer Mutter zu, die sich im Nachbarzimmer umzog.
„In fünf Minuten ...“, kam etwas zögerlich die Antwort.
Katharina drehte sich mehrfach vor dem Ganzkörperspiegel in ihrem Zimmer und war mit sich und dem Kleid zufrieden. Was nicht immer selbstverständlich war.
Wie schon häufig in den letzten Monaten schossen ihr wieder diese Gedanken durch den Kopf. Ihr Leben war alles andere als geradlinig verlaufen. Wahrscheinlich kein Wunder bei dem, was ihre Eltern – Ulrike und Mark – ihr vorgelebt hatten. Am Anfang waren ihre Eltern sicher das überglückliche Traumpaar gewesen: Ulrike, die promovierte Apothekerin aus wohlhabendem Haus, Mark der erfolgreiche promovierte Arzt, und Katharina, ihr hübsches und einziges Wunschkind. Und zur Krönung des Glücks bekam Ulrike von ihrem Vater noch eine kräftige Finanzspritze für die Villa in Waldhausen. Wegen ihrer Streitereien, zunehmend öfters und heftiger, trennten sich ihre Eltern und ließen sich vor sechs Jahren scheiden. Für Katharina ein Gefühls-Chaos. Sie wohnte in Waldhausen bei ihrer Mutter und besuchte regelmäßig ihren Vater. Die Jahre nach ihrer Scheidung waren weder Ulrike noch Mark richtig glücklich. Katharina meinte zu spüren, dass sich ihre Eltern immer noch liebten, auch wenn bei ihren Zusammenkünften regelmäßig wieder die Fetzen flogen.
Und plötzlich veränderte sich die Welt. Ulrike verliebte sich bis über beide Ohren in Marks ehemaligen Chef, den verwitweten Oberarzt Dr. Ronald Dannenberg. Kurze Zeit später zog Ronald in Waldhausen ein, und Ulrike und Ronald heirateten. Katharina erlebte ihre Mutter nach langer Zeit wieder glücklich und hochjauchzend. Wobei Mark mit Ulrikes neuer Partnerschaft überhaupt nicht klarkam. Er stürzte sich in einen Konkurrenzkampf mit Ronald und in die Beziehung zu einer zehn Jahre jüngeren Frau, Anna Sonnenberg. Für Katharina war das Verhältnis ihres Vaters zu der Mitte dreißigjährigen Lehrerin immer nur eine peinliche Trotzreaktion gewesen.
„Und du bist sicher, dass dein Vater wollte, dass ich mit zur Vernissage komme?“, unterbrach kurz die verunsichert klingende Nachfrage ihrer Mutter Katharinas Gedanken. Fertig angezogen war Ulrike immer noch nicht.
„Natürlich galt die Einladung auch für dich“, behauptete Katharina und gab sich wieder dem gedanklichen Schnelldurchlauf ihrer jüngeren Vergangenheit hin.
Dem Zickzackkurs ihrer Familie war Katharina natürlich treu geblieben. Als Au-pair-Mädchen in London nach dem Abitur verliebte sie sich in einen (wie sie anfangs dachte) wahnsinnig süßen Typen, der sich aber später als untreuer Mistkerl entpuppte und sie eiskalt sitzen ließ. Danach wollte es mit ernsthaften Beziehungen bei ihr nicht mehr so recht klappen. In Hannover begann sie zu studieren, flog ein Jahr später für zwei Gastsemester nach Australien. Dann traf das nächste Unglück ihre Familie. Während Katharinas Aufenthalt in Australien wurde ihre Mutter Opfer eines brutalen Verbrechens und dabei schwer traumatisiert. Das war Mitte letzten Jahres gewesen. Nach der Entlassung aus der Reha-Klinik war Ulrike zwar körperlich wiederhergestellt, aber psychisch völlig verändert, was auch für die Beziehung der Ehepartner eine schwere Belastung darstellte. Katharina kehrte vorzeitig aus Australien zurück und zog erst einmal in Waldhausen ein, weil sie keine eigene Wohnung hatte. Schnell kam sie zu der Erkenntnis, dass ihre Mutter sie dringend brauchte, und blieb bei ihr wohnen. Außerdem schienen Marks regelmäßige Besuche für die antriebsgeschwächte Ulrike kleine Lichtblicke zu sein. Beeindruckt vom Schicksal ihrer Mutter, stellte Katharina ihre bisherige Lebensplanung komplett infrage. Sie brach ihr Studium in Hannover ab, strebte stattdessen einen Helferberuf an, um Menschen wie ihrer Mutter zur Seite stehen zu können: vielleicht Allgemeinärztin, Psychiaterin oder Sozialarbeiterin? Fürs Medizinstudium müsste sie eine längere Wartezeit in Kauf nehmen. Momentan machte sie zur Orientierung ein mehrmonatiges Praktikum im Pflegedienst der psychiatrischen Klinik Dr. Ludendorff, in der auch ihr Stiefvater Oberarzt war.
„So, ich bin fertig“, teilte Ulrike ihrer Tochter mit, die erfreut zur Kenntnis nahm, dass ihre Mutter in dem beigefarbenen Kostüm und mit den gut frisierten mittellangen braunen Haaren sehr vorteilhaft aussah.
„Toll, dass du mitkommst“, verkündete Katharina. „Papa wird sich freuen.“
Da ich meinen Wagen heute Nachmittag für zwei Tage in die Werkstatt gebracht hatte, fuhr ich abends von meiner Wohnung am Zoo mit der Stadtbahn in die City. Am Kröpcke, Hannovers Zentralpunkt in der Innenstadt, waren noch zahlreiche Menschen unterwegs. Viele Geschäfte hatten bis zwanzig Uhr geöffnet. Es begann dunkel zu werden. Zielstrebig ging ich am Opernhaus vorbei Richtung Bankenviertel. Vor dem Bankhaus Berlinger war ich mit Katharina verabredet, die mit dem Auto aus Waldhausen kommen wollte. Schon von Weitem konnte ich meine Tochter auf den Stufen vor dem Eingang stehen sehen. Dann fiel mir die Kinnlade runter. Katharina war nicht allein gekommen. Neben ihr stand meine Ex-Frau Ulrike. Und ich hatte Anna hoch und heilig versprochen, dass ich auf keinen Fall mit Ulrike zur Vernissage gehen würde.
