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Mystik, Macht, Terror.
Jan, ein deutscher Arzt, möchte eigentlich nur den Tod seines Sohnes vergessen, deshalb reist er nach Damaskus. Doch kaum hat er eine alte Kreuzfahrerburg besichtigt, gerät er in eine Schießerei. Und als er einem jungen Araber hilft und ein Tagebuch an sich nimmt, steckt er mitten in einer Verschwörung. Gewisse Mächte wollen den ganzen Nahen Osten erschüttern – im Namen der Dämonin Lilith, einer sagenumwobenen, todbringenden Gestalt ...
Packend und überaus szenisch erzählt – die Jagd nach einer geheimen Schrift.
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Seitenzahl: 718
Martin Calsow
Der Lilith Code
Thriller
ISBN 978-3-8412-0432-5
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2011 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Innentitel
Inhaltsübersicht
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Informationen zum Autor
Impressum
Sematar, Türkei, 02. 02., 6.35 Uhr
Incirlik Air Base, Türkei, 11. 06., 14.12 Uhr
Tel Aviv, zur selben Zeit
Damaskus, 12. 06., 5.12 Uhr
Zwischen Damaskus und Aleppo, 13. 06., 9.15 Uhr
Jableh bei Lattakia, 12. 06., 14.12 Uhr
Al Hawash, östlich des Crac des Chevaliers, 13. 06., 18.45 Uhr
Mar Musa Ehad, 14. 06., 0.10 Uhr
Mar Musa Ehad, 14. 06., 7.10 Uhr
Mar Musa Ehad, 14. 06., 9.59 Uhr
Aleppo, 13. 06., 19.45 Uhr
Sednaya, 14. 06., 8.45 Uhr
Aleppo, 14. 06., 16.15 Uhr
Aleppo, 14. 06., 16.05 Uhr
Aleppo, 14. 06., 16.30 Uhr
Aleppo, 15. 06., 5.11 Uhr
Ayn Darah, 15. 06., 5.12 Uhr
Aleppo, 15. 06., 13.12 Uhr
Aleppo, 15. 06., 15.30 Uhr
Aleppo, 16. 06., 7.15 Uhr
Aleppo, 16. 06., 10.15 Uhr
Manbej, 16. 06., 17.13 Uhr
Manbej, 16. 06., 22.30 Uhr
Tel Aviv, 16. 06., 19. 17 Uhr
Aleppo, 17. 06., 13.45 Uhr
Manbej, 17. 06., 11.45 Uhr
Jableh bei Lattakia, 17. 06., 14.12 Uhr
Manbej, 17. 06., 15.14 Uhr
Damaskus/Beirut/Amman/Kairo/Tripolis, 17. 06., 20 Uhr
Manbej, 17. 06., 21.47 Uhr
Jarabulus, 17. 06., 23.44 Uhr
London, 18. 06., 13.25 Uhr
Istanbul, 18. 06., 18.35 Uhr
Syrische Wüste, 19. 06., 5.45 Uhr
Kairo, Siwa, 19. 06., 9.15 Uhr
Istanbul, 19. 06., 11.17 Uhr
London, 20. 06., 12 Uhr
Berlin, 19. 06., 20.17 Uhr
Jeblah bei Lattakia, 20. 06., 5.31 Uhr
Berlin, 20. 06., 15.10 Uhr
Tel Aviv, 20. 06., 11.50 Uhr
Berlin, 20. 06., 18.15 Uhr
Tel Aviv, 20. 06., 21.15 Uhr
Berlin, 20. 06., 20.09 Uhr
Jableh bei Lattakia, 20.06., 19.13 Uhr
Berlin, 20. 06., 21.50 Uhr
London, 20. 06., 23.55 Uhr
Berlin, 21. 06., 3.45 Uhr
Peschawar, Pakistan, 21. 06., 5.34 Uhr
Jableh bei Lattakia, 21. 06., 4.15 Uhr,
Berlin, 20. 06., 22.15 Uhr
