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Dieses Lehrbuch ist eine überarbeitete Fassung des Lehrbuches ›Das Innere Taijiquan‹ von 2011. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens war Atemtyp Tai Chi gerade fünf Jahre in der Taiji Akademie erprobt worden. Heute, über zehn Jahre später, sind in der Arbeit der Taiji Akademie immer mehr Erkenntnisse hinzugekommen, sodass eine Überarbeitung erforderlich wurde. Dieses Buch ist die ideale Ergänzung zu den Lernvideos auf der Website (https://online.tai-chi.academy/) nach denen jede/r allein lernen und üben kann. Natürlich ist es auch ein Begleitbuch auf dem traditionellen Tai-Chi-Weg, auf dem Schüler vom Lehrer persönlich lernen, also in Präsenz. Und besonders Motivierte könnten nach diesem Buch auch autark lernen. Möchten Sie Ihren individuellen Atemtyp wissen? Den können Sie aus der Tabelle erfahren, die sich im hinteren Teil des Buches befindet, oder auch im Internet finden: www.terlusollogie.de.«
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2024
Atemtyp Tai Chi
Die lange Yang-Form
Lehrbuch mit Anleitungen
Frieder Anders
Atemtyp Tai Chi
Die lange Yang-Form
Lehrbuch mit Anleitungen
Copyright © 2024 Frieder Anders
Lektorat von: Susanne Klein
Coverdesign von: Matthias Emde
Satz & Layout von: Matthias Emde
Coverfotografien von: © Axel Gaube (Autorenfoto)
Druck und Distribution im Auftrag der Autoren:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autoren verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autoren, zu erreichen unter: Frieder Anders, Homburger Landstraße 120A, 60435 Frankfurt am Main, Germany. www.taijiakademie.de
ISBN: 978-3-384-44020-4
Dank an
Udo Bittner, Sibel Cirsi, Axel Deist, Roswita Greulich, Marion Hartung, Jutta Lessmann, Dardo Lessmann, Rainer Weffer.
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Atemtyp Tai Chi Die lange Yang-Form Lehrbuch mit Anleitungen
Frieder Anders Atemtyp Tai Chi Die lange Yang-Form Lehrbuch mit Anleitungen
Copyright © 2024 Frieder Anders
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1: Was heißt Tai Chi?
Kapitel 2: Der Weg des Tai Chi Chuan
Kapitel 3: Die Lehre von den Atemtypen
Kapitel 4: Tai Chi Chuan und Atem
Kapitel 5: Stehen und Gehen – Verwurzelung und Aufrichtung im Inneren Tai Chi Chuan und im Qigong
Kapitel 6: Verwurzeln – praktisch
Kapitel 7: Mein Tai-Chi-Weg
AtemtypTai Chi für lunare Einatmer
Tai-Chi-Yang-Form für lunare Einatmer
Teil 2 der Form (›Himmel‹)
Teil 3 der Form (›Mensch‹)
Atemtyp Tai Chi für solare Ausatmer
Tai-Chi-Yang-Form für solare Ausatmer
Teil 2 der Form (›Himmel‹)
Teil 3 der Form (›Mensch‹)
Berechnungstabellen für Atemtypen
Anhang
Frieder Anders
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
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Abbildungsverzeichnis
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Vorwort
Dieses Lehrbuch ist eine überarbeitete Fassung des Lehrbuches Das Innere Taijiquan von 2011. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens war Atemtyp Tai Chi gerade fünf Jahre in der Taiji Akademie erprobt worden. Heute, über zehn Jahre später, sind in der Arbeit der Taiji Akademie immer mehr Erkenntnisse hinzugekommen, sodass eine Überarbeitung erforderlich wurde.
Dieses Buch ist die ideale Ergänzung zu den Lernvideos auf der Website online.tai-chi.academy und www.taijiakademie.de, nach denen jede/r allein lernen und üben kann.
Natürlich ist es auch ein Begleitbuch auf dem traditionellen Tai-Chi-Weg, auf dem Schüler vom Lehrer persönlich lernen, also in Präsenz. Und besonders Motivierte könnten nach diesem Buch auch autark lernen.