Ich blieb stehen und überlegte. Wieso hatte Katharina ihre Mutter mitgebracht? Ich hatte doch am Telefon ausdrücklich davon gesprochen, dass ich nur eine weitere Einladung hätte – und zwar für Katharina. Wenn Anna Wind davon bekam, dass mich Ulrike auf der Ausstellung begleitet hatte, war der Ärger vorprogrammiert. Na super!
Mit gebremstem Elan näherte ich mich langsam dem Bankhaus, dessen vierstöckiges Gebäude mit einer prächtigen altehrwürdigen Fassade imponierte. Einige gut gekleidete Besucher gingen an Ulrike und Katharina vorbei und betraten die Bank.
Ich war erstaunt. Zum ersten Mal nach längerer Zeit wirkte Ulrike gelöst, gut gelaunt, lächelte mich sogar an.
Bevor ich etwas sagen konnte, eilte Katharina auf mich zu, nahm mich in den Arm und verkündete überschwänglich:
„Hallo, Papa. Tolle Idee, uns zur Vernissage mitzunehmen! Mama hat sich echt darüber gefreut.“
Ich versuchte, mein Lächeln möglichst ungekünstelt wirken zu lassen. Es rührte mich, dass Ulrike sich wirklich zu freuen schien. Seit gut einem halben Jahr arbeitete sie wieder halbtags in der Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens, kam aber ansonsten wenig unter Leute. Katharina fühlte sich für sie verantwortlich und hatte es heute mal wieder nur gut gemeint.
Dann stand Ulrike vor mir und nahm mich ebenfalls kurz in den Arm: „Danke, Mark, dass du immer noch für mich da bist.“
„Na klar, ist doch selbstverständlich“, murmelte ich.
Als sich Ulrike umdrehte, wies ich meine Tochter in Zeichensprache darauf hin, dass ich für ihre Mutter gar keine Einladung hatte.
„Als guter Kunde der Bank ist es sicher kein Problem für dich, noch einen zusätzlichen Gast mitbringen zu dürfen“, flüsterte mir Katharina ganz leise, aber energisch zu.
Da hatte sie natürlich recht. Die Bank würde bestimmt nicht eine zusätzliche Begleitperson von mir wieder zurückschicken.
„Aber Ronald kommt nicht auch noch?“, fragte ich eher rhetorisch.
„Nein, der ist von der Klinik gleich zu einer Fortbildung in Langenhagen gefahren“, meinte Katharina.
Ich gab mich geschlagen.
„Dann lasst uns mal reingehen“, sagte ich mit einer auffordernden Handbewegung.
Der Vorstand der Privatbank hatte eine kleine Ansprache gehalten. Der großzügige Flur im ersten Stock mit den davon abzweigenden Gängen eignete sich ausgezeichnet als Aushangfläche für die gezeigten Bilder, die von den geladenen Besuchern der Vernissage bereitwillig bestaunt wurden. Es wurden Schnittchen gereicht, außerdem konnte man sich mit Wein, Bier und Softdrinks bis zum Abwinken bedienen. Den geladenen Gästen, die anschließend in Grüppchen beim Smalltalk zusammenstanden, war auf Anhieb anzusehen, dass sie zum gehobenen Kundenkreis des Bankhauses gehörten. Einige Mitarbeiterinnen der Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle Südstadt, in der der Künstler gerade sein Praktikumsjahr absolvierte, waren seiner direkten Einladung ebenfalls gefolgt.
Ulrike und Katharina zeigten echtes Interesse an den ausgestellten zehn Bildern, die Daniel Stelter unter der Überschrift „Alltag“ zusammengefasst hatte. Wenn ich das Ganze richtig interpretierte, waren auf den Gemälden Menschen zu sehen, die mit den komplexen Belastungen unserer heutigen Welt kämpften. Für einen künftigen Sozialarbeiter wahrscheinlich genau die richtige Sichtweise.
Daniel, gleichaltrig mit Katharina, war ein interessanter junger Mann, der eine sportliche Ausstrahlung hatte und als äußeres Markenzeichen eine dunkelblonde Strubbelhaarfrisur trug, sich ansonsten sehr freundlich und zurückhaltend gab.
Heute Abend wirkte er auf mich zwischenzeitlich recht angespannt, so als müsse er eine große Enttäuschung überspielen. Ich fragte mich, ob ein Zusammenhang bestand zu meiner Beobachtung, dass weder Daniels Vater noch dessen Lebenspartnerin erschienen waren. Schon ungewöhnlich bei einem derart wichtigen Ereignis des Sohnes.
Das Gespräch, das Daniel mit Katharina über seine Bilder führte, dauerte merklich länger als der sonst übliche Austausch zwischen Künstler und Ausstellungsbesucher.
Mit Ulrike an meiner Seite konnte ich es mir nicht verkneifen, Daniel auf die Abwesenheit des Hauptkommissars anzusprechen: „Und Ihr Vater konnte heute Abend gar nicht kommen ...?“
„Nein“, war Daniels kurze Antwort. Und offenbar als Reaktion auf meinen erwartungsvollen Gesichtsausdruck fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: „Aus wichtigen familiären Gründen.“
Wobei ich den Hauch unterdrückter Gereiztheit spürte. Da Daniel keinerlei Anstalten machte, das Ganze weiter auszuführen, ließ ich es dabei bewenden. Aber als berufsneugieriger Mensch war mein Interesse geweckt. Bei den Stelters gab‘s irgendwelchen Ärger.
Meine Intervention, das Thema zu wechseln, hatte gleich weitere Konsequenzen für unser Familienleben. Ich erzählte, dass ich Mittwochvormittag einen mehrstündigen Termin in der Ludendorff-Klinik in Ilten hätte und überlegen würde, ob ich dafür eines der neuen Dienst-Elektroautos ausleihen sollte, da sich mein eigenes Auto in der Werkstatt befand.