Berlin, 21. 06., 7.15 Uhr
Jerusalem, 21. 06., 5.15 Uhr
Frankfurt am Main, 21. 06., 18. 45 Uhr
Masdsched Soleyman, 21.06., 21.45 Uhr IRST
Jerusalem, 21. 06., 23.12 Uhr IST
Frankfurt am Main, 21. 06., 22.01 Uhr CET
Damaskus, Kairo, Beirut, Amman, Tripolis, 22. 06., 1.45 Uhr EET
Frankfurt am Main, 22. 06., 0.30 Uhr CET
Tel Aviv, 22. 06., 3.32 Uhr IST
Masdsched Soleyman, Iran, 22. 06., 3.21 Uhr IRST
Jableh bei Lattakia, 22. 06., 3.13 Uhr EET
Berlin, 22. 06., 1.42 Uhr
Frankfurt am Main, 22. 06., 1.10 Uhr
Persischer Golf, 25’ Nord, 52’ Ost, 22. 06., 2.56 Uhr Zulu Time
Ezraá, Syrien, 22. 06., 6.25 Uhr
Frankfurt am Main, 22. 06., 6.10 Uhr
Megiddo, 22. 06., 7.45 Uhr
Ghom, 22. 06., 8.06 Uhr
Libanesischer Luftraum, 22. 06., 9.34 Uhr Zulu Time
Tel Aviv, 22. 06., 12.10 Uhr
Beirut, 22.06., 13.10 Uhr
Bosra, 22. 06., 19.25 Uhr
Rosh Pina, Israel, 22. 06., 20.13 Uhr
Syrische Wüste bei den Salzseen, 23. 06., 1.25 Uhr
Bosra, 22. 06., 22.46 Uhr
Syrische Wüste bei den Salzseen, 23. 06., 2.12 Uhr
Rosh Pina, 23. 06., 2.35 Uhr
Caesarea Philipi, Israel, 23. 06., 8.10 Uhr
Damaskus, 23. 06., 7.35 Uhr
Dera’a, 23. 06., 9.35 Uhr
Qunaitra, 23. 06., 11.28 Uhr
Epilog
Wien, 11.12., 12.34 Uhr
Wesenufer, Österreich 05.12., 13.34 Uhr
Leseprobe aus "Die Lilith Verheißunf
In Liebe und Dankbarkeit
Für meine Frau Insa
Und so bekleid’ ich meine nackte Bosheit
Mit alten Fetzen, aus der Schrift gestohlen,
Und schein’ ein Heil’ger, wo ich Teufel bin.
Aus: William Shakespeare »Richard III«,
Der Frau war der Bauch aufgerissen worden. Sie lehnte an einem warmen Felsen in einer Höhle, als sie aus der Ohnmacht erwachte. Langsam schlich das Bewusstsein zurück. Ihr Gesicht war geschwollen. Die Augenlider waren verklebt, so dass sie nur mühsam den Ort erkennen konnte, an dem sie sich befand. Sie versuchte, die Hände zu bewegen, als der Schmerz aus dem Bauch sie erfasste. Sie blickte an sich herab, sah etwas Grauweißes, Pulsierendes aus ihrem Bauch herausquellen und wollte schreien. Nur ein wimmerndes »Neiiiiin« kam aus ihrem Mund, unwillkürlich presste sie ihre Hände auf die Wunde, versuchte, das glitschige Innere wieder zurückzudrücken. Die Wunde selbst war kaum eine Handbreit groß, aber der Schnitt hatte die Bauchdecke komplett durchtrennt.
In diesem Moment wusste sie, dass sie sterben sollte. Erinnerungsblitze tauchten auf. Mit einer großen Kraft, die ihr angesichts ihrer Lage fast überirdisch erschien, riss sie sich zusammen und dachte nach: Ich sitze in einer Höhle. Ich habe eine lebensbedrohliche Verletzung. Was ist in dieser Höhle? Wer bedroht mich? Wie komme ich hier raus?