Möchten Sie Ihren individuellen Atemtyp wissen? Den können Sie aus der Tabelle erfahren, die sich im hinteren Teil des Buches befindet, oder auch im Internet finden: www.terlusollogie.de oder www.einatmer.de
Frieder Anders, Dezember 2023
Einleitung
Tai Chi Chuan (oder Taijiquan) ist keine Entspannungstechnik. Wird es so verstanden und praktiziert, wirkt es vielleicht entspannend, aber sein Kern, der es so einzigartig macht, wird verfehlt. Entspannung – besser: Lockerheit – ist der Weg, zu diesem Kern zu gelangen: zu Tai Chi oder Tai Chi Chuan als einem ganzheitlichen Weg zu sich selbst. Es ist Körpertherapie, weil es einen lehrt, die eigene Haltung und Bewegung zu verbessern und dadurch Krankheiten und Beschwerden, die durch »Fehlhaltung« bedingt sind, zu lindern und zu heilen. Es ist »Energiearbeit«, weil seine Bewegungen den Fluss der inneren Energie Qi freilegen und aktivieren. Es ist praktizierte Spiritualität, weil es den eigenen Individuationsprozess vom Ich zum Selbst durch die Erfahrung erweitert, Bestandteil des Kosmos zu sein. Es ist ein Weg der Selbstbehauptung, der nicht auf Kosten anderer realisiert wird, sondern mit der Entwicklung eines »Spürbewusstseins« einhergeht, das gleichermaßen Eigenes und Fremdes zu unterscheiden und anzuerkennen lernt. Es ist ein Weg zur inneren Kraft, die die eigene Aggressivität transformiert und umwandelt in eine reale Kraft, die ohne willkürliche Muskelanspannung und Einsatz des Körpergewichts andere abwehren kann, ohne sie verletzen zu müssen. Es ist ein Weg, um ein »energetischer Mensch« zu werden.
»Der energetische Mensch empfindet kein Bedürfnis, sich Menschen und Dingen aufzuzwingen und einzuprägen. Er lebt aus dem erregenden Gefühl, dass Menschen und Dinge auf ihn zukommen und ihn ‚in das Abenteuer der Erfahrung verwickeln’ (Sloterdijk). Er liefert sich nicht aus, sondern lässt geschehen. Er stimmt dem zu, was sich ereignet. Er weiß, dass es unmöglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen (Heraklit), und hält sich frei und verfügbar. Er kommt dem schläfrigen Widerstand zuvor und ist von entspannter Wachheit. Weil er Menschen nicht festhält, gedeihen seine Beziehungen. Weil er nichts erreichen will, gelingt ihm vieles. Er zielt nicht darauf ab, eine originelle Persönlichkeit zu sein; vielmehr liegt ihm an Verständigung und Beziehung. Und doch prägt sich gerade in ihm das Leben auf eigentümliche Art aus.« (Schellenbaum 2011, S. 120)
Kapitel 1: Was heißt Tai Chi?
Wer kraft seiner Tugend herrscht, gleicht dem Polarstern. Der verweilt an seinem Ort und alle Sterne umkreisen ihn.
Konfuzius
Zwischen Erde und Himmel
Im Weltbild des chinesischen Altertums gruppierten sich die Sternbilder um den Polarstern als Mittelpunkt des Himmels: Dieser zirkumpolare Bereich wurde als das (unbewegliche) Zentrum des Himmels, als Himmlischer Palast, angesehen, um welches – analog zur Erde – die vier Himmelsrichtungen festgelegt waren.