Augenblicklich stürzten sich Katharina und Daniel zeitgleich auf die Lösung meines belanglosen Problems. Da mein Arbeitsplatz in der Nähe von Ulrikes Haus war, kam Katharina auf die Idee, dass Ronald mich morgens mit seinem Auto nach Ilten mitnehmen könnte. Was nur wegen Daniels Einfall sinnvoll war, dass er mich am späten Vormittag wieder mit zurücknehmen würde, weil er dann gerade mit seiner Praktikumsanleiterin ebenfalls einen dienstlichen Termin in der Klinik hatte.
Mir erschien das alles zu kompliziert, aber Katharina beharrte auf ihrer Idee und wurde dabei eifrig von Daniel unterstützt, was meine Tochter wiederum wohlwollend zur Kenntnis nahm.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ronald begeistert ist, mich einzusammeln, um mich nach Ilten zu chauffieren“, versuchte ich Realität in die begeisterte Planung meiner Tochter zu bringen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie perplex Ronald auf dieses Ansinnen reagieren würde. Aber dann brach meine Abwehr zusammen, als sich Ulrike ebenfalls einschaltete und mit ungewohnter Entschlossenheit verkündete: „Das macht Ronald auf jeden Fall. Ich bitte ihn darum. Das ist doch eine ganz normale Selbstverständlichkeit. Ich finde es gut, wenn ihr beiden euch durch so eine Gemeinsamkeit wieder näher kommt.“
Durch ein Nicken versuchte ich Ulrike davon abzuhalten, weitere Details meiner kleinen Rivalität mit Ronald vor Daniel auszubreiten.
Trotzdem schob sie hinterher: „Bitte, Mark, tust du mir den Gefallen und nimmst den Vorschlag an?“
Dem wollte ich natürlich nichts entgegensetzen und stimmte zu.
Dienstag, 30. September.
Er beobachtete Madeleine, wie sie zielsicher auf eines der Gebäude am Rande des Klinikgeländes zusteuerte. Dabei achtete er darauf, dass er sie in einem Abstand verfolgte, bei dem sie ihn nicht bemerkte. Im Gegensatz zu der offenherzigen Aufmachung im Lovemobil trug sie jetzt eine enge Jeans, Pullover und Jacke, wirkte auf ihn selbst in dieser Kleidung sehr verlockend.
Die Klinik Dr. Ludendorff befand sich mitten in Ilten, einem Ortsteil der Stadt Sehnde. Das Klinikgelände war nicht durch irgendwelche Hecken oder Zäune abgegrenzt und dadurch frei zugänglich. Seit Jahren war man der Grundeinstellung treu geblieben, auf jegliche Videoüberwachung zu verzichten, um die Privatsphäre der psychiatrischen Patienten zu respektieren. Das war ihm nur recht. Bei zahlreichen Gebäuden im Umfeld des Hauptgebäudes war äußerlich völlig unklar, ob sie der Klinik oder einer Privatfamilie gehörten.
Er genoss bewusst jede Minute, in der er realisierte, dass jetzt er der Herr über Leben und Tod dieses schönen geldgeilen Geschöpfes war. Nur er hatte es in der Hand, Madeleines Todeszeitpunkt festzulegen. Und noch bevor es Nacht wurde, war der Zeitpunkt gekommen. Es war das erste Mal, dass er einen Menschen töten würde.
Plötzlich blieb er abrupt stehen. Ein gutaussehender Mann um die fünfzig mit dunklem Haar und Hornbrille durchquerte vor ihm den Klinikpark und steuerte auf eines der Krankenhausgebäude zu. Das war Dr. Ronald Dannenberg, Oberarzt der Allgemeinpsychiatrie.
Madeleines Verfolger verzog sich sofort in den Sichtschatten eines Baumes. Er wollte auf keinen Fall von Dannenberg gesehen werden.
Nachdem der Oberarzt in dem Gebäude verschwunden war, setzte sich der Mann wieder in Bewegung. Es war Nachmittag. Die letzten Stunden von Madeleine waren angebrochen. Für den Mann war es wichtig, die rothaarige Frau noch einmal in voller Lebendigkeit gesehen zu haben, bevor er sich endgültig auf seine Art von ihr verabschiedete.
Die Stunden bis zur Dunkelheit vergingen wie im Flug. Bis zum Waldstück war es nur ein Katzensprung. In einem kleinen Rucksack hatte er alles dabei. Er musste berücksichtigen, dass die Polizei ihn später verdächtigen und ein Bewegungsprofil anhand der gespeicherten Daten seins Mobilfunkproviders über ihn erstellen würde. Sein Smartphone hatte er daher vorsorglich zu Hause gelassen. Nach der Tat würde er dafür sorgen, dass keine verdächtigen Gegenstände in seinen vier Wänden auffindbar waren. Verräterische Internetrecherchen mit dem eigenen PC hatte er konsequent vermieden.
Es war so weit. Er ging zur erleuchteten Fahrerkabine, in der sich Madeleine mit Schwesternhaube und weißem BH den vorbeifahrenden Männern präsentierte. Sobald sie die hell leuchtende Lichterkette in der Fahrerkabine ausschaltete, wurde weiteren potenziellen Kunden signalisiert, dass die Liebesdienerin besetzt und ein Versuch der Kontaktaufnahme momentan unerwünscht war. Der aktuelle Besucher stellte sein Fahrzeug in der Regel diskret im Waldstück hinter dem Lovemobil und Madeleines Pkw ab.
Sie sah ihn kommen und ließ die Seitenscheibe herunter.
„Was willst du denn hier?“, fragte sie und machte einen skeptischen Gesichtsausdruck. In ihrem Tonfall klang eine leichte Abneigung mit an. „Entweder du zahlst für die Behandlung meine Preise oder du kannst gleich wieder verschwinden!“
„Keine Angst“, beschwichtigte er sie, „du bekommst auf jeden Fall deinen Lohn.“
„Na gut, komm rein. Aber heute Abend kostet es dich einen Sonderzuschlag.“
„Kein Problem. Den sollst du haben.“
Während des Gesprächs hatte er die Hände in seinen Jackentaschen gelassen. Sie sollte nicht sehen, dass er Einmalhandschuhe trug. Jetzt musste es schnell gehen. Während sie die Lichterkette und die Beleuchtung der Fahrerkabine ausschaltete und sich von innen in den Arbeitsbereich des Lovemobils bewegte, hatte er den Korken aus der kleinen Flasche gezogen und das Tuch mit dem Chloroform durchtränkt.