Das Entsetzen packte sie, und ohne dass sie etwas davon bemerkte, entleerte sich ihre Blase. Die warme Flüssigkeit rann an ihren Oberschenkeln herab. Tränen quollen aus ihren Augen. Dann kehrte ihr Wille zurück. Sie schaute nach rechts oben. Schwaches Licht fiel dort herein. Mit ihrer linken Hand drückte sie sich hoch, hielt inne, ließ den Schmerz durchfluten, bemühte sich, ruhig und flach zu atmen. Sie konnte gerade noch stehen, ehe sie an die Decke stieß. Der Fels der Wände war glatt, als ob ihn seit Jahrhunderten Hände abgetastet hätten. Die Öffnung lag auf ihrer Augenhöhe, beschrieb einen senkrechten Schlauch, der geradewegs nach außen führte. Sie schaute an sich herab. Sie trug ihren Slip noch, sonst war sie nackt. Aber um den Hals hatte sie ihren weißen Schal. Für die Flucht brauchte sie beide Hände. Zitternd wickelte sie das Tuch vom Hals, bedacht, es nicht auf den Boden fallen zu lassen. Sie kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander, versuchte, erst ihre Hand von der Wunde zu heben und sofort das Tuch um ihren Bauch zu wickeln.
Ihr Atem ging stoßweise. Es funktionierte. Nichts quoll mehr heraus. Doch das weiße Tuch färbte sich sofort rot. Sie wusste, dass der Blutverlust sie bald in die Bewusstlosigkeit fallen lassen würde. Doch der Schmerz, der jetzt dauerhaft war, hielt sie wach. Sie tastete sich an den Wänden entlang, einen Einstieg zur Öffnung suchend. Dumpf entfernt hörte sie eine Stimme. Sie erstarrte, drückte sich noch näher an die Wand. Atmete nicht. Und betete. Die Stimme kam nicht näher. Ihre Hände tasteten und fanden tatsächlich eine Einbuchtung. Sie wand sich hoch und erreichte nach quälenden Minuten die Öffnung. Sie spürte nicht, wie der Fels ihre Haut aufriss, sie wollte zum Licht.
Einen halben Meter vor dem Höhleneingang hielt sie inne. Das Licht, das milchig-fahl herabschien, stammte vom Mond – ihrem Mond. Eine neue Kraft, dachte sie. Bis sie den Mann am Feuer sah. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und murmelte unverständliche Worte. Neben ihm lag ein Messer. Ihr Messer, ein französisches »Opinel«. Sachte drehte sie sich, streckte ihren Arm aus. Ihre Finger streckten sich, berührten das Griffholz, umklammerten es, als der Mann sich umdrehte. Das Gesicht eines alten Mannes, eines Nomaden, eingehüllt in den rotweißen Stoff des Kufiyas, des Kopftuchs der Araber, sah sie überrascht an. Ächzend stand er auf, wollte ihre Beine packen und sie zurückzerren. Sie strampelte verzweifelt, und tatsächlich geriet der Alte über ihren umherwirbelnden Beinen ins Stolpern, fiel auf sie herab. Sie hob das Messer und schrie. Der Nomade hatte nicht mit der Waffe gerechnet, so konnte er nicht mehr rechtzeitig seine Lider schließen, ehe die zwölf Zentimeter lange Klinge erst in seinen Augapfel und dann in sein Vorderhirn drang.
Almut drehte den im Todeskampf zuckenden Körper zur Seite. Sie versuchte aufzustehen, fiel. Jetzt wusste sie, wo sie war. Und der Gedanke raubte ihr fast den Verstand.
The mission of the United States Air Force is to fly, fight and win … in air, space and cyberspace.
Aus: »State Mission« der US-Air Force
Das kleine Büro neben dem Tower der amerikanischen Airbase im türkischen Adana ist unscheinbar. Die CIA-Einheit, die hier untergebracht war, hatte an diesem Morgen eine kleine Besatzung. Bruce Singhamer, der wachhabende Offizier, schlürfte seinen Kaffee aus einem Becher mit der Aufschrift »Failure is not an option«. Seine Tochter hatte ihm den Becher aus dem Kennedy Space Center als Andenken mitgebracht. Die Nachtschicht hatte ihm die gesammelten Funksprüche der NSA, die Satellitenfotos und alle Bewegungen an den Grenzen zu Syrien und zu Jordanien in das Eingangskörbchen gelegt. Er hatte den gesamten Vormittag Zeit, den Papierkram durchzulesen. Für Bruce Singhamer war der Nahe Osten an diesem Morgen völlig ruhig.
Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten und dem Tod des libyschen Revolutionsführers kurze Zeit später schien die Lage mittlerweile unkalkulierbar. Die westlichen Geheimdienste rechneten zumindest in einem weiteren Land mit einem Putsch – Syrien.