Die Architektur der irdischen Paläste folgte einerseits dem Vorbild des Himmlischen Palastes, stellte aber auch die Verbindung von Himmel und Erde her, indem diese entlang der Weltachse konstruiert wurden: »Bis in die Tiefe der Erde vorstoßend und bis zum Höchsten First (huangchi) [auch Tai Chi genannt, F. A.] reichend schien der Palast zur Achse des Kosmos geworden zu sein.« (Granet 1963, S. 266)
Dabei spielte ein Werkzeug eine wichtige Rolle: der Gnomon, chinesisch tianrigui . »Der Gnomon (von griechisch γνώμων Gnomon Schattenzeiger) ist ein bereits vor der Antike bekanntes astronomisches Instrument in der Form eines senkrecht in den Boden gesteckten hölzernen Stabes. Vom Holzstab als Schattenzeiger aus ging die Entwicklung bis zur gelegentlichen einschlägigen Verwendung eines Obelisken. Der Sonnenschatten seiner Spitze wird beobachtet, um astronomische Größen zu bestimmen.« (https://de.wikipedia.org/ wiki/Gnomon)
Der Gnomon wurde als Teil der Weltachse verstanden und spielte nicht nur in der Astronomie eine wichtige Rolle, sondern diente auch als gestaltendes Element beim Aufbau der irdischen Welt. Mit ihm wurde der Mittelpunkt einer zu gründenden Stadt bestimmt, und Gelehrte berechneten damit und mithilfe des rechtwinkligen Dreiecks die Maße des Himmels.
Yin und Yang
Der Gnomon erhebt sich nach diesem Verständnis exakt im Mittelpunkt des Universums und bestimmt den Mittagspunkt, also den Augenblick, an dem alles den kürzesten Schatten wirft. Er ist der unbewegte Angelpunkt, um den herum Licht und Schatten kreisen, die den Wechsel der Zeit anzeigen. Licht und Schatten – Yang und Yin – werden so symbolisch zu Kategorien, denen alle Erscheinungen des Kosmos zugeordnet sind.
Yang, ursprünglich »extrem hell«, und Yin, »wolkig, trübe«, werden auch abgeleitet von der Lichtsituation an Flüssen oder Hügeln: Die der Sonne zugewandte Seite ist Yang, die abgewandte Yin. Auch für das Bild des Firstbalkens, der das Dach abschließt und trägt, wurde der Begriff »Tai Chi« gebraucht, wobei hier die beiden Dachhälften als Beispiele für Yin und Yang, die im Tai Chi gründen, das Bild noch symbolhafter werden lassen.
»Die chinesische Philosophie postuliert, dass alle Dinge aus zwei komplementären Kräften bestehen. Yin-Kräfte sind solche, die den Organismus stützen und konservieren, die sich ruhig verhalten, kondensieren und konservieren (…) es sind Kräfte, die latent bleiben und darauf warten, organisiert zu werden. Sie stellen das Potenzial des Körper/Geists dar. Yang-Kräfte hingegen sind solche, die hervorbringen und in Bewegung setzen, Transformation und Veränderung bewirken, sich ausdehnen, zusammenbrechen und sich verflüchtigen. Das bedeutet, dass es sich hier um organisierende, dynamische Prinzipien handelt.« (Seem 1994, S. 41)
Yin und Yang, die Einheit der Gegensätze, werden in dem bekannten Symbol dargestellt, das auch »Tai-Chi-Symbol« heißt.
Tai Chi Chuan
Der Name »Tai Chi Chuan« setzt sich zusammen aus dem Begriff »Tai Chi«, der philosophisch die höchste Wirklichkeit bezeichnet und meistens mit »das Höchste Letzte« oder »das Höchste Prinzip« wiedergegeben wird, und dem Wort »Quan« (ausgesprochen »Tschuan«), welches »Faust« bedeutet und die Übersetzung »Faustkampf« oder »Kampf kunst« zulässt; Quan meint aber auch den Ablauf der vorgegebenen Bewegungen − die »Form« − die man im Tai Chi Chuan ausführt. Wörtliche Übersetzungen von Tai Chi Chuan, wie »die Faust des Höchsten Prinzips« sind eher unverständlich. Tai Chi Chuan ist also die Bewegungskunst, die – ursprünglich als Kampfkunst entstanden – nach dem Prinzip des Tai Chi aufgebaut ist.
