Atlas - Alles auf Anfang - Martin Calsow - E-Book

Atlas - Alles auf Anfang E-Book

Martin Calsow

4,6

  • Herausgeber: GRAFIT
  • Kategorie: Krimi
  • Serie: Atlas
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Als seine Tarnung auffliegt, muss sich Undercover-Ermittler Andreas Atlas Hals über Kopf vor den Killerkommandos eines mexikanischen Drogenkartells in Sicherheit bringen. Am geeignetsten erscheint ihm dafür ausgerechnet seine alte Heimat im Teutoburger Wald, wo ihn alle für einen gescheiterten Animateur und Barbesitzer halten und er nicht gerade mit offenen Armen empfangen wird. Atlas hat insgeheim vor, sich mit einem unterschlagenen Millionenvermögen nach Südamerika abzusetzen und dort ein neues Leben anzufangen. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein: Gesa, die Schwester einer Freundin, verschwand vor vielen Jahren spurlos, die Sache wurde nie geklärt. Als Atlas glaubt, Beweise für einen Mord gefunden zu haben, geraten seine Zukunftspläne ins Wanken. Viel Zeit, sich zu entscheiden, hat er nicht - denn die Mexikaner sind ihm bereits auf den Fersen …

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Seitenzahl: 314

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Martin Calsow

Atlas Alles auf Anfang

Kriminalroman

Mehr von Martin Calsow im Grafit Verlag:

Quercher und die Thomasnacht

Quercher und der Volkszorn

Quercher und der Totwald

© 2015 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Umschlagfoto: Nele Schütz Design

Der Autor

Martin Calsow wuchs am Rande des Teutoburger Waldes auf. Nach seinem Zeitungsvolontariat arbeitete er bei verschiedenen deutschen TV-Sendern. Er gehört der Jury des Grimme-Preises an und lebt heute mit seiner Frau am Tegernsee und in den USA.

Mit Quercher und die Thomasnacht erschien 2013 Martin Calsows erster Kriminalroman im Grafit Verlag. Es folgten zwei weitere Titel, in denen der sperrige LKA-Beamte Max Quercher im Fokus steht. Atlas – Alles auf Anfang ist der erste Kriminalroman einer Reihe um den schweigsamen, leicht autistischen Undercover-Ermittler Andreas Atlas. Weitere Titel sind in Planung.

www.martin-calsow.de

In herzlicher Dankbarkeit

Should I stay or should I go now?

If I go there will be trouble

And if I stay it will be double

So come on let me know

The Clash, 1981

Prolog

Juni 1988

Sie hätte damit warten können. Hat sie aber nicht. Also muss sie weggemacht werden.

Die Arme zur Seite gestreckt, die Beine leicht geöffnet, den Kopf mit den langen, dünnen blonden Haaren auf seinem Brustkorb und die Augen geschlossen. Sie muss wissen, wie ihr Anblick wirkt.

Er hat seinen Radio-Kassetten-Rekorder mitgebracht, ein echtes Wunderwerk, wie er findet. Einen Combomaster 2, mit Doppelkassettendeck, automatischem Tape-Suchlauf, umschaltbarer LED-Anzeige und geilem Sound. Zwei Stunden hat er damit zugebracht, für sie Musik aufzunehmen. Hat sich den Fingernagel an der Aufnahmetaste abgerissen. Prince. When doves cry. Alles bleibt unter Kontrolle bei diesem Lied. Bis zum Ende. Dann schreit der Typ sich die Seele aus dem Leib.

So hat er es ihr nach dem ersten Sex erklärt und sie hat müde genickt. Sie, die gern die Münchner Freiheit hört und Terence Trent d’Arby. Ob sie jemals Musik so verstehen wird wie er? Das Plattenauflegen bei den Scheunenpartys ist nur Geldverdienen. Um keine Schweine züchten zu müssen. Um aus Iburg rauszukommen. Um irgendwann mit und von der Musik leben zu können. Ein Traum – und sie hätte dabei sein können.

Jetzt ist es vielleicht auch egal. Jetzt hört sie seiner Musik mit geschlossenen Augen zu, während er mit Mühe die Panik bekämpft, die sich über den Rücken in seinen Magen gezogen hat. Das Bett riecht klamm. Er dreht seinen Kopf leicht in Richtung seiner Schulter und sieht an die Wand hinter sich. Dort hängen Fotos vom Teutoburger Wald hinter Glas. Er beobachtet eine kleine Spinne, die unter dem Bilderrahmen langsam ihr Netz webt.

Sein Mund ist trocken. Sie muss sein Herz schlagen hören. Es pocht, als ob es aus seiner Brust platzen wollte. Sein linker Arm scheint unter ihrem Gewicht einzuschlafen. Vorsichtig schiebt er ihn in eine andere Position. Er braucht diese Ruhe nach dem Sex, muss über die weiteren Tage nachdenken. Sobald er das Zimmer verlassen wird, muss er einen Plan haben, der wasserdicht ist und jeder Befragung standhält.

Sie schluckt und räuspert sich. Ihre Brüste heben sich. »Warum gehen wir heute Nacht nicht mal wieder im Freibad schwimmen?«

Er sieht die roten Stellen auf ihrer weißen Haut – das Ergebnis seiner Raserei. Ihr schien es gefallen zu haben. Sie hat ihn sogar aufmunternd angelacht, als er über ihr lag, das Gesicht verzerrt, bemüht, kein Geräusch zu machen, das man unten in der Gaststätte hören könnte.

Er schließt die Augen.

Sie zündete sich eine Zigarette an. »Im Sommer mache ich Interrail. Man kann da jetzt auch Fähren benutzen.«

Sie macht eine Pause und merkt selbst, dass diese Information mit der Neuigkeit, die sie ihm zwei Tage zuvor in seinem nach kaltem Rauch riechenden Wagen verkündet hat, nicht ganz zusammenpasst. Der Regen war auf das Dach geprasselt, sie hatte laut reden müssen. Und er hatte die Scheibenwischer nicht angestellt.