In Ägypten war auch tatsächlich aufgrund massiver Proteste der Bevölkerung eine Zwischenregierung an die Macht gekommen. Aber binnen weniger Monate war das Land quasi unregierbar. Alle wollten zu schnell zu viel. Die Parteien drängten nach der Macht. Die Menschen erwarteten die sofortige Verbesserung ihrer Lebensumstände. Das Gegenteil trat ein. Chaos war die Folge. Und so hatte ausgerechnet Tarek Said, ein junger Armeeoffizier, mit Hilfe des Militärs schnell und geräuschlos die Regierungsgewalt übernommen. Die alten Armeekader fürchteten um die eigenen Privilegien und hatten einstimmig diesen jungen Mann ausgewählt. Nicht ahnend, dass der schon längst seine Fühler über die Landesgrenzen ausgestreckt hatte. Im ahnungslosen Westen konnte wieder aufgeatmet werden. Ein ähnliches Bild gab es auch nach dem Sturz Gaddafis, des Irren von Tripolis. Das Land war in viele kleine Interessengruppen aus Ex-Funktionären, Militärs und Stämmen zerfallen, so dass das Land über Wochen im Bürgerkrieg versank. Sehr zum Leidwesen der Europäer, da diese Entwicklung einen exorbitanten Anstieg des Ölpreises und eine gigantische Flüchtlingsflut aus den Ländern Nordafrikas zur Folge hatte. Erst ein radikales Eingreifen einer Gruppe libyscher Armeeoffiziere stoppte den Aufruhr. Und auch dort wurde ein junger Führer an die Spitze gewählt. Ein ehemaliger Diplomat und Investmentbanker, Ibrahim El Assawi.
Wenige Wochen später starb der Führer des saudischen Königshauses Abdullah Al Saud. Statt einer Garde greiser Diktatoren stand bei der Trauerfeier in Riad in der ersten Reihe der Tribüne eine Gruppe junger Männer, die eher wie Investmentbanker wirkten. Die jungen Präsidenten, Könige und Führer von Syrien, Jordanien, dem Libanon und Libyen, waren im Westen ausgebildet worden und konnten den über die Jahre gewachsenen Feindschaften, Abneigungen und Ressentiments ihrer Väter untereinander nichts abgewinnen. Nach dem Putsch in Tunesien, Libyen, Algerien, Jemen und Ägypten waren sie sich einig, dass sie so nicht würden weiterregieren können. Der Druck der Straße konnte sie mit Hilfe der neuen Medien wie Twitter und Facebook binnen Tagen hinwegfegen. Sie mussten, wollten sie die nächsten Jahre im wahrsten Sinne des Wortes überleben, mit einer völlig neuen Idee auftreten. Sie waren entschlossen. Sie hatten auch keine Wahl. Sie standen, ohne dass sie das offiziell zugegeben hätten, mit dem Rücken an der Wand. Gleichwohl wirkte dieses Bild für einige Experten wie ein Silberstreif am Horizont, als ob mit dieser neuen Generation neue Hoffnungen zu verbinden seien. Die weitgehend ignorante Haltung des Westens, speziell der USA und Israels, ließ diese Region jedoch rasch wieder in das ewige Muster aus Vorwürfen und Gegenvorwürfen, Angriff und Gegenangriff verfallen.
Der Nachrichtenoffizier Itzhak Goldstein schrieb ein Memo an den Sicherheitsberater der Regierung, Shlomo Finkelstein, in dem er auf die fortlaufenden Reiseaktivitäten des Syrers zwar hinwies, aber auch keine weiteren Schlüsse daraus ziehen wollte. Er beendete die Einschätzung mit einem beruhigenden Fazit: Syrien sei ruhig. Er verließ sich dabei auch auf seinen Bauch, und das war ausnahmsweise ein Fehler.
In der Psychotherapie geht es nicht um Schuld, sondern um ihre bewussten und unbewussten Folgen. Die höchstmögliche Leistung der Psychoanalyse ist, dem Menschen zu helfen, mit seiner Schuld weiterzuleben. Eine Vergebung ist nicht möglich.
