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Hannover. In einen Strudel mysteriöser und lebensgefährlicher Vorfälle gerät Dr. Mark Seifert, Psychiater und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Eine Frau, die Seifert ihre Ängste offenbarte, wird ermordet in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei geht zunächst von einem brutalen Raubmord aus, doch der Arzt ist skeptisch. Mehrere Frauen in seinem Umfeld sind plötzlich Bedrohungen ausgesetzt, auch die psychotische Milena, die zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen wird. Sie trägt am Unterarm die Tätowierung der satanischen Sekte „Nesankta Homaro“. Deren Anführer scheut sich nicht, bei der Durchsetzung seiner Interessen Gewalt anzuwenden. Mark Seifert ist schockiert, als eine weitere Frau Opfer eines Verbrechens wird …
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Seitenzahl: 463
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Titelseite
Impressum
Über den Autor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel A
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel I
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel B
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel C
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel II
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel III
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel D
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel E
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel F
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel G
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel H
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel IV
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Danksagung und Anmerkungen
Thorsten Sueße
2. Fall mit Dr. Mark Seifert
Im Verlag CW Niemeyer ist bereits folgendes Buch des Autors erschienen:
Toter Lehrer, guter Lehrer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2014 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com
Scream Subbotina Anna 2013
eISBN: 978-3-8271-9854-9
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de
Der Kriminalroman spielt hauptsächlich in Städten der Region Hannover und in Hildesheim. Personen und Geschehnisse sind frei erfunden, jedoch Parallelen zur Realität unvermeidbar. Die Beschreibung der unmittelbaren Tatorte, an denen es zu kriminellen Handlungen kommt, ist ausgedacht.
Über den Autor:
Dr. med. Thorsten Sueße, geboren 1959 in Hannover, verheiratet, zwei Kinder, wohnt seit vielen Jahren mit seiner Familie am südlichen Rand seiner Geburtsstadt. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, leitet den Sozialpsychiatrischen Dienst der Region Hannover. Bei der Darstellung der Handlung seiner Kriminalromane orientiert er sich an seinem eigenen Arbeitsalltag, der durch eine regelmäßige Zusammenarbeit mit der Polizei Hannover geprägt ist.
Der Autor veröffentlichte ansonsten ein Fachbuch über die NS-„Euthanasie“ in Niedersachsen, ein Theaterstück und zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Anthologien, außerdem schrieb er ein Drehbuch für einen Spielfilm. Daneben betätigt er sich als Schauspieler, hauptsächlich im Bereich Theater, hat aber auch Sprechrollen in Fernseh- und Kinoproduktionen.
Er ist Mitglied im Bundesverband junger Autoren und Autorinnen.
Weitere Informationen über den Autor unter:
www.thorsten-suesse.de
Zur Erinnerung an „Incubus“, den ersten amerikanischen Spielfilm, der auf Esperanto im Jahr 1966 gedreht wurde.
Martina Tegeder rechnet nicht damit, dass sie an diesem frühen Morgen mit einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert wird. Mit dem Fahrrad fährt sie an den einzelnen Grundstücken der Einfamilienhäuser vorbei. Eine fast dörfliche Idylle. Es ist Anfang Mai. Dunst liegt über den Feldern und dem kleinen Friedhof, der direkt an das Wohngebiet grenzt. Um 6:30 Uhr ist noch nicht viel los auf den Straßen von Wilkenburg. Ihre Arbeit als Zeitungsausträgerin hat Martina bereits erledigt und Brötchen besorgt.
Jeden Morgen, zumindest von Montag bis Samstag, steckt sie pünktlich die Tageszeitung in die Briefkästen. Wer die „Hannoverschen Nachrichten“ abonniert, will die Zeitung beim Frühstück lesen, bevor es zur Arbeit geht. Heute ist auf der ersten Seite ein kurzer Artikel über die Friedensbotschaft von Franziskus, dem neuen Papst seit zwei Monaten.
Fast alle Bewohner an der kleinen Straße zum Feld gehören zu ihren Kunden. Hochgewachsene Hecken um die Grundstücke bieten einen ausgezeichneten Sichtschutz. Martina nähert sich dem letzten Haus vor dem Feld: ein weiß verklinkertes Gebäude mit einer Garagenauffahrt, versperrt durch eine Pforte. Auf dem Gehweg vor dem Grundstück schimpft ein Hundebesitzer mit seinem angeleinten Golden Retriever. Der Hund ist sehr unruhig, will sich nicht von der Garagenauffahrt wegzerren lassen. Als Martina mit dem Fahrrad kommt, bellt der Hund sie an.
„Pfui, Benny! Platz“, ruft der Mann seinen Hund zur Ordnung. Und an Martina wendet er sich mit einem zerknirschten Lächeln: „Tut mir leid. Ich weiß gar nicht, was heute mit Benny los ist.“
„Nicht so schlimm“, beschwichtigt Martina. „Ich kenne doch Benny. Sonst ist er ja immer ganz friedlich.“
Angespannt setzt sich der Hund auf den Gehweg. Schließlich gelingt es dem Mann, seinen aufgeregten Golden Retriever hinter sich her zu ziehen. Aus dem Briefkasten neben der Hecke ragen die „Hannoverschen Nachrichten“, die Martina dort vor einer guten halben Stunde hineingesteckt hat. Martina nimmt die Zeitung an sich, öffnet die Pforte und stellt ihr Fahrrad auf dem Grundstück ab. Mit Brötchentüte und „Hannoverschen Nachrichten“ in der Hand geht sie auf die Haustür zu. Hier wohnt die sympathische Frau Faber, bei der sie heute Morgen zum Frühstück eingeladen ist.
Was war bloß mit dem Hund los?, geht es ihr durch den Kopf. Frau Faber leidet unter Schlafstörungen und ist morgens schon früh auf. Die Zeitung hat sie aber noch nicht hereingeholt. Martina drückt auf den Klingelknopf neben der Haustür.
Keine Reaktion.
Die Zeitungsausträgerin klingelt erneut.