Jetzt liegt er hier. In seiner blauen Fliegerseidenjacke steckt das Ticket der Bundesbahn. Sollte er sich noch einmal auf sie legen, ehe er ihr seine Meinung dazu an den Kopf knallen wird? Als ob sie es ahnen würde, windet sie sich unter ihm hinweg, erhebt sich abrupt und stellt sich mit verschränkten Armen vor der Brust hinter den Pressholzrahmen des Bettes.

»Ich werde es bekommen. Mir ist ganz egal, was du dazu sagst. Oder meine Eltern. Ich will es. Und ich werde es bekommen.«

Er sieht sie an. Und denkt: Du wirst den Tod bekommen.

Er sagt: »Wir gehen heute Nacht schwimmen.«

Bad Iburg am Teutoburger Wald

Jetzt

1

Sie saß. Er stand. Wie immer. Petra Hölscher und ihr Bruder Dieter verbrachten Stunden auf der Terrasse unter der gelben Markise. Ihren Rollstuhl hatte er dem Franziskus-Hospital abgeschwatzt. Es war ihr egal, dass die Reifen kaum Luft hatten, das Metall an der Seite rostete und die Sitzfläche, einst blau, jetzt verblasst war.

Petra litt an multipler Sklerose und konnte sich nur sehr eingeschränkt bewegen. Aber ihr Geist wurde von einem unbändigen Hass auf die Welt angetrieben. Wie ein Atombrennstab. Ihr Hass konnte sich gegen Menschen richten, aber auch gegen das Wetter. Einmal waren es die Nachrichten, die sie höhnisch kommentierte, ein anderes Mal Geräusche wie das Quietschen der halb leeren Reifen auf den Wohnzimmerfliesen. Dann schlug sie auf die Felgen, bis die Haut ihrer Fingerknöchel aufplatzte und Dieter sie mit brennendem Terpentin sauber tupfte. Sie wollte das so. Auch wenn der Schmerz so schlimm war, dass sie Dieter hätte anspucken können.

Dieter ertrug. Und das schon sein ganzes Leben lang. Er liebte es, Last auf sich zu nehmen. Aber keiner, das war ihm immer klar gewesen, würde ihm das danken. Vielleicht wäre in seinem Leben vieles anders gelaufen, wenn nur irgendjemand seine aufopferungsvollen Gesten bemerkt hätte. Aber in diesem Landstrich gab es keinen Dank. Höchstens ein Kopfnicken.

Sie sahen zu der Tankstelle hinüber, die auf Dieters Grund stand. Ihm als Ältestem gehörte die Fläche am Ortseingang eigentlich. Jetzt stand dort eine gelbe Warze, die jedem ästhetischen Empfinden widersprach, selbst einem nur mäßig entwickelten wie dem der beiden Geschwister. Der Pächter hatte ihm angeboten, im Backshop sonntags Brötchen zu verkaufen. Dieter hatte dankend angenommen. Heute war Sonntag und eine junge Rumänin hatte Dienst. Dieter nutzte sie nachts, wenn er seine Schwester in ihr neuntausend Euro teures Bett gelegt hatte, für seine Träume. Träume, die er niemals jemandem würde erzählen können, wenn er nicht sofort in die Geschlossene nach Osnabrück kommen wollte. Es war sieben Uhr, um halb zehn würden sie zur Messe in die Schlosskirche hinauf im Zentrum des Ortes fahren. Bis dahin warteten sie einfach die wenigen Stunden ab.

»Kennst du den?«

Dieter sah über die Bundesstraße, die den Ort wie eine böse Schlange durchquerte. Er fixierte den Mann, der neben einem verrosteten Passat stand und auf die Anzeigetafel der Zapfanlage stierte.

Der Typ war dürr, die schwarzen Haare hatte er nach hinten gekämmt. Seine Haut war dunkelbraun. Er sah aus wie ein Ausländer, dachte Dieter.

Aber die Person schien etwas in seinem Kopf auszulösen.

Zeitgleich mit seiner Schwester, die ihre Augen fest zusammengekniffen hatte, fiel ihm ein, wer da drüben stand. »Ist das der Atlas?«

»Hundertprozentig.«

»Dass der sich traut.«

»Hat kein Geld mehr. Siehste doch.«

»Was für ein mieser Typ. Der hat doch alle im Stich gelassen.« Dieter zischte seine Worte, wollte höhnisch klingen. Doch er wirkte dabei lediglich alt und entrüstet wie ein Rentner.

Seine Schwester nickte. »Neulich habe ich noch mit der Carmen bei der Krankengymnastik über ihn gesprochen. Ihr Bruder ist mit ihm zur Schule gegangen. Aufs Gymnasium. Aber dann ist der Atlas von einem Tag auf den anderen abgehauen. Was hat der dann doch gleich gemacht? Die Alte hat es noch beim Grünkohlessen erzählt. Verdammich!«

»Der ist so ein Animann in irgendeinem Klub gewesen.«

»Animateur, Dieter. Das heißt Animateur. Du hast eben kein Abitur. Merke ich immer wieder.«

Dieters Hand verkrampfte sich. Aber er versteckte sie hinter seinem Rücken. Er würde seine Schwester gleich wieder ins Haus schieben, wo sie auf ihre Käthe-Kruse-Puppen starren könnte. Dann wäre wieder Ruhe. Nur der Verkehr der Bundesstraße würde noch zu hören sein.

Der Mann an der Tankstelle steckte den Zapfhahn soeben in die Säule und lief in den Shop.

»Und jetzt kommt er zurück. Na, da werden sich sicher alle freuen. Das Arschloch.«

2

Es regnete. Dieser Wetterzustand gehörte zu diesem Ort wie Ebbe und Flut zur Nordsee. Der Teutoburger Wald war ein Höhenzug, der sich vom Münsterland bis nach Paderborn zog. Dort lag er wie ein müder grüner Leguan, stoppte die fetten Regenwolken vom Atlantik und ließ sie über dunklen Äckern und Buchenwäldern abregnen.

Es war die Heimat von Andreas Atlas – für siebzehn Jahre seines nunmehr dreiundvierzig Jahre währenden Lebens. Ein Leben, das einige gern schnell, andere sehr langsam und qualvoll beendet hätten.