Drei Kräfte
Für den Menschen im alten China galt, seine Körperhaltung entlang der Weltachse auszurichten und in seinem Tun die Einheit von Yin und Yang zu verwirklichen. Tai Chi Chuan bietet dazu eine Möglichkeit. Begreift man Tai Chi in seiner ursprünglichen Bedeutung als die Weltachse, die Erde und Himmel vom Erdmittelpunkt zum Polarstern verbindet, dann bedeutet, Tai Chi Chuan zu üben, zum einen mit seiner Körperhaltung Erde und Himmel zu verbinden, um Teil dieser Weltachse zu werden, und zum andern mit seinen Bewegungen den Wechsel von Yin und Yang nachzuvollziehen, mit dem Ziel, Teil der Welt und des Kosmos zu werden. Diese Verbindung wird in dem Diagramm »Drei Kräfte« dargestellt.
Qi
Ist der Mensch Teil der »Drei Kräfte«, kann er den eigenen Atem als »Atem des Kosmos«, Qi (ausgesprochen »Tschi«), begreifen.
Qi. Das Zeichen bedeutet ursprünglich: »einen Gast mit Essen bewirten.« Es setzt sich zusammen aus »Wolkendunst« und »Reiskorn« und bezeichnet dann den Aggregatzustand zwischen fest und flüssig: gasförmig, flüchtig. Im Kontext der meditativen Übungen der »Selbstkultivierung«, zu denen auch Tai Chi Chuan gehört, bezeichnet Qi sowohl den Atem wie auch die Lebensenergie, die den Körper durchströmt.
Qi in der Selbstkultivierung
Wohl kein chinesischer Begriff ist so komplex und wird so unterschiedlich gebraucht wie der Begriff »Qi«, ausgenommen vielleicht Dao. Das hat mehrere Gründe. Zum einen hat dieser Begriff in der Geschichte Chinas einen ständigen Bedeutungswandel erfahren. Zum andern ist Qi nicht bloß ein philosophisches Konzept, sondern seine Realität ist »am eigenen Leibe« erfahrbar. Erst durch die Arbeit und Übung der Selbstkultivierung wird es konkret, und unterschiedliche Wege der Selbstkultivierung, die unterschiedlichen Gebrauch von Qi machen, haben auch eine voneinander ganz verschiedene Auffassung von Qi.
Zur Selbstkultivierung oder ganzheitlichen Bildung gehörte im klassischen China die Beherrschung von vier Disziplinen: Wen – literarische Bildung; Wu – Kampfkünste und »Pflege des Lebens« durch Wege wie Tai Chi Chuan und Qigong; Shu – künstlerische Fertigkeiten wie Malen, Musik, handwerkliche Tätigkeiten; De – Übung von Selbstbeherrschung und Tugend.
Das lässt Raum für viele Deutungen: Ist in den chinesischen Texten Qi als Atem gemeint? Oder Qi als Energie? »Der Atem ist die sichtbare Form des Qi, die in stiller Form das Leben erhält. Ohne das Qi gibt es keinen Atem, und ohne Atem würde das Qi zusammenbrechen. Deshalb herrscht hier eine wechselseitige Abhängigkeit.« (Lade 2004, S. 44)
Und drittens gibt es ein Verständnisproblem des Westens: Die Einheit und die Harmonie des Kosmos, wie sie in der Strukturierung des Qi durch die Polarität von Yin und Yang gesehen wird, ist im abendländischen Denken nicht zu finden, zumindest nicht als Paradigma, als alles bestimmendes Muster, welches das Denken und Handeln der Menschen durchzieht.
In einer kleinen Schrift, als »Westinschrift« ( xi ming) bekannt, zeigt der Philosoph Zhang Zai (1020–1077) aus der Song-Dynastie die praktische Bedeutung des »Alles ist Qi«, der Einheit von Leere und materieller Welt. Seine abschließenden Worte in der Westinschrift lauten: »Der Himmel ist mein Vater und die Erde meine Mutter, und selbst solch ein kleines Wesen wie ich findet einen traulichen Platz in ihrer Mitte. Deswegen betrachte ich [alles], was den Kosmos durchzieht, als meinen eigenen Körper, und [alles], was den Körper lenkt, als meine eigene Natur. Alle Menschen sind meine Geschwister und alle Dinge meine Gefährten (…) Besitz, Ehre und Glück dienen der Bereicherung meines Lebens, Armut, niedrige Stellung und Unglück seiner Vollendung. Im Leben will ich [Himmel und Erde] nachfolgen und dienen, im Tode werde ich meinen Frieden finden.« (in: Bauer 1971, S.253/254)
Heute gilt Qi in China als »das Element der Elemente«. Dieses Verständnis von Qi, bereits Ende des 19. Jahrhunderts formuliert, stellt die Grundlage der »Qi-Wissenschaften« dar, die sich in der Volksrepublik China in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben.