Von drinnen ist nichts zu hören.
„Hallo, Frau Faber?!“, ruft sie.
Keine Antwort. Schläft Frau Faber etwa noch? Hat sie das gemeinsame Frühstück vergessen? Das wäre ganz untypisch für die sonst sehr zuverlässige Frau.
Martina stutzt, ist für einen kurzen Moment unschlüssig, was sie tun soll. Das Klingeln müsste Frau Faber eigentlich geweckt haben.
Langsam geht Martina durch den Garten um das Haus herum.
Ihr fällt auf, dass das Küchenfenster geöffnet ist. Plötzlich durchfährt ein Schreck ihren Körper. Mit einem Blick durchs Fenster hat sie erfasst, dass in der Küche ein totales Chaos herrscht. Sämtliche Schubladen stehen offen. Auf der Arbeitsplatte und dem Fußboden liegen verstreut diverse Zettel und herausgerissene Tüten mit Lebensmitteln wie Nudeln, Reis, Zucker oder Mehl.
Ein Einbruch! Martina hat die Situation sofort erkannt. Augenblicklich spürt sie ihren rasenden Herzschlag, bekommt schweißnasse Hände. Sind die Täter vielleicht noch im Haus? Unwahrscheinlich, dass Einbrecher morgens kommen, bevor die meisten Hausbesitzer zur Arbeit gehen.
Unter Umständen sind die Täter gestern hier eingedrungen, haben womöglich Frau Faber irgendwo im Haus eingesperrt. Martinas nächste Schritte auf die Terrasse zum großen Wohnzimmerfenster genügen, um ihr das ganze Ausmaß des Schreckens vor Augen zu führen.
Niemals im Leben wird sie diesen Anblick vergessen. Die Frau liegt leblos auf dem Bauch im Wohnzimmer. Ihr Hinterkopf ist voller Blut. Neben dem Kopf zeigt der Teppichboden eine Blutlache.
Mit voller Lautstärke schreit Martina ihr Entsetzen heraus, wendet sich ab, läuft zurück in den Garten. Mit zitternden Händen sucht sie in der Hosentasche nach ihrem Handy. Zunächst ist sie unfähig, auch nur eine Taste zu drücken. Die Anspannung hat ihren gesamten Körper erfasst. Tränen laufen ihre Wangen herunter, Martina nimmt die Umgebung wie durch einen Schleier wahr.
Sie schafft es schließlich, 110 zu tippen. Als sich die Polizei meldet, bringt Martina nur noch ein Stammeln heraus: „Ich bin in Wilkenburg ... bei Frau Faber ... alles voller Blut ... Dörrieweg ... sie ist tot ... tot ... kommen Sie schnell ...“
*
Der graue VW Passat fährt am Maschsee entlang und erreicht nach einigen Minuten die südliche Stadtgrenze von Hannover. Am Steuer sitzt Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter, neben ihm Kriminaloberkommissarin Andrea Renner. Es herrscht morgendlicher Berufsverkehr, die meisten Autos kommen ihnen auf der anderen Straßenseite entgegen. Das Ziel der beiden Polizisten ist Wilkenburg, ein kleiner Ort mit tausend Einwohnern, der zur Stadt Hemmingen am Rand von Hannover gehört.
„Das erste Mal in meinem Dienstleben, dass ich wegen eines Mordfalls nach Wilkenburg gerufen werde“, brummelt der Anfang fünfzigjährige Hauptkommissar von der Polizeidirektion Hannover. Seine um fünfzehn Jahre jüngere Kollegin, die wie Stelter zur Kriminalfachinspektion 1.1 K „Straftaten gegen das Leben“ gehört, nickt zustimmend.
„Bisher habe ich Wilkenburg auch nur im Zusammenhang mit Pferden vor Augen gehabt. Da sollen doch mehr Gäule als Menschen leben“, behauptet sie und spielt darauf an, dass der beschauliche Ort vor allem durch ein jährlich stattfindendes Reitturnier überregional von sich reden macht. Wie zur Bestätigung fahren sie gerade in diesem Moment an einer großen Koppel vorbei, auf der zahlreiche Pferde weiden.
Sie haben Wilkenburg erreicht. Ein Wohnort, mit dem Andrea sofort Ruhe und Harmonie verbindet. Die Hauptstraße macht eine Rechtskurve, dann ist eine Bushaltestelle zu sehen. Direkt davor biegt Stelter rechts ab.
„Da ist es schon“, kommentiert Andrea und zeigt auf die Streifenwagen am Ende der kleinen Straße. Uniformierte Polizisten sprechen dort mit einigen Passanten. Stelter fährt an der Menschengruppe vorbei und parkt den Passat am Feldrand. Dort stehen bereits zwei weitere Autos.
Als er den Wagen verlässt, spürt er bereits die angenehme Wärme des Frühlingstages. Der Winter hat dieses Jahr lange genug gedauert!
Dem uniformierten Polizisten, der ihn mit skeptischer Miene anschaut, raunt er zu: „Wir sind die Mordbereitschaft.“ Dabei wedelt er mit seinem Dienstausweis. Sein Gegenüber nickt, und Stelter und Andrea betreten den Zugang zu dem weiß verklinkerten Einfamilienhaus.
Die Haustür steht offen, bereits im Flur sehen sie die Kollegen vom Kriminaldauerdienst bei der Spurensicherung. Eine kurze Begrüßung. Max Quast, einer der Mitarbeiter in den weißen Overalls, führt Stelter und Andrea ins Wohnzimmer, wo ihr erster Blick auf den Leichnam der auf dem Bauch liegenden Frau fällt. Die Frau ist mit einer Bluse und einer langen Jeans bekleidet. Das verkrustete Blut in den blonden Haaren weist bereits auf die Todesursache hin. Die überall auf dem Boden verstreuten Papiere, herausgerissenen Schubladen und offenstehenden Schranktüren lassen auf einen Einbruch schließen. Im hinteren Teil des Wohnzimmers steht Dr. Ulrich Lindhoff, Rechtsmediziner aus der Medizinischen Hochschule, und macht sich einige Notizen. Als er Stelter und Andrea erkennt, kommt er sofort auf sie zu und begrüßt sie.
