Atlan 16: Juwelen der Sterne (Blauband) - Rainer Castor - E-Book

Atlan 16: Juwelen der Sterne (Blauband) E-Book

Rainer Castor

0,0

Beschreibung

Im 21. Jahrhundert: Als Imperator des gigantischen Arkon-Imperiums kämpft Atlan, der beste Freund Perry Rhodans, gegen den Niedergang seines Volkes und gegen zahlreiche Feinde von außen. Nachdem der Arkonide fast zehntausend Jahre als Beschützer und "Förderer" der Menschheit auf der Erde verbracht hat, ist sein neues Amt nicht nur eine Rückkehr in die alte Heimat, sondern zugleich eine gigantische Verantwortung. Arkon, im Zentrum des Kugelsternhaufens M 13 gelegen, ist Herrscher über ein riesiges politisches Gebilde. Zehntausende von Planeten, Hunderttausende von Stützpunkten und Raumschiffen sowie Billionen von Wesen aus allen nur erdenklichen Lebensformen. Eine Verantwortung, die Atlan und seine Freunde fast zu erdrücken droht. Intrigen am Hof von Arkon machen ihm ebenso Probleme wie die fanatischen Tekteronii. Diese aktivieren geheimnisvolle Waffen aus grauer Vergangenheit und schicken sie gegen Arkon. Nur Atlan selbst kann dagegen aktiv werden: Er besitzt einen Zellaktivator, den ihm die Superintelligenz ES verliehen hat - und offensichtlich ist ES in all diesen uralten Ereignisse verwickelt. Zu den Geheimnissen gehören auch die mysteriösen Juwelen der Sterne. Bereits vor über einer Million Jahren spielten sie eine Rolle. Und jetzt bedrohen die erneut die Milchstraße...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 792

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nr. 16

Juwelen der Sterne

von Rainer Castor

Vorwort

Für den Imperator von Arkon spitzen sich die Ereignisse auf dramatische Weise zu, denn nach den Monden des Schreckens kommen nun die Juwelen der Sterne ins Spiel und schlagen den Bogen von der fernen Vergangenheit in die Zukunft des PERRY RHODAN-Kosmos. Aus der Handlungszeit des 21. Jahrhunderts ergibt sich, dass Atlan selbst von den damit verbundenen Hintergründen zu dieser Zeit noch nichts erfahren darf.

Aus diesem Grund bedarf es eines »literarischen Tricks«: Im Gegensatz zu unserem weißhaarigen Freund auf dem arkonidischen Kristallthron sind die Leser der Heftserie oder der Silberbände insofern im Vorteil, als sie einige der schon gemachten Andeutungen und Querverweise besser einzuordnen wissen. Dies soll nun noch erweitert werden – allerdings wird es sich um Kapitel handeln, die zwar Euch, die Leser, informieren, die Atlan jedoch weiterhin unbekannt bleiben müssen, handelt es sich doch um Dinge, die er erst im weiteren Verlauf der PERRY RHODAN-Geschichte richtig wird einordnen können.

Mit und durch die Juwelen der Sterne – als Buchtitel von HC 16 wie auch als Bestandteil der Handlung – streben die Ereignisse ihrem Höhepunkt entgegen. Es ist klar, dass danach vieles nicht mehr so sein kann wie zuvor: Um den von ES erteilten Auftrag erfüllen zu können, nämlich der von den »Erwachenden Legenden« heraufbeschworenen Gefahr zu begegnen, musste Atlan als Imperator von Arkon alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte und Mächte aktivieren und bündeln – und so gerieten Völker, Einzelpersonen und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten verstärkt ins Blickfeld, die zuvor in der Geschichte des Tai Ark’Tussan eher im Hintergrund geblieben waren. Und sie werden, sofern sie den sich abzeichnenden Showdown überhaupt überstehen, auch wieder in diesen Hintergrund zurücktreten.

Auf diese Weise wird, genau wie durch oben erwähnten literarischen Trick, das bestehende Gefüge der PERRY RHODAN-Chronologie ebenso gewahrt wie die Möglichkeit eröffnet, dennoch einen neuen und erweiterten Blickwinkel dem schon bekannten hinzuzufügen. Genau darauf beruhte das von Klaus N. Frick und mir ausgearbeitete Konzept der neu geschriebenen Arkon-Abenteuer im Rahmen der sogenannten Blaubände: Bekanntes mit Unbekanntem zu verknüpfen, neue Sichtweisen auf scheinbar Vertrautes zu eröffnen und bei allem den Bezug zur inzwischen mehr als 2000bändigen Heftserie in gleicher Weise zu wahren wie zu den 13 Büchern der von Hanns Kneifel vorgelegten »Zeitabenteuer« – denn gerade letztere und die in ihnen geschilderten Ereignisse, insbesondere die von HC 13 rings um Atlans Integration in die Welt der Zwei Schatten, stehen in enger Verbindung zu dem nun Hinzugekommenen.

Auch diesmal möchte ich mich vielmals für die unersetzliche Hilfe treuer Mitstreiter im Hintergrund bedanken, die nie mit Anregungen und Kritik sparten und dazu beitrugen, dieses Vorhandene umzusetzen; stellvertretend seien genannt: Heiko »Mr. Jahrmillionenchronik« Langhans, Kurt Kobler und Michael »Mr. Zeitraffer« Thiesen (inzwischen manchen auch als Mthiesen III bekannt).

Ganz besonderer Dank aber gilt Klaus N. Frick, der stets eine Engelsgeduld mit Castorscher Schreibe und wachsenden Terminschwierigkeiten bewies …

Viel Spaß mit den Juwelen der Sterne! Ad astra!

Intro

Was bisher geschah:

Zehntausend Jahre hatte Atlan in der Verbannung auf Terra verbracht, bis ihm im Jahr 2044 endlich die Rückkehr in seine Heimat gelang. Als Sohn von Imperator Gonozal VII. war der Kristallprinz aufgrund seiner Einstufung als aktiv gebliebener Arkonide dazu berechtigt, im Großen Imperium die Macht zu übernehmen. Atlan aktivierte die Sicherheitsschaltung A-1, und der Robotregent, der wegen der arkonidischen Degeneration bis dahin die Herrschaft ausgeübt hatte, erkannte ihn als Imperator von Arkon an.

Noch in den ersten Tagen seiner Machtübernahme erhielt Atlan von ES, dem Kollektivbewusstsein der Kunstwelt Wanderer, eine orakelhafte Warnung. »Erwachende Legenden« könnten zu einer galaxisweiten Gefahr werden und nur Atlan, dank des Zellaktivators unsterblich, vermöge mit den Mitteln des Großen Imperiums ein ausreichend starkes Gegengewicht zu bilden.

Im rätselhaften Volk der Gijahthrakos, den arkonidischen Raumnomadenclans mit ihren paranormal begabten Feuerfrauen und den 100.000 Ex-Schläfern aus dem »Raumschiff der Ahnen« fand Atlan Helfer und Mitstreiter. Parallel dazu offenbarte sich das wahre Bedrohungspotential nur zögernd. Es wurde klar, dass die fanatischen Tekteronii und ihre Anführer, die Cyén und deren Götzen-Körperfragmente, in die von ES angesprochenen Dinge verwickelt waren. Gleiches galt für den geheimnisvollen Planeten Zhygor, der vormals die ES-Kontaktstelle für die Arkoniden gewesen war und in dessen Kruste ein vor langer Zeit abgestürzter Planetoid maßgebliche Schlüsselfunktion besaß.

Der Imperiale Historiker Hemmar Ta-Khalloup durchsuchte in Allans Auftrag Sagen und uralte Überlieferungen und stieß dabei auf Begriffe wie Großer Galaktischer Krieg, Qa’pesh als Synonym für »Wilde Horden« oder die als Galaktische Ingenieure umschriebenen Petronier. Atlan erfuhr, dass sich hinter pompösen Umschreibungen wie »Millionenäugig, Allessehend«, mit denen der arkonidische Imperator traditionell versehen wurde, viel mehr verbarg als nur aufgebauschte Floskeln: Im Jahr 2047 ließ sich Atlan nach langem Zögern auf das Projekt der »Großen Feuermutter« ein, das in der Arkon-Geschichte nur siebenmal erfolgreich durchgefühlt worden war. Das Vorhaben gelang, so dass Atlan nun ein Bewusstseinskollektiv zur Seite stand. Dieses gewann einerseits durch ihn und seinen Zellaktivator überhaupt erst Stabilität, vermittelte ihm andererseits aber ein paranormal erweitertes Wahrnehmungsvermögen und machte ihn tatsächlich zum »Millionenäugigen«.

Was er sah, war ein in seinen Grundfesten erschüttertes Reich: missgünstige Arkon-Adlige, SENTENZA-Verbrecher, separatistische Bestrebungen aufständischer Siedlungswelten und politische Attentate wie jenes auf den Zarlt von Zalit. Auch ohne die Bedrohung durch Tekteronii und Cyén wankte das Tai Ark’Tussan; in Degeneration und Traditionen erstarrt der Kern, dem eine auseinanderdriftende Peripherie gegenüberstand – diametral wirkende Kräfte, die in absehbarer Zeit wohl das auf tönernen Füßen stehende Machtgebilde zerreißen würden …

Hinzu kam die äußere Bedrohung. Aus dem Versuch der Tekteronii, mit einer Galeere sonderbare »Stachelkugeln« ins Große Imperium einzuschleusen, erwuchs gleich in zweifacher Hinsicht Gefahr: Zwar wurde die Galeere durch den Einsatz von Gravitationsbomben zerstört, doch dies betraf die Stachelkugeln nur indirekt. Aus ihnen entwickelte sich, vom Ersten Cyén Ak’iakaton gesteuert und exakt so geplant, der Sonnenkiller Xymondhoria. Parallel dazu reiften in vierzehn von der Großen Feuermutter nicht einsehbaren Bereichen des Imperiums die Monde des Schreckens heran. Millionen starben in den Kämpfen, ungezählte von Gallerten befallene Wesen standen unter dem Einfluss der Cyén – und gegen die Monde des Schreckens gab es kein Mittel, sollten die Beeinflussten nicht ebenfalls getötet werden.

Atlan und seinen Helfern gelang es zwar, quasi durch die Hintertür der auf Wazarom III abgestürzten Stachelkugel in den Sonnenkiller vorzudringen. Als dieser aber zum direkten Angriff auf Arkon ansetzte, konnte er nur deshalb zurückgeschlagen werden, weil an vier Punkten im Kugelsternhaufen Thantur-Lok – angeordnet als Eckpunkte eines Tetraeders – uralte Artefakte erwachten und ihn abwehrten. In seiner Wut zündete Ak’iakaton sieben Supernovae, ehe er mit dem Sonnenkiller nahe Zhygor Position bezog.