Markus Bassler, Psychotherapeut
Gläubige dürfen nur einmal in das Paradies einkehren. Der Prophet Mohammed weigerte sich deshalb, jemals nach Damaskus zu kommen. So sagten es die Legende und ein Informationsblatt des Hotels, das neben Jan Kistermann auf dem Nachttisch lag. Er war am frühen Abend in der syrischen Hauptstadt gelandet. Nachdem er lange auf sein Gepäck hatte warten müssen, hatte er sich eines der gelben, nicht besonders sicher wirkenden Taxis südkoreanischer Herkunft herangewinkt und vergeblich versucht, mit dem Fahrer, so wie sein Reiseführer mahnte, den Preis im Voraus zu verhandeln. Resigniert hatte er den Namen des Hotels genannt und sich dann dem Fahrer und dem irrsinnigen orientalischen Straßenverkehr ausgesetzt.
Bauruinen, riesige Werbeplakate und immer wieder überlebensgroße Bilder des Präsidenten rauschten vorbei. Eine Stunde dauerte die Fahrt. Der Airport der syrischen Hauptstadt lag weit außerhalb im Süden. Schwarzverhüllte Frauen überquerten die Fahrbahn, achteten nicht auf den Verkehr, wissend, dass jeder Autofahrer für sie anhalten würde. Auf einer staubigen und mit Plastikflaschen verdreckten Verkehrsinsel lagen zwei junge Nomaden mit ihren Ziegen.
Jan Kistermann war jedoch zu müde, um zu staunen. Das Hotel befand sich gegenüber dem Nationalmuseum, was aber nicht der Grund für seine Wahl war. Er suchte eine Oase des Westens inmitten dieser unbekannten Welt. Etwas, das er kannte. Denn diese Hotelkette hatte es geschafft, selbst in den entlegensten Winkeln der Welt denselben zwar nichtssagenden, aber heimatlichen Einrichtungsstatus zu garantieren. Er hatte sich ein Clubsandwich bestellt, dessen Reste jetzt auf einem kleinen Tisch neben seinem Pass und einem Reiseführer lagen. Kaum ein Laut drang durch die doppeltverglasten Fenster herein. Und trotzdem konnte er nicht schlafen. Gerade einmal vier Stunden hatte er in Träume fliehen können. Ja, Flucht, so musste man es nennen. Die Bilder krochen auch in sein Unbewusstsein. So konnte er auch dort nie sicher sein, vor dem Grauen, das ihn nun schon seit einem Jahr verfolgte. »Lernen Sie zu trauern«, hatte der Geistliche empfohlen, die Anleitung aber nicht mitgeliefert. Als Arzt fiel es Jan ohnehin schwer, Hilfe im Glauben zu finden. Menschen leben, Menschen sterben. Hundertfach hatte er das im Krankenhaus erlebt.
Noch eine Stunde lag er so wach, suhlte sich in Erinnerungen und Vorwürfen, bis jemand vom Servicepersonal anklopfte. Er hatte den Do-not-disturb-Hinweis an der Klinke draußen vergessen. Das hatte Andrea immer erledigt. Er stand auf, duschte kalt, rieb sich mit der teuren Bodylotion des Hotels ein, rubbelte sich den Kopf dann härter als nötig mit dem Handtuch ab und schaute in den Spiegel. Seine nassen, kräftigen Haare standen wirr vom Kopf ab, aber nicht ohne Stolz betrachtete er seinen sehnigen und fast fettfreien Körper.
Ohne Frühstück verließ Jan das Hotel, ignorierte die Taxifahrer in der Hoteleinfahrt, die ihm zuwinkten, ging die steil abfallende Zufahrt hinunter und stand vor der Sharia Shukri Quwwatli, einer der Ausfallstraßen der Hauptstadt Richtung Süden. Ein stetig vorbeirauschender Verkehrsfluss – gefühlt zehnspurig. Nach mehreren vergeblichen Versuchen sprang er zwischen eine kleine Lücke des Verkehrs, stolz, die erste Prüfung des Orients überstanden zu haben. Fast fiel er einem alten Mann in die Arme, der ihn anlächelte und wortreich nach rechts wies – auf eine Fußgängerbrücke, knapp fünfzig Meter weit entfernt. Beschämt nickte Jan dem Alten zu.