„Meine Arbeit vor Ort habe ich bereits abgeschlossen“, verkündet er mit einer gewissen Zufriedenheit. „Das Wohnzimmer ist sicherlich auch der Tatort. Die Frau ist wahrscheinlich durch mehrere Schläge auf den Hinterkopf getötet worden. Der Täter muss mehrfach mit einem stumpfen Gegenstand auf sie eingeschlagen haben.“
„Kannst du schon sagen, wann ungefähr der Tod eingetreten ist?“, möchte Stelter wissen.
„Ich schätze, das wird gestern Nachmittag gewesen sein.“
„Wer ist die Tote?“, fragt Andrea.
„Claudia Faber, 38 Jahre, Eigentümerin dieses Hauses“, weiß Max Quast zu berichten.
„Ist sie verheiratet? Lebt sonst noch jemand in diesem Haus?“
„Nein, sie lebt allein. Ist verwitwet“, sagt Quast. „Ich habe mit der Zeitungsausträgerin, die die Tote entdeckt hat, gesprochen. Eine Frau Tegeder, die wusste eine Menge über die Ermordete. Frau Tegeder war heute Morgen verständlicherweise total aufgelöst, hält sich jetzt aber noch für weitere Fragen im Nachbarhaus bereit.“
„Was habt ihr schon über den vermutlichen Tathergang herausgefunden?“, wendet sich Stelter an Quast.
„Das Küchenfenster ist gewaltsam aufgehebelt worden. Allem Anschein nach ist ein Täter gestern durch das Küchenfenster in das Haus eingedrungen. Bei diesen ungesicherten Fenstern dauert das Aufhebeln mit einem Schraubenzieher lediglich ein paar Sekunden. Der Täter könnte von Frau Faber im Wohnzimmer überrascht worden sein. Vielleicht war die Frau zunächst im Obergeschoss und hatte dort verdächtige Geräusche aus ihrem Wohnzimmer gehört. Dafür spricht, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Ermordung Pantoffeln trug.“
„Dann wäre es wahrscheinlich, dass es noch einen zweiten Täter gibt. Schließlich wurde sie von hinten erschlagen“, kombiniert Stelter. „Es sei denn, der Täter hat sich versteckt und von hinten an sein Opfer herangeschlichen.“
„Das mit den zwei Tätern würde passen“, stimmt Quast zu. „In Hemmingen und Umgebung sind in den letzten Monaten mehrere Einbrüche passiert. Vom Ablauf her kann das nie ein Täter allein gewesen sein. Jedes Mal waren die Einbrüche tagsüber – und keinem Nachbarn ist etwas aufgefallen. Stand zumindest in der Zeitung.“
„Aber dabei ist nie einer der Geschädigten ernsthaft körperlich zu Schaden gekommen“, wendet Stelter ein.
„Weil zum Zeitpunkt des Einbruchs sonst auch niemand im Haus war. Vielleicht haben sich die Täter gestern in diesem Punkt verschätzt“, mutmaßt Quast. „Das Telefon der Frau war stummgeschaltet. Aber der Speicher des Apparats weist um 14:16 Uhr den entgangenen Anruf von einem Handy auf. Möglicherweise haben die Täter durch diesen Anruf überprüfen wollen, dass niemand zu Hause ist. Und das Opfer hat den Anruf nicht mitbekommen.“
„Hätte nicht auch ein einziger Schlag auf den Hinterkopf genügt, um anschließend problemlos flüchten zu können?“, sinniert Stelter mit fragendem Blick auf den Rechtsmediziner.
Lindhoff zuckt mit den Schultern: „Na klar. Aber wenn der Täter keine Maske getragen hat und von Frau Faber erkannt worden ist ... vielleicht wollten die Einbrecher auf Nummer sicher gehen und dieeinzige Augenzeugin für immer zum Schweigen bringen.“
„Sind auch die Räume im Obergeschoss durchwühlt worden?“, fragt Stelter.
„Ja“, bestätigt Quast. „Die Räume oben sehen ebenso aus wie Wohnzimmer und Küche hier unten. Wenn sich die Frau zum Zeitpunkt des Einbruchs zunächst noch im Obergeschoss aufgehalten hat, kann das Durchwühlen der oberen Räumlichkeiten erst nach ihrem Tod erfolgt sein.“
„Was auf eine ungeheure Kaltschnäuzigkeit der Täter hindeuten würde“, kommentiert Stelter. „Gibt es Hinweise, was die Täter gesucht und entwendet haben?“
Die Einrichtung des Hauses wirkt geschmackvoll, aber in jeder Beziehung durchschnittlich.
„Wir haben im Haus weder Schmuck noch Bargeld gefunden. Das könnte das Ziel der Täter gewesen sein. Technische Geräte wie Flachbildfernseher und Notebook haben sie nicht mitgenommen“, erklärt Quast.
„Nach Reichtümern, für die sich ein Raubmord lohnen würde, sieht es hier nicht aus. Aber es sind ja schon Menschen für noch geringere Wertbeträge umgebracht worden“, sagt Stelter. „Habt ihr irgendwelche Spuren im Garten gefunden, die von den Tätern sein könnten?“
„Nicht wirklich. Draußen ist es trocken. Um das Haus ist Rasen, direkt vor dem Küchenfenster ist ein Streifen mit Kies. Die Terrassentür war verschlossen. Wahrscheinlich haben die Täter das Haus wie selbstverständlich durch den Haupteingang verlassen“, verkündet Quast, der dann jedoch seinem Gesicht einen bedeutungsvollen Ausdruck verleiht. „Etwas haben wir aber doch noch gefunden. Eine Visitenkarte neben der Basisstation des Telefons hier im Wohnzimmer.“
Quast zeigt auf die Visitenkarte, auf der sich das Logo der Region Hannover befindet. Stelter wirft interessiert einen Blick darauf.
