Atheistisch glauben - Hartmut von Sass - E-Book

Atheistisch glauben E-Book

Hartmut von Sass

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Beschreibung

Gott ist tot! Nur welcher? Schon lange sind die Traueranzeigen für einen Gott im Umlauf, den wir uns als übermächtigen Agenten oder als souverän existierenden Geist im quasi-raumzeitlichen Jenseits vorstellen. Eine sich atheistisch verstehende Theologie macht gegen alle zeitgenössischen Versuche theistischer Revisionen mit der Grablegung Gottes ernst. Zugleich wendet sie sich gegen Programme, die den religiösen Glauben auf eine moralische Lebensführung, einen seelischen Zustand oder ein ganz bei sich bleibendes Selbstverhältnis reduzieren. Die atheistische Alternative wird sichtbar, wenn der religiöse Glaube als eine konkrete Perspektive auf alles, was uns umgibt, verstanden wird. Nichts Neues jenseits der Welt wird dann behauptet, sondern eine ganz neue Sicht auf diese eine Welt eingeübt. Was das konkret heißen kann, veranschaulicht dieser Essay und macht deutlich, dass der Atheismus nicht den Sinn des Glaubens verneint – im Gegenteil: Atheismus und der Glaube an Gott schließen sich nicht aus. Vielmehr präzisiert der Atheismus, was es mit Gott noch heute auf sich haben kann.

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Atheistisch glauben

Fröhliche Wissenschaft 208

Hartmut von Sass

Atheistisch glauben

Ein theologischer Essay

Vorbemerkung

›Atheistisch glauben‹ scheint nicht viel besser zu klingen als ›fingerlos Geige spielen‹. In der Tat besteht ein Widerspruch zwischen Atheismus und Glaube, solange man ersteres als die Verneinung von zweiterem versteht: Wer Atheist sei, glaube nicht an die Existenz Gottes oder weise gar jeden Sinn religiöser Orientierung ab. Doch leitet der Titel auf eine ganz andere Fährte.1 ›Atheistisch‹ fungiert hier als ein Adverb, das die ›Tätigkeit‹ des Glaubens an Gott näher zu bestimmen versucht. Adverbiale Qualifizierungen wie ›fingerlos musizieren‹, ›witzig schreiben‹ oder ›ironisch lächeln‹ bestehen folglich aus einem Aktionswort und einem hinzutretenden Term – einem Ad-Verbum –, das diese Tätigkeit charakterisiert. Damit haben sich die Verhältnisse offenbar ins genaue Gegenteil gekehrt: Aus einem nur vermeintlichen Widerspruch zwischen Atheismus und Glaube wird die Möglichkeit, das atheistische Element so zu nutzen, dass es den Glauben nicht dementiert, sondern gerade konkretisiert. Was das theologisch genau heißen könnte, soll in diesem Essay geklärt werden.

Wie jeder Text hat auch dieser seinen Kontext. Und ein solcher Zusammenhang ist im Blick auf die Frage nach Gott und Religion längst mit allerlei eingeschliffenen Etiketten ausgestattet: ›religiöser Pluralismus‹, ›Säkularisierung‹ bis hin zur religiös-weltanschaulichen Indifferenz, demgegenüber die ›Wiederkehr der Götter‹ als Erstarken religiöser Bewegungen sowie die privatisierte Spiritualisierung des Religiösen jenseits der Institutionen. All das mag im Hintergrund dieses Essays stehen, aber ich werde darauf nirgends direkt eingehen. Zudem möchte ich mich hier auf die christliche Tradition beschränken. Das schließt nicht aus, dass die folgenden Arbeiten am Glaubensbegriff auch für andere religiöse Traditionen relevant sein werden; und es schließt umgekehrt ebenso wenig aus, von diesen lernen zu können.

Nicht einmal der Atheismus als solcher steht im Mittelpunkt – weder seine verzweigte Geschichte noch seine heutigen Ausprägungen.2 Vielmehr beschäftigt mich hier die ganz grundsätzliche Frage, wie der Glaube an Gott in einem »nach-metaphysischen Zeitalter« (so Jürgen Habermas)3 überhaupt aussehen könnte; wie sich dieser Glaube von anderen Formen, etwas zu glauben (und nicht zu wissen), unterscheidet; und was dieser Glaube nicht ist, obwohl manche seiner Verteidiger:innen eben dies behaupten. Die Aufgabe ist also eine konstruktivproduktive, sensibel differenzierende und eine korrigierende – manche würden sagen: eine therapierende.