Sie öffnete die Seitentür. Seine Hände hielt er wieder geschickt vor ihr versteckt. Ohne ihn groß anzusehen, forderte sie ihn durch eine kurze Kopfbewegung auf, einzutreten. Dann drehte sie ihm den Rücken zu, um zur Raummitte zu gehen. Sofort sprang er hinter Madeleine, umklammerte sie mit dem linken Arm, presste ihr mit der rechten Hand das Tuch mit dem Betäubungsmittel vor die Nase. Zu einer effektiven Gegenwehr war die völlig überraschte Madeleine nicht mehr in der Lage. Sie erschlaffte, und der Mann ließ den Körper der bewusstlosen Frau zu Boden gleiten. Der schwierigste Teil war damit erfolgreich geschafft.
Der Mann verschloss die Seitentür, stellte den Rucksack auf den Boden. Dann widmete er sich der Frau. Zuerst zerrte er mit beiden Händen Madeleine den weißen BH vom Oberkörper.
Zum letzten Mal warf er einen Blick auf ihre unversehrte Schönheit, die in diesem Moment nur ihm gehörte. Dann holte er aus seinem Rucksack zwei rote Kabelbinder. Mit einem schnürte er ihre Füße zusammen, mit dem anderen fesselte er ihr die Hände auf den Rücken. Er zog ihr ein Stück braunes Klebeband über den Mund, was er bereits als Verunzierung ihres ebenmäßigen Gesichts empfand.
Als Madeleine erwachte, weidete er sich an ihren angsterfüllten Blicken. Anfangs wand sie sich auf dem Boden und stieß unter dem Klebeband unartikulierte Laute aus. Als sie merkte, dass sie dem Mann hilflos ausgeliefert war, blieb sie fast bewegungslos, ohne einen Ton von sich zu geben, am Boden liegen.
Neben dem Bett entdeckte der Mann das Smartphone der Frau. Mit voller Wucht trampelte er immer wieder darauf herum.
„Das hast du nicht erwartet, dass ich mir die totale Kontrolle über dich hole, was?!“, begann der Mann seinen Monolog, mit dem er Madeleine seine Herrschaft über sie spüren ließ.
Am Ende seiner Rede merkte er eine angenehme Erschöpfung. Er zeigte ihr das Grablicht und die Spielkarte, benannte die Gründe, weshalb er beides mitgebracht hatte. Dann verstummte er für einen kurzen Moment. Die Frau schien von der plötzlichen Stille überrascht.
„Und jetzt werde ich dich aus dieser Situation der Angst erlösen“, verkündete er mit fast feierlicher Stimme. Madeleine hatte die Augen weit aufgerissen. Als er einen dritten roten Kabelbinder aus dem Rucksack holte, ahnte sie sofort, was er damit vorhatte. Sie gab hektisch klingende Laute von sich, versuchte ihren Körper wegzurollen. Er stürzte auf sie zu, drückte mit seinen Knien ihren Oberkörper von der Seite fest an den Boden. Es war schwieriger als gedacht, den Kabelbinder um den Hals der Frau zu winden. Der Mann setzte seine ganze Kraft ein und schaffte es schließlich, den Verschluss des Kabelbinders festzuzurren. Wie im Rausch zog er immer fester und fester daran, bis jegliche Lebensenergie aus dem Körper der rothaarigen Frau entwichen war.
Das folgende Ritual hatte er vorher hundertmal in seinem Kopf durchgespielt. Er zündete die Grabkerze an, murmelte ein Gebet und stellte sie rechts neben dem Leichnam ab. Auf gleicher Höhe, aber auf die linke Seite, legte er die Spielkarte. Es war vollbracht.
Er öffnete die Tür und trat ins Freie. In dem kleinen Waldstück und der daran angrenzenden B65 war kein Mensch zu sehen. Die Seitentür des Wohnmobils ließ er ganz bewusst ein kleines Stück offenstehen. Dann entfernte er sich vom Tatort.
Leonore Voigt wohnte bereits mehrere Jahre in ihrer Mietwohnung in Ahlten, zunächst mit einem Freund, später allein. Der Ort, der zur Stadt Lehrte gehörte, war für die Anfang dreißigjährige Krankenschwester ideal. Nicht einmal vier Kilometer war er von ihrem Arbeitsplatz, der Klinik Dr. Ludendorff in Ilten, entfernt. Und auch nach Hannover waren es nur zehn Kilometer.
Draußen war es dunkel. Sie hatte Kerzen, Wein und einige Knabbereien für ihren Besucher vorbereitet. Fabian hatte schon vor einiger Zeit angerufen, dass er sich verspäten würde. Für Leonore kein Problem. Es war weniger die gemeinsame Flasche Wein, auf die sie sich freute, sondern das sich über die Nacht hinziehende Finale mit ihm.
Bei dem Gedanken an Dr. Fabian Kirchhoff durchfuhr sie ein wohliges Kribbeln. Er war vor ein paar Monaten auf Initiative des neuen Chefarztes von Hamburg nach Ilten gekommen. Hier hatte er die neu geschaffene Position des Leitenden Oberarztes erhalten.
Die Beziehung mit Dr. Ronald Dannenberg, der in der Klinik faktisch zuvor Fabians Posten ausgefüllt hatte, war von Leonore im Mai dieses Jahres beendet worden. Sie hatte Ronald ernsthaft geliebt, aber im Gegensatz zu Fabian war mit ihm alles kompliziert gewesen. Ronald nahm immer Rücksicht auf seine Frau, die versprochene Trennung von ihr wurde Monat um Monat verschoben. Die Treffen zwischen Leonore und Ronald waren ein ewiges Versteckspiel. Tatsächlich hatten sie es bis zum Schluss geschafft, ihre Liebesbeziehung vor ihrer ganzen Umwelt geheim zu halten. Aber zuletzt war Ronalds Stimmung unerträglich gewesen. Um sich nicht völlig herunterziehen zu lassen, musste Leonore einen Schlussstrich ziehen.
Ein äußeres Zeichen für diesen Schlussstrich hatte sie vergangene Woche gesetzt. Ronald hatte stets für Leonores langes blondes Haar geschwärmt. Fabian war kürzlich herausgerutscht, dass ihn rote Haare anmachen würden. Für Leonore ein willkommener Anlass, ihre Haare rot zu färben.