Die Visitenkarte gehört Dr. Mark Seifert, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes.
„Die Tote war also möglicherweise psychisch krank. Aber dazu wird mir Herr Dr. Seifert später sicherlich mehr erzählen können“, äußert der Hauptkommissar und sieht Andrea auffordernd an. „Im Nachbarhaus wartet doch die Zeitungsausträgerin, die die Tote gekannt haben soll. Lass uns zu ihr rüber gehen.“
„Momentan zweifle ich noch, ob das psychische Befinden des Opfers irgendwelche Hinweise zur Aufklärung des Verbrechens liefern kann“, seufzt Andrea. „Möglicherweise war Claudia Faber nur zufällig vor Ort, als skrupellose Täter in ihr Haus einbrachen. Dabei hätte es genauso gut eines der Häuser in der Nachbarschaft treffen können.“
„Vielleicht hast du recht, aber ich möchte trotzdem das volle Programm durchziehen. Es ist nur ein Gefühl ...“
„Schon gut“, entgegnet Andrea und kratzt mit der rechten Hand in ihren langen braunen Haaren. „Du bist schließlich der Mann mit der langjährigen Erfahrung bei der Mördersuche.“
„Stimmt“, ist Stelters kurzer und emotionsloser Kommentar.
Danach nicken der Hauptkommissar und seine Kollegin den Umstehenden zu und verlassen den Tatort.
*
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, stößt Martina Tegeder zum wiederholten Mal hervor. Sie sitzt zusammengesunken auf einem Sessel im Wohnzimmer des Nachbarhauses, welches dem Ehepaar Kaiser gehört.
Thomas Stelter und Andrea Renner sitzen Martina gegenüber. Nur zu gut können sie die Betroffenheit der Zeitungsausträgerin, die die Ermordete über Jahre gekannt hat, verstehen.
Herr und Frau Kaiser, zwei rüstige Rentner, haben der Polizei bereitwillig ihr Wohnzimmer für das Gespräch mit Martina überlassen. Möglicherweise wegen des Altersunterschieds hat es zwischen den Nachbarn nie nennenswerte Berührungspunkte gegeben. Eine hohe Hecke trennt die beiden Grundstücke. Vom Einbruch in das Haus von Claudia Faber haben die Kaisers nichts bemerkt.
Erstaunlicherweise weiß die Zeitungsausträgerin mehr als die unmittelbaren Nachbarn über die Ermordete zu berichten.
„Frau Faber hat für einen ambulanten Pflegedienst in Hannover gearbeitet. Früher war sie Krankenschwester in einer Klinik. Vor vier Jahren ist sie mit ihrem Mann nach Wilkenburg in dieses Haus gezogen“, berichtet Martina, wobei sie ein erneutes Weinen unterdrückt.
„Wann ist ihr Mann verstorben?“, fragt Andrea.
„Mitte letzten Jahres – an Krebs. Die Fabers haben hier immer sehr zurückgezogen gelebt, wollten ihre Ruhe haben. Vielleicht, weil der Mann schon beruflich als Pharmavertreter jede Menge Kontakte pflegen musste.“
„Woher wissen Sie das alles so genau?“, fragt Stelter erstaunt dazwischen.
„Solange ihr Mann noch lebte, haben wir immer nur einige wenige Worte gewechselt. Aber nach seinem Tod ist Frau Faber aufgetaut. Ich bin ja auch nur ein paar Jahre älter als sie. Ich glaube, sie suchte nach einer geeigneten Gesprächspartnerin. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie mich zweimal zu sich nach Hause zum Kaffeetrinken eingeladen. Als Krankenschwester musste sie ja ebenfalls oft früh aus dem Haus. Sie wirkte so niedergeschlagen – und da habe ich die Einladungen angenommen. Eine sehr sympathische Frau, die aber immer eine gewisse Distanz eingehalten hat.“
„Hat sie Kinder?“, fragt Andrea.
„Nein. Aber sie hat mal in einem Nebensatz angedeutet, dass sie gerne welche gehabt hätte.“
„War Frau Faber psychisch krank?“, lautet Stelters nächste Frage.
„Psychisch krank? Na, sehr traurig halt. Sicherlich weil ihr Mann so früh gestorben ist. Bis vor Kurzem hatte sie für einige Wochen ihre Tageszeitung abbestellt. Da war sie wohl in einer Klinik.“
„Wissen Sie, ob sie Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst hatte?“, setzt Stelter nach.
„Das weiß ich nicht.“
„Was haben Sie von Frau Faber in den letzten Tagen mitbekommen?“, lautet die nächste Frage des Hauptkommissars.
„Mir kam sie gestern ängstlicher vor als sonst.“
„Ach“, äußert Stelter mit einem bedeutungsvollen Blick zu seiner Kollegin. „Woran haben Sie das bemerkt? Oder hat Frau Faber etwas Bestimmtes zu Ihnen gesagt?“
„Gestern ist sie zu mir aus dem Haus gekommen, als ich mit der Zeitung kam. Sie wirkte ganz unruhig und meinte nur, dass sie froh sei, dass ich es wäre, der ihr die Zeitung bringt.“ Martina stockt. „Dann hat sie mich spontan für heute Morgen zum Frühstück bei sich eingeladen und ich habe versprochen, die Brötchen mitzubringen. Nur deshalb bin ich hinten in ihren Garten gegangen ...“
Stelter nickt verständnisvoll mit dem Kopf.
„Könnten die Täter etwas Spezielles bei Frau Faber gesucht haben?“, schaltet sich Andrea ein.