Dao
Nach außen, im gesellschaftlichen Leben, Konfuzianer, zu Hause Daoist.
Chinesisches Bonmot
Dao bedeutet »Weg«, meint aber auch die Art und Weise, ein Ziel zu erreichen, also eine Methode.
In den verschiedenen philosophischen und religiösen Lehren, die in den letzten vier Jahrhunderten v. u. Z. entstanden, bildeten sich der Daoismus und der Konfuzianismus als diejenigen Lehren heraus, die die Entwicklung Chinas am stärksten bestimmten. In beiden spielte der Begriff »Dao« eine wichtige Rolle, hatte aber jeweils gegensätzliche Bedeutungen. Konfuzius (551–479) begriff Dao als den Weg des Edlen: den Weg, um ein vollkommener Mensch zu werden und Weisheit zu erlangen.
Die Daoisten dagegen suchten das Dao nicht durch Sich-Einfügen in das »Regelwerk« der Gesellschaft, sondern allein durch das Sich-Einfügen in die Ordnung des Kosmos und durch das Studium der Natur zu erlangen. Sie kritisierten Konfuzius und seine Lehren: »Alles Elend der Welt komme von den Entstellungen, Behinderungen und den Überflüssigkeiten, die der Natur durch die Kultur aufgezwungen wurden und die das Lebensprinzip schwächen.« (Gernet 1988, S. 89)
Tai Chi Chuan ist zutiefst geprägt von den Grundsätzen und Prinzipien, die das chinesische Denken und die Zivilisation mindestens zwei Jahrtausende hindurch bestimmt haben:
1) Es verbindet Himmel und Erde, indem der Ausführende in aufrechter Haltung Teil der Weltachse wird.
2) Es ist aufgebaut aus Bewegungen, die aus Quadrat bzw. Rechtecken und Kreisen und Kugeln bestehen: die Füße gehören zur Erde (die als rechteckig aufgefasst wurde) und bewegen sich daher rechteckig, der Körper gehört zum Himmel, seine Bewegungen bilden Bälle oder Räder.
3) Die Bewegungsformen, die langsam und fließend ausgeführt werden, sind einerseits äußerst präzise, andrerseits stehen sie nicht still, sondern lösen einander ab: Sie sind Abbild des Wandels des Qi, das von einer Form zur anderen übergeht. Sie sind weich und leicht, nicht hart und starr.
4) Alle Körperbewegungen haben einen Mittelpunkt: Das Zentrum des Körpers, sein Schwerpunkt und Energiezentrum liegt im Unterbauch.
5) Es praktiziert und verwirklicht Wu wei: alle Bewegungen folgen dem Prinzip der größten Effektivität und des geringsten Verschleißes. Darüber hinaus wird »Nicht-Eingreifen« sichtbar an den Bewegungen der Arme, die nach einiger Zeit der Praxis »angetriebene« Bewegungen werden, also zu schweben scheinen. Zum andern realisiert Tai Chi Chuan eine Art und Weise der Selbstverteidigung das Prinzip Wu wei, die das Herz des Ausführenden leer sein lässt und unwillkürlich, d.h. spontan geschieht, also ohne den Eindruck von willkürlicher Muskelkraft und Einsatz von Emotion und Affekt vor sich geht.
6) Tai Chi Chuan ist strukturiert nach dem Prinzip von Yin und Yang.
7) Die Bewegungen haben »kein Ziel«, gehen nicht »vorwärts«: Am Ende der Bewegungsfolge steht man wieder auf der gleichen Stelle, an der man begann. Damit wird das archaische Prinzip der zyklischen Zeit verwirklicht – ein gutes Gegenmittel gegen das vorherrschende Fortschrittsdenken heute.