Auf der Freihandelswelt wiederum setzten sich Atlan und Tanja auf die Spur der von ihm mehrmals in »Visionen« erkannten Lichtelfen. Dabei handelte es sich um Bewusstseinssplitter, die gleichermaßen mit der Zhygor schützenden Tabuzone wie auch mit dem Kraftfeld des abgestürzten Planetoiden in Wechselwirkung traten. Ziel war zweifellos die Vernichtung des Planeten, und es schien, als könne nicht einmal der Arenakampf dies verhindern …

Prolog

Gewaltiges Fauchen rauscht über die Arena Voktir. Ein hyperorientierter Blitz, in Zhygors Innerem aufgestaut, bricht hervor, wird zur blendenden Säule und steigt in die Atmosphäre. Dreißig Kilometer über der Arena fächert der Stamm auf, die Spitze wird zum Pilz. Immer höher, schneller und weiter: Ein langgestreckter Ballon, mattgolden und an der dicksten Stelle zehntausend Kilometer breit, ragt von Zhygor auf, und die Bewegung endet erst, als die Wölbung dreißigtausend Kilometer Bodenabstand erreicht. Dann verebbt das ungeheure Fauchen, und wie eine gewaltige Schleppe folgt das absonderliche Gebilde Zhygors Rotation.

Im Nordmeer ist der ES-Nebeldom zur violett glühenden Säule geworden, im Inneren als verwaschener Schatten ein riesiger Kegelberg zu sehen. Leuchten und Glühen überzieht auch den Kristallwald, die gesamte Nordpolarregion ist zu einem einzigen Polarlicht verwandelt – Entladungen, Kriechströme und Ausfall jeder Technik sind an der Tagesordnung. Fremdartige Wechselwirkungen durchdringen blitzgleich das Tabufeld rings um Zhygor, »Phantomplaneten« erscheinen und verschwinden im raschen Wechsel. Und dann die Naturkatastrophen rings um den Planeten: Vulkane, Wirbelstürme, Überflutungen, Sintflutregen, Erdbeben, gewaltige Blitze, Feuerkugeln, Waldbrände.

Unter Tatalal, der Stadt der Tausend Wunder, durchziehen starke Vibrationen den Boden, fast so, als wolle sich der Planetoid aus seinem Krustengefängnis lösen, emporsteigen und zu einem weiteren, wenn auch andersartigen Mond des Schreckens werden – eine klaffende, riesige Wunde in der Planetenoberfläche zurücklassend, die Zhygors Ende bedeuten muss: genau wie es der Millionenäugige in seinen Visionen mehrfach gesehen hat!

Und vor den Systemgrenzen, außerhalb der verzerrten Zone dieses Raumsektors, wartet geduldig der Sonnenkiller, während sich im Spinnennebel der Cyén Xanthyn Ol’dan auf den STERNSAPHIR konzentriert.

Zhygor: 5. Prago der Hara 19.018 von Arkon (= 7. April 2048 Terra-Standard)

Die Trivid-Übertragung von Atlans und Tanjas Arenakampf gegen die Lichtelfen hatte abrupt ihr Ende gefunden, als sich die Vibrationen des Bodens verstärkten. Erste Brocken und abgelagerte Gesteinsschichten rings um Tatalal gerieten in Bewegung, Steinlawinen rutschten ab, Staub kräuselte höher – zunächst scheinbar winzige Rinnsale, die aus der Distanz harmlos wirkten, jedoch bei näherer Betrachtung rasch ihre Größe und Wucht offenbarten.

Gijahthrakos begannen Untersuchungen des Ballonphänomens, richteten alle nur denkbaren Sensoren und Parafühler auf das riesige Objekt über der Arena, fingen von neuem an, schüttelten verwirrt die Köpfe und stritten über Positronik-Auswertungen.

»Es ist kaum zu glauben«, sagte Dagor-Hochmeister Suinsintung zu Professor Manolito Almeda an Bord der ARKON II. Das Schiff war in einen geostationären Orbit aufgestiegen und umkreiste Zhygor oberhalb der Ballonwölbung. »Der Ballon ist die virtuelle Erscheinung eines höhergeordneten Prozesses. Zweifellos eine Raum-Zeit-Nische oder Hyper-Vakuole – wir sehen quasi ihren dreidimensionalen Schatten. Was wir mit den Orten der Kraft nicht erreicht haben, gelang dem Ballon auf einen Schlag: Zhygor wurde hyperphysikalisch entlastet. Sicher, die Magmaergüsse werden lange brauchen, um abzukühlen, noch gibt es die aufgewühlte Natur, aber …«

Ras Tschubai runzelte die Stirn. »Ein permanenter Zustand – oder zeitlich limitiert? Was ist die Ursache?«

»Zu Frage eins: Keine Ahnung. Und die Ursache? Die Wechselwirkung mit den Lichtelfen! Sie haben die Kräfte offensichtlich kanalisiert! Viel mehr Sorgen bereiten uns dagegen die Reaktionen des Planetoiden; wir haben vorsorglich die Evakuierung Tatalals eingeleitet – und mit Blick auf des Imperators Visionen sollte die Zhygors wohl folgen! Das Flottenzentralkommando ist informiert.«

»Atlan und Tanja?« Sorgenvoll knabberte der Teleporter an der Unterlippe. »Was ist mit ihnen? Wo sind sie?«

Der Hochmeister senkte den Blick. »Sie wurden mitgerissen. Sofern sie noch leben, sind sie Teil des Hyper-Ballons …«

Der Gijahthrako Kontaclatiis und der Dron Straton Zaghyt versuchten unterdessen, die Ballonhülle zu durchdringen. Während Kontaclatiis in Tetraedergestalt an der goldenen Schicht entlangglitt, wiederholt mit allen Kräften gegen sie anrannte, versuchte Zaghyt es mit Gewalt – und war ebenso erfolglos wie der terranische Teleporter, der die Hülle ebenfalls nicht zu durchdringen vermochte.

»Impulsstrahler, Desintegratoren: keine Wirkung«, meldete Kommandant Zaghyt bedrückt. »Fusionsbomben: nichts. Teleportation: null. Absolut kein Durchkommen.«

Die von Tatalal übermittelten Bilder gaben zur Entwarnung keinen Anlass: An der schluchtförmigen Trennlinie zwischen dem aufgefalteten Gebirge und dem in die planetare Kruste eingedrungenen und mit ihr hyperdimensional überlappten Körper klafften Risse auf, wurden breiter. Vielfarbiger Dampf schoss geysirgleich in die Höhe, begleitet von immer lauter werdendem Fauchen und Zischen. Im gezackten Verlauf weiteten sich die Klüfte aus, strahlenförmige Brüche gesellten sich zu ringförmigen hinzu. Ein düsteres Glühen durchdrang die Wolken aus Dampf, Staub und Stickgasen.

Abermals löste sich ein Felsbrocken aus dem Hang des Planetoiden. Er stürzte auf ein tiefer gelegenes Sims und zerbarst unter Donnergetöse. Unmittelbar darauf wurde ein zweiter Klotz gleicher Größe herausgeschleudert.

Wie ein Geschoss raste er in die Tiefe, überschlug sich, kollerte weiter, eingehüllt in Staub und fortgeschleuderten Sand, dann folgte ein wahrer Geschosshagel. Am Rand Tatalals löste sich eine Lawine, die jetzt aus der Höhe den Hang herabdonnerte.

»Beim Ballon handelt sich in der Tat um ein eigenständiges Miniatur-Kontinuum«, fasste Manolito unterdessen die Erkenntnisse zusammen. »Unsere Messungen bestätigen, dass seine Struktur langsam in den Hyperraum verpufft. Insgesamt wird es, die jetzige Auflösungsrate vorausgesetzt, etwa 27 Zhygor-Tage Bestand haben. Inzwischen verstärken sich Zhygors Hyperaktivitäten wieder; es geht langsam, aber über kurz oder lang ist es erneut soweit. Erste Schätzungen sprechen von ein bis zwei Zhygor-Jahren. Atlan und Tatjana haben die Lichtelfen gebunden und so die bevorstehende Resonanzkatastrophe verhindert, dafür droht jetzt Chaos dem System insgesamt. Wenn es allerdings gelänge, die Lichtelfen zur Mitarbeit zu bewegen … In regelmäßigen Abständen wiederholt, könnte eine vergleichbare Entladung diese Welt so normal wie andere machen.«

»Zhygor wird nie normal sein, erst recht nicht mit der Hyper-Vakuole!« Kon lächelte bitter und winkte ab. »Und die Lichtelfen? Wir wissen nicht einmal, woher sie kommen – nur, dass sie von außen das Tabufeld durchdrungen haben. Ihre Erscheinungsform beim Arenakampf als kleine Todesboten war eindeutig: Wir haben es mit einem Angriff der Tekteronii zu tun. Und deren Ziel war und ist zweifellos die Zerstörung der Freihandelswelt.«

»Was allerdings fehlgeschlagen sein dürfte, vorläufig. Man hat nicht die vielfältigen Wechselwirkungen berücksichtigt, konnte es gar nicht. Das Tabufeld, Zhygor, der Planetoid mit seiner Raum-Zeit-Nische und die Lichtelfen bildeten – mit Atlan und Tatjana als Katalysator – gemeinsam eine Einheit, die überhaupt erst zu der Hyper-Vakuole führte. Es kommt zur Dämpfung, die chaotische Turbulenz wird beseitigt. Langfristig ist dieses Phänomen der einzige Ausweg! Ohne die Ballon-Entlastung wird Zhygor nicht weiter bestehen, sondern über kurz oder lang vernichtet werden.«

»Und das funktioniert nur mit den Lichtelfen. Wunderbar.«

Ein Ruf aus der Ortungszentrale unterbrach das Gespräch: »Extrem starke Hyperenergie-Eruption unter Tatalal angemessen. Satellitenbilder laufen ein …«

Holoprojektionen entstanden; die eingeblendeten Szenen verdeutlichten, dass die Ereignisse einem weiteren Höhepunkt entgegenstrebten.

Das Land rings um Tatalal brach auseinander, zahlreiche Bodenrisse waren zu sehen. Überall sackte lockeres Erdreich ab. Mulden und Täler entstanden. Die gewaltige Kuppe bebte stärker. Sie schüttelte sich, als ob eine gigantische Faust sie gepackt hätte und versuchte, den Planetoiden aus dem Boden herauszureißen. Steinlawinen ergossen sich die Hänge hinab und zertrümmerten alles, was ihnen im Weg war.