Diese Therapie besteht aus drei sehr unterschiedlichen Kapiteln, die jedoch einen konsistenten Gedankengang zu entfalten versuchen. Auf vieles, was dazu nicht nötig ist, wird bewusst verzichtet. In einem Prolog wird ein Bild vorgestellt, das anschließend knapp zu erläutern ist, um mit diesem visuellen Einstieg den Zugang zu den dann folgenden Überlegungen etwas zu erleichtern. Dieses Bild hat mein Freund Oskar gemalt, der gerade sieben Jahre alt geworden ist. Er hat meine Bitte, drei Figuren zu zeichnen, die ein Gemälde betrachten, bestens umgesetzt. Dafür danke ich ihm ganz herzlich (wobei er mit dem theologischen Anliegen des kommentierten Bildes sehr sympathisiert). Abstrakter und doch an den Phänomenen orientiert, geht es in den daran anschließenden Teilen zu. Kapitel zwei wird in die Architektur des Glaubensbegriffs einführen, um diese – immer wieder im Rückgriff auf den piktoralen Prolog – mit zwei Akzenten zu diskutieren: nämlich mit Blick auf den Glauben als bestimmte Weise, das Leben anders und neu zu verstehen und zu führen; und mit Blick auf Gott als diejenige Wirklichkeit, in welcher sich jene Weise des Verstehens und der Lebensführung realisiert. Beides ist äußerst auslegungsbedürftig. Daher werden im letzten Kapitel die Konsequenzen aus der hier vertretenen Konzeption gezogen. So zentrale wie dubios gewordene Sprachspiele des Glaubens – von der ›guten Schöpfung‹ über das Problem des Bösen bis zur Hoffnung auf ein ewiges Leben – können nun einer Relektüre unterzogen werden. Wir haben also viel vor!

Nichts von dem, was folgt, ist neu. Und alles, was sich hier findet, habe ich an anderen Orten in der üblichen Wissenschaftsprosa bereits vorgetragen. Das heißt nicht, dass der vorliegende Text unwissenschaftlich wäre. Nur habe ich mich hier bemüht, für eine andere und breitere Leserschaft zu schreiben, wobei ich konkrete Personen im Sinn hatte: Die eine ist ein wohlwollender Zweifler und sucht nach Antworten; eine andere ist eine gläubige Theologin (das ist keine Tautologie …), die nun im Pfarramt ist; und dann ist da die etwas spöttische Schriftstellerin, die bestenfalls amüsiert auf für sie unverständliche Grabenkämpfe schaut. Auf technisches Vokabular, theologiegeschichtliche Finessen oder die Namen ihrer Vertreter habe ich so weit wie möglich verzichtet – eine notwendige Kürze, die ihren genrebedingten Preis hat. Doch die theologisch und religionsphilosophisch unbelasteten Interessierten sollen ebenso erreicht werden wie die fachlich überaus Belasteten, sozusagen die ›Mühseligen und Beladenen‹ der Profession. Sie mögen einiges von dem nun Folgenden trivial finden, anderes ›erquickend‹ und wieder anderes – hoffentlich – häretisch.

Doch zunächst ist einigen weiteren Freunden zu danken, mit denen ich diskutieren durfte, die Passagen dieses Textes gelesen haben oder auf andere Weise die Arbeit an ihm begleiteten: Johanna Breidenbach, Christian Fissenebert, Daria Groß, Lisa Heller, Hans Julius Schneider und Hannah Zufall.

Hartmut von Sass, Berlin im Juni 2022

Inhalt

I

Prolog mit Bild

II

Vorbereitung: Zur Architektur des Glaubens

1 Theismus, Atheismus, A-Theismus

2 Drei Formen des Glaubens

3 Glauben und Aspekte-Sehen

4 Wirken und Wirklichkeit Gottes

Exkurs I: Gott und/als Kunst

5 Der angefochtene Glaube

III

Konsequenzen: Glaube als eine Weise, das Leben zu führen

1 Schöpfung Gottes

2 Zum Umgang mit dem Bösen

3 Gottes Sohn und die Erlösung von den Sünden

4 Beten. Und Empfangen.

Exkurs II: Eine göttliche Adresse

5 Die Hoffnung des Glaubens

Ohne Ende: Letzte Dinge

Anmerkungen

I

Prolog mit Bild

Und nun, wie angekündigt, Oskars Zeichnung:

Drei Personen stehen vor einem Gemälde, sagen wir in einer Galerie. Nehmen wir weiter an, dass die erste Person der Vertreter eines Auktionshauses, sagen wir Sotheby’s, sei, der das Bild betrachtet, um seinen Wert abzuschätzen. Die zweite Person sei ein Kunstliebhaber, der sich schlicht am Gemälde erfreut. Und schließlich gibt es eine Chemikerin, die vor dem Bild steht und dessen stoffliche Zusammensetzung prüft. Drei Personen – ein Gegenstand; und drei Weisen, sich auf dieses eine Bild zu beziehen: ökonomisch, ästhetisch und chemisch.4

Wiederum drei Aspekte seien nun eigens hervorgehoben, wobei es zunächst nicht auf das Bild als solches ankommt, sondern auf den Bezug zu ihm. Zum einen geht es um das Verhältnis, welches zwischen diesen Bezügen zum Bild besteht. Offenbar sind die drei skizzierten Zugänge miteinander vereinbar und können problemlos parallel gewählt werden. Die differenten Hinsichten werden gerade dadurch definiert, dass sie kommensurabel sind und daher nicht miteinander in Widerspruch geraten können. Dabei ließe sich das Szenario auch in einem entscheidenden Punkt abwandeln, sodass unsere drei Begleiter:innen in Wahrheit nicht drei Individuen sind, sondern ein und dieselbe Person. Nichts spricht im vorliegenden Fall gegen multiple Karrieren, außer vielleicht der Umstand, dass die Gesichtsausdrücke auf sehr unterschiedliche Stimmungen schließen lassen – vielleicht weil sie sich im Gemälde selbst erkennen?

Diesem noch recht simplen Szenario kann man nun eine zusätzliche Wendung geben, die zu ersten Konflikten zwischen verschiedenen Beschreibungen des Bildes führt. So ließe sich eine weitere Person denken, die für die Konkurrenz von Sotheby’s arbeitet und zu einem ganz anderen Ergebnis kommt, als es der Kollege aus London tut. Auch hier dürfte von zwei Perspektiven die Rede sein, allerdings sind sie gerade aufgrund derselben Hinsicht, dem Monetären, unvereinbar, weil nur einer der beiden Makler recht haben kann (oder sie liegen beide falsch). Interessanterweise liegt der Fall anders, wenn wir einen weiteren Kunstliebhaber hinzuziehen; denn es ist gar nicht ausgemacht – und hinge von der Ausschmückung der Details ab –, inwiefern sich zwei ästhetische Urteile wirklich widersprechen können. Daraus folgt, dass Urteile unterschiedlicher Hinsichten auf einen Gegenstand kommensurabel sind und dass erst verschiedene Urteile derselben Hinsicht zu Konflikten führen können. Ob sie es tun, hängt wiederum von der Art der Hinsicht ab: Ästhetische Hinsichten müssen keine Widersprüche implizieren, da sogenannte Geschmacksurteile sich nicht widersprechen müssen; bei verschiedenen chemischen Urteilen ist hingegen davon auszugehen, dass sie sich als unvereinbar herausstellen, weil es hier um Sachverhalte der Wirklichkeit und damit um faktuale Behauptungen geht.

Zum anderen, dies ist der zweite Aspekt, sind die verschiedenen Bild-Perspektiven nicht aufeinander reduzibel. So ergibt sich aus der monetären Bewertung des Bildes nicht dessen ästhetischer Wert und auch keine chemische Auskunft; und die finanzielle Dimension wiederum legt nichts Stoffliches und schon gar nichts Ästhetisches fest. Allerdings muss man eine Einschränkung vornehmen: Zwar ist es richtig, dass die drei Perspektiven prinzipiell irreduzibel sind, aber das heißt nicht, dass sie in jedem Fall voneinander gänzlich unabhängig bleiben. Die Verwendung von Gold etwa kann den Wert des Bildes erheblich steigern, sodass die chemische Zusammensetzung den Vertreter von Sotheby’s durchaus interessieren dürfte; und wenn sehr viele Kunstliebhaber das Bild mögen, wird dessen Wert auch davon nicht unberührt bleiben. Es kann also durchaus Interferenzen zwischen den Perspektiven geben.