„Nein“, antwortet die Zeitungsausträgerin. „Was sollte das auch schon sein!?“
Der Wagen steht unauffällig geparkt an Wilkenburgs Hauptstraße in der Nähe der Bushaltestelle. Der Mann sitzt hinter dem Steuer und liest Zeitung. Gelegentlich schaut er durch die Scheibe des Wagens die Straße entlang. Es ist Vormittag. Er hofft, dass Claudia Faber irgendwann demnächst ihr Haus verlassen wird. Zwar kann er das Haus vom Wagen aus nicht sehen, weil es am anderen Ende einer Nebenstraße liegt. Aber wenn die Frau in den Ort will oder mit dem Bus nach Hannover, muss sie hierher zur Hauptstraße kommen. Er weiß, dass Claudia schon seit Wochen nicht mehr selbst Auto fährt. Ihr Haus hat er bereits unbemerkt von außen in Augenschein genommen.
Er hat die Geduld, die sein Vorhaben benötigt. Da er weitab von ihrem Haus parkt, wird ihn später niemand mit ihr in Verbindung bringen.
Schließlich ist es so weit. Rechts aus der Nebenstraße kommt Claudia Faber, überquert die Hauptstraße und geht zur Bushaltestelle. In dieser Richtung fährt der Bus nach Hannover. Die Frau ist mit einer Jacke und Jeans bekleidet. Über der rechten Schulter trägt sie eine Handtasche. Durch die Frontscheibe sieht der Mann nach einigen Minuten den Bus vom Nachbarort Arnum kommen. Der Bus hält, lässt Claudia und eine Frau mit einem Kinderwagen einsteigen und fährt weiter.
In aller Ruhe startet der Mann seinen Wagen, wendet auf der Hauptstraße und fährt dem Bus hinterher. Nur noch vier Stopps bis zur Endstation. Die nächste Haltestelle ist bereits in Hannover. Als Claudia nicht am großen Einkaufsmarkt aussteigt, ist klar, dass sie bis zur Endstation durchfährt, wo sie in die Stadtbahn umsteigen kann. Der Mann überholt den Bus und fährt voraus. In der Nähe der Endstation „Am Brabrinke“, vor dem eingezäunten Gelände eines Technologiekonzerns, findet er problemlos einen Parkplatz. Von dort schlendert er zur vierspurigen Hildesheimer Straße, die sich in nordwestlicher Richtung ganz bis Hannover-Mitte zieht. Er stellt sich zu einer Gruppe von Wartenden an der Stadtbahnhaltestelle. Da taucht bereits Claudia auf und steuert ebenfalls auf die Haltestelle zu. Sie will also wirklich in die City. Seine Einschätzung war richtig. Er dreht der Frau den Rücken zu, als sie an ihm vorbeigeht.
Zwei Minuten später hält die Stadtbahn neben ihnen. Claudia steigt vorne in den zweiten Wagen, der Mann nimmt den mittleren Einstieg. Kein Problem einen Sitzplatz zu bekommen. Die meisten Fahrgäste sind mit sich selbst beschäftigt oder kommunizieren mit der Außenwelt über ihr Smartphone. Claudia sitzt mit dem Gesicht in Fahrtrichtung. Der Mann steht einige Meter hinter ihr. Er beobachtet sie, ohne dass sie etwas davon bemerkt. Nach fünf Haltestellen taucht die Stadtbahn in den unterirdischen Tunnel ein. Eine rothaarige Frau Mitte vierzig hat sich Claudia gegenübergesetzt. Der Mann ist irritiert, als die Frau anfängt, ihn kritisch zu mustern. Er geht einige Schritte nach hinten, behält aber Claudia im Blick. Nach dem Halt an der zweiten U-Bahn-Station steht die Rothaarige langsam auf und kommt auf ihn zu.
Verdammt, was will die Alte von mir?, ist sein erster Gedanke.
Er dreht sich nach hinten, als würde er sie nicht bemerken. Die Frau bleibt neben ihm stehen.
„Was starren Sie mich eigentlich so an?“, sagt sie mit energischem Tonfall.
Ein Aufsehen ist das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. „Mach ich doch gar nicht“, antwortet er mit unterdrückter Stimme.
Fehlt nur noch, dass sich Claudia umdreht und sich sein Gesicht einprägt! Er guckt bewusst nach hinten.
„Natürlich, hab ich doch gesehen!“, setzt die Frau nach und scheint Gefallen an dem Aufruhr zu finden. Sie scheint ihre vermeintliche Überlegenheit auszukosten.
Bekommst wohl sonst nicht genug Aufmerksamkeit, du blöde Schlampe, sagt er in Gedanken zu sich. An anderer Stelle hätte er sie umgehend zum Schweigen gebracht.
So bringt er nur unter großer Selbstbeherrschung hervor: „Nein, Entschuldigung. Das muss ein Irrtum sein.“
Er merkt, dass der Wagen zum Stillstand gekommen ist. U-Bahn-Station „Schlägerstraße“. Er wagt einen flüchtigen Blick nach vorne. Claudia sitzt nicht mehr auf ihrem Platz. Sie muss gerade in dem Moment ausgestiegen sein, als ihn die Rothaarige abgelenkt hat.
„Scheiße!“, stößt er wütend hervor. Die streitlustige Frau wirkt von dem abrupten Tonfallwechsel merklich überrascht. Bevor sich die Türen wieder schließen, huscht er gerade noch auf den Bahnsteig. Die U-Bahn-Station hat Aufgänge in zwei verschiedene Richtungen. In welche Richtung ist Claudia gegangen? Da sieht er sie auf einer Treppe nach oben gehen. Na also, kein Problem! Langsam strebt er auf die Treppe zu und folgt ihr.
Der Aufgang führt zur belebten Hildesheimer Straße. Hier reiht sich auf beiden Straßenseiten ein Einzelhandelsgeschäft an das andere. Claudia geht zielstrebig Richtung Innenstadt.