Es klingelte an ihrer Haustür. Das musste Fabian sein. Schwungvoll drückte sie auf den Summer und wartete, bis er im zweiten Stock vor ihrer Wohnungstür stand.
„Hallo, mein roter Engel ...“
Fabian Kirchhoff strahlte sie an, dann umarmte und küsste er sie leidenschaftlich.
Nachdem Leonore es gerade noch geschafft hatte, die Tür hinter sich zuzuziehen, zog Fabian sie bereits erneut an sich und ließ seine Hände zärtlich über ihren Körper gleiten. Sein Mund suchte sich küssend einen Weg von ihrem Hals zum linken Ohr.
„Tut mir leid, dass du warten musstest“, sagte er leise und biss sanft in ihr Ohrläppchen. „aber ich musste noch was Dringendes in der Klinik erledigen.“
„Ich finde, das Warten hat sich schon gelohnt, du fleißiger Arzt“, murmelte Leonore, während sie spürte, wie seine Hände an ihrer Taille emsig damit beschäftigt waren, die Bluse aus ihrer Jeans zu ziehen. Die Überstunden in der Klinik hatten seine Leidenschaft in keiner Weise gedämpft.
Zwischendurch fanden Leonore und Fabian tatsächlich die Zeit, sich der Flasche Wein und den Knabbersachen zu widmen.
Eng umschlungen lagen sie auf der Couch ihres Wohnzimmers. Während Fabian mit seinen Fingerspitzen einen Spaziergang über ihren nackten Körper machte, musste Leonore unwillkürlich daran denken, dass sie hier vor einem Dreivierteljahr noch mit Ronald halbwegs glücklich gelegen hatte. Sie versuchte diese Gedanken zu verscheuchen und schaute Fabian bewusst an. Mit ihm war es anders. Er war fünfunddreißig und somit fast gleichaltrig mit ihr. Er wirkte stärker und zielstrebiger als Ronald, war ungebunden, was den entscheidenden Unterschied ausmachte. Das leicht hervorstehende Kinn verlieh seinem Gesicht, verbunden mit dem Dreitagebart, einen angenehm kraftvollen Ausdruck, passend zu seinem durchtrainierten Körper. Für Leonore die willkommenen Attribute eines Beschützers, der jetzt allerdings mit seinen zerwühlten dunkelblonden Haaren wie ein liebenswerter großer Junge wirkte.
„Ein wunderschöner Abend“, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn.
Fabians Blick wanderte über die attraktive Frau in seinen Armen. Zufrieden betrachtete er ihr langes Haar, dem sie nur ihm zuliebe diesen warmen roten Farbton verliehen hatte.
„Ja“, stimmte er ihr lächelnd zu. „Heute war wirklich ein wunderschöner Abend.“
Mittwoch, 1. Oktober.
Fast jeder Morgen zwischen halb acht und halb neun lief für Gerhard Winkler annähernd gleich ab. Der 67-jährige Rentner hatte sich für seine Joggingrunde eine Strecke ausgesucht, bei der er Ilten am südlichen Ende verließ, anschließend über die Feldwege an der Westseite des Ortes in die entgegengesetzte Richtung lief, um danach durch ein kleines Waldstück im Nordwesten wieder auf die B65 zu stoßen, an der er auf dem Seitenstreifen für Radfahrer nach Ilten zurückkehrte. Zu Hause erwarteten ihn eine erfrischende Dusche und seine ebenfalls berentete, Zeitung lesende Ehefrau.
Heute war es mäßig bewölkt und trocken. Die Sonne war schon aufgegangen, bevor Gerhard Winkler zu seiner Joggingtour startete. Es war gegen 8:15 Uhr, als er auf dem Waldweg lief, auf dessen asphaltiertem Endstück immer um diese Zeit ein verlassenes Wohnmobil parkte. Winkler war natürlich klar, dass dort in den Abend- und Nachtstunden eine Prostituierte ihre Dienste anbot. Als er sich dem asphaltierten Abschnitt näherte, sah er sofort, dass heute etwas anders war. Hinter dem Wohnmobil stand ein Kleinwagen der Marke Skoda, verschlossen und leer. Auf Höhe des Wohnmobils bremste er seinen Lauf. Zum ersten Mal stand die Seitentür leicht offen. Eine Mischung aus Fürsorglichkeit und Neugierde bewog ihn dazu, stehenzubleiben. Der Blick in ein Bordell auf vier Rädern hatte seinen Reiz.
„Hallo, ist da jemand?!“, rief er vorsichtshalber, bevor er langsam die Tür vollständig öffnete.
Aus seinen bissigen Kommentaren schloss ich, dass Ronald Dannenberg eine Stinklaune hatte. Wir fuhren in seinem schwarzen E-Klasse-Mercedes auf dem zweispurigen Südschnellweg stadtauswärts nach Ilten im östlichen Teil der Region Hannover. An einem Treffpunkt in der Nähe meiner Dienststelle hatte er mich um 8:00 Uhr eingesammelt, um mich zur Klinik Dr. Ludendorff mitzunehmen, wozu meine Tochter und seine Frau ihn mit vereinten Kräften genötigt hatten. Katharina, die ebenfalls in der Klinik arbeitete, musste erst zu einer späteren Zeit dorthin fahren, weil sie jeden Mittwoch als Begleitperson für eine therapeutische Gruppe eingeteilt war.
„Also ich hab immer ein vernünftiges Wagenkreuz und ein Notrad im Kofferraum, falls ich mal ‘nen Platten hab“, dozierte Ronald, „kann ich dir wirklich für die Zukunft nur empfehlen.“
Ich hatte ihm unvorsichtigerweise im Zusammenhang mit der Reparatur meines altersschwachen Autos erzählt, dass ich bereits vor Kurzem unterwegs mit einem platten Reifen liegengeblieben war und mein spärliches Werkzeug nicht zum Lösen der Radmuttern taugte.
„Du hast ja so recht“, versuchte ich dieses unangenehme Thema durch meine vermeintliche Zustimmung zu beenden. Dann lenkte ich im Gegenzug unsere Unterhaltung auf einen von Ronalds wunden Punkten. Ich erkundigte mich danach, wie es mit seinem Sohn Alexander lief, der früher eine Zeitlang mit in Waldhausen gewohnt hatte, dort aber nicht gut klargekommen war.