In konzentrischen Ringen war Tatalal die Hänge der Kuppe hinabgewachsen, deren Basisdurchmesser vierzig Kilometer erreichte: Zwischen ringförmigen Promenaden und sternförmigen Radialachsen waren Stadtteile nach den architektonischen Vorlieben der Imperiumsvölker erbaut worden. Die Bauten glichen einem dunklen Moosteppich zwischen prächtigen Parkanlagen und Grünflächen. All das geriet nun in Bewegung, schwankte, vibrierte, drohte einzustürzen. Bis zu elftausend Meter hohe Gipfel des U-förmigen Lal-Gebirges umgaben, 1467 Kilometer nördlich des Äquators und als Antipode der Arena Voktir, die im Zentrum zweitausend Meter aufragende Kuppe. Sie war der sichtbare Teil des Planetoiden, die Polkalotte. 198 Kilometer davon reichten durch die Kruste hinab zu den zähflüssigen Magmaschichten. Eigentlich hätte der untere Teil längst geschmolzen sein müssen, doch das Gebilde, vor ziemlich exakt 907.000 Arkonjahren abgestürzt, war in ein hyperenergetisches Feld nach Art einer Semi-Manifestation gehüllt, einen unvollständigen Übergang zum Hyperraum ohne Entmaterialisation, der eine eigene Raum-Zeit-Nische ergab.

Professor Manolito Almeda hatte dargestellt, dass im Zhygor-System insgesamt die Struktur des konventionellen raumzeitlichen Kontinuums nicht in bekannter Weise geschlossen, sondern aufgrund starker hyperenergetischer Konzentration in Richtung Hyperraum-Niveau entrückt war. Ursache des Phänomens waren maßgeblich zwei Dinge: die außergewöhnlich intensive hyperenergetische Emission der Sonne Sarende sowie eine extrem hohe Konzentration von hyperkristalliner Pseudomaterie, die beispielsweise rings um Zhygors Nordpol den Kristallwald entstehen ließ, aber auch in feinster Partikelform Bestandteil des interplanetarischen Raums war. Beides reagierte in Resonanz aufeinander und konnte sich aufschaukeln, so dass es zu Sekundärerscheinungen kam: Aufrisse zum Hyperraum, Abfließen von Hyperenergie, akausale Effekte oder eben die konkrete Überlappung mit einem anderen im Hyperraum eingebetteten Universum. Der Raumsektor insgesamt glich deshalb einer kosmischen Drehbühne.

Die von den Gijahthrakos zum weiteren Schutz erstellte Tabuzone kombinierte wirkungsvoll die höhere Kategorie verschiedener Hyperfelder. Materie wurde entrückt und gewissermaßen umgeleitet, die Rematerialisation unerwünschter Raumschiffe unterbunden. Bei Gefahr für Zhygor konnte der Korridor ausgeschaltet und das Tabufeld ganz geschlossen werden. Es hatte den Freihandelsfrieden zu sichern und alle Besucher darauf paranormal-transpersonal einzustimmen. Trotzdem ausbrechende Feindseligkeiten wurden so in die ritualisierte Form des Arenakampfes gebannt. Dem hatten sich auch die Lichtelfen nicht entziehen können; dass es jedoch zu dem höhergeordneten Ausbruch kommen würde, hatten nicht einmal die Gijahthrakos vorhersehen können.

Tatalal-Center, die geometrische wie administrative Mitte der Hauptstadt Zhygors, bestand aus drei Pyramiden in einem üppigen Park, dessen Zentrum eine fünfhundert Meter hohe Holoflamme von grob hominider Gestalt überragte – Symbol der Großen Feuermutter. Jetzt verschwammen die Konturen der Gebäude, als seien sie unvermittelt in einen diffusen Schleier gehüllt. An vielen Stellen breitete sich Dunst aus, brodelten und waberten schwarze Wolken. Grell blitzten im Abstand von Zehntelsekunden Explosionen, zerfetzten Gebäude und Straßen. Als scharfkantige Schollen stellten sich Bodenplatten hochkant, knirschten aneinander, zerbröselten an den Rändern. Hunderte Gleiter stiegen empor, von panischen Bewohnern der Stadt hektisch gesteuert. Eine Großstadt wie Tatalal ließ sich nicht so ohne weiteres evakuieren. Hunderte Leka-Disken und Ultraleichtkreuzer schwebten am düsteren Himmel, errichteten Prallfelder und Energiekuppeln, um die ausbrechenden Naturgewalten abzuhalten, bis die Stadtbewohner von Traktorfeldern erfasst waren.

Ganz Tatalal war inzwischen in ein lautes Dröhnen gehüllt, weil die Raum-Zeit-Nische des Planetoiden verstärkt pulsierte. Risse und Spalten von mehreren Kilometern Breite hatten sich gebildet, in die Wälder, Hügel und Erdreich hineinrutschten, während sich an anderer Stelle Felskegel wie Speerspitzen erhoben. Unzählige Tiere aller Größenordnungen rasten ziellos hin und her. Sie versuchten vergeblich, dieser Hölle zu entkommen. Staub, Schmutz und Rauch verhüllten die Szene des Grauens, so dass die Kuppe mit Tatalal jetzt nur noch verschwommen zu sehen war. Tektonische Beben durcheilten Zhygors Oberfläche, konzentrische Wellen wogten von Tatalal aus nach allen Seiten. An der Innenseite des U-Bogens der Lal-Berge stieg das Land rasend schnell an, brach zugleich auf und wurde von brodelnden Schwaden eingehüllt, unter denen sich düsteres Glühen ausbreitete.

Als weitere hyperenergetische Emissionen aus dem Inneren des Planetoiden angemessen wurden, wurde klar, dass er sich tatsächlich aus Zhygor erhob. Mit sehr langsamer Bewegung stieg er auf und riss dabei aufbrechende Gesteinsmassen mit sich. Im Gefolge würden sich Vulkanausbrüche und Kontinentalverschiebungen auf den gesamten Planeten auswirken, denn dessen Kruste war von dem riesigen Körper durchschlagen worden: Wenn der Planetoid jetzt aufstieg, würde er ein riesiges Loch hinterlassen, und das musste für ganz Zhygor Konsequenzen haben. Die Rettungstrupps und Schiffsmannschaften forcierten ihre Bemühungen, häufig gingen die Helfer und ihre Roboter mit brachialer Gewalt vor, um so viele Tatalaler wie möglich in Sicherheit zu bringen. Von den Hängen des startenden Gebildes lösten sich gigantische Geröllmassen, die sich im Laufe der Jahrtausende abgelagert hatten. Die Einschlagschneise, die der Planetoid vor Äonen bei seinem Absturz gezogen hatte, brach auf. Vulkane wurden tätig und zerfetzten Gipfel des Lal-Gebirges. Ausgeschleuderte Glutspritzer, groß wie Kugelraumer, verstärkten das Chaos, die Wolken brodelten mehr und mehr. Zugleich kamen die Luftmassen noch stärker in Bewegung. Orkane begannen zu dröhnen, und doch war das erst der Anfang.

Der Planetoid würde nach dem Aufstieg einen riesigen Feuerherd zurücklassen. Die Wärmeunterschiede mussten weitere Stürme entfesseln, die alles zerschlugen, was bis dahin noch heil geblieben war. Raumschiffe mit aktivierten Schutzfeldstaffeln hoben vom Tata-Raumhafen ab oder näherten sich auf verschiedenen Orbitbahnen; die Hoffnung war, dass das Chaos mit Traktorstrahlern und Prallfeldern eingedämmt werden konnte. Eine mehr als trügerische Hoffnung, tobten hier doch die Gewalten eines entfesselten Planeten. Ein glutroter Kranz hatte sich um den Planetoiden herum gebildet. Herausquellendes Magma bewies, dass er mit seinem unteren Teil tatsächlich bis in die flüssigen Bereiche des Planeten hinabreichte. Die Atmosphäre schien zu brennen. Durch Staub und Asche hindurch war ein einziges Feuermeer zu erkennen, das inzwischen von Horizont zu Horizont reichte. Grollen, Krachen und Donnern entwickelten sich zu einem Lärm, dem das menschliche Gehör nicht mehr gewachsen war.

Aus dem offenen Schlund schoss eine ringförmige Lohe viele Kilometer empor und trug die Bruchstücke noch höher hinauf. Rauchwolken breiteten sich aus, warfen mächtige Schatten. Dampffanale kreischten nach allen Seiten, und aus der Wolke schlugen gewaltige Blitze ringsum ein. Hinter den Entladungen furchtbarer Gewitter wanderte der Schatten der Wolke und dehnte sich kreisförmig aus. Weiterhin wirbelten kleine und große Felstrümmer durch die Schwärze. Ströme von ausgestoßenem Gestein und pulverisierten Ablagerungen, Staub und Rauch, giftige Gase und erstickende Dämpfe quirlten durcheinander. Aus dem Brodeln prasselten unentwegt weißgraues Gestein und Asche. Das Wabern wuchs, dehnte sich, schluckte das Sonnenlicht und kletterte höher, während Sturzbäche kochendheißen Schlammregens abregneten. Ein Hagel leka-großer Brocken traf die letzten Flüchtenden und begrub sie unter sich.

Dann verdunkelte sich für diesen Teil der Welt endgültig der Himmel. An den hellen Rändern des Schilds aus Finsternis wetterleuchtete es zwischen breiten Bändern aus Sturzregen. Einzelne Wolken trugen feurige Säume, aus denen schwarzer Regen und Schaumstein auf das Land krachten. Höhenströme erfassten Asche, Rauch und feinen Staub und schleppten die Schichten, die ständig nachwuchsen, nach Osten und, in anderer Höhe, nach Süden, Norden und Westen. Langsam begann sich eine riesige Spirale auszubilden. Darunter breitete sich fächerförmig eine dünne graubraune Schicht mit gelben Inseln darin über den gesamten westlichen Teil des Kontinents Muo aus, zog über den Tata-Raumhafen hinweg und wucherte weiter.

In den überdimensionierten Wolken kondensierte Dampf an festen Partikeln. Riesige Regenzonen rasten dahin, die Sturzmassen stiegen wieder auf und fielen nicht nur rund um den aufbockenden Planetoiden auf das geschundene Land. In weiterer Distanz wurden Rinnsale zu Bächen, die Bäche schwollen zu reißenden Flüssen an. Die Wälder vermochten die Fluten nicht mehr zu halten, und große Teile des fruchtbaren Landes wurden fortgeschwemmt, nachdem sie ungezähltes Vieh ertränkt hatten. Der Horizont brannte; es war, als stünde ganz Zhygor in Flammen. Regentropfen, voll von Schlamm aus vulkanischer Asche, schlugen auf, bedeckten die Überreste der Zerstörungen. Abermillionen Tiere wurden von Schlammwogen getroffen, erstickten in pechschwarzer Dunkelheit. Giftige Dämpfe quollen aus der Wolke, alle Blätter und Zweige waren mit weißem Puder bedeckt.