An der nächsten Ecke ist die Traditionsbuchhandlung „Erich W. Hartmann“. Dort biegt Claudia rechts in die Weinstraße ein. Gleich am Anfang der Straße befindet sich ein älteres gelbes dreistöckiges Gebäude – das Gesundheitsamt der Region Hannover. Vor dem Eingang steht eine Gruppe jüngerer Leute, möglicherweise südosteuropäischer Herkunft. Vier Stufen führen zum Eingang mit einer Glastür. Der Mann sieht, wie Claudia das Gebäude betritt. Im Gesundheitsamt ist vormittags viel Betrieb. Um diese Zeit finden zahlreiche amtsärztliche Untersuchungen und die Belehrungen für den hygienischen Umgang mit Lebensmitteln statt. Der Mann weiß, dass es im Gesundheitsamt keine Videoüberwachung gibt.Er will später auf keinen Fall auf einem Überwachungsfilm als Verfolger der Frau identifiziert werden. Der Vorraum im Erdgeschoss ist mit einer kleinen Gruppe von Besuchern gefüllt. Hier fällt er überhaupt nicht auf. Vom Vorraum geht links ein Gang ab, lang und schmal. Dem Mann ist bekannt, dass sich hinter den zahlreichen Türen auf beiden Seiten des Ganges die Untersuchungszimmer der Amtsärzte befinden. Die Stuhlreihen auf dem Gang sind für die Wartenden. Claudia ist gleich vor der ersten Tür rechts stehengeblieben und hat geklopft. Ohne eine Reaktion von innen abzuwarten, öffnet sie mit einem Ruck die Tür. Dahinter ist offenbar ein Vorzimmer mit Sekretärin.
Claudias Bewegungen wirken auf einmal hektisch, als sie den Raum betritt.
„Mein Name ist Claudia Faber. Ich möchte Herrn Dr. Seifert sprechen ... es ist sehr wichtig. Wir kennen uns von früher.“
Danach zieht sie die Tür hinter sich zu.
Der Mann registriert, dass dieses Büro nicht zum Amtsärztlichen Dienst gehört. Es ist das Vorzimmer des Leiters des Sozialpsychiatrischen Dienstes.
*
Sonja Mock, eine freundliche, aber resolute Frau um die vierzig, ist die zentrale Schaltstelle im Sozialpsychiatrischen Dienst. Als Sekretärin im Vorzimmer des Leiters hat sie wesentlichen Einfluss darauf, wer mit welchen Anliegen zum Chef durchdringt – ob überhaupt oder zumindest mit welchem zeitlichen Vorlauf. Dabei hat sie ein ausgezeichnetes Gespür entwickelt, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Ohne sie würde ihr Chef an manchen Tagen gar nicht mehr zu seiner originären Arbeit kommen.
Sonja blickt überrascht von ihrem Schreibtisch auf die blonde Frau, die unvermittelt im Vorzimmer auftaucht. Die Besucherin scheint sich einige Sekunden im Raum zu orientieren, dann steuert sie auf die Durchgangstür zum Chef zu, wechselt dabei in einen vertraulichen Tonfall: „Ich vermute, Mark hat dort sein Büro.“
Sofort springt Sonja Mock auf und stoppt das weitere Vorgehen der Frau mit einer energischen Ansage:
„Moment, Frau Faber! So geht das nicht. Sie können nicht einfach ohne Voranmeldung bei Herrn Dr. Seifert hereinplatzen!“
Den Namen „Claudia Faber“ hat ihr Chef noch nie erwähnt. Die Sekretärin deutet auf einen Stuhl: „Bitte nehmen Sie erst einmal Platz, Frau Faber. Um was für eine Angelegenheit geht es denn grundsätzlich?“
„Das kann ich nur Mark persönlich sagen. Möglicherweise ist mein Leben bedroht. Er kennt mich allerdings noch unter meinem Mädchennamen: Gundlach.“
Auf Sonja macht die Frau neben aller Hektik tatsächlich einen hilfsbedürftigen Eindruck.
„Na, mal sehen, was ich für Sie tun kann“, äußert Sonja in deutlich ruhigerem Tonfall und greift zum Telefonhörer.
Es gibt Tage, da stinkt mich diese Schreibarbeit absolut an. Stellungnahmen für politische Ausschüsse, Beantwortung obskurer Anfragen, Prognosen zum Finanzhaushalt des Sozialpsychiatrischen Dienstes, Beurteilungen von Mitarbeitern oder Ausarbeitung psychiatrischer Gutachten. Da wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine Unterbrechung und die Auseinandersetzung mit Menschen aus Fleisch und Blut. An meinem Schreibtisch kämpfe ich am PC mit einem Text zur Verbesserung der alterspsychiatrischen Versorgung in der Region Hannover. Natürlich wichtig und supereilig.
Das Telefon klingelt. Ich schöpfe Hoffnung, dass meine Sekretärin mir einen akzeptablen Grund zur Unterbrechung meiner Arbeit liefert.
„Ja, Mockie, was gibt’s?“, frage ich erwartungsvoll in den Hörer.
„Chef, entschuldigen Sie, dass ich störe“, vernehme ich Sonja Mocks freundliche Stimme. „Hier im Vorzimmer sitzt eine Frau Claudia Faber, die Sie gerne dringend wegen einer persönlichen Angelegenheit sprechen möchte. Frau Faber sagt, dass Sie sich von früher persönlich kennen – allerdings noch unter dem Namen ‚Gundlach‘. Ich habe ihr schon gesagt, dass Sie momentan sehr beschäftigt sind.“
Claudia Gundlach – ich bin am Überlegen. Etwa die Krankenschwester, mit der ich vor über zehn Jahren in der Klinik zusammengearbeitet habe?
„Hat Frau Gundlach gesagt, aus welchem Zusammenhang wir uns kennen?“, möchte ich wissen.
Hat sie offenbar nicht, aber Mockie bekommt das sofort mit einer Nachfrage heraus. Es ist tatsächlich die Claudia Gundlach, die ich auch vor Augen habe.
„Es scheint ja wirklich wichtig zu sein. Ich unterbreche kurz meine Arbeit und spreche mit ihr“, verkünde ich gönnerhaft.
Vielleicht hätte ich mich vor Mockie bezüglich der Arbeitsunterbrechung etwas mehr zieren sollen, denn so hat sie meine Motivation offenbar sofort durchschaut, als sie besorgt mitteilt: „Tut mir echt leid, Chef, wenn die Schreibarbeiten Sie wieder erdrücken.“
Mockie bleibt wirklich nichts verborgen, und ihre Anteilnahme ist ehrlich gemeint.