Er hatte sich direkt bei seiner Ankunft am Osnabrücker Bahnhof zu einem wenige Hundert Meter entfernten Autohändler aufgemacht. Das Amt hatte vorgesorgt: Am Ende war es ein zehn Jahre alter Passat in Babyblau geworden. An der Hecktür klebten noch die Namen der bislang darin transportierten Kinder und ein Aufkleber der Feuerwehr Bohmte.

Der türkische Autoverkäufer konnte sein Glück kaum fassen. Es war zwar ein Sonntag und erst sechs Uhr morgens, denn diesen Termin hatte der Mann gestern am Telefon verlangt. Aber der Verkäufer wollte sich den Deal dennoch nicht entgehen lassen. So hatte er also schon früh mit einem Tee in seinem kleinen Büro auf den ungewöhnlichen Kunden gewartet. Der Wagen war ein Unfallwagen, rostete und roch im Innern streng nach vielen Kindern mit Hygienedefizit. Aber dem Kunden schien das egal zu sein. Aus Mitleid legte ihm der Verkäufer neben die roten Kennzeichen noch zwei Duftbäume.

Später, als er die CD seiner Überwachungskamera wechselte, war der Verkäufer erstaunt, dass sich der hagere Mann entweder geschickt oder nur zufällig von der Kamera weggedreht hatte. Sein Gesicht war nicht ein einziges Mal zu erkennen.

Bis Hannover hatte ihn die Kollegin aus Wiesbaden begleitet. Die drei Abteile des ICE waren zuvor von ihr reserviert und mit Zivilbeamten besetzt worden. Atlas wusste, dass das vor allem zu seiner Beruhigung geschah. Denn wer ihn im Zug tatsächlich erkannte, würde nicht lange observieren. Er war madera muerta, totes Holz.

Jede Bewegung außerhalb sicherer Gebäude hatte ihn verängstigt. Ein Gefühl, das er erst nach dem Entzug kennengelernt hatte.

Sie hatten lange überlegt, ihn in Spanien zu parken. Aber nach dem, was passiert war, konnte man keinem Menschen mehr trauen. Die Familie des Mexikaners hatte auch im alten Europa ihre Zuträger.

Es war Atlas selbst, der seine alte Heimat, das Osnabrücker Land, als Zielort vorschlug. »Auch wenn ich da vor über zwanzig Jahren das letzte Mal war, kenne ich die Menschen und die Gegend und die kennen mich. Es ist mir vertraut. Und jeder, der von außen kommt, wird von mir schneller als Fremdkörper erkannt als in einem Nest in der Extremadura oder in Kastilien. Vor allem aber weiß dort keiner auch nur ansatzweise irgendetwas von mir. Ich bin dort immer noch Andreas Atlas. Und nur der.«

»Und die glauben dir deine Lebensgeschichte?«

»Die ist ja nicht neu. Die wenigen Male, die ich mit meinen Verwandten sprach, habe ich sie aufrechterhalten.«

»Andreas, es ist ein Unterschied, ob man so etwas für ein paar Minuten am Telefon erzählt oder ob man das die nächsten Monate, vielleicht auch Jahre durchhält. Da muss alles stimmen.«

Atlas hatte stumm genickt. Es war wirklich eine ziemlich dämliche Legende, die er sich ausgedacht hatte.

Er verließ Osnabrück in Richtung Süden und drehte auf dem Autobahnkreuz ein paar Extrarunden, um zu sehen, ob ihm jemand folgte, ehe er auf der Bundesstraße bei Oesede den letzten Bergrücken hinauffuhr. Er nahm die rechte Spur und stoppte den Wagen kurz hinter der Kuppe auf dem Parkplatz eines Ausfluglokals, das schon in seiner Kindheit dort gestanden hatte.

Hier wurden die Feiern des hiesigen Lebens gefeiert. Leipziger Allerlei, Salzkroketten und müde Reden begleiteten Taufe, Erstkommunion, Hochzeit, Silberhochzeit und Leichenschmaus. Von der Geburt bis zum Tod gab es Schweinekotelett, dachte er, als er den Geruch von Frittierfett trotz der frühen Morgenstunde schon in seinem Wagen wahrnahm.

Er stieg aus und sah im Regen hinunter in die Ebene. Da lag der Ort, der jetzt wieder zu seiner Heimat werden sollte. Sauber und ordentlich, ruhig und sicher. Es war ein kurzes Gefühl der Zuversicht, das Atlas in den Kopf kletterte. Alles, was vor ihm lag, war das Gegenteil dessen, was er in den vergangenen zwei Jahrzehnten erlebt hatte. Er erfreute sich an den grauschwarzen Regenwolken, die über das Münsterland zu ihm kamen, die das Land grün machten. Da, wo er bislang gelebt hatte, schoben die Menschen den Kopf in den Nacken, wenn nur wenige Tropfen vom Himmel fielen. Hier war das normal.

Atlas empfand die sorgfältig gesetzten Beete des Gasthofs, den extrem kurz geschnittenen Rasen dahinter und selbst den Geruch des reichhaltigen Essens als eine Bestätigung seiner Entscheidung. Zumindest wünschte er sich, dass sie sich als richtig herausstellen würde. Ordnung war sein letzter Anker, denn allem, was jetzt auf ihn zukommen würde, war er wie ein führerloses Schiff ausgesetzt.

Er würde bei seiner Schwester beginnen. Seine Mutter musste warten. So viel Elend konnte er sich noch nicht am frühen Morgen antun.

Inmitten des Kurorts erhob sich ein alter Burgberg. Vor Jahrhunderten war dort ein Schloss errichtet worden, der ganze Stolz der Stadt. In diesem Bauwerk verbarg sich, sozusagen als katholischer Mittelpunkt, die Klosterkirche, zusätzlich hatte sich, wie eine kleine Warze am Po, auch noch eine evangelische Kirche hineingezeckt, lange ein Außenposten protestantischer Gesinnung. Denn von hier bis zur holländischen Grenze, irgendwo hinter den riesigen Windrädern und Klinkerdörfern am Horizont, war alles fest in der Hand der heiligen römisch-katholischen Kirche. Wenn er sich recht erinnerte, begann in einer Stunde das Hochamt. Dann würde seine Schwester in der ersten Reihe des Seitenschiffs sitzen.