Sofort war Ronald runter von seinem hohen Ross: „Alexander hat eine Wohnung in Braunschweig und macht eine Ausbildung zum IT-Systemelektroniker. Wir haben wenig Kontakt.“ Ich spürte die Traurigkeit in seiner Stimme, als er ergänzte: „Ich würde ihn gern häufiger sehen, aber ihm liegt nichts daran.“
Auf einmal tat mir Ronald leid. Nicht auszudenken, wenn Katharina nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
Wir überquerten den Messeschnellweg, wo um diese Zeit viele Autos in beide Richtungen unterwegs waren.
Ronald widmete schweigend seine Aufmerksamkeit dem Verkehr.
„Was hast du eigentlich so Wichtiges in der Klinik zu erledigen?“, fragte Ronald und warf einen kurzen Blick zu mir auf dem Beifahrersitz.
„Ich bin doch beratender Arzt der Beschwerdestelle für psychisch Kranke. In dieser Funktion spreche ich unter anderem mit Pahland und Kirchhoff und besuche noch eine von euren geschlossenen Stationen.“
Mehr sagte ich Ronald dazu nicht. Ein ehemaliger Patient der Ludendorff-Klinik hatte sich bei uns beschwert, dass er von Oberarzt Dr. Kirchhoff und einem seiner Stationsärzte wiederholt massiv unter Druck gesetzt worden war, das neue Psychopharmakon Normox einzunehmen. Von einem ähnlich klingenden Vorfall, ebenfalls auf Kirchhoffs geschlossener Station, hatte ich bereits über mehrere Ecken vor vier Wochen gehört. Heute wollte ich Licht in die Sache bringen. Meiner telefonischen Bitte um ein Gespräch in der Angelegenheit hatte der neue Chefarzt Dr. Pahland freundlich zugestimmt.
„Ach, dann weiß ich schon, worum es geht“, meinte Ronald und verzog sein Gesicht zu einem flüchtigen Grinsen. „Bin ich heute also nicht der Buhmann ...“
Nach der Anschlussstelle Hannover-Anderten wurde der Messeschnellweg als Bundesstraße 65 weitergeführt. Ich blickte über weite Felder zu beiden Seiten der Straße. Links tauchte der Ort Ahlten auf. Kurz dahinter auf der rechten Straßenseite kam das kleine Wäldchen, wo mir schon früher ein paar Mal dieses Wohnmobil aufgefallen war.
Ein älterer Mann mit grauem Haarkranz tauchte plötzlich neben dem Wohnmobil auf. Er trug einen blauen Trainingsanzug, rannte stolpernd zur Straße, winkte uns hektisch mit beiden Armen.
„Halt mal an!“, bat ich Ronald. Der hatte schon zeitgleich abgebremst und fuhr rechts an den Straßenrand. Wir stiegen aus. Der Mann schoss auf mich zu. Sein Blick war panisch, und er stammelte laut einige unvollständige Sätze: „Mit dem Kabel ... die Frau ... liegt da ... eine Kerze. Ich ... ich ... kein Handy mit ... Polizei.“
Ich packte den Mann an seinen Oberarmen und versuchte ihn zu beruhigen. Er zitterte am ganzen Körper, schaute mich mit schreckgeweiteten Augen an. Mehrfach rang er nach Luft, stieß dabei immer wieder das Wort „Polizei“ hervor. Er musste etwas Schreckliches im Zusammenhang mit einer Frau gesehen haben. Möglicherweise im Wohnmobil. Ich ahnte Schlimmes. Ronald hatte den gleichen Gedanken und war sofort dorthin gelaufen. Die Seitentür zum Lovemobil stand weit offen, und er blieb kurz davor stehen.
„Oh, nein“, hörte ich ihn stöhnen. Schnell überwand er seine Fassungslosigkeit und sprang in Notarztmanier ins Innere des Gefährts.
„Was ist ...?“, rief ich ihm zu, während ich mich noch um den völlig konfusen älteren Herrn kümmerte.
„Nichts mehr zu machen“, kam seine Antwort aus dem Wageninnern. „Die Frau ist tot, offenbar erdrosselt.“
„Fass bloß nichts an, wegen der Spurensicherung ...“, ließ ich den kriminalistischen Experten raushängen. „Und zertrampel nicht irgendwelche Hinweise!“
Ronald, der immer noch im Wohnmobil die Lage sondierte, antwortete genervt: „Schon gut, Dr. Watson. Aber ich hab nicht das erste Mal mit polizeilicher Ermittlungsarbeit zu tun.“
Womit er natürlich recht hatte. Bei jedem Suizid in der Klinik ermittelte routinemäßig die Polizei vor Ort.
Als sich der ältere Mann, der offenbar Winkler hieß, ansatzweise beruhigt hatte, wagte ich einen Blick in das Wohnmobil. Ein furchtbares Bild, bei dem ich sofort die Assoziation Psychiatrie hatte.
Ronald verständigte mit seinem Handy die Polizei.
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, dass auch Menschen, die Ronald und ich unmittelbar persönlich kannten, in den kommenden Wochen auf die gleiche Weise den Tod finden würden.
Der leicht korpulente Mann Mitte fünfzig mit dem spärlichen grauen Haar stand schweigend inmitten des abgesperrten Bereichs um das Lovemobil und versuchte sich vom Tatort einen Gesamteindruck zu verschaffen. Bei dem Mann handelte es sich um Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter von der Polizeidirektion Hannover, Kriminalfachinspektion 1.1 K „Straftaten gegen das Leben“. Die um fünfzehn Jahre jüngere Frau, schlank, sportlich, lange braune Haare, die mit einem der zahlreichen Kollegen von der Schutzpolizei sprach, war seine Kollegin, Kriminaloberkommissarin Andrea Renner.
Mitarbeiter des Kriminaldauerdienstes in weißen Overalls erledigten mit professioneller Routine die Spurensicherung.
Einer von ihnen, Max Quast, ein hagerer großer Mann mit dunklem Bürstenhaarschnitt, kam auf Stelter zu.