Die Kluft, aus deren Mitte die Planetoidenkuppe zur Viertelkugel emporwuchs, kochte, dampfte und schied schmutzige Gasfontänen aus, während die Gipfel des Lal-Gebirges emporgehoben, auseinandergedrückt und zerschmettert wurden. Noch mehr Luftmassen gerieten in Bewegung. Sogar in vielen tausend Kilometern Entfernung wurden ganze Wälder aus dem Boden gerissen und weggeschleudert. Pflanzen, Tiere und Steine verbanden sich zu einer vernichtend weiterrollenden Woge. Ein riesiger Feuerring umgab den Planetoiden als leuchtendes Fanal. Der aufsteigende Koloss fegte mit seiner Druckwelle die Atmosphäre von Wolken und Staub frei; weitere Orkane umkreisten Zhygor mit nie gekannter Geschwindigkeit. Zur Hälfte ragte der Körper immer noch in den Glutkrater, der obere Pol hatte jetzt eine Höhe von etwa einhundert Kilometern erreicht. Scharfe Kanten, Abrisse und Schluchten klafften dort, wo die heißen Magmamassen alles hätten aufschmelzen müssen, vom schützenden Hyperfeld jedoch abgehalten worden waren. Als unwirkliches Raumschiff durchstieß die Oberseite des Körpers endgültig die Atmosphäre des Planeten und entfernte sich von ihm. Längst war Tatalal vollständig zerfetzt und zerstört.

Schwerste tektonische Beben erschütterten ganz Zhygor. Südlich des Äquators öffneten sich weitere Vulkane. Rings des »roten Auges« erhoben sich mit rasender Geschwindigkeit neue Gebirgszüge von der Größenordnung des terranischen Himalaja. Die Meere traten über ihre Ufer. Seebeben schufen Flutwellen von hundert und mehr Metern Höhe, die die Küstenlandschaften heimsuchten und vernichteten. Städte und Siedlungen versanken in Schutt und Asche. Feuerstürme tobten um den Planeten, und Beben erschütterten Zhygor in immer neuen Wellen.

Das Feuermal, aus dem der Planetoid nun als Dreiviertelkugel herausragte, wurde breiter, die Auffaltung des Lal-Gebirges, von tiefen Rissen und Magmaklüften zerschnitten, schritt beängstigend schnell fort. Glutmassen wurden bis an die Grenze der Atmosphäre hinaufgeschleudert. Ein gigantischer Vulkan entstand, durch den der Druck, der im Inneren des Planeten herrschte, einen Ausgleich suchte. Feurige Ausläufer und Fontänen umleckten den aufsteigenden Körper, der von den Gewalten unbeeindruckt blieb und seinen Flug fortsetzte. Die schwarzgrauen Wolken, die das Inferno umgaben, wurden von Orkanen durcheinandergewirbelt. Von unsichtbaren Kräften getragen, stieg der Planetoid höher und höher. Er löste sich aus den letzten Luftschichten, entfernte sich weiter, trieb ins All hinaus – eine feurige Gasschleppe hinterherziehend.

Im Zentrum der kleinen Welt, die sich in einer Spiralbahn langsam von Zhygor entfernte, gab es einen kugelförmigen Hohlraum mit einem Durchmesser von mehr als zehn Kilometern. Im Mittelpunkt waren zwei Sternjuwelen mittels Kraftfeldern verankert. Langsam rotierten die Kristalle umeinander. Roter und grüner Glanz umsprühte Tausende Facetten. Im Inneren die gewaltige Masse-Energie-Konzentration, gebändigt von materieprojektiven »Hyperkristall«-Strukturen. Und unsichtbar bestanden Kontaktlinien zum STERNSAPHIR, der sich im Besitz von Xanthyn Ol’dan befand.

In der Raum-Zeit-Nische über der Arena Voktir: Atlan

Ich taumelte in einem unwirklichen Zustand und brauchte einige Zeit, bis eine erste Orientierung gelang. Dass ich noch lebte, setzte ich insofern voraus, als ich in altbekannter Weise dachte und fühlte. Aber einen Körper besaß ich nicht mehr, zumindest keinen, der mir vertraut gewesen wäre. Wenn ich den Arm ausstreckte, hatte ich zwar das Gefühl, diese Bewegung auszuführen, konnte allerdings nichts dergleichen erkennen. Schritte blieben Illusion, und sogar mein Atmen war – vermutlich – nichts anderes. Meine Umgebung glich normalem Weltraum: Ganz nah sah ich Sonnen, befand mich mitten in einem Haufen eng stehender Sterne, zwischen denen bläuliches Leuchten von Fasern, Filamenten und Schwaden hing. Wenn auch der Blickwinkel ungewohnt war, glaubte ich die Formation doch zu erkennen. Ein Wispern durchzog meine Gedanken:

Du kennst den Sternhaufen, der vergleichbare Charakteristika besitzt. Mirkandol – der Ort der Begegnung!

Unwillkürlich nickte ich – hatte zumindest die Empfindung, dies zu tun –, während vom photographischen Gedächtnis die Daten am Rand meiner Wahrnehmungsschwelle reproduziert wurden: Offener Bewegungshaufen von siebenundzwanzig Lichtjahren Durchmesser, 5808 Lichtjahre von Zhygor und 24.903 Lichtjahre von Arkon entfernt. Hauptsächlich blauweiße Übergiganten, aber auch lichtschwächere; er ist in Wolken kosmischen Staubs eingehüllt, die als bläulicher Reflexionsnebel das Sonnenlicht streuen. Parallel dazu glaubte ich Imperator Gwalons sonore Stimme zu hören, eines jener Dateifragmente, die Hemmar Ta-Khalloup vor kurzem den Speicherinhalten des Juwels von Kariope entrissen hatte:

»Nachtragsnotierung sieben, Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren; Resonanzsiegel nur durch spezifischen Außenimpuls zu lösen. Es wird kundgetan: Ich habe den offenen Sternhaufen, Katalognummer BB14-CM0002-A1, offiziell Ort der Begegnung genannt – es wird der einzige dauerhafte, unverschlüsselte Hinweis bleiben. Zehn Pragos nach dem letzten Hauptkontakt, der in beiderseitigem Einvernehmen den Pakt bestätigte, erscheint mir das Rätsel der namenlosen Sternen-Entität noch größer. Zu wesensfremd sind und bleiben wir einander, die Verständigungsbandbreite ist auf eine minimale Schnittmenge der Gemeinsamkeit beschränkt. Es wurde beschlossen: Zeitlich unbefristet ergeht an mich und meine Nachfolger die Verpflichtung, den Verlorenen Kindern der Sternen-Entität die Heimkehr zu ermöglichen, sofern deren Spur gefunden wird. Das Resonanzsiegel ist entsprechend geeicht und wird, da ich das Juwel von Kariope im Bmerasath des Zwölferrates verankern werde, diese Nachricht zu gegebener Zeit den dann Verantwortlichen preisgeben. Im Anhang sind die hyperenergetischen Spezifika aufgelistet, die zur Identifikation der Verlorenen Kinder notwendig sind. Im Gegenzug sichert die Sternen-Entität uns und unserem Volk Unterstützung zu, sollten die Großen Alten Gefahren eines fernen Pragos aktiv werden; auch auf deren Impulse ist das Resonanzsiegel geeicht. Kodebegriff zur Kontaktaufnahme mit der Sternen-Entität ist Vehraáto – identisch mit dem Zwölften Heroen, dem stets ersehnten Retter, der Lichtgestalt aus der Sonne!«

Von Ahnungen heimgesucht, starrte ich auf die Sonnen vor mir und verglich die Bilder mit den mir vertrauten des Sternhaufens, in dem Ceshal da Ragnaaris Zhy-Famii kurz ein gewaltiges Bewusstseinspotential bemerkt haben wollten. »Die Ähnlichkeit besticht. Trotzdem ist es nicht dieses Objekt, sondern was ganz anderes«, murmelte ich.

Weiteres Raunen bewies, dass der Logiksektor trotz meines veränderten Zustands weiterhin mit mir in Verbindung stand: Erinnere dich an das Wappen der Biin-Goorl beim Angriff auf Yesugei! Helle Punkte zwischen blauen Streifen auf schwarzem Grund!

»Du meinst, es ist der Herkunftsort der Lichtelfen? Vielleicht gar, dass diese die … Verlorenen Kinder sind?«

Ja, Imperator.

»Und wo befinde ich mich?«

Es hat eine Eruption gegeben, hyperorientiert und nur bedingt Teil des konventionellen Universums. Ich tippe auf ein Miniatur-Kontinuum, ähnlich dem Sonnenkiller. Eine Raum-Zeit-Nische oder Hyper-Vakuole.

»Dann müssten die Sonnen eine Art Projektion sein?« Leises Wispern erreichte mich. Ich lauschte angestrengt, glaubte das typische Biin-Goorl zu erkennen und »sah« in einigen Sonnen goldene Zentren aufglühen. Irgendwie kann ich wirklich in die Leuchtkugeln »hineinsehen«.

»Sind das Lichtelfen?«

Eins rauf, Partner. Du hast es erfasst.

»Mit anderen Worten: Sie selbst sind es, die hier ihren Ursprungsort simulieren? Das ist phantastisch! Hhm, wie groß mag diese … Hyper-Vakuole sein?«

Keine Vergleiche möglich. Da du Teil von ihr bist, können es für dich Lichtjahre sein. Eben ein Universum für sich. Außenmaßstäbe gibt es auf dieser Ebene nicht. Sollte es auf oder über Zhygor »Sekundärerscheinungen« geben, werden sie schwerlich größer als ein Planet sein.

»Täusche ich mich, oder bewege ich mich wirklich zwischen den Pseudo-Sternen?«

Keine Täuschung. Achtung! Du bekommst Besuch!

Als grüne geschweifte Flammenkugel kam ein Objekt vorbei, das aus der Ferne einem Kometen glich. Lautlos raste es zu einem Stern mit goldenem Kern, wurde herumgerissen und kam wieder auf mich zu. Als die grüne Kugel neben mir flog, erkannte ich vertraute Paraströme. »Tanja!«, rief ich verblüfft. »Du hast dich aber verändert, mein Schatz!«

»Dein giftgrünes Aussehen ist ebenfalls nicht der letzte Modeschrei. Passt aber wohl zu deiner Stimmung.« Subimpulse der Reserviertheit und Vorsicht strahlten von ihr aus; ich konnte sie nur zu gut verstehen, verdrängte die Erinnerung an den Arenakampf und seine suggestiven Beeinflussungen. »Als wir uns das letzte Mal sahen, warst du drauf und dran, mich zu erschlagen!«

»Entschuldige, ich …« Zerknirscht brach ich ab.