Aber noch würde sie schlafen, hatte sie ihm im trotzigen Ton der jüngeren Daheimgebliebenen am Telefon gesagt. Er solle Brötchen mitbringen, wenn er sie schon belästigen müsse. Warmherzig ging anders, hatte er gedacht. Aber wer sollte sich auch auf ihn freuen?

Unterhalb des Gasthofs lag eine weiß gekalkte Kapelle. Atlas kannte sie. Die Eltern seiner Mutter Adelheid hatten das Kirchlein einst für die Wallfahrer nach Telgte errichten lassen.

Der Hagere hatte hinter zwei Tannen gewartet. Atlas war er nicht aufgefallen. Das war nicht ungewöhnlich. Die längste Zeit seines Lebens hatte dieser Mann damit zugebracht, andere Menschen zu beschatten. Daraus war eine Kunst geworden. Er wurde nicht mehr wahrgenommen.

»Schön ist anders.«

»Meinst du mein Gesicht oder den Ort?«

»Beides.«

»Na ja, die Karibik ist es nicht. Aber Badeseen gibt es hier immerhin«, erklärte Atlas leise.

»Ich habe für dich alles vorbereitet. Es liegt in der Kiste.«

»Danke.«

Der andere zuckte mit den Schultern. »Wird ja bezahlt. Wie lange willst du bleiben?«

Atlas und der Hagere kannten sich seit einem Jahrzehnt, ohne etwas von der Herkunft des jeweils anderen zu wissen. Ihre eigentliche Verbindung lag auf einer weitaus bedrohlicheren Ebene.

»Ich muss mich anmelden, um die feste Adresse zu bekommen. Das ganze deutsche Prozedere eben.«

Der Hagere wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Luxemburg setzt in vier Wochen auf biometrische Erkennung. Dann wirst du nicht mehr an das Schließfach kommen. Es ist alles da – noch!«

Er zog einen kleinen Zettel hervor und gab ihn Atlas, der ihn kurz überflog.

Vierundsechzig Millionen Euro in Devisen, Diamanten und Goldmünzen. Leicht transportierbar. Unauffällig. Erst recht, wenn man das Ganze auf einem holländischen Frachter von Europa nach Südamerika bringen wollte.

»Unsere Kollegen arbeiten deinen Fall gerade mit viel Druck in der Pipeline auf. Dein Abgang war zu laut. Dir bleibt nicht viel Zeit. Eine Familie solltest du hier nicht gründen.«

»Ich weiß. Im Winter sehen wir uns in Valparaíso.«

Der Hagere deutete auf die Kapelle. »Das ist dein Notfallplan. Die Pfeifen vom BKA ahnen noch nichts. Vier Wochen, nicht mehr! Hol das Zeug aus dem Schließfach. Ich suche noch einen Frachter, der in Rotterdam liegt und Kurs auf Brasilien nimmt. Sobald ich einen gefunden habe, melde ich mich. Dann muss es schnell gehen. Du musst das Geld haben und nach Rotterdam kommen. Das wird eine Sache von wenigen Stunden, verstehst du? Lass mich jetzt nicht im Stich. Valparaíso, mein Freund. Vergiss das nicht!«

Atlas blickte zu der Kapelle, und als er sich wieder umdrehte, war der Hagere bereits in der Tannenschonung verschwunden.

»Valparaíso«, murmelte Atlas wie ein Mantra.

Es dauerte einige Minuten, bis er auf der Rückseite der Kapelle den versetzten Stein fand, der den Eingang zu einer Metallkiste bildete. Er öffnete sie und fand alles sorgfältig verpackt vor: Geld in verschiedenen Währungen, eine Beretta, einen Pass, zwei USB-Sticks. Er verschloss die Kiste wieder, warf etwas Erde darüber und wuchtete zum Schluss den schweren Stein darauf.

Atlas stöhnte, als er sich erhob. Er lehnte sich an die weiß gekalkte Hinterwand der Kapelle, der Kapelle, die seinem Vater so wichtig gewesen war. Dem Mann aus Galicien, von der rauen Atlantikküste als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, waren die Eigenarten, die dieser Landstrich bot, zwar fremd, aber auf eine skurrile Art nah gewesen. Miguel Atlas, der in Spanien das Studium eines Ingenieurs abbrechen musste, fand als Kellner im Kurhaus eine Anstellung und verliebte sich in die besonders blonde Bedienung Adelheid. Zwei Kinder bekamen sie. Andreas und die jüngere Tochter Astrid. Nichts sollte mehr an die spanischen Wurzeln erinnern. Miguel war glücklich, vermeintlich akzeptiert zu sein, hier, wo nichts nach Meer roch, sondern nur nach schwerer Erde und Kohl. Zu den Verwandten nach Spanien fuhren sie nie. Der Weg sei zu weit, der Flug zu teuer, redete er sich heraus. In seinem Eifer, den Menschen hier zu gefallen, hatte Miguel sogar begonnen, Plattdeutsch zu lernen. Als lächerlich und unpassend hatte sein Sohn das empfunden. Platt mit spanischer Zunge – nur einer von vielen Gründen, sich für den Vater zu schämen.

Mit der Selbstgerechtigkeit eines Teenagers hatte Andreas ihn mit fünfzehn Jahren einmal beim Abendessen angeschrien, dass er alles tun könne, aber »für die immer der Spannockel bleiben würde«. Nicht die Aussage an sich schien den Vater verletzt zu haben. Aber keiner am Tisch hatte widersprochen – weder die Tochter noch die eigene Frau. Von diesem Augenblick an sprach der Vater wieder Spanisch, fuhr regelmäßig nach Osnabrück in den spanischen Klub, spielte mit den anderen Männern Karten, aß seinen geliebten Fisch und kam spätnachts schweigend nach Hause. Erst aus schlechtem Gewissen, später aus Interesse für die eigenen Wurzeln, begann Andreas zwei Jahre später, die spanische Sprache zu lernen und sich intensiv mit der Kultur seiner Vorfahren zu beschäftigen.