„Was wisst ihr schon über die Tote?“, wollte der Hauptkommissar von ihm wissen.
„Im Wohnmobil haben wir den Personalausweis der Frau gefunden. Sie heißt Dana Bosilek, ist siebenundzwanzig Jahre und kommt aus Bulgarien. Offensichtlich hat sie hier unter dem Namen Madeleine als Prostituierte gearbeitet.“
„Wo bleibt denn unser Rechtsmediziner?“, brummte Stelter.
Max Quast zuckte mit den Schultern: „Ist auf dem Weg.“
Stelter stapfte an Quast vorbei und betrat das Lovemobil. Die Frau lag mit entblößtem Oberkörper auf dem Boden. Die weit aufgerissenen Augen dokumentierten eindringlich das Entsetzen der Frau während ihrer letzten Lebenssekunden. Über der unteren Gesichtshälfte ein Klebestreifen, der kurze weiße Rock nach oben gerutscht. Thomas Stelter brauchte nicht viel Fantasie, um sich das grausame Geschehen vor Augen zu führen. Aber ein fertiges Bild, wie die Frau zu Lebzeiten ausgesehen hatte, brachte er noch nicht zusammen. Er verspürte eine Kälte, die sich in seinem Körper ausbreitete. Die Frau kam ihm vertraut und fremd vor. Irritiert registrierte er an sich ein leichtes Kältezittern.
Was ist denn mit mir los?, ging ihm durch den Kopf. Wobei er sofort versuchte, sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren.
Das Wohnmobil verfügte über einen Tisch mit Sitzecke und ein Mini-Bad mit Toilette.
Ein weißer BH mit roten Kreuzen lag seitlich in der Ecke. Zusammen mit der weißen Schwesternhaube, die Stelter ebenfalls auf dem Boden entdeckt hatte, passte die Kostümierung zum Schild, auf dem sich Madeleine als „Fachkrankenschwester für sexuelle Zufriedenheit“ angepriesen hatte. Ansonsten dominierte für Stelter die Farbe Rot im Raum, das betraf Haarfarbe, Läufer, Bettdecke, Lichterkette und ... die Kabelbinder. Außerdem stand links neben der Toten eine noch brennende rote Grabkerze, auf der anderen Seite lag eine Spielkarte – eine Herzzehn, also ebenfalls rot.
Max Quast meldete sich vom Eingang zu Wort: „Wie du siehst ... Die Spielkarte zeigt vorne drauf zwei gestrichelte Linien mit Fußbällen und Pfeilen, die sich wie taktische Anweisungen geschlängelt auf ein Tor zubewegen. Ich glaub, die Spielkarte gehört zu einer Sonderedition des DFB.“
Von hinten war Andrea Renners Stimme zu hören: „Wann ungefähr ist es passiert?“
„So wie ich das einschätze, gestern Abend – und sicherlich hier“, antwortete Quast ohne groß zu überlegen. „Und die Tote trägt noch einen Slip. An den Oberschenkeln findet sich auf den ersten Blick kein Hinweis auf eine Vergewaltigung.“
„Vielleicht ist der Täter also impotent oder ’ne Frau“, grunzte Stelter.
„Dass der Täter eine Frau ist, halte ich angesichts dieser gespenstischen Szenerie hier für sehr unwahrscheinlich“, warf Andrea ein.
„War auch nicht ganz ernst gemeint“, verteidigte sich Stelter unwillig.
„In einer Handtasche, die dem Opfer gehört haben muss, haben wir ein Portemonnaie mit Geld gefunden. Zusätzlich haben wir Geld in einem kleinen Kästchen sichergestellt“, ergriff Max Quast wieder das Wort. „Also bestimmt kein Raubmord.“
„Die Tat sieht gut vorbereitet aus“, stellte die Oberkommissarin fest. „So wie’s vorläufig aussieht, behaupte ich mal, dass die Grabkerze, die Spielkarte, das Klebeband und die roten Kabelbinder gezielt vom Täter mitgebracht worden sind.“
Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung drängten sich zum wiederholten Mal an Stelter vorbei, der hier drinnen eine beklemmende Enge empfand. Der Hauptkommissar trat ins Freie.
„Habt ihr sonst noch was entdeckt?“, fragte er Quast.
„Im Wohnmobil sind jede Menge Fingerabdrücke, wahrscheinlich von Kunden des Opfers. Vor der Eingangstür lag ein kleiner Korken. Der Skoda hinter dem Lovemobil gehört dem Opfer. Wir haben die Papiere und den Wagenschlüssel in ihrer Handtasche gefunden. Das zerstörte Smartphone auf dem Fußboden gehörte sicher ebenfalls der Frau.“
Über eine Anrufliste des Mobilfunkproviders würden sie herausbekommen, mit wem das Opfer in letzter Zeit telefoniert hatte.
„Der Täter ist doch wahrscheinlich auch mit dem Auto gekommen“, sinnierte Stelter. „Spuren ...?“
„Die Kunden parken ihr Auto sicherlich hinter dem von Madeleine. Da ist der Weg noch asphaltiert. Aber beim Wegfahren muss der Wagen gewendet werden – und zwar zum Teil auf dem angrenzenden Waldboden. Dort haben wir tatsächlich diverse Pkw-Reifenspuren gefunden. Außerdem gibt es im direkten Umfeld auch Reifenspuren von einem Motorrad und einigen Fahrrädern.“
Stelter nickte: „Ja, klar. Der Täter kann auch mit Motorrad oder Fahrrad gekommen sein.“
„Oder sogar zu Fuß aus Ilten oder Ahlten“, ergänzte Andrea.
„Wo sind eigentlich die Zeugen, die die Tote entdeckt haben?“, fragte der Hauptkommissar mit Blick auf Quast.
„Der ältere Herr, ein Jogger, der zufällig zuerst bei der Leiche war, ist damit wohl gar nicht gut klargekommen. Er ist in die Klinik Dr. Ludendorff gebracht worden, von den beiden Ärzten, die auf dem Weg zur Klinik hier auf ihn getroffen waren. Herr Dr. Dannenberg hat die Polizei verständigt. Zusammen mit Herrn Dr. Seifert hat er die Ankunft unserer Kollegen abgewartet. Nachdem wir Personalien und Aussagen aufgenommen hatten, fanden wir es angemessen, die Ärzte mit dem älteren Herrn zur Klinik fahren zu lassen.“
„Ist okay“, stimmte Stelter zu. „Mit Seifert und Dannenberg unterhalte ich mich später noch mal.“
In diesem Moment erreichte ein weiterer Wagen den Tatort, aus dem der Rechtsmediziner aus der Medizinischen Hochschule Hannover ausstieg.