Leise, aus weiter Ferne erklang die Erinnerung an Tanjas Stimme in mir auf: »Ich bin Tatjana Michalowna, eine terranische Mutantin, die auf Iprasa als Feuerfrau anerkannt wurde. Für einige Zeit lebte und lernte ich in der Yesugei-Burg von Zhygor. Willst du, dass ich hiermit offiziell meine Wahl erneuere, Eisjunker?«

Ja! Bei allen Sternengöttern! Nichts will ich mehr als das, Liebste!

Sie lachte plötzlich verständnisvoll, wenn auch mit bitterem Unterton; schattenhaft erschien ihre Gestalt zwischen grünen Flammen und Zungen. »Ich weiß. Sie haben dir ebenso zugesetzt wie mir. Trotzdem fühle ich mich missbraucht und ausgenutzt. Richtig schmutzig!«

»… missbraucht! Scham! Angst!«, zischelten die Sonnen.

»Biin-Goorl?«, signalisierte ich, und sie bestätigten mit frohen Schwingungen:

»Biin-Goorl! Biin-Goorl!« – und Bilder entstanden und überdeckten den bisherigen Sternhaufen-Eindruck. Es war nicht schwer, in ihnen einen Verständigungsversuch der Lichtelfen zu erkennen. Sie erzählten eine faszinierende Geschichte, die sich als unglaublicher Bogen durch Raum und Zeit schwang.

Der Ursprung: Es war ein umfassendes Brodeln und summendes Raunen, das jenen Bereich erfüllte, in dem sich kosmischer Staub zusammenballte. Mit den ersten Lichtblitzen neu entstehender Sterne und sich ausbreitender Helligkeit wurde das Unsichtbare sich seiner selbst bewusst.

Personifizierter Geist durchdrang jenen Sektor, der mit der Zeit einige hundert Sterne gebar. Relativ dicht gedrängt, umgeben von Staubfahnen, bewegten sich die Sonnen als Haufen durch das All. Zwischen ihnen, sie erfüllend und Teil von ihnen, hatte die Ausprägung einer Bewusstseinsstruktur stattgefunden, die sich als strahlender, lichter Glanz empfand. Die »Bewohner« waren nicht von optisch sichtbarem Licht, und sie besaßen keine manifestierte Gestalt; es war der Glanz Wahren Seins, das in seiner puren Existenz unabhängig von Raum und Zeit blieb. Mit dem Licht der Sonnen griffen allerdings Ausläufer der Bewusstseinsstruktur nach allen Seiten ins All hinaus. Eine Ausdehnung, die zur Separierung einzelner Teile und Splitter führte. Denn die Ausdünnung der Konzentration folgte der Geometrie der raumzeitlichen Umgebung – verdoppelter Radius vervierfachte die so umrissene Oberfläche.

Mochte im Kern die Einheit ein geballter Punkt gewesen sein, strebten mit der Ausdehnung die Einzelteile immer weiter auseinander. Tausende Splitter des Bewusstseins – »Kinder« gewissermaßen – entfernten sich vom Ort ihrer Herkunft, und mit dem schwieriger werdenden Kontakt untereinander wurden die Teile immer eigenständiger. Vom Ursprung ausstrahlende, der ersten Ausbreitungswelle nachfolgende »Generationen« vermochten in den seltensten Fällen die abgerissene Kommunikation wiederherzustellen. Dass es mit der Zeit Kontakte zu anderen Lebensformen gab, war unausweichlich; meist scheiterte die Verständigung, denn im Gegensatz zu diesen besaßen die Splitter keine Körper. Sie waren frei, beweglich und nur ihrem Willen verantwortlich, und die hemmende Barriere zur Materie blieb lange undurchdringlich. Es gab Gruppen, die, fasziniert von den anderen Lebensformen, selbst Körperlichkeit zu erlangen versuchten. Einige schafften es – auf Kosten früherer Freiheit und Beweglichkeit, denn sie tauschten Grenzenlosigkeit mit ichbefangener Materie-Struktur. In körperlicher Gestalt fokussiert, vergaßen die Splitter ihren Ursprung, wurden etwas Neues …

Die Biin-Goorl stocken einen Moment. Bilder und Erzählstrom werden vager. Spekulationen. Unsicherheit. Riesige Walzenkörper, die durch das Vakuum treiben und sich von Mikromaterie, Staub, kosmischer Strahlung und angezapfter Hyperenergie ernähren, tauchen auf. Und ein Begriff: Ayish Fiil. Es scheint eine Verwandtschaft mit den Raumwürmern der Too-Wächter zu existieren. Die Biin-Goorl glaubten es zu erkennen, als sie das Fossil in den Katakomben von Tatalal bemerkten. Gemeinsame Abstammung, aber seit langer Zeit getrennt verlaufende Entwicklungen …

Im Gegensatz zu den Materiephilen wagten andere den entscheidenden Schritt nicht, sondern blieben irgendwo in der Mitte; teilmateriell oder materieprojektiv.

Wieder andere behielten ihre alte Struktur, durchstreiften rastlos das All, neugierig, unschuldig, wissbegierig. Irgendwann kam es im Ursprung selbst zu einem denkwürdigen Kontakt. Wesen in dodekaedischen Kristallkörpern, selbst Wahres Sein, das zum Teil über die eingeschränkte Substanz hinauszugehen vermochte und die Gestalt mächtiger Walzenleiber annahm, unterbreitete dem Ursprung das Angebot, gemäß dem bestehenden Pakt bei der Suche nach den »Verlorenen Kindern« zu helfen, um abgerissene Kontakte wiederzubeleben …

»Tekteronii!«, zischte ich wütend. »Thaafs und Cyén! Irgendwie müssen sie von Gwalons Vereinbarung erfahren haben. Sie haben das Sternenbewusstsein belogen und manipuliert!«

Weitere Bilder und Informationen erschienen: Viele Einzelsplitter gingen mit den Dodekaedern auf die Reise und wurden konditioniert, ohne dass sie es merkten. Ihre Bewusstseinsform war in der Lage, das Zhygor-Tabufeld zu durchdringen; genauer: Sie wurden, an Wahres Sein geheftet, nicht sofort als Eindringling erkannt und abgewehrt – und von den »Übernommenen« überdies auch nicht wahrgenommen.

»Die Splitter sollten nach ihren Artgenossen suchen, und mit dieser Suche wurde das Konditionierungsprogramm aktiviert. Telekinetische Kräfte konnten toben, Suggestionen beeinflussen. Ohne es zu wissen oder zu wollen, bringen die Splitter Chaos und Tod.« Ich schauderte, weitere Bilder flirrten: Eine Frau erschien. An sie hefteten sich Schemen, schrumpften zu nicht zu bemerkenden Blasen – und gelangten nach Zhygor!

Meine erste Begegnung hatte ich beim Raumwurm in den Katakomben, doch der eigentliche Zustrom der Lichtelfen geschah später, durchzuckte es mich, und ich erinnerte mich an die Lichtelfe, die sich in Tanja eingenistet hatte.

»Wann, Liebling, bist du nach Zhygor gekommen?«

»Mitte 2045 … Der Tekteron-Angriff! Damals müssen sie …« Erinnerungsfragmente blitzten auf, die als Zeitrafferszenen von Tanja zu mir flossen: Beurlaubung vom Korps. Start der Space-Jet. Flug nach Zhygor. Ein Überfall von Tekteronii auf einen Nachschubkonvoi. Spontanes Eingreifen, weil immun gegen suggestive Emissionen, die von einem Götzen auszugehen schienen. Dennoch ein paranormales Ringen, dem die Mutantin fast unterlag. Nur das Eingreifen von Gijahthrakos schlug die Tekteronii in die Flucht. Merkwürdig vage die Erinnerung an die entscheidenden Minuten – etwas war geschehen, doch Tatjana wusste nicht mehr exakt, was. Fragen danach aber in der Folgezeit verdrängt. Schulung und Meditation auf Zhygor in der Yesugei-Burg, der Versuch, zu sich selbst zu finden …

»Richtig. Die meisten hast du mitgebracht! Sie haben dich als Vehikel benutzt, um in großer Zahl unbeobachtet nach Zhygor vorzudringen.«

Tanjas Flammenkugel wurde blass. »Deshalb drangen sie immer wieder auf mich ein! Ich war ihnen vertraut. Deshalb vermutlich auch die Attacke auf Yesugei! Alles passt zusammen!«

Es bedeutet noch mehr, sagte mein Logiksektor. Die Biin-Goorl erlebten einen weiteren Fremdeinfluss: Ihre Struktur reagierte auf Zhygors Hyperaktivität, die ihrerseits in der Planetoiden-Raum-Zeit-Nische ihren Ursprung hat. Verzögert wirkte das Tabufeld auf sie ein. Interaktionen verschiedener Art entstanden.

»Auf die ich ebenfalls reagierte«, murmelte ich erschüttert. »Beziehungsweise sie auf mich. Jedenfalls konnte ich sie sehen.«

Meine innere Stimme raunte: Für die Lichtelfen gab es auf Zhygor demnach stets nur zwei Bezugspersonen – Tatjana und dich. Viel wichtiger scheint aber, dass die Tekteronii offenbar seit Jahren gezielt auf Zhygors Vernichtung hinarbeiteten! Bestenfalls der von der Raum-Zeit-Nische umgebene Planetoid würde eine solche Katastrophe überstehen … Hier ist vermutlich das eigentliche Motiv zu suchen, Imperator. Erinnere dich an die Visionen in den Katakomben! Wegen des Tabufelds kommen die Tekteronii nicht an den Planetoiden heran, der früher an ganz anderer Stelle in ganz anderer Funktion stationiert war!

Das Bild des von sechs Leuchtpunkten gebildeten Oktaeders stand mir vor Augen. VHALON, stand in arkonidischen Lettern daneben. Leuchten im Zentrum. Dann der Wechsel zum Planetoiden, der auf Zhygor abstürzte. Und eine Stimme gellte: »… ist Verrat!«

Schwarze Metallkugeln – in den Katakomben und auch in der Kruste des Vonermondes Tix verborgen. Petronische Ingenieure. Barkoniden. Ereignisse, die mehr als eine Million Jahre zurücklagen! »Erwachende Legenden«: Großer Galaktischer Krieg, Qa’pesh, die Mooshar genannte Festung im Speicherinhalt des Juwels von Kariope, den Hemmar bislang nur in winzigen Fragmenten entschlüsselt hatte …

Zwischen alldem besteht eindeutig ein Zusammenhang!, ergänzte der Extrasinn meine Überlegungen. Die Cyén wissen genau, was sie wollen. Und das hängt mit dem Planetoiden zusammen und mit diesem die Sternjuwelen. ES sagte im Nebeldom, dass kosmische Entwicklungen auf Zhygor fokussiert werden!

Die angekündigte Gefahr … Ich nickte unwillkürlich. ES sagte dazu: Indem du Zhygor zur Freihandelswelt machst, ist ein Teil davon unter Kontrolle.