Als sein Vater starb, war Andreas Atlas Tausende Kilometer entfernt. Und auch als seine Asche, so wie Miguel es bestimmt hatte, nach Galicien verschickt worden war, um dort in den Atlantik verstreut zu werden, war das ohne Andreas geschehen.

Er hielt an der Tankstelle am Ortseingang, mehr zum Schein denn aus Notwendigkeit, weil er jetzt dringend etwas zum Herunterspülen brauchte. Es war eine kleine Flasche mit Strothmann Korn, die er auf der Toilette der Tanke an die Lippen hielt und nicht mehr absetzte, ehe sie völlig leer war. Kurz darauf gab er den Schlüssel mit dem großen Holzanhänger bei der freundlichen jungen Frau an der Kasse ab, nahm die Tüte mit den Brötchen und wollte bereits in sein Auto steigen, als er versucht war, das Geschwisterpaar Hölscher auf der anderen Straßenseite zu grüßen. Doch er hielt sich zurück. Denn ihre Geschichte kannte er nur zu gut. Sie waren wie zwei Zerberusse, die den Eingang zur Hölle bewachten.

Eine Erinnerung glimmte in seinem müden Hirn auf. Es war Juni. In Kürze würden hier Menschenmassen auf die Bundesstraße strömen. Keine Wutbürger, keine Demonstranten, sondern Tausende von katholischen Pilgern würden ihre Kreuze, ihre Fahnen und Banner tragen. Das war die Telgter Wallfahrt. Jenes aus der Zeit gefallene Ereignis, das einmal im Jahr zehntausend Menschen von Osnabrück ins münsterländische Telgte marschieren ließ. Er war oft mitgegangen, hatte sich mit seinen Freunden aus der Gemeinde in die Gruppe eingereiht, war erschöpft, meist bei brennender Sonne mit einem Lobet den Herren in das Kaff eingefallen, das vierzig Kilometer entfernt von hier lag.

Atlas schüttelte diesen Gedanken unwillig ab und konzentrierte sich wieder auf das, was als Nächstes vor ihm lag. Denn er brauchte die Schlüssel für das Haus. Deshalb fuhr er langsam in die Ortsmitte, die verkehrsberuhigt und todsaniert wie ein Hospizpatient dalag.

Vor dem Fachwerkhaus, das die älteste Kneipe der Stadt beherbergte, sah er sie. Sie ging wie üblich mit festen Schritten, den Kopf erhoben, in Richtung Schloss.

Er drehte die Fensterscheibe herunter. »Hallo, Astrid!«

Sie war wie ihre Mutter, groß, stämmig, blond und mit einer rosigen Haut. Doch kaum vernahm sie die Stimme ihres Bruders, spiegelte sich Ekel in ihren Augen wider. »Na?«

»Komm, ich fahre dich hoch.«

»Lass mal. Ich gehe ganz gern. Wir treffen uns oben.« Sie hatte ihn nicht einmal richtig angesehen.

Atlas fuhr also im Schritttempo über das grobe Kopfsteinpflaster den Berg hinauf, vorbei an dem Papierwarenladen und der Apotheke, den Kirchgängern in ihren Regenmänteln und den praktischen Outdoor-Jacken, den alten Damen in gebückter Haltung und den Kindern, die sich gewiss nicht über die bevorstehende Langeweile freuten. Aber dieser Kirchgang gehörte zu ihrem Leben wie die riesigen Rhododendronsträucher vor dem Haus ihrer Eltern.

Er hatte sein neues Auto geparkt und wartete an der einstigen Hinrichtungsstätte.

Ein betagtes Paar kam am alten Pfarrhaus vorbei und lief langsam zu ihm herauf. Er kannte die beiden. Das Gesicht des Mannes war zerfurcht, sein Blick starr geradeaus gerichtet. Die Frau, die ihren langen dürren Arm in den ihres Gatten verschlungen hatte, sah Atlas aus klaren Augen an. Sie schien ihn ansprechen zu wollen, aber in diesem Moment tauchte plötzlich Astrid vor ihm auf.

»Kommst du mit in die Kirche?«, zischte sie ihn an. »Oder willst du mich hier nur abpassen?«

»Hallo, Schwester. Ich würde jetzt eigentlich gern duschen, bin erst heute Morgen am Bahnhof angekommen, weil …«

»Klar, du sparst dir den Gottesdienst natürlich. Immer nur fordern, nie liefern. Warum sollte es auch anders sein? Ist dir wohl nicht genug Unterhaltung.«

Seine Schwester gab sich erst gar nicht die Mühe, ihren Unmut zu verbergen. Doch ihre Anspielung auf seine vermeintliche letzte Arbeit konnte er sogar nachvollziehen – hier dachten nämlich alle, er habe die letzten Jahre irgendwo in der Sonne sein Leben genossen.

»Ich gehe jetzt erst in die Kirche. Du kannst gern hier warten, die Aussicht genießen, vielleicht auch ausnüchtern. Du stinkst.«

Atlas atmete durch. Es würde schwierig werden. »Ich warte vor dem Haus«, antwortete er so sachlich wie möglich und wollte sich umdrehen.

»Musst du nicht. Hier sind die Schlüssel für Vaters Kneipe. Wäre schön, wenn ich dich heute nicht mehr sehen müsste.« Sie warf ihm einen Schlüsselbund zu, an dem ein Flaschenöffner baumelte.

»Warte mal, Astrid.«

Sie sah ihn verschlossen an.

»Wer sind die beiden Alten da oben? Ich kenne sie, aber mir fallen …«

»Schönepauk. Du bist mit ihrer Tochter zur Schule gegangen.«

»Die Eltern von Gesa?«

Astrid nickte.

Atlas schwieg. Als seine Schwester weitergehen wollte, rief er noch einmal. »Hat man sie irgendwann gefunden?«

Ohne sich umzudrehen, schüttelte Astrid den Kopf. »Nein, einfach verschwunden und nicht mehr wiedergekommen – im Gegensatz zu dir.«

3

In solchen Häusern fanden Spürhunde der Polizei unterm Estrich die Leichen. Der Märchenwald lag am Rande einer Landstraße, die auf den Höhenzug hinaufführte. Sein Vater hatte das Gebäude vor fünfundzwanzig Jahren mit einem Kredit von einer Brauerei gepachtet. Es war einst eine alte Kutscherstube gewesen. Nach dem Krieg hatte jemand die Idee für einen Märchenwald gehabt: Hinter Glasscheiben konnten Kinder bewegliche Figuren aus den bekannten Märchen bestaunen. Erinnerungen aus der Steinzeit. Welches Kind würde sich heute noch für so etwas begeistern?