Ich gehe zur Durchgangstür und öffne sie. Im Vorzimmer sehe ich eine blonde Frau sitzen, die ich gleich wiedererkenne, obwohl wir uns seit Jahren nicht mehr über den Weg gelaufen sind. Mit großen Augen mustert sie mich aufmerksam.
„Hallo, Claudia“, begrüße ich sie.
Sie erhebt sich und kommt zwei Schritte auf mich zu:
„Hallo, Mark. Schön, dass du Zeit für mich hast.“
Ich bitte sie, am runden Tisch in meinem Büro Platz zu nehmen. Dann schließe ich die Verbindungstür zu meinem Vorzimmer und setze mich zu ihr.
Claudia schaut mich erwartungsvoll an, reibt nervös ihre Hände aneinander.
„An deinem neuen Namen sehe ich, dass du inzwischen geheiratet hast“, sage ich als allgemeine Eröffnung des Gesprächs.
„Ja. Patrick Faber, den Pharmavertreter, der uns immer im Krankenhaus besucht hat. Aber er ist letztes Jahr an Krebs gestorben. Ich bin immer noch nicht drüber hinweg.“
Tränen laufen ihre Wangen hinunter.
„Du machst einen ziemlich angeschlagenen Eindruck. Was kann ich für dich tun?“, frage ich, während ich vergeblich nach einem Taschentuch für Claudia suche.
Sie wischt sich mit der Hand durchs Gesicht.
„Ich brauche dringend deinen Rat als Unterstützung. Ich werde verfolgt ... und ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Wer verfolgt dich – und warum?“
„Ich habe keine Ahnung ... weder wer es ist noch aus welchem Grund ...“
„Und seit wann fühlst du dich verfolgt?“
Claudia hat bei meinem letzten Satz die Augenbrauen hochgezogen: „Ich habe nicht nur das Gefühl, dass ich verfolgt werde, sondern ich werde wirklich verfolgt. Es hat irgendwann angefangen, als ich aus der Klinik entlassen wurde.“
So richtig weiß ich nicht, wie ich Claudias Äußerungen einschätzen soll. Sie kommt mir bedrückt und ängstlich vor.
„Hast du gerade deinen Arbeitsplatz in der Klinik verloren? Und was genau ist dir passiert?“, versuche ich etwas Klarheit zu gewinnen.
Claudia nickt verstehend: „Nein, ich habe nicht in der Klinik gearbeitet, sondern ich war dort als Patientin. Aber am besten, ich fange ganz von vorne an.“
„Das ist gut. Ich habe Zeit, dir zuzuhören.“
„Ich arbeite schon seit vielen Jahren nicht mehr im Krankenhaus. Das war nichts mehr für mich. Jetzt bin ich bei einem ambulanten Pflegedienst. Mit Patrick habe ich bis vor vier Jahren in Alfeld gewohnt, danach sind wir in ein Haus in Wilkenburg gezogen. Er hatte in seiner Firma die Sparte gewechselt und nichts mehr mit Psychiatrie zu tun.“ Sie stockt kurz. „Nach Patricks Tod bin ich zunehmend in eine depressive Krise gerutscht. Außer ihm hatte ich in Wilkenburg praktisch niemanden. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt, bis es nicht mehr ging. Dann bin ich auf Drängen meines Hausarztes in stationäre psychiatrische Behandlung gegangen.“
„In welcher Klinik warst du?“
„Dr. Ludendorff ...“
Die psychiatrische Klinik Dr. Ludendorff liegt in Ilten, einem kleinen Ort südöstlich von Hannover. Aktuell beschäftige ich mich sehr intensiv mit dieser Klinik.
„Warum hast du dich nicht schon früher bei mir gemeldet?“, möchte ich wissen.
„Es war mir peinlich, plötzlich selbst als Patientin zu dir zu kommen.“
„Warst du mit der Behandlung in der Ludendorff-Klinik zufrieden?“
„Ja. Die Medikamente und die Gespräche haben mir geholfen. Und ich war ganz überrascht, dass ich dort Ronald wiedergetroffen habe. Ich wusste gar nicht, dass er dort arbeitet.“
„Ronald Dannenberg?“
„Richtig. Er ist da jetzt Oberarzt in der Allgemeinpsychiatrie. Na ja, das Wiedersehen war nicht nur angenehm ... Aber durch ihn bin ich wieder auf dich gekommen.“
Dr. Ronald Dannenberg – noch länger als ich Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie – hat mehr Verbindungen zu mir, als Claudia wissen kann.
„Wann bist du aus der stationären Behandlung entlassen worden?“
„Vor anderthalb Wochen. Ich nehme jetzt noch regelmäßig ein Antidepressivum, das mir der Hausarzt weiterverordnet hat. Der hat mich auch noch krankgeschrieben.“
„Und wie ging es nach der Klinikentlassung weiter?“
„Danach fing es an. Erst hatte ich nur eine Ahnung, dass mich jemand verfolgt. Dann wurde ich in Hannover in einer Menschenmenge von hinten angefasst. Zwei Hände schoben sich über meine Taille. Ich war so erschrocken, dass ich weggelaufen bin, ohne mich umzudrehen.“
„Gab es weitere Vorfälle?“
„Abends bei einem Spaziergang in Wilkenburg ... in der Nähe des Friedhofs ... hörte ich plötzlich ein Stöhnen. Dann rief jemand mit heiserer Stimme mehrfach das Wort ‚Tod’. Ich bin sofort nach Hause. Als ich später im Bett lag, hat jemand mehrere Steinchen an das Fenster meines Schlafzimmers geworfen.“
Was soll ich davon halten? Claudia ist gerade wegen einer handfesten depressiven Störung aus dem Krankenhaus entlassen worden. Zu Hause steht sie mit allem allein da. Da wäre es doch nur verständlich, wenn sie auf ihr Umfeld äußerst sensibel reagiert und Geschehnisse überinterpretiert. Lassen sich die geschilderten Vorfälle nicht als relativ harmlos erklären?