Kapitel 2: Der Weg des Tai Chi Chuan
Ich habe oft den ganzen Tag nicht gegessen und die ganze Nacht nicht geschlafen, nur um zu denken. Es nützte nichts. Es ist doch besser, zu lernen.
Konfuzius
Die tägliche Übung der Tai-Chi-Form kann als (konfuzianisches) Ritual aufgefasst werden, das durch seine Regelmäßigkeit an sich, noch ohne Ansehen der Inhalte, eine heilsame Wirkung entfaltet. Ebenfalls konfuzianisch ist, dass die Form erlernt und ständig verbessert werden will; ersetzt man im obigen Zitat des Konfuzius das Wort »lernen« durch »üben«, erhält man eine brauchbare »Übungsmaxime« für Tai Chi Chuan.
Stellt die äußere Bewegung der Form ihre konfuzianische Seite dar, so ist ihr Inhalt daoistisch, weil sie wesentlich Stille ist und durch den Begriff des »Verlierens« bestimmt wird.
In dem Durchgang durch die Form vollzieht man, symbolisch, den Aufbau der Welt nach und kann, ganz auf die Bewegungen konzentriert, sich selbst vergessen und im »Goldenen Jetzt« aufgehen. Insofern macht es Sinn, von Tai Chi Chuan als »Bewegungsmeditation« zu sprechen.
Die Durchdringung konfuzianischer und daoistischer Elemente stellt jedoch ein Paradox dar: Wie kann man etwas erlernen – also Bewegungen, Fertigkeiten erwerben –, die darauf abzielen, etwas zu verlieren?
Es geht, das Paradox löst sich auf – denn das, was man verliert, ist doch nur das, was unser »natürliches Wesen«, unsere »wahre Natur« und damit die »unerschöpfliche Quelle unsere Lebenskraft« verdeckt und behindert – und das ist stärker als Konventionen.
Das Ende der Form führt zu sich selbst und dem Ausgangspunkt zurück: Man kommt da an, wo man begann. Und damit wird, symbolisch, die daoistische »Rückkehr zum Ursprung« vollzogen.
Die Mitte finden
Dieses Ideal der »Rückkehr zum Ursprung«, das umfassend darzustellen den Rahmen dieses Buches sprengen würde, war bestimmend in den Übungen der »Selbstkultivierung«. Diese Übungen hatten das Ziel, einerseits den Fluss der Lebensenergie Qi im Körper anzuregen, diese Energie aber auch in ihrer Quelle, dem »Meer des Qi« im Unterbauch – der »Erdmitte« des Menschen, wie sie Karlfried Graf Dürckheim (1896–1988) genannt hat –, zu sammeln.
Gleichzeitig ist die »Erdmitte«, der Bauch, aber auch ein zweites Gehirn, wie neuere Forschungen gezeigt haben (vgl. Hasler 2021). Dieses Erbe ist für uns heute von unschätzbarem Wert, denn die Notwendigkeit und der Wunsch, die eigene Lebenskraft in der eigenen Mitte zu sammeln und den Geist zu beruhigen, die Gedanken »herunterzubringen« und das »Bauchgefühl« ernst zu nehmen, sind hierzulande groß.
Zentrum und Körperschwerpunkt
Der Körperschwerpunkt (KPS), wie er physikalisch ermittelt wird, ist der Ort des Energiezentrums Unteres Dantian.
»Der Körperschwerpunkt (KSP) liegt ungefähr in Hüfthöhe. Er ist ein fiktiver Punkt, der Angriffspunkt für die Schwerkraft bei jeder Bewegung ist. Anders als in starren Körpern, verschiebt sich der KSP beim Menschen, je nach Körperposition und Massenverteilung im Körper.« (https://chalkr.de/koerperschwerpunkt. html; zuletzt aufgerufen am 14. Januar 2023)
Wie der KSP sich durch Bewegungen verschiebt, so kann auch das Energiezentrum »verrutschen«, zum Beispiel in die Brust, wo es kulturell bedingt seit langer Zeit bei Menschen im Westen angesiedelt ist.