Der alte Atlas hatte, als es finanziell schon eng wurde, auf lebende Tiere gesetzt. Ziegen, Ponys und Esel hatte er einem Wanderzirkus abgekauft. Aber auch das hatte nicht mehr gereicht. Kaum eine Familie hatte noch den Weg hinauf in den Wald gefunden. Seit Jahren stand der Märchenwald leer. Niemand hatte das Unkraut in der Auffahrt und auf dem rechts liegenden Parkplatz gejätet. Die Fenster waren mit Spanplatten vernagelt worden, die inzwischen von Graffiti geziert wurden.

Atlas schloss die zweifach verriegelte Tür auf und trat in den dunklen Flur der alten Schänke. Hinter einem schweren Filzvorhang kam er in den Gastraum. Es roch stickig, nach kaltem Zigarettenrauch und Staub. Atlas suchte den Lichtschalter, aber der Strom schien abgestellt worden zu sein. Irgendjemand hatte die Stühle auf die Tische gestellt und mit großen Planen abgedeckt. Jahrzehntelang hatten hier Skatklubs, Schützenbrüder und Ausflügler mit Kindern ihre Nachmittage und Abende verbracht. Sie hatten unter einer Käseglocke die Frikadellen hervorgeholt, die immer auf der Theke gestanden hatten, der jetzt die Zapfanlage fehlte. Auch hier waren Planen ausgelegt worden.

Scheinbar ziellos schritt Atlas durch die Räume, stieß eine Schwingtür auf und kam in die Küche, in der bis auf eine alte Mikrowelle kaum etwas Verwertbares zu finden war. Rechter Hand befand sich die Kegelbahn. Wie viele Tage hatte er als Kind dort verbracht, die Bahn putzen, die Kegel polieren und mit dem Vater die Drähte, an denen die Kegel hingen, neu aufziehen müssen. Jetzt stand kein einziger Kegel mehr dort. Nur noch die lange Bahn, auf der Staub und Papierreste lagen, war geblieben und erinnerte ihn an eine im Dunkeln endende Sackgasse.

Er kehrte zurück in den Hauptraum, öffnete eine Tür mit geripptem Milchglas und trat in den großen Festsaal. Miguels Reich! Atlas schmunzelte. Zwar kündeten alte Luftschlangen in den zwei Festleuchtern an der Decke noch von der einstigen Bestimmung des Saals, aber sein Vater hatte ihn bereits vor langer Zeit einer neuen zugeführt. Tische waren zusammengestellt worden. Sie waren übersät mit Elektronikteilen, alten Lötkolben, Tausenden von Schrauben und Drähten, ein Generator stand, einem Tabernakel gleich, am Tischende. Ein Chaos, das zum Schluss auch den Besitzer hatte verrückt werden lassen. Hier hatte der Alte seinem eigentlichen Talent gefrönt, hier war er der Ingenieur gewesen, der er gern geworden wäre – in einem fernen Leben, jenseits von Frikadellen und sieben Minuten lang gezapftem Bier. Miguel Atlas war ein Erfinder gewesen. Einer jener Menschen, die ihr Leben lang tüftelten, etwas suchten, ausprobierten und darüber starben.

Im ersten Stock lagen die Wohnräume und Gästezimmer. Die Holztreppe knarrte unter Atlas’ Schritten. Die Betten standen auf giftgrünem Teppich, die Matratzen fehlten. Er würde in einem Sessel schlafen und morgen in einem Möbelgeschäft neues Bettzubehör kaufen müssen.

Kurze Zeit später brachte Atlas den Generator im Erdgeschoss zum Laufen, der Wasser aus einer Quelle in die Leitungen laufen ließ. Erst schoss es braun aus den Kränen heraus, ehe das klare Wasser ihn erfrischte. Es würde Tage dauern, bis Andreas Atlas hier seine Idee von Ordnung würde erschaffen können. Aber dies war nun sein Zuhause. Und es gab weitaus schlimmere Behausungen, das wusste Atlas aus eigenem, grausamem Erleben.

Am späten Abend sah er einen Polizeiwagen langsam auf den Parkplatz fahren. Die Reifen knirschten unter dem alten Kies. Atlas stand am Fenster und starrte hinaus.

Ein Mann in Zivil stieg aus.

Atlas wusste, was jetzt passieren würde.

4

Einmal die Woche trafen sich die drei in einer Gaststätte an der Bundesstraße, grüßten den stillen Mann hinter der Theke, der ihnen folgte, setzten sich in den Wintergarten und spielten Skat. Seit ihren Teenagerjahren machten sie das jetzt schon so; das Kartenspielen hingegen war erst viel später hinzugekommen. Anfangs verstanden sie es lediglich als ironisches Spiel mit den typischen Vergnügungen der älteren Generation. So lange, bis jeder still für sich erkannte, dass sie jetzt genauso waren, wie sie einst ihre Eltern gesehen hatten.

Sogar eine feste Sitzordnung hatte sich etabliert. Am Kopfende saß ›die Gräfin‹. Grete Kronemeyer war die Konrektorin der örtlichen Realschule. Mit ihrer natürlichen Autorität hielt sie Schüler ihrer Schule, die auch in der Kneipe saßen, auf Distanz. Keiner der Teenager wäre auf die Idee gekommen, sich an ihren Tisch zu setzen oder auch nur zu ihr hinüberzuwinken. Im Gegenzug hielt sie sich mit Ermahnungen zurück.