Rund um den Flachdach-Bungalow waren Platanen und Büsche gepflanzt worden. Das Gebäude, das die beiden geschlossenen Stationen 1 und 2 der Allgemeinpsychiatrie beherbergte, stand mitten im Park der Klinik Dr. Ludendorff in Ilten. Krankenwagen konnten den Bungalow über eine kleine Zufahrtsstraße durch den Park direkt ansteuern.
Katharina Seifert hatte ihren Wagen in der Nähe des Klinikparks abgestellt. Auf der Fahrt von Hannover hierher waren ihr an der B65, kurz vorm Ortseingang Ilten, Polizeiwagen und ein abgesperrter Bereich um das Wohnmobil am Waldrand aufgefallen. Das sah nach einem Verbrechen aus.
Katharina, momentan eingesetzt im Pflegedienst der Station 1, durchquerte den Park und betrat den Bungalow. Sie blieb im Flur stehen, von dem zu beiden Seiten zwei geschlossene Türen aus Sicherheitsglas abgingen. Die rechte Tür führte auf ihre Station 1.
Gerade wurde die linke Glastür, Eingang zur Station 2, aufgeschlossen, und eine junge Frau in einem weißen Kittel erschien, die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschanz zusammengebunden. Es war Emilia Duarte Garcia, eine 25-jährige Chilenin, die in Hannover Medizin studierte und hier auf Station 2 den letzten Abschnitt ihres sechsjährigen Studiums absolvierte, das sogenannte Praktische Jahr. Neben den Pflichtfächern Innere Medizin und Chirurgie musste jeder Medizinstudent während seines Praktischen Jahres noch ein Wahlfach belegen, bei dem sich Emilia für vier Monate Psychiatrie entschieden hatte. Eine Entscheidung, an der Katharinas Vater Mark Seifert nicht ganz unschuldig war. Da Emilia Esperanto sprach, war sie irgendwann auf die wöchentlichen Montagstreffen der Hannoverschen Esperantisten gestoßen, wo sie Anna und Mark kennengelernt hatte. Und durch Katharinas Vater war Emilias Interesse an der Psychiatrie geweckt worden.
Die Medizinstudentin lächelte freundlich: „Saluton, Katharina.“
„Saluton, Emilia. Hast du schon irgendwas gehört, was die Polizei da am Ortseingang macht?“
Katharina war überrascht, was Emilia bereits wusste. Eine tote Frau, gefunden von einem Jogger, und Katharinas Vater und Stiefvater mittendrin im Geschehen. Außerdem erzählte Emilia, dass sich Mark in diesem Moment wegen einer Patientenbeschwerde auf Station 2 befand, wohin ihn der zuständige Oberarzt Dr. Kirchhoff begleitet hatte.
„Die Ärzte sollen also auf der 2 jemanden gezwungen haben, Normox zu schlucken ...?!“, vergewisserte sich Katharina.
Emilia schüttelte den Kopf: „Das ist nur eine Behauptung, die aber nicht stimmt. Gezwungen wurde niemand.“
Katharina hatte mitbekommen, dass Dr. Kirchhoff allen Patienten, die in der Ludendorff-Klinik auf Normox eingestellt wurden, eine besondere Beachtung schenkte. Die Patienten wurden von ihm gesondert untersucht, wobei ihn Emilia unterstützte.
„Was hat es eigentlich mit diesem Medikament auf sich?“, wollte Katharina wissen.
„Normox ist ein neu zugelassenes Medikament gegen Psychosen. Es soll besser als die bisherigen Psychopharmaka wirken und auch Patienten helfen, bei denen die anderen Medikamente versagt haben“, erklärte die Medizinstudentin, deren nahezu perfektes Deutsch einen sympathischen Akzent aufwies. „Dr. Pahland und Dr. Kirchhoff untersuchen zusammen mit der Medizinischen Hochschule Hannover die Wirksamkeit von Normox.“
Obwohl Katharina merkte, dass Emilia etwas in Eile war, bohrte sie weiter: „Was wird denn da genau untersucht?“
Die Medizinstudentin reagierte keinesfalls genervt, sondern eher geschmeichelt, dass ihr Wissen gefragt war.
„Eine Psychose beeinträchtigt häufig die emotionale Wahrnehmung und die soziale Kompetenz des Erkrankten“, begann sie zu dozieren. „Normox soll diese Beeinträchtigungen gut bessern können. Die Psychiatrische Klinik der Medizinischen Hochschule hat ein neues Trainingsprogramm zur Steigerung von emotionaler Wahrnehmung und sozialer Kompetenz bei Psychosekranken entwickelt. In einer groß angelegten Untersuchung wird die Wirkung von Normox mit und ohne Trainingsprogramm getestet. Ich untersuche im Rahmen meiner Doktorarbeit Patienten auf ihre emotionale Wahrnehmung und soziale Kompetenz.“
Die Klinik Dr. Ludendorff als akademisches Lehrkrankenhaus war angesichts ihrer großen Anzahl von psychiatrischen Patienten für die Medizinische Hochschule ein interessanter Kooperationspartner für wissenschaftliche Untersuchungen. Emilia unterstützte während ihrer vier Monate im Praktischen Jahr die Iltener Klinik bei den Testungen, ansonsten führte sie diese speziellen Tests in der Hochschulpsychiatrie durch.
„Hättest du Lust, dass wir uns mal an einem der nächsten Abende privat treffen?“, wechselte Katharina das Thema. „Vielleicht können wir mit Esperanto weitermachen ...?“
„Ja, gerne. Morgen und übermorgen muss ich mich um meine Doktorarbeit kümmern, aber vielleicht am Samstag.“ Emilia machte auf einmal ein gehetztes Gesicht. „Tut mir leid, ich habe einen Termin in der Zentralaufnahme.“