»Vermutlich haben die Lichtelfen sogar irgendwie nachgeholfen, als ich dich wählte.« Tanjas Stimme klang belegt, Selbstzweifel waren deutlich herauszuhören; sie war sich ihrer Liebe plötzlich nicht mehr sicher! »Gemeinsam bedrohten wir sie, weil uns ES in eine Art Käscher verwandelte.«

»Auf einen Punkt konzentriert kam es dann zur Eruption – bei der Zhygors Kräfte freigesetzt wurden!« Und jetzt, dachte ich, treiben wir durch ein Mini-Universum.

Zögernd meldeten sich die Biin-Goorl, verbunden mit nonverbalen Informationsimpulsen: »Hilfe nicht permanent … Ballon verschwindet … Kräfte kumulieren … neuer Ausbruch droht später …«

Tanja hatte die gleiche Idee wie ich: »Wir brauchen die Lichtelfen, um Zhygor langfristig zu beruhigen!«

»Ein Pakt!«, stimmte ich zu. »Sie helfen uns bei Zhygor, und wir helfen ihnen gegen die Tekteronii und deren Manipulation! Die Sternen-Entität in Mirkandol! Dank Gwalon besitzen wir sogar den Kodebegriff zur Kontaktaufnahme – Vehraáto …«

Plötzlich stürmten neue Bilder auf uns ein. Für Augenblicke hatte ich den Eindruck, den Planetoiden unter Tatalal starten zu sehen, verbunden mit planetenweiten Naturkatastrophen. In gewisser Weise war es die Umkehrung jener Vision, die mir den Absturz vor langer Zeit gezeigt hatte, damals bei der Cho-Initiation in den Katakomben von Tatalal. Dann aber wechselte der Blickwinkel, machte anderen Eindrücken Platz. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor, doch trotz des photographischen Gedächtnisses wusste ich sie nicht einzuordnen.

Für Augenblicke sah ich das Bild der platinblonden Unbekannten, deren Augen zu bodenlosen Schächten wurden. Noch immer wusste ich diese Fremde, die mir inzwischen so oft in Visionen erschienen war, nicht einzuschätzen. Sicher war nur, dass es auf eine sonderbare Weise zwischen uns eine Interaktion gab. Viel intensiver schoben sich andere Bilder in den Vordergrund. Der Planetoid unter Tatalal, in den Sternenmythen Mooshar genannt. Das Gesicht wurde von drei Kristallen abgelöst, die markant in rotem, grünem und blauem Licht glitzerten. Die drei Sternjuwelen: Sternrubin, Sternsmaragd und Sternsaphir! Ihr Glanz vereinte sich zu einem Blenden und weckte die Empfindung, mit ihnen unglaublich riesige Kraftkonzentrationen verbinden zu müssen …

Nicht einmal einen Wimpernschlag dauerte die Phase grenzenloser Gewissheit: Zwei der Kristalle befanden sich im Zentrum des Planetoiden, der dritte war im Besitz der Cyén – dann endete der wache Augenblick und wurde von verwirrenden Eindrücken und Szenen überlagert. Szenen aus der Vergangenheit, von denen Teile eine Resonanz hervorriefen; zumindest einiges davon war mir bekannt, eine Beobachtung Ricos, vorgespielt in der Aufweckphase, bevor ich Leif Eriksson besuchte.

Nun aber erhielt ich einen neuen Blickwinkel, schien in die Ereignisse eingebunden zu sein – und wusste doch, dass nicht ich es war, der es erlebte. Vielmehr handelte es sich um Impressionen, die mir aus unbekannter Quelle zuflossen und das Bild der platinhaarigen Fremden endgültig überlagerten.

Fremde Schwingungen, die beim Passieren der Barriere verzerrt wurden, erreichten das Innen und mischten sich in sein Wispern und Raunen. Die Translation gelang mit Mühe, dennoch kennzeichnete der Vorgang ansich, dass ein neuer Versuch eingeleitet worden war. Erwartungsvolle Spannung durchzog das Innen, denn aus eigener Kraft, das besagte die Auswertung aller Daten, war das Ziel nicht zu erreichen. Es bedurfte eines äußeren Anstoßes mit ausreichender Kraft, um die Barriere aufzulösen, deren Einkapselung jede Weiterentwicklung verhinderte. Die Sicht ins Außen blieb undeutlich, die fremden Schwingungen symbolisierten einen schwachen Kontakt:

»… der Tapferen viele machten sich auf, auszufahren zum Wiking, zum eigenen Ruhm und dem der Sippe, getrieben von Lust aufs Abenteuer, reiche Beute im Sinn, blitzende Blutzweige gereckt, Schiffsmonde gehoben – der Schwertspiele gierig; windgebläht der gischtumspritzten Sturmreiter und Meerböcke gestreifte Segel, vorzudringen bereit in jede Richtung des Windes unter Ymirs Schädel, bis an Midgards Rand, die Gebirge der Riesen und den Ozean von Lokis verderblicher Natter, der sogar der mächtige Hammerschleuderer unterliegt …«

Westlicher Ozean: Anno Domini 992

Der beißende Wind schnitt ins Gesicht und trieb Tränen in die Augen. Björn sah über die Schulter und keuchte; für einen Wimpernschlag glaubte er den Leib der Midgardschlange zu entdecken. Dann wuchs die Welle zur gischtenden Walze, traf krachend auf das Heck, wurde geteilt und schwappte an den Bordwänden empor. Wie Schlangenleiber wanden sich Bäche über die Planken des Halbdecks und umsprudelten die Ladung des Tiefdecks bis zum Mastfuß: gestapelte Baumstämme, Fässer und pralle Ledersäcke, durch dicke Taue gesichert. Im Dunst des zersprühenden Wassers wurden die Männer im Vorschiff, an aufgespannte Leinen geklammert, zu fremdartigen Schatten; vereinzelt erschienen Schultern und Arme über dem Lukenrand und reichten Ledereimer und Holznäpfe hoch.

Das Schiff wankte unter den Schlägen der Wogen, der Bug hob sich, ein Brecher klatschte gegen das Heck und türmte sich dreieckig hoch, von weißem Gekräusel bedeckt. Unter dem Schauer duckten sich Björn, Einar und Orm; der Mann am Steuer murmelte ein Stoßgebet zu Odin und Thor. Das Seeroß wurde stetig nach Westen getrieben, in den äußeren Ozean.

Mit jeder verstreichenden Stunde bangten die Männer mehr, obwohl es niemand laut aussprach; sie näherten sich unaufhaltsam dem Rand der Welt, allerdings hatte auch der dritte Tag der Sturmfahrt sie nicht umgebracht. Björn Thorgrimmsson, Sohn des Thorgrimm, der den Beinamen Krähe trug, umklammerte mit steifen Fingern die Ruderpinne, dachte an klangvolle Worte eines Sagamannes und seufzte: »Aber der vierte Tag hat erst begonnen! Bald treibt’s uns über Midgards Kante! Kein Skalde wird davon singen.«

Meer und Himmel waren von dunklem Grau, die Sonne von rasch ziehenden Wolkenbänken verdeckt. Schäumendes Weiß überzog die Wellenkämme, die, oft masthoch, von dem knarrenden Meerstürmer abgeritten wurden. Tauwerk und Holz ächzten, ein weiterer eisiger Brecher peitschte über das Schiff, als der Bug tief eintauchte. Wasser zerstob und troff in breiten Bahnen vom flach gewölbten Starkwindsegel, Tropfen trafen Björns gefühlloses Gesicht und versickerten im salzverkrusteten Bart. Schmerzen pumpten in Wellen durch den Körper, Nadeln schienen jeden Muskel zu peinigen.

Björn war genau wie die Mannschaft ausgelaugt und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf.

»Schöpft, Männer, schöpft!«, brüllte er und starrte aus zusammengekniffenen Augen über das Deck; Orm Rotbart stand gebeugt zwischen Mast und Heck und spie über die Bordwand, der Skalde Olof hielt sich an der Backbordbrasse fest. »Der Sturm nimmt zu!«

»… gefällt mir nicht!« Einar Skalthors Worte, obwohl gebrüllt, wurden vom Wind zerrissen; Björn erahnte ihre Bedeutung mehr an den Mundbewegungen. Pfeifen und Knacken des Rumpfes mischten sich in das Singen der Taue. Zwei Schritte von Björn entfernt, am Rand der dreieckigen Heckplattform, blinzelte Einar Salzwasser aus den Augen. Das Segel, doppelt so breit wie hoch, in der Mitte mit dem schwarzen Krähenbild verziert, ächzte wie kurz vorm Reißen, und die KRÄHE DES WINDES raste über das Meer, von sprühender Gischt überschüttet. Weiter nach Westen, dem tosenden Abgrund entgegen. Orm schüttelte den Kopf, ballte die Hände zu Fäusten – der Blick aus blutunterlaufenen, dunkel umrandeten Augen stieß Björn bis ins Mark. Odin hilf!, durchfuhr es ihn, und sein Magen schien zu verknoten. Dieser Sturm ist unser Tod!

»Mir auch nicht!«, schrie er und umklammerte mit der Linken das straffe, zwischen Achterstag und Bordwänden aufgespannte Haltetau. Mühsam fing er die Schiffsbewegungen in den Knien auf. Ein Brecher traf das Ruder und drückte dem Mann die Pinne in den Bauch, so dass ihm für mehrere Wimpernschläge der Atem stockte. Lautes Rauschen in den Ohren mischte sich mit Sturmtoben und dem hämmernden Herzschlag. Björn fühlte, dass tief in ihm ein Zittern begann, das langsam den ganzen Körper erfasste, die Knie weich werden ließ, Übelkeit erzeugte und den Schädel mit Stichen durchzog. Das Dutzend an Bord der KRÄHE kämpfte ums Überleben, noch hofften die Wikinger, hartgesotten und sturmerprobt; mit jeder verstreichenden Stunde schien es aber mehr zur Gewissheit zu werden, dass sie die letzte Fahrt angetreten hatten. Björn leckte über gesprungene Lippen und spuckte salzigen Schleim nach Lee.