Links neben ihr saß Hermann Hülsmann, genannt ›Gnötter‹. Auch er leitete eine Schule, allerdings beschränkte diese sich auf Bäume und Büsche. Er hatte den Gartenbaubetrieb von seinem Vater übernommen. Das Geschäft lief mehr schlecht als recht. Trotzdem hatte Gnötter seinen Spitznamen zu Unrecht. Er war nämlich ein ausgesprochen positiv denkender Mensch – zwar mit einem verlangsamten Reaktions- und Sprachvermögen, dafür jedoch mit einer ungebrochenen Liebe allen Menschen gegenüber ausgestattet. Wo andere Tunnel sahen, erkannte er das Licht, hatte Grete ihn einmal beschrieben.

Er war das Gegenteil jenes Mannes, der zu Gretes Rechten saß. Georg ›Schorse‹ Grebing, Dienststellenleiter des Autobahnkommissariats. Sein Lebensmotto war: »Alle Menschen sind verdächtig – alle.« Das letzte Wort schob er gern hinterher, wenn er sich über die schlampigen Lkw-Fahrer mit den abgefahrenen Reifen und den durchgerosteten Anhängerkupplungen oder über die Drogenkuriere aus dem benachbarten Holland aufregte. »Das ganze Kroppzeuch kommt da wech. Die Holländer kotzen uns den ganzen Dreck auf meine Autobahn.« Seine Freunde aus Schulzeiten verdrehten dann die Augen, sprachen besonders die letzten drei Worte gern noch mit. Er war zwei Jahre älter als sie, was nie jemandem wirklich aufgefallen war.

Sie hatten die Karten schon verteilt.

Schorse sah auf sein Blatt und murmelte etwas Unverständliches, ehe er einen Sprengsatz in die Runde warf: »Andi ist wieder da. Er wohnt im Märchenwald.«

Grete senkte ihre Karten.

Gnötter schloss die Augen und fragte langsam: »Woher weisst’n das?«

»War da!«

»Hm. Wie sieht er aus?«

Grete sah zu Gnötter und schüttelte den Kopf. »Was ’n das für ’ne Frage: ›Wie sieht er aus?‹ Warum ist er hier?« Sie sah stirnrunzelnd zu Grebing, der immer noch seine Karten sortierte.

»Frag ihn«, brummte der Polizist schulterzuckend. »Da kommt er gerade rein. Hab ihn eingeladen.«

Atlas lief am Fenster vorbei und steuerte auf die Tür zu.

Einen Tick zu schnell warf Grete die Karten auf den Tisch und strich sich durch ihre halblangen Haare, was Gnötter zu der Bemerkung veranlasste: »Sechzehn Grad, Bad Iburg, Dreiwettertaft, die Frise sitzt.«

»Guten Abend.«

Stühle wurden beiseitegeschoben und Gnötter umarmte ungeschickt, aber herzlich den dünnen Dunkelhaarigen, der sich ein wenig genierte ob so viel Körperkontakt. Dann nickte Atlas Schorse zu und stand schließlich vor Grete.

Über zwanzig Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Grete hatte viel versucht. Ihm geschrieben, Nachrichten bei der Mutter, der Schwester und in Postfächern hinterlegt. Aber nie war eine Nachricht von ihm zurückgekommen. So war er im Laufe der Zeit allmählich aus ihrem Leben verschwunden wie ein Berufswunsch, den man als Kind einmal hatte. Man erinnerte sich schmunzelnd an ihn, aber mehr auch nicht.

Jetzt stand dieser Wunsch vor ihr und strahlte sie an. Aber sie wollte wütend sein, wusste nicht, wo sie ihre Hände lassen sollte. Also steckte sie sie in die Hosentaschen und wurde witzig. »Du solltest mehr essen, Andreas Atlas.«

Er lächelte. »Und du solltest so bleiben, wie du bist.«

Grete betete, dass jetzt keiner der Jungs einen blöden Kommentar …

»Warum habt ihr eigentlich nicht geheiratet?« Gnötter hatte dort, wo bei anderen das Taktgefühl beheimatet war, eine Konifere oder einen Rhododendron sitzen.

Grete warf ihm einen giftigen Blick zu.

Grebing stöhnte.

Atlas zeigte freundlich auf einen leeren Stuhl. »Ich wollte eure Kartenrunde nicht stören. Schorse erzählte mir heute von eurem Treffen und …«

»Ich hab dich eingeladen.«

»… lud mich ein«, vollendete Atlas seinen Satz, während er noch immer Grete anlächelte.

Sie hatte für ein Treffen dieser Art eine Anzahl erträglicher und eine weitaus größere Anzahl brutaler Beleidigungen gesammelt. Doch stattdessen freute sie sich jetzt aufrichtig.

Er sah schlimm aus. Aber da war noch immer alles, was sie einst an ihm fasziniert hatte. Die unglaubliche Nase, die kräftigen pechschwarzen Haare, jetzt durchsetzt mit weißen Ansätzen an den Schläfen, das energische Kinn, die grünen Augen der Mutter und die hohen Wangenknochen. Seine Finger waren noch immer langgliedrig. Sie erinnerte sich, wie er in der Kneipe seiner Eltern an einem alten verstimmten Klavier gesessen und leise vor sich hin gespielt hatte, bis jemand den Radetzkymarsch verlangte.

Atlas nahm Grete vorsichtig in den Arm und atmete unauffällig ihren Duft ein. So, dass sie es spürte, die anderen aber ahnungslos blieben.

Ungelenk bestellten sie eine Flasche Wein, keiner wollte mit dem Fragen beginnen. Deshalb übernahm das irgendwann die ›Gräfin‹.

»Was hat dich hergetrieben in unser Nest? Ist die Karibik nicht mehr warm genug?«

Atlas grinste. Wochenlang hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet. Fremden seine Rückkehr zu erklären, war das eine. Doch seinen alten Freunden, die ihn jetzt binnen Minuten trotz seines jahrelangen Abtauchens auf ihre robuste Art wieder aufgenommen zu haben schienen, eine plausibel klingende Geschichte zu erzählen, war schwieriger.