Er ließ sich treiben, stand plötzlich vor wirren Bettlern mit weißen Augäpfeln ohne Iris, roch sich förmlich in die Stadt und ihre Menschen ein und gewöhnte sich an den dauerhaften Klang der Hupen, des Kommunikationsmittels des modernen Orients schlechthin, das wie eine immerwährende Symphonie über der Stadt lag. Über die Sharia Nasr lief er Richtung Osten auf die Altstadt zu. Er kämpfte sich an Händlern vorbei, die den Bürgersteig bevölkerten, und sah Schreiber, die nicht Schreibkundigen das Verfassen von Briefen und Formularen anboten. Ständig hupte es um ihn herum. Bald schon begann ihn dieses Chaos zu stressen. Erstaunt nahm er eine Rolltreppe wahr, die ihn aus einer Unterführung zum Eingang des Souks führte. Wie das riesige Maul eines Monsters schluckte dieser seine Besucher. Er wich einer seltsam geschmückten islamischen Reisegruppe aus dem Iran aus. Die Frauen hatten ihre Köpfe mit Blumenornamenten geschmückt, die Männer trugen das leinene Pilgerweiß. Sie besuchten den Schrein, in dem der Kopf des Hussein Ibn Ali aufbewahrt wurde, des Enkels des Propheten Mohammed und zugleich des wichtigsten Märtyrers der Schiiten. Jan roch die Damaszener Seife, die in großen Bastkörben lag und einen intensiven Rosenölduft ausströmte, dann die danebenliegenden Datteln und Pistazien, die ihm die Verkäufer zum Probieren anboten. Und als der Souk ihn wieder ausspuckte, fand er sich auf einem Platz wieder, der vor einem großen Tor lag. Aus seinem Reiseführer erfuhr er, dass es der Osteingang der Umayyaden-Moschee war, einer der heiligsten Plätze der sunnitischen Muslime, aber auch die Schiiten hatten hier einen Wallfahrtsort.
Ein Wächter versperrte ihm den Weg und deutete auf die andere Seite der Moschee. Dort sei der Touristeneingang. Jan zog einen dreckigen, zerknüllten Hundert-Pfund-Schein aus seiner Tasche, lächelte den Wärter an und betrat dann, mit seinen Schuhen in der Hand, den Innenhof der Moschee. Er setzte sich auf die blankpolierten Steine und genoss die würdevolle, aber nicht einschüchternde Schönheit des islamischen Bauwerks. Er blickte auf die vielfarbigen und vergoldeten Mosaike an den Wänden und Decken. Er las, dass Moscheen – anders als Kirchen – nicht nur Gebetsstätten, sondern auch Ruhe- und Begegnungsraum seien.
Vor ihm rannte ein Junge seiner älteren Schwester lauthals schreiend hinterher, fiel und weinte. Ihre Mutter saß, verhüllt, aber barfuß, wenige Meter entfernt und plauschte mit anderen Frauen – undenkbar in deutschen Kirchen.
Jan wandte den Kopf und sah eine deutsche Reisegruppe, die sich lärmend über die »komischen Moslems« lustig machte. Offenbar Rentner aus Schwaben, die alle olivfarbene Multifunktionswesten mit unzähligen Taschen trugen und auch ihre Schuhe nicht ausgezogen hatten.
»Meinen Sie nicht, dass Sie nicht auch die Schuhe ausziehen sollten?«, fragte Jan den Ersten der Gruppe unfreundlich.
Ein feistes Gesicht schaute ihn feindselig an. »Was haben Sie denn damit zu tun?«, kam es in vorwurfsvollem Schwäbisch zurück.
Jan begriff, dass er hier mit Respekt und Höflichkeit nicht weiterkam. »Pass auf, du Pfeife, zieh die Schuhe aus, sonst werden sie dir abgehackt. Glaub’s mir, ich kenne mich hier aus.«
»Das will ich …« Der Mann wurde von seiner Frau angewispert. »Hans, das musst du halt hier machen«, sagte sie leise, aber bestimmt und zog ihre Schuhe dabei aus.