»Witz bedarf man auf weiter Reise.« Olof knurrte grimmig eine Strophe des Hávamál, Orm wischte schmierige Fäden von Mund und Bart. »Daheim hat man Nachsicht …«

»Der Witz wird gallig, mein Freund.« Björn sah, dass der Skalde abwinkte und, als ein Schlag das Schiff erschütterte, am Tau vorbeilangte, stürzte und mannsweit über die Planken rutschte, bis er ein Stemmbrett packen konnte und sich auf die Ruderbank zog. Keuchend richtete er sich auf und schüttelte, das Gesicht schmerzverzerrt, die linke Hand. »Festhalten! Sonst reißt dich die nächste Woge über Bord.«

»Vielleicht besser als der Sturz in Hels Abgrund!«

Björns Kopfhaut zog sich zusammen, seine Hände fassten fester nach der Pinne. Zwei Ledereimer wurden ausgeleert, die KRÄHE DES WINDES schoss in ein Wellental; gischtendes Wasser brauste vom Bug her über das Deck und die wertvolle Ladung. Die knarrende Rah mit dem straffen Segel, dessen Rauten zwischen den Nähten spannten, schwang mehrere Fuß weit aus der Dwarslinie, und von der straff spannenden Backbordbrasse kam ein durchdringendes Singen. Wasser troff von den festgezurrten Riemen, eine kreischende Bö brachte salzgetränkten Sprühregen. Die Wikinger taumelten und suchten nach Halt, als sich der Sturmelch nach Steuerbord neigte und das Segelende durch Wellenberge schnitt, die aus unregelmäßigem Kreuzmuster zwischen Schaumlinien aufstiegen und von Silberlinien überzogen waren. Es wurde kälter, und Björns Furcht vor Treibeis war kaum geringer als die, über den Rand der Welt zu stürzen. Oder im Land der Riesen zu stranden, deren fürchterliche Fäuste sie zermalmen würden. Wurde das Brausen und Toben nicht lauter? Näherten sie sich der alles verschlingenden Kante, dem Sturz in bodenlose Tiefe?

»Wir sind in des Schlachtvaters Hand.« Einar prallte gegen Riemen und aufgestapelte Baumstämme und keuchte. »Aber auch er muss sich den Nornen fügen. Wir können nichts tun.«

In kürzester Zeit hatte sich der Himmel zu einem eisgrauen, diesigen Etwas verfärbt; kaum dass am Horizont noch eine Unterscheidung zum Meer möglich war. Und hinter dem Lindwurm der Wellen zogen sich rasch Wolken zusammen, wurden zur finstren Wand. Alles Bewegliche, das, was leicht verderblich und schützenswert war, war verpackt, festgezurrt und verstaut. Die Männer arbeiteten fieberhaft. Schon seit dem ersten Brecher schöpften sie mit allem, was an Bord war und nur annähernd zum Schöpfen dienen konnte: Stets drang Wasser zwischen den Plankengängen durch und sammelte sich in der Bilge, doch nun schwappte die Brühe mehr als kniehoch über dem Kielbalken der KRÄHE DES WINDES. Trotz der Erhöhung des Freibords durch Setzborde gab es viel überkommendes Wasser. Und wenn nun der Sturm weiter wuchs – Wellen und Brecher würden die Knörr zerschmettern. Das hochbordige Schiff, fünfzehn große Schritte lang, mittschiffs mehr als zweieinhalb Mannslängen breit, hatte seit vielen Sommern gute Dienste geleistet, ein Arbeitspferd, dessen praller Bauch mit Fracht für Island gefüllt war: Holz aus dem Nordland, Metall, Mehl, Teer …

Sie hatten schon den Duft der Eisinsel gerochen und ihre Vögel gesehen, als nach guter Fahrt von den Nordfjorden her der Sturm aufzog und sie an Island vorbei nach Westen trieb. Die Kraft der Wikinger schwand zusehends; Björn sah zwei zwischen Ruderbänke gezwängte Gestalten, deren Köpfe kraftlos wankten – ein erschöpftes Dösen mit halb geschlossenen Augen. Die feuchte Luft war von Salz erfüllt, und kalter Wind zerrte an Haaren und Kleidung. Längst schützten die übergeworfenen Lederhäute, eingerieben mit Öl und Fett, nicht mehr. Schon zeigte das Spritzwasser milchige Schlieren; Björn musterte besorgt die ersten Zeichen von Vereisung und starrte über das Segel zur Mastspitze hinauf, die scheinbar am tiefziehenden Gewölk kratzte. Alle Kräfte der Natur schienen sich gegen sie zu verschwören.

»Und es kommt noch schlimmer!« Einar, an die Bordwand geklammert, wies nach Steuerbord achteraus. Björn erschrak, als er den Kopf drehte. Gewaltig war der Wolkenberg, der sich dort zusammenballte, umschichtete, schwärzer wurde und mit rasender Geschwindigkeit näher kam. Nach wenigen Augenblicken schien der halbe Sichtkreis verdeckt. Wie Bindfäden wirkte das verwaschene Grau unter der mächtigen Wolkenbank: Regen. Der Wind blies noch heftiger, trug schaumige Gischtflocken vor sich her, und dann hämmerten Tropfen nieder, schlugen wie kleine Pfeile auf das Schiff. Das Atmen fiel schwer, der Wind fauchte mit fürchterlicher Wucht. Allen Männern flatterte und schlug triefende Kleidung um die Körper. Das Prasseln wurde lauter, und ein Schauer fingerkuppengroßer Körner trommelte über die Planken. Vom Hagel getroffen, keuchten und schrien Männer. Graupeln tanzten über das Deck, wurden von Rinnsalen mitgerissen und stauten sich an der Bordwand. Die KRÄHE krängte weit nach Backbord, ein Eisschauer prallte vom Segel ab, vom Mast kam bedrohliches Knirschen, und das Tauwerk kreischte in den Blöcken. Zittern durcheilte die Rahnock, als das Schothorn eintauchte und Fontänen von der Schotleine spritzten.

»Das Segel!« Björn ächzte. »Einar, Orm, Ulf! Runter mit der Rah, ehe uns die Fetzen um die Ohren fliegen!«

»Verstanden.«

Gestalten schlitterten über die Planken, Einar prallte mit der Brust gegen das straffe Tau und gab einen dumpfen Schmerzenslaut von sich; für einen Wimpernschlag wirkte der Körper leblos, die Arme baumelten ohne Kraft. Orm sprang hinzu, stützte den Freund. Ulf tastete sich Hand vor Hand am Haltetau entlang und sah den Mast hinauf, während Olof nach den Sperrhebeln der Windenwalze griff. Sein Schrei blieb unverständlich, aber die Männer im Vorschiff winkten zustimmend. Björn stemmte sich gegen die Pinne, Adern quollen an den Schläfen vor.

Die KRÄHE kroch mühsam eine masthohe, langgestreckte Welle hinauf, überquerte den Kamm und krachte, nach einem fast reglosen Augenblick, Richtung Tal. Der Bug tauchte tief ein, spaltete das Wasser und wurde hüfthoch überschwemmt. Während die Woge über das Deck brandete, schäumend, quirlend, rauschend, die Männer sich krampfhaft festhielten und das Backbordrahende Richtung Heck drehte, gelang es Björn, das Schiff kurz aus dem Wind zu drehen. Schwerfällig schwang das Heck herum, die pralle Fläche sank zusammen, und die Spannung der Schotleinen endete augenblicklich. Orm und Einar arbeiteten an den Brassen, und Olof löste die Sperrhebel. Rasend drehte sich die Walze, und die mit Holzkugeln besetzte Tauschlinge, mit der die Rah am Mast befestigt war, rutschte zum gellenden Warnschrei nieder. Die Rah krachte und polterte auf die Ladung, Tuch flatterte im Wind, schlug schwer auf Bordwand und Deck.

»Leinen belegen!«, brüllte Björn. Die Wikinger refften fieberhaft das Segel, ehe es tatsächlich von der Kraft des Sturms zerfetzt werden konnte oder gar der Mast brach. An die Rah geklammert, bemühte Orm sich, die Stange festzuzurren, Olof beendete, von Ulf unterstützt, das Aufschließen der Leinen. Ein Brecher rauschte übers Vorschiff, der Bug sank in das Wellental. Björn, der einen Schrei zu hören glaubte, kniff die Augen zusammen, musste sich festhalten und wurde augenblicklich vom salzigen Schäumen umspült. Als er wieder zu Atem kam und Wasser aus den Augen wischte, vermisste er zwei Männer. Keine Rettung, durchzuckte es ihn. Sie wurden von der Welle fortgerissen! Und unser Schicksal wird nicht besser sein!

Immer wütender und lauter kreischte der Sturm. Wilde Böen, von Wasser getränkte Luft, Regen, tosende Brecher, dann Hagelschauer. Plötzlich zuckte verästelt die Bahn eines Blitzes durch die Finsternis, und im kalkigen, grellen Licht hatte Björn den Eindruck, als reiße die Mastspitze die drohenden Wolken endgültig auf. Geblendete Augen starrten verwirrt umher, durch funkendurchsetzten Dämmer polterte und krachte der ohrenbetäubende Donnerschlag, rollte aus und ging in einen zweiten und dritten über. Erneut fächerte ein Blitz aus, und die Zweige erschienen Björn als gierig ausgestreckte Finger. Die Helligkeit zerfetzte schwarzes Gewölk wie ein Schwerthieb einen Vorhang, stechendes Licht überschüttete aufgewühltes Meer, zeigte Schaumkronen und gewaltige Wellen. Ohrenzermürbend war der sofort folgende Knall, als schlage Thors Hammer nach dem Gischtrenner, der gegen die Gewalten kämpfte.

Kälte und Gefühllosigkeit durchzogen Björn; fast sehnte er den Rand der Welt herbei – dann hatte die Qual ein Ende. Im Wetterleuchten sah er anmutig winkende Gestalten, deren Rösser aus Schaum und Gischt bestanden. Die Walküren schienen sie zu verhöhnen. Schlachtvater Odins Botinnen würden sie nicht begleiten, kein Trinkgelage in Walhall erwartete sie, denn keine ruhmreiche Schlacht brachte ihnen das Ende, sondern Ägir zog sie in sein nasses, dunkles Reich. Björn keuchte; vielleicht half ihnen heldenhafter Kampf gegen Sturm und Wellen …

Fluchend, nass bis auf die Haut, Haar und Bärte windzerzaust, schöpften die Männer nach einem Augenblick zitterigen Innehaltens weiter; die Arbeit, kräftezehrend und ermüdend, wurde schon von der nächsten Welle zunichte gemacht. Der Sturmreiter schwankte und stampfte. Mühsam wurde nach festem Halt getastet, Hände umfassten verzweifelt Taue und Leinen. Erneut schlugen Wassermassen zusammen, schienen die KRÄHE verschlingen zu wollen. Björn schnappte krampfhaft nach Luft, blinzelte und zerbiss einen Fluch, weil eine weitere Welle traf und den Mann fast von den Planken zerrte. Kalte und gefühllose Finger umschlossen das Holz der Pinne. Sein Aufschrei stand für allen Schmerz und beklemmende Not: »Odin …«

Eine mastdicke Lichtbahn, gewaltiger Donner und dann fauchend aufstäubendes Wasser; nur wenige Dutzend Mannslängen backbords zerfetzte eine Fontäne zu silbrigen Tropfen, mehr als doppelt so hoch wie der Mast. Für Augenblicke glaubte Björn hinter dem zersprühenden Wasser einen gewaltigen leuchtenden Körper zu sehen. Fast glich er einem brennenden Schild, der, von Riesenhand geschleudert, rasch von links nach rechts flog, plötzlich stoppte, nach oben stieg, umkehrte und hinter schwarzem Gewölk verschwand. Der Mann schluckte, schloss die Augen, öffnete sie wieder und schüttelte verwirrt den Kopf. Von dem brennenden Schild war nichts mehr zu sehen. Björn fühlte das Zittern seiner Muskeln. Mit jeder Faser wünschte er das Sturmende herbei, immer häufiger narrten ihn Trugbilder. Dass sie weit von jedem bekannten Kurs abgetrieben worden waren – ein Gedanke, den der Mann rasch unterdrückte. Zuerst überleben, das Wüten heil überstehen, dachte er grimmig. Dann sehen wir weiter! Vielleicht können wir vor Midgards Kante noch beidrehen.