»Ich bin völlig abgebrannt.« Kein leichter Satz, wenn einem die Liebe seines Lebens gegenübersaß, dachte Atlas. Aber er musste das so direkt formulieren, denn alles andere hätten seine Freunde sofort als Herumschwallern entlarvt. »Ich war lange Zeit auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs, die von Miami in die Karibik fuhren. Habe Animation gemacht und so. Das war okay. Party, Spaß. So etwas eben. Vor drei Jahren bin ich in der Dominikanischen Republik hängen geblieben, hatte eine Strandbar. Die lief gut. Aber dann kam Alfonso …«

»Der örtliche Mafioso?«, fiel ihm Schorse interessiert ins Wort.

»Eher der jährliche Hurrikan. Alles wurde zerstört. Versicherung gab’s nicht. Ich hab’s dann auf Pump versucht. Ging nicht. Also war Schluss. Es hat gerade für den Rückflug gereicht. Jetzt übernehme ich hier den Märchenwald. Den habe ich von meinem Vater geerbt.«

Schweigen.

Die drei Freunde hatten alle denselben Gedanken: Das war eine Scheißidee. Damals, als Atlas verschwunden war, galt die Kleinstadt noch als sympathischer Kurort mit den üblichen Gästen. Man hatte Geld, versenkte es in aufwendigen Kuranlagen und überdimensionierten Kliniken und Hotels. Dann kam die Gesundheitsreform über die Stadt wie einst die Pest über die Dörfer des Mittelalters. Die Gäste blieben fern, die Einnahmen aus. Jahre der Schulden und des Zurückkehrens auf das Normalmaß prägten den Alltag. Man hatte sich halbwegs gefangen. Noch immer galt Bad Iburg als Schlafstätte für betuchte Menschen der Mittelschicht, die in der nahen Großstadt Osnabrück arbeiteten. Aber ein Märchenwald an den Regenhängen des Teutos war im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Totgeburt.

»Keine Angst, ich habe nicht vor, wieder einen Esel und eine Ziege zu kaufen. Erst einmal räume ich das Haus auf und dann schaue ich, was der Gegend hier eventuell noch fehlen könnte. Eine Strandbar beispielsweise, die gibt es doch garantiert nirgends?«

Atlas lächelte gedankenverloren vor sich hin und bemerkte nicht, wie ihn seine Freunde mit fassungslosen Gesichtern anstarrten. Ganz offensichtlich hatte er mit den Jahren jegliches Gespür für die Besonderheiten seiner Heimat verloren.

Sie aßen und tranken zusammen, erzählten sich Geschichten von damals. Atlas fragte nach Gretes neuem Spitznamen, erfuhr, dass sie jetzt auf einem alten Gut lebte. Der Vater ihres Exmanns hatte das Anwesen gekauft. Der Bauer als Edelmann, hatte Grete, ganz Deutschlehrerin, sarkastisch kommentiert. Sie lebte mit ihrem halbwüchsigen Sohn in einem Haus, das mehr als fünfhundert Jahre alt war. So waren die zwei Männer irgendwann auf ›die Gräfin‹ gekommen, was sicher auch ihren Respekt vor Grete widerspiegelte, obwohl die beiden das niemals laut zugeben würden.

Als Gnötter von seiner Ehe mit – ausgerechnet – Marion Brockkötter erzählte, einer schon zu ihren Jugendzeiten eher umtriebigen Friseurin, kommentierte Atlas das wie einst mit sanftem Spott.

Schorse wiederum hatte ihm schon am Nachmittag von seiner Frau und seinen zwei Kindern erzählt.

Atlas spürte Wärme in sich aufsteigen bei all den ruhigen und einfachen Lebensgeschichten, nach denen er sich so sehr gesehnt hatte. Dieses Umfeld stellte also seine neue Existenz dar – und nichts wäre daran auszusetzen.

Aber auch nach Lachattacken und wiedergefundenen Sticheleien blieb bei den anderen eine seltsame Form der Distanz zurück. Sie waren dageblieben. Altas war gegangen. Jede Anekdote ihres Lebens war gegen das, was er erlebt hatte, auch ohne dass er davon erzählte, fad und überschaubar.

Dann fiel Atlas seine morgendliche Begegnung oben am Schloss wieder ein. »Ich habe heute die Eltern von Gesa gesehen, ihr wisst schon, die, die damals verschwunden ist. Sie ist wirklich nicht mehr aufgetaucht, oder? Nicht so wie ich.«

Stille.

Grebing, der Polizist, brach schließlich das Schweigen. »Das war die Schwester meiner Frau. Ich nehme nicht an, dass sie wie du den Hampelmann auf einem Schiff gemacht hat.«

»Oh!«, antwortete Atlas peinlich berührt.

Grete wechselte sofort das Thema, hob nach einem schalen Witz ihr Glas und stieß mit den anderen auf Atlas’ Rückkehr an. Dennoch hatte sich ein unsichtbarer Graben zwischen ihnen aufgetan. Atlas bemerkte ihn nur am Rande. Irgendwann schlief das Witzeln ein, Grebing sah auf die Uhr, Gnötter zog seine Jacke über und nach einem kurzen Versichern, dass man sich bald im Märchenwald treffen wolle, waren die beiden Männer verschwunden. Einfach so. Wie er selbst auch vor vielen Jahren.

»Fährst du mich?«, fragte Grete.

Atlas nickte. Sie zahlten und er half Grete in den Mantel, was sie überrascht annahm. Er hielt ihr auch die Tür des babyblauen Passats auf, was sie noch einmal stumm, aber erfreut registrierte.

Sie fuhren durch die dunkle Nacht. Das Schloss oben auf dem Berg war beleuchtet. Eine Ampel schaltete auf Rot. Der Wagen vor ihnen hielt an. Kein Mensch kreuzte die Straße. Es war ein Uhr nachts. Das war Deutschland, dachte Atlas zufrieden.

»Willst du das wirklich machen, da oben mit dem Märchenwald?«, fragte Grete in die Stille.

»Na ja, ich muss mich morgen erst einmal anmelden, vermutlich auch Sozialhilfe beantragen …«

»Man sagt hier jetzt Hartz IV«, erklärte Grete leise.

»Oder auch das. Aber Geld ist es noch?«

»Ja, du musst dafür aufs Rathaus gehen. Maria Lare ist dort dafür zuständig. Du kennst sie noch. Ist eine Nette. Du darfst dich nicht dafür schämen!«