Die Gruppe folgte widerwillig. Ein Gefühl des stillen und warmen Triumphes durchströmte Jan. Er drehte sich langsam um und sah in das Gesicht eines blonden Mannes, der seinen Blick mit einem spöttischen Ausdruck erwiderte: »Na, fühlt sich gut an, was? Hast die Einheimischen echt vor deinen doofen Leuten beschützt.«
Der Mann klatschte aufreizend laut und langsam in die Hände. Er war kleiner als Jan, wirkte dennoch sehr sportlich, brauner Teint, eine lange Hose, aber unter dem T-Shirt wölbten sich starke Arme, vom Typ her ein in die Jahre gekommener Surfer.
»Was willst du?«, fragte Jan und reckte seinen Kopf.
»Mach dich mal locker, Alter.«
Wie Jan diese Sprüche hasste. »Nerv mich nicht und quatsch andere an, okay?«
Der Blonde setzte sich, hielt seine Hände hoch. »Ich wollte dich nicht anmachen, aber deine Art war etwas sehr aggressiv.«
Jan hörte einen ausländischen Tonfall aus den Worten heraus, konnte ihn aber nicht sofort einordnen. »Deinem Aussehen nach kommst du nicht aus Syrien.«
»Nein, aus den Niederlanden. Ein Problem?«
»Nein.« Doch. Jan mochte keine Holländer. Er war an der Grenze zu Holland aufgewachsen und hatte die Ablehnung der Nachbarn an jedem zweiten Wochenende, wenn seine Eltern zu »Frikandel und Koffie« rübergefahren waren, zu spüren bekommen. Moffenkind, das Schimpfwort der Holländer für sie, den großen Feind aus dem Osten. Man mochte sich nicht.
»Ich bin Ed van Rey. Dag.« Der Holländer reichte ihm die Hand. »Guten Tag, Jan Kistermann«, gab Jan unterkühlt zurück.
»Lass uns was essen gehen, Jan.« Der Holländer stupste ihn an. »Ich kenne den besten Schoarma-Laden hier in der Nähe.«
Jan musste grinsen. Der Typ hatte gerade wirklich die Stimme von Rudi Carrell imitiert. Er lächelte.
Also lief er neben dem um einen Kopf kleineren Holländer aus dem Innenhof. Sie bogen nach links, bahnten sich den Weg durch die Menschenmenge aus Händlern, Touristen und Bettlern, ehe sie vor einem Laden mit kleinen Stühlen und Bänken innehielten. Hatte Ed oder Eduard, wie er richtig hieß, noch brav im Showmaster-Dialekt mit ihm über Damaskus geplaudert, wechselte er jetzt in ein zumindest für Jan blütenreines Arabisch, er bestellte Schoarma, die arabische Entsprechung zum deutsch-türkischen Döner. Dazu kamen warme Bohnen, Käse, frischer Thymian und Sater-Saitun, wie Ed erklärte, eine Gewürzmischung, die mit Olivenöl auf Brot gegessen wurde. Er scherzte mit der Bedienung, wirkte vertraut und bekam, trotz Widerrede, noch eine Schischa, die arabische Wasserpfeife.
Ed deutete auf eine Treppe. »Geh da hinüber!«
»Ich rauche nicht.«
»Musst du auch nicht, trink Tee, iss und lass uns einfach nur da oben sitzen.«
Da oben – das war eine Dachterrasse mit Blick auf Damaskus. Ein Dach aus Bast schützte vor der Sonne. Darunter lagen Teppiche, Kissen und mehrere Bänke. Zwei Katzen strichen ihnen um die Beine, auf ein paar Essensreste hoffend. Ed setzte sich und begann sofort zu reden.
Der Holländer musste seit zwei Jahren nicht mehr arbeiten. Er war bei der holländischen Polizei gewesen, als er eines Abends einen Brief in seiner kleinen Wohnung öffnete. Seine Familie hatte ihm das, wie er es nannte, »Rundumsorglos-Geld« hinterlassen. Damit konnte er ohne jedes Limit reisen, was er auch ausgiebig tat. Er war in Damaskus aufgewachsen. Sein Vater hatte in den Emiraten, für die Saudis und zum Schluss für die Syrer nach Öl in der Wüste östlich von hier an der irakischen Grenze gebohrt. So talentiert, wie er beim Suchen nach Öl gewesen war, so untalentiert hatte er sich als treusorgender, zuverlässiger Familienvater erwiesen. Sie hatten Geld gehabt, aber keine ruhige Minute ohne Streit zwischen den Eltern. Mit achtzehn Jahren war Ed ausgezogen und nach Amsterdam gegangen, um mit wenig Begeisterung Politik zu studieren. Als er sich nach etwas Sinnvollem gesehnt hatte, war er zur Polizei gekommen.