Dennoch bleibt es bei der Behauptung einer Irreduzibilität, wie man sich beim Durchspielen der Gegenposition verdeutlichen kann. Probehalber ließe sich ein quasi-naturalistisches Manöver vortragen: Analog zur Reduktion aller Beschreibungen der Welt auf eine naturalistische könnten alle ästhetischen und monetären Wertungen auf eine chemische Aussage zurückgeführt werden. Parallel zum allgemeinen Versuch, die unterschiedlichen Zugänge zur Welt auf eine ›hinter‹ all diesen Zugängen liegende Tiefenbeschreibung zu reduzieren, müsste man in unserem einfacheren Szenario zeigen, dass zwei Hinsichten nur abgeleitete und eine, nämlich die chemische, die grundlegende sei. Dies ist ein zwar denkbarer Ansatz, aber aus meiner Sicht eine unplausible Vorgehensweise, auf deren Seite die eigentlichen Beweislasten liegen.

Und schließlich sind zusätzliche Beschreibungen neben den drei bisher verhandelten möglich. Offenbar lässt das Gemälde all diese Hinsichten mit ihren kompatiblen oder sich widersprechenden Perspektiven auf sich zu. Metaphorisch könnte man auch sagen: Es entbindet sie oder setzt sie aus sich heraus (oder dementiert sie, wenn sie falsch sind). Diese (wahren) Perspektiven reichern unser Wissen über das Gemälde und unsere Einstellungen zu ihm zwar an, jedoch ohne durch deren Addition zu einer vollständigen Erfassung des Bildes führen zu müssen; denn immer weitere Weisen, jenes Gemälde zu betrachten, sind leicht denkbar, so zum Beispiel eine kunsthistorische. Aufgrund dieser Vieldeutigkeit wird schon bei einem solch einfachen Gegenstand wie unserem Bild klarer, dass wir etwas schon immer als etwas wahrnehmen. Umgekehrt ließe sich behaupten, das Bild als eine Bezugsgröße, die über unterschiedliche Bezüge zu sich verfügt, sei nichts anderes als die Summe eben dieser Weisen, auf es Bezug zu nehmen. Was das Bild ist, stünde demnach gar nicht fest, sondern hinge wesentlich davon ab, wie wir es verstehen – monetär, ästhetisch, chemisch, kunstgeschichtlich oder wie auch immer.

Kehren wir nun zur Frage des Glaubens mit atheistischem Zuschnitt zurück und wenden die entwickelten Differenzierungen an: zwischen Beschreibungen eines Bildes, die die konzeptualisierten Versionen bestimmter Perspektiven sind, die wiederum denselben oder unterschiedlichen Hinsichten (Wert, Geschmack, Material) zugehören; sowie die drei dabei herausgearbeiteten Aspekte, die die Beziehung dieser Perspektiven untereinander betreffen: die Vereinbarkeit der Hinsichten, ihre Irreduzibilität und der Reichtum des Gegenstandes, auf den sich diese erweiterbare Perspektivenvielfalt bezieht.

Was also entspräche dem Bild im Reich des Glaubens? Anders gefragt: Worauf richtet sich der religiöse Glaube samt seinen Einstellungen, Emotionen und Aussagen? Antwort: nicht auf diesen oder jenen Ausschnitt der Welt, auch nicht auf eine ganz andere Welt, sozusagen eine »Hinterwelt«, wie Nietzsche spöttisch kommentierte,5 sondern auf unsere Weltin ihrer Gesamtheit. Und nun können wir nochmals unseren Apparat mit all seinen Differenzierungen zur Anwendung bringen: Zum einen ist es auch hier möglich, unterschiedliche Beschreibungen der Welt – wertorientierte, ästhetisch-künstlerische, naturwissenschaftliche oder eben religiöse – zu geben. Diese Beschreibungen verdanken sich offenbar divergenten Perspektiven auf diese eine Welt, die nun unter verschiedenen (Frage-)Hinsichten zum Thema wird. Solange dies der Fall ist, widersprechen sich diese Perspektiven nicht; erst wenn Beschreibungen geboten werden, die derselben Hinsicht angehören, können Konflikte auftreten. Dass dies ständig der Fall ist (und nicht per se problematisch sein muss), kennen wir etwa von miteinander konkurrierenden Theorien aus den Naturwissenschaften. Interessant ist nun, dass es gar nicht so leicht ist, Äquivalente für den Vertreter von Sotheby’s und den Kunstliebhaber zu finden, wenn der Gegenstand die gesamte Welt sein soll. Doch für die Sprachspiele des Glaubens ist das recht einfach, da sie von Haus aus aufs Ganze gehen und immer schon die gesamte ›Schöpfung‹ im Blick haben (siehe Abschnitt III.1).