„Kann sich da jemand einen Spaß erlaubt haben?“, biete ich vorsichtig an.
„Das war kein Spaß. Das war richtig bedrohlich!“, stellt Claudia energisch fest, wobei sie mit beiden Händen und Unterarmen heftig gestikuliert. „Ich merke, dass ich überall beobachtet und verfolgt werde. Ich habe solche Angst, dass ich mich fast gar nicht mehr aus dem Haus traue.“
Klingt wie ein beginnender Verfolgungswahn.
„Mark, manchmal glaube ich, da will mich einer umbringen!“
Ich erkenne Verzweiflung in ihrem Gesicht.
„Wer sollte denn ein Interesse haben, dir etwas anzutun?“
„Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Aber ich weiß es nicht! Was soll ich jetzt machen?“
„Hast du darüber mit der Polizei gesprochen?“
„Nein. Da würde man mich als überspannte Person nur abweisen.“
„Einen verständnisvollen Ansprechpartner könntest du in dieser Situation tatsächlich gut gebrauchen. Bist du eigentlich bei einem niedergelassenen Psychiater in Behandlung?“
„Nein, bisher nicht. Dauert auch so lange, bis man dort einen Termin kriegt. Deswegen bin ich zu dir gekommen.“
„Ich denke, dass du die Unterstützung des Sozialpsychiatrischen Dienstes momentan wirklich gut gebrauchen kannst. Auf jeden Fall werde ich die für Wilkenburg zuständige Sozialpsychiatrische Beratungsstelle in Laatzen informieren. Die Mitarbeiter sollen in den nächsten Tagen Kontakt zu dir aufnehmen.“
„Ich weiß nicht, ob ich es wegen der Angst schaffe, die Beratungsstelle in Laatzen aufzusuchen.“
„Kein Problem. In solchen Fällen machen die Mitarbeiter auch Hausbesuche. Und wenn du nicht mehr weiterweißt, kannst du dich außerdem jederzeit an mich wenden.“
Zur Bestätigung drücke ich Claudia meine dienstliche Visitenkarte in die Hand, die sie mit einem Lächeln annimmt.
„Danke, das ist lieb von dir, Mark.“
Zum Schluss wechseln wir noch einige Sätze über ein unverfängliches Thema, was Claudia auf andere Gedanken bringen soll. Bei unserer Verabschiedung begleite ich sie bis zum Durchgang zu Mockies Büro: „Ich hoffe, dass es dir merklich besser geht, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“
Der Mann sitzt im Gang auf einem Stuhl ganz in der Nähe der Bürotür. Neben den anderen Wartenden fällt er in keiner Weise auf. Nachdem er ungefähr eine halbe Stunde dort ausgeharrt hat, wird die Bürotür von innen geöffnet. Claudia erscheint im Türrahmen, bleibt stehen und blickt sich noch einmal um.
„Und? Können Sie den Heimweg etwas beruhigter antreten?“, fragt offenbar die Sekretärin.
„Ja, danke, Frau Mock“, antwortet Claudia. „Mark sorgt dafür, dass mich seine Mitarbeiter der Beratungsstelle Laatzen in den nächsten Tagen zu Hause besuchen.“
Der Mann dreht seinen Kopf zur Seite und tut so, als ob er gleich in ein großes Taschentuch schnauben müsse. Claudia wechselt noch einige Sätze mit Frau Mock. Die Information ist interessant: Claudia erwartet Mitarbeiter einer Beratungsstelle, mit denen sie bisher noch nichts zu tun hatte. In den nächsten Tagen. Daraus sollte sich etwas machen lassen.
Er hört, wie Claudia die Bürotür von außen schließt und Richtung Ausgang geht.
*
Der Mann wartet noch zwei Minuten, dann verlässt er ebenfalls das Gesundheitsamt, ohne Claudia weiter zu verfolgen.
Mit der U-Bahn geht es zurück an den südlichen Stadtrand, wo sein Wagen auf ihn wartet. Eine halbe Stunde später sitzt er in seiner Wohnung vor dem PC. Im Internet besucht er die Seiten des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Er überfliegt einige Texte, sieht sich die Bilder der Beratungsstellen an.
Der Sozialpsychiatrische Dienst verfügt neben der Zentrale im Gesundheitsamt über insgesamt zwölf Beratungsstellen, die sich auf die Landeshauptstadt und fünf Städte des Umlands verteilen. Die dort tätigen Ärzte, Sozialarbeiter und Krankenpfleger versorgen in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet diejenigen psychisch Kranken, die nicht ausreichend vom kassenärztlichen System erreicht werden. Es geht um die Beratung und Behandlung von Notfallpatienten und chronisch Erkrankten. Leiter des Dienstes und damit Chef von ungefähr siebzig Mitarbeitern ist Dr. Mark Seifert. Träger des Dienstes ist die Region Hannover, ein Zusammenschluss von Stadt und Landkreis. Für die Versorgung des südlichen Umlands – und damit für Wilkenburg – ist die Sozialpsychiatrische Beratungsstelle in der Stadt Laatzen zuständig. Die Namen einiger dort tätiger Mitarbeiter bekommt er schnell heraus. Bei Hausbesuchen wird wahrscheinlich selten ein Dienstausweis verlangt. Trotzdem sollte ein Regionsmitarbeiter im Außendienst immer einen Dienstausweis dabeihaben. Aber wer von denjenigen Klienten, die sich einen Dienstausweis zeigen lassen, weiß überhaupt, wie ein echter aussieht?
Der Mann geht auf Nummer sicher und fertigt einen solchen Ausweis für sich an. Dabei lässt er seiner kreativen Fantasie freien Lauf.
Sein Plan nimmt nach und nach Gestalt an. Jetzt hat er vor Augen, wie er konkret vorgehen muss. Morgen wird er Claudia Faber von ihrem erbärmlichen Dasein erlösen.
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