Zentrum und Körperschwerpunkt
Brust raus, Bauch rein
In der westlichen Kultur gilt die Brust als (Energie-)Zentrum des Menschen, dort sitzen Herz, Wille, Selbstbehauptung, also alles, was das Ego ausmacht. Das Herausstrecken der Brust kann auch ein Ausdruck von Triumph sein; man findet es im Tierreich bei Affen, die sich auf die Brust trommeln. Doch ist dieses Verhalten auch uns Menschen nicht fremd, etwa wenn Fußballer nach dem Torerfolg mit dem Brustkorb gegeneinander springen.
Je älter man wird, desto mehr lässt die Muskelkraft nach, und je höher der Körperschwerpunkt im Oberkörper sitzt, gefördert durch das westliche Ideal des aufrechten Ganges – Bauch rein, Brust raus –, desto »abgehobener« und schwankender wird die Haltung. Dies führt dazu, dass man in seiner Körperhaltung allmählich zusammensackt, wenn das Alter erreicht ist, in dem das kulturelle Idealbild der Aufrichtung »nach oben!« unwichtig wird, weil der Körper sie nicht mehr einlösen kann und sie dem Geist ohnehin egal geworden ist. Das Ergebnis: Die Brust fällt ein, der Bauch nimmt zu, der Rücken wird krumm. Dann sieht man alt aus und muss möglicherweise einen Stock zu Hilfe nehmen.
Anti-Aging
Geschmeidig wie ein Kind, gesund wie ein Holzfäller, gelassen wie ein Weiser durch Tai Chi Chuan.
Sprichwort aus China
Das Zentrum tief, möglichst nah am Boden zu halten und sich so bewegen zu lernen, dass der Rumpf immer gehalten wird, als würde er von einem Bein als Teil einer Achse getragen – das zu erreichen ist der Weg des Tai Chi Chuan. Dazu müssen die Bewegungen langsam, wie in Zeitlupe, ausgeführt und schnelle Bewegungen grundsätzlich vermieden werden, um das Zentrum zu bewahren. Die Körperhaltung, die dadurch gewonnen wird, ist stabil bis ins hohe Alter, weil das Zentrum tief sitzt und nicht »herunterfallen« und den Körper mitziehen kann. Außerdem wird dabei die Lebensenergie an der richtigen Stelle gesammelt, sodass sie von dort den Körper durchströmen kann.
Die Haltung, die man durch Tai Chi gewinnt, baut auf den Füßen auf und bestätigt die natürliche Position des KPS und des Energiezentrums im Hüftbereich.
Natürlich braucht es auch Anstrengung, um sie zu erlangen, aber dies ist eine andere Form der Anstrengung, als sich körperlich zu verausgaben oder »zusammenzureißen«. Im Allgemeinen wird unterschätzt, welch intensiver »Work-out« die Tai-Chi-Bewegungen sind. Körperliche Anstrengung ist nötig, um die Verwurzelung zu finden. Das bedeutet auch immer ein Loslassen in oberen Körperbereichen, denn dazu müssen die Beine und Hüften nun einen Teil der Aufgabe übernehmen, den Rumpf zu tragen, ohne die Pseudohilfe einer verspannten Rumpfmuskulatur, die den Körper zwar zusammenhält, aber verhindert, dass er sich der Erde anvertrauen kann. Diese »Beinarbeit« stärkt den Körper ungemein, kann aber je nach den persönlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten »dosiert« werden.
Und: Alle Bewegungen werden »vom Geist geführt«. Das stärkt den Geist sehr. Er ist gefordert; nur sollte man statt von Willen, dem affektgetränkten Antreiber, der sich nur zu leicht über die wahren Bedürfnisse des Körpers hinwegsetzt, weil er sie nicht kennt oder sogar als »inneren Schweinehund« bekämpft, eher von geistiger Absicht sprechen. Der Begriff »Intentionalität« trifft diese Verbindung von Geist und Tun am besten.
Knie beugen, um zu wachsen
Das Mittel, um den Schwerpunkt abzusenken, ist, natürlich, das Beugen der Knie. Dieses Sinken zur Erde hin wirkt so, als würde man »abtauchen«. Bildlich gesprochen, als würde man sich ausklinken aus der Runde der Aufrechten, die im wahren Leben ihre Sachen verhandeln und ihre Kämpfe Brust gegen Brust ausfechten; immer mit der dort sitzenden Selbstbehauptung in die Bresche schlagend, wie damals Winkelried bei Schiller, der mit seiner Brust die feindlichen Speere aufnahm und den Mitstreitern den Weg frei machte, wovon er dann leider nichts mehr hatte.