Und nun gilt, so die These, auch hier, dass die religiöse Perspektive samt all ihrer zum Teil filigranen Beschreibungen den anderen Totalbeschreibungen der Welt – insbesondere also den Naturwissenschaften (als Bündel unterschiedlicher methodischer Unternehmen) – nicht widersprechen kann. Der Grund liegt darin, dass Religionen und Naturwissenschaften genauso verschiedene Hinsichten der Weltbetrachtung enthalten, wie es bei unseren drei Begleitern in Bezug auf das Bild der Fall war. Sie gehen mit divergenten Fragen und Interessen an ihren Gegenstand heran, genau wie es Wissenschaft und Glaube tun. Und auch in diesem komplexeren Fall gilt, was sich bereits bei den Bild-Hinsichten zeigte: Naturwissenschaft und Religion (und auch monetäre und ästhetische Perspektiven) sind nicht auf nur eine Beschreibung zurückzuführen. Folglich sind religiöse, materielle und ästhetische Bewertungen nicht auf ein angeblich grundlegendes Vokabular reduzierbar, das sich den Naturwissenschaften oder gar exklusiv der Physik verdankte. Und auch der dritte der obigen Aspekte trifft hier zu: Als was die Welt betrachtet wird, ist eine Frage der Perspektive auf sie; und diese recht simple Beobachtung könnte man, wie oben geschehen, nochmals verschärfen: Die Frage, was die Welt ist, erlaubt keine stabile Antwort, sondern hängt von der Vielfalt der Perspektiven ab, die man zu ihr einnimmt. Anders ausgedrückt: Kommt eine religiöse (oder irgendeine andere) Perspektive hinzu, ist das, was wir Welt nennen, reicher geworden und bleibt für weiteren Reichtum an Beschreibungen offen. Umgekehrt gilt folglich: Die Erosion von Beschreibungen eines Gegenstandes bedroht zugleich den Reichtum des Beschriebenen.

Der Glaubende, der auf die Welt schaut und sie beschreibt, entspricht also einer der Personen vor dem Bild. Diese perspektivische Beschreibung der Welt im Glauben steht neben ihren Alternativen, repräsentiert von jenen anderen Männern (und Frauen). Dies tut sie ohne Widerspruch aufgrund anderer Hinsichten und Fragen an diese Welt und ohne Rückführbarkeit auf eine fremde Beschreibung aufgrund der Unübersetzbarkeit der ganz unterschiedlichen Beschreibungen, die Wissenschaftler, religiöse Menschen, auch Vertreter von Sotheby’s oder Ästheten zu geben bereit sind. Und auch hier besteht die Möglichkeit, dass es sich um eine einzige, aber vielseitig interessierte Person handelt.

Deutlich mag sein, dass mit dieser Bild-Analogie der Ort der Religion neu bestimmt ist und die mit ihr verbundenen Probleme relokalisiert werden oder ganz verschwinden. Glaube richtet sich auf diese Welt, nicht auf parallele oder künftige Welten. Er bleibt, noch einmal Nietzsche, der »Erde treu«6. Zwar kann auch der Glaube von alternativen Weltbeschreibungen lernen – und sollte diese Offenheit stets mitbringen –, doch einen Widerspruch zwischen diesen Angeboten kann es nicht geben. Der gesamte Diskurs zu einer vermeintlichen Konkurrenz zwischen Glauben und Wissen(schaft), zwischen religion and science, löst sich damit in Nichts auf. Spannungen zeichnen sich auch hier erst ab, wenn man es mit verschiedenen Beschreibungen unter derselben Hinsicht zu tun bekommt. So können sich offenbar zwei Naturwissenschaftlerinnen widersprechen. Aber können es auch, so fragten wir oben, zwei Liebhaber eines Gemäldes, wenn sie in ihrer Beurteilung ganz unterschiedliche Richtungen einschlagen? Könnte also der eine Glaube einem anderen religiösen Glauben widersprechen? Da es sich hier um dieselbe, nämlich religiöse, Hinsicht handelt, sind Spannungen durchaus möglich und gehören leider längst ins Arsenal politisierter Konflikte. Und doch bleiben die religiösen Perspektiven auf nicht-religiöse irreduzibel und damit eigenständig, aber auch faszinierend und nach wie vor der Rede – und des Glaubens? – wert. Zumal auch hier zutrifft, was über den Reichtum der Welt durch die Vielzahl ihrer Beschreibungen gesagt wurde: Der Glaube nimmt der Welt nichts; im Gegenteil, er bereichert sie, indem diese Welt neu beschrieben, gleichsam ›aus dem Nichts neu geschaffen‹ wird!