Er fühlte kaum noch seine Finger. Sie waren aufgeweicht, aus Rissen drang Blut, und er ächzte: »Durchhalten, Männer! Haltet durch, in Odins und Thors Namen!«

Erneut Blitze, dröhnender Donner, peitschender Regen, Wellen, Brecher, kreischender Wind. In diesem Toben war jeder allein, kämpfte verbissen ums Überleben. Einar hangelte am Tau entlang, klopfte hier einem Mann auf die Schulter, brüllte einem anderen etwas ins Ohr. Orm kauerte auf einer Ruderbank und spie Schleim. Aus dem Raum unter den Planken wurde ein Ledereimer gehoben; Thorson griff danach, schüttete dunkle Brühe über Bord und fluchte durchdringend.

»Wärme wünscht der vom Wege kommt, mit erkaltetem Knie«, knurrte der Skalde und kroch zu Björn auf das Halbdeck. »Die Sprüche des Hohen erweisen sich …«

Olofs Worte wurden vom kreischenden Wind übertönt. Von den summenden Stagleinen spritzten Tropfen, nahe dem Mast zeigte sich glitzerndes Eis, und auch auf den Fässerdeckeln entstanden weiße Schichten. Der junge Odd krallte sich mit zuckenden Schultern an den Mast und wimmerte – Björn hörte das Geräusch in einem stillen Augenblick genau, und es zerriss ihm fast das Herz. Beim nächsten Wimpernschlag heulte der Sturm noch lauter, und eine Woge donnerte machtvoll gegen die Steuerbordflanke der KRÄHE DES WINDES, so dass Björn schon fürchtete, sie würden kentern. Wasser schoss schäumend über die Planken, staute sich an der Bordwand und brandete zurück, umspülte die Beine der Wikinger und verschwand gurgelnd im Loch der Luke. Flüche erklangen, die Ledereimer wurden schneller geleert, und Thorson brüllte: »Wenn’s der Sturm nicht schafft – dieses odinverfluchte Nass ersäuft uns alle!«

»Spar deinen Atem! Schöpft, Leute, schöpft!« Ein Krampf durchzuckte Björns Schultern und ließ ihn stöhnen. Das Meer schien zu kochen, Wogen wurden zu Walzen und rollten, an der Spitze überschlagend, neben der KRÄHE her; an anderer Stelle wuchsen sie, einander durchdringend, zu spitzen Bergen empor, plötzlich von kalkigem Licht beleuchtet und aus dem Dämmer gerissen.

Die Donnerschläge machten die Männer halb taub. Augen zwinkerten verwirrt. Fremdartige Gestalten erschienen zwischen Regenschleiern, wälzten sich über schaumige Wellenkämme oder tanzten in Lücken rasch ziehender Wolken. Riesen entstanden brüllend und geifernd aus dem aufgewühlten Meer und zersprangen, von Thors Mjöllnir getroffen, dessen greller Schein Augen blendete und funkendurchsetzte Dunkelheit erzeugte. Zum zweiten Mal sah Björn den brennenden Schild. Vielfach größer als die KRÄHE schob er sich aus Wolken und Dunst und begleitete das Wellenross eine Weile, in Drehungen versetzt wie ein Feuerrad. Vereinzelt züngelten bläuliche Flämmchen aus der Unterseite, am Rand tanzten rote Lichter, dann wurde alles diesig und schien in eine graue Nebelbank verwandelt. Ein Blitz, von vielfach grollendem Donner gefolgt, überschüttete Meer und Wogenstürmer; blendendes Licht wechselte mit pechschwarzen, scharfkantigen Schatten.

Björn ächzte, weil er das klaffende Maul des Fenriswolfes zu entdecken glaubte, bis er erkannte, dass es eine gewaltige Welle war, deren schäumend rollende Kante er für triefenden Geifer und Reißzähne gehalten hatte.

»Wir sterben!«, schrie Ulf und hob die Faust zum Himmel. »Bei Thor, aber wir sterben aufrecht!«

»Der weiß allein, der weit gereist ist und vieles hat erfahren«, antwortete Olof laut mit einer Hávamál-Strophe, »welches Witzes jeglicher waltet, wofern ihm selbst der Sinn nicht fehlt. Odins Runenlied verkündet: Wenn Not mir ist, vor der Flut das Fahrzeug zu bergen, so wend’ ich den Wind von den Wogen ab und beschwicht’ge rings die See.«

Kälte und Nässe setzten der Mannschaft zu. Brausen, Kreischen, Donnern und Pfeifen drangen bis ins Mark und ließen sogar den hartgesottenen Thorson zittern.

»Des Hohen Lied ist gesungen in des Hohen Halle.« Die Stimme des Skalden bekam beschwörenden Unterton; Eiswellen im Kreuz ließen Björn frösteln. »Den Erdensöhnen not, unnütz den Riesensöhnen. Wohl ihm, der es kann, wohl ihm, der es kennt. Lange lebt, der es erlernt, Heil allen, die es hören!«

Die KRÄHE DES WINDES kämpfte sich durch das aufgewühlte Meer, schüttelte sich unter den Brechern, richtete sich wieder auf und erreichte den nächsten Wellenberg. Verbissen arbeiteten die Männer, lösten einander ab, schöpften, krallten sich fest, dann ein Schrei. Schattenhaft verschwand eine Gestalt in der Woge – und der Platz an Deck war leer, als das Wasser ablief. Ein durchdringendes Ächzen durchzog den Rumpf, und Schaudern erfasste jede von Björns Fasern. Seine Gedanken wurden träger; festhalten, mühsam nach Atem ringen, dann der nächste, erstickende Guss, schmerzhafte Hiebe von Hagel, blendend aufzuckende Helligkeit, zugleich von abgrundtiefer Finsternis ersetzt. Gleichgültigkeit durchzog den Mann; was immer auch ihr Schicksal sein sollte – es musste enden, rasch, sofort.

Müde sah er irgendwann hoch, bekam nur am Rande mit, dass er eingenickt sein musste. Er fühlte seine Zehen nicht mehr, die Kälte sog den letzten Rest Wärme aus seinem Leib. Raste dort nicht Odins achtfüßiger Sleipnir vor den Wolken? Führte der Schlachtvater seine Wilde Jagd an? Ein fernes Dröhnen überdeckte das rauschende Blut in Björns Ohren und ließ ihn an Heimdalls Lure denken. Gischtgestalten eilten neben der KRÄHE her – Einherjer? Ein gewaltiger grauer Körper schoss gestreckt aus den Wellen, gekrönt von bleichem Geysir. Träge dachte Björn an die Midgardschlange und deren Giftzähne, aber erst beim dritten Blick, müde blinzelnd, erkannte er in dem Wesen einen Wal. Ein irres Kitzeln stieg in Björns Kehle, mit letzter Kraft rang er um seinen Verstand. Zwischen Knarren und Tosen erklang von irgendwoher deftiges Fluchen, das wirren Schreien Platz machte.

Die Stunden wurden zur Qual, jeder an Bord verlor das Zeitempfinden. War es der vierte oder fünfte Tag? Manchmal beruhigte sich das Unwetter, ebbte der wilde Seegang etwas ab, doch noch war die Kraft des Sturms nicht gebrochen. Stets aufs neue fand er zur alten Kraft zurück, machte das Schiff zum Spielball. Zweimal sah Björn den brennenden Schild, der die KRÄHE zu begleiten schien, plötzlich auftauchte und ebenso plötzlich wieder verschwand – verwandelt in Dunst, Nebelschwaden und zerfließenden Glanz. Auf Wellen tanzten hässliche Trolle ihren Reigen; winzige Gestalten mit ungesund grauer Haut und riesigen Köpfen. Fremdartige Augen, riesig, schräg gestellt, ganz aus glänzender Schwärze geformt, musterten die ums Überleben kämpfenden Wikinger kalt und unbeteiligt. Niemand außer Björn bemerkte sie.

Irgendwann ließ das Pfeifen und Heulen nach, und die Wellen türmten sich weniger hoch auf. Björn und seine Männer bekamen es nur zögernd mit; er sah aus geröteten Augen auf, erwachte endgültig aus dem Dämmer, in den sich sein Geist gehüllt hatte, und ächzte verblüfft: »Haben wir’s überstanden? Soll ich’s glauben …«

Es regnete kaum noch, nur vereinzelt wehten Gischtflocken der Wellenkämme über das Deck. Wolken und Dunst brachen aber nicht auf, und rasch war das Schiff in Schwaden gehüllt, so dass die Sicht nicht weiter als bis zum Krähenkopf am Bugsteven reichte. Fern erklang das Kreischen einer Möwe, das die Wikinger nur verzögert als solches erkannten. Es erfüllte sie mit Schaudern, das heiß aufsteigender Hoffnung Platz machte, um im nächsten Augenblick von Furcht begleitet zu werden. Einige Zeit flaute der Wind ab, das Vogelgeschrei wurde lauter. Nur das Knirschen der Verspannungen und des Rumpfes war zu hören und ein dünnes Grollen, das langsam anschwoll. Plötzlich dann ein fürchterliches Krachen, vielfach ausrollend, neu ansetzend, durchzogen von Platschen, Rumpeln und einem Tosen, das in den Ohren schmerzte. Dösende Männer fuhren erschrocken hoch, neigten lauschend die Köpfe, streckten gefühllose Gliedmaßen und duckten sich unter jedem neuen Krachen, das erst nach einer Weile ausklang, nun allerdings von gleichmäßigem Donnern ersetzt wurde. Björn sah, die Stirn gerunzelt, von Einar zu Orm und hob die Schultern.

Das Geräusch wurde von den Männern sofort als Brandung gedeutet, und Orm Rotbart knurrte: »Eine Küste? Hier? Oder der Rand der Welt?«