Dieses »Hinabsteigen, einen Stock tiefer gehen« in ruhigere Gefilde ist nicht leicht zu beschreiben. Sicherlich darf man den Anteil der Demut, der darin liegt, die Knie zu beugen, auch nicht zu groß werden lassen, weil man sonst diese teilweise Aufgabe des Egos als Antrieb dafür nehmen könnte, nach der Übung – eskapistisch – nicht wieder in die aufrechte Welt zurückzukommen. Eine andere Art der Aufrichtung, aus Demut gewonnen, sollte es schon sein, und zwar eine, die uns erhobenen Hauptes und gestärkt in die aufrechte Welt zurückfinden lässt; vielleicht so etwas wie ein ständiger Ritterschlag – der ja wohl immer knieend empfangen wurde, zwar mit gesenktem Kopf, aber gleichzeitig mit aufrechtem Rumpf –, den man sich selbst gibt.
Kapitel 3: Die Lehre von den Atemtypen
Atmen
Die Atmung ist, wie alles organische Leben, geprägt von Polarität, die die Chinesen mit Yin und Yang bezeichnet haben: offenkundig bei Herzschlag und Atem, die in zwei Phasen pulsieren. Beide Phasen unterscheiden sich, denn eine ist stärker als die andere. Das Herz zieht sich zusammen und löst sich wieder, damit das Blut fließen kann, das Zwerchfell wechselt genauso zwischen An - und Entspannung. Wäre es anders, wären wir nicht lebensfähig.
Atemtyp
Das Zwerchfell kann, anders als das Herz, zwischen starker und schwacher Phase wechseln: Entweder ist das Ausatmen stark (und das Einatmen schwach), oder das Einatmen ist stark (und das Ausatmen schwach).
Diese Entscheidung trifft der Körper im Moment unserer Geburt, und wir tun gut daran, zu entdecken, wo wir hingehören, das heißt, ob wir Einatmer oder Ausatmer sind.
Warum? Weil unser Atemtyp unsere Körperhaltung prägt: Der Atem, der uns beim Einatmen füllt, trägt uns nach oben – wie einen Ballon, der wegfliegen möchte. Und dem Atem, der uns verlässt, folgt unser Körper, als würde der Ballon landen. Nur wenn wir unsere Aktivitäten danach ausrichten, können wir unser volles Potenzial entwickeln.
Durch den Atem die Körperhaltung verändern
Wie soll das gehen? Das geht, indem wir die organische Funktion unseres Atems erspüren, sie »aufgreifen« und in eine bewusste Atemmethode überführen, bei welcher der Körper zuvor in eine Haltung gebracht wird, die es der organischen Funktion des Atems ermöglicht, zu wachsen. Und diese ist eben unterschiedlich: Beim Atemtyp »Ausatmer« ist die Phase des Ausatmens stärker, beim »Einatmer« das Einatmen – und der Körper wird quasi »voreingestellt«. Das klingt abstrakt, deshalb folgen hier ein paar Beispiele für das eigene Üben:
In einer entspannten Haltung, z.B. im Sitzen, die Atemphasen erspüren, also sie geschehen lassen und wahrnehmen. Dabei ist es hilfreich, die beiden möglichen Körperhaltungen (Ausatmer und Einatmer), die andere durch ihre Erfahrungen und Erkenntnisse bereits kennen, versuchsweise einzunehmen. Mit Entdeckung der starken Atemphase (die sich »besser anfühlt« als die schwache) beginnt die bewusste Steuerung der jeweiligen starken Phase. Gleichzeitig wird die schwache Phase vernachlässigt, d. h., dass sie weiterhin von sich aus geschehen soll, also zugelassen, aber nicht gesteuert wird. Damit beginnt der Körper, diese Veränderung anzunehmen, also in eine Haltung »hineinzuwachsen«, die die starke Phase ermöglicht.