Damit habe ich bereits mein Pulver verschossen. Was folgt, sind lediglich – aber immerhin – ein paar Erläuterungen.

II

Vorbereitung: Zur Architektur des Glaubens

»Ihr mögt die Religion nicht, davon sind wir schon neulich ausgegangen; aber indem Ihr einen ehrlichen Krieg gegen sie führt, der doch nicht ganz ohne Anstrengung ist, wollt Ihr doch nicht gegen einen Schatten gefochten haben.«

Friedrich Schleiermacher, Über die Religion7

Eine ›Architektur des Glaubens‹ klingt weit unschuldiger und wohl auch blumiger, als sie faktisch ist. Zwar lautet einerseits die Aufgabe, sorgsam einzufangen, was der Begriff des Glaubens systematisch beinhaltet; doch andererseits kann es nicht darum gehen, vermeintliche Tatsachen auf dem Gebiet der Religion und in Sachen des Glaubens lediglich wiederzugeben; denn was dort zu finden sein wird, ist eine schier unübersehbare Vielfalt von Überzeugungen, Haltungen, Gefühlen und Motivationen, die nicht nur nach Ordnung verlangt, sondern zuweilen auch nach Interpretation, Korrektur oder gar Revision. Nicht erst der Modus der Darstellung und die Art der Akzentsetzung sind bereits Stellungnahmen und eben Setzungen, sondern zuweilen verlangt das so Dargestellte selbst nach verändertem Design und Neugestaltung. Ebendiese Spannung zwischen vertrauter Tradition und oft dringlicher Aktualisierung mag jene bauwerkliche Metapher im Titel spiegeln.

Beides – Analyse und Gestaltung – soll im nun folgenden Gedankengang eingelöst werden. Dazu ist zunächst zu klären, wogegen sich dieser Essay richtet und was hinter dem Etikett des Atheismus steckt (1). Anschließend ist die konstruktive Vorderseite des ›A-Theismus‹ zu betrachten. Zu diesem Zweck müssen unterschiedliche Glaubenskonzeptionen auseinandergehalten werden (2), um den Glauben als eine Weise darzustellen, buchstäblich alles (d. h. auch diesen Glauben selbst) neu zu verstehen (3). Erst dadurch wird es möglich sein, die Wendung ›an Gott glauben‹ sinnvoll und ›atheistisch‹ auszulegen (4), wobei ein Exkurs zur Affinität zwischen der Wirklichkeit Gottes und unserem Umgang mit Kunst angefügt wird. Dieses ›architektonische‹ Kapitel wird beschlossen, indem die gewonnenen Erkenntnisse der Ambivalenz ausgesetzt werden, in der der Glaube an Gott schon immer steht. Die theologische Tradition hat dafür den schillernden Begriff der Anfechtung entwickelt, der jenes Ringen des Glaubens mit Gott und folglich die Unselbstverständlichkeit ebendieses Glaubens selbst produktiv verarbeitet (5). Wie gesagt, die hier anvisierte ›Architektur des Glaubens‹ ist weder unschuldig, noch wird sie blumig ausfallen.

1

Theismus, Atheismus, A-Theismus

Systeme können auf mindestens zwei Weisen unter Druck geraten: durch externe Dynamiken und durch innere Erosion. Diese doppelte Gefahr trifft auch die religiösen Traditionen in Mitteleuropa, deren Analyse weitere historische und religionssoziologische Differenzierungen erfordert.8 Mit Blick auf den Atheismus sei dazu nur gesagt, dass dieses Label eine überaus lehrreiche Transformation durchlaufen hat. Drei Abschnitte lassen sich dabei grob auseinanderhalten: Zunächst fungierte die Zuschreibung, jemand sei ein Atheist, als Urteil über eine religiös und moralisch inakzeptable Person, die unverzüglich der Strafe zuzuführen sei. Erst ab dem frühen 18. Jahrhundert wird langsam, dann aber doch mit Nachdruck, aus einer gefährlichen Fremdbestimmung eine nun mögliche Selbstauskunft jenseits von Strafe und Verfolgung. Schließlich kehren sich nach der Aufklärung die Machtverhältnisse um, sodass der Atheismus zum Kampfbegriff avanciert, um zunächst Teil der klassischen Religionskritik und, weit später, zur oft ideologisch getränkten Reserve gegenüber religiösen Anschauungen zu werden. Er verblasst schließlich dort, wo das, was mit ihm lange und engagiert bekämpft wurde, nun eher mit entspanntem