Jan war immer überrascht, wie leicht man einen Zugang zu den Menschen bekam, wenn man ihnen nur zuhörte. So präzise und einfühlsam er erzählte, so grobschlächtig wirkte Eds äußere Erscheinung. Er hatte dünne, blonde Haare. Kräftige Oberarme und ein wie aufgepumpt wirkender Brustkorb deuteten auf viele Stunden im Fitnessstudio hin.
Eingelullt vom Singsang des Holländers, blickte Jan über die Dächer, das Antennenmeer, die Wäscheleinen und die Minarette und Kirchen, er hörte die Gesänge der Muezzine, die, wie Ed ihm erklärte, die Gläubigen fünfmal am Tag an das Gebet erinnerten. Müde schloss er die Augen. Der Holländer ist in Ordnung, war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.
Etwas zupfte an seinem Zeh. Jan öffnete die Augen und blickte auf eine Katze, deren rechte Augenhöhle leer war und die versuchte, vorsichtig über seine Füße hinwegzusteigen. Hektisch schaute er nach rechts. Für einen kurzen Augenblick hatte er die Orientierung verloren. Gegenüber lag der Holländer auf einer Bank und las. Die Sonne hatte die Stadt mit einer Nachmittagsglut überzogen. Es roch aus den Gassen, dort, wo die Kesselmacher ihre Stände und Werkstätten hatten, nach verbranntem Eisen.
»Meine Güte, ich habe wirklich geschlafen«, murmelte Jan.
Der Holländer drehte träge den Kopf und schaute ihn an: »Sehr ruhig sogar. So gefallen mir die Deutschen.«
»Witzig. Ich glaube, ich brauche einen Kaffee.«
Eduard stand auf, lehnte sich über die gekalkte Brüstung der Terrasse, rief etwas in die Gasse hinunter und schlenderte zurück. »Was willst du in Syrien sehen?«, fragte er.
Jan reckte sich, rieb sich die Augen und gähnte. »Keine Ahnung – alles, nur keine Grachten!«
Der Holländer grinste. »Wie viel Zeit hast du?«
»Genug.«
»Dann los!«
Der Hitze des Nachmittags entkamen sie im Nationalmuseum. Als sie erschöpft von so viel Geschichte wieder vor der Tür standen, zeigte Jan mit dem Finger auf die andere Seite eines einbetonierten Rinnsals, des Flüsschens Barada. »Da ist mein Hotel.«
Eduard verzog das Gesicht. »Eine miese Absteige. Komm zu mir. Ich wohne in der Altstadt.« Der Holländer sprang auf die Fahrbahn. Jan schüttelte verdutzt den Kopf. Warum nicht? dachte er. Sie holten Jans Gepäck. Es war nicht viel. Ein großer Rucksack und sein Arztkoffer, den er immer aus Gewohnheit mitnahm.
Als die Sonne unterging, öffnete Ed eine schwere Holztür, die mit großen Eisenbeschlägen verziert war, und wies in einen Innenhof. »Hartelijk Welkom, mijn vriend. Morgen fahren wir raus, aber heute saufen wir.«
In dem Innenhof lag ein kleiner Pool, der mit mehreren Dutzend Dosen Heineken bedeckt war. Die Dosen schwammen wie kleine Gummienten auf dem Wasser, bereit, geleert zu werden.
Jan erwachte am nächsten Morgen auf einer Liege im Innenhof. Das Gurren der Tauben und das Tschilpen der Spatzen erschienen ihm unerträglich laut. Ed hatte zum Schluss noch alten Genever gefunden. Das hatte Jan, der nicht viel Alkohol gewohnt war, den Rest gegeben. Er wusste noch, dass er Ed versprochen hatte, mit ihm gemeinsam durch das Land zu reisen. Denn nur so, hatte Ed ihm lallend erklärt, nur so würde er auch hinter verschlossene Türen schauen dürfen.
»Ed?« Jan stieß den Namen krächzend hervor.
»Kaffee?« Der Holländer stand mit nassen Haaren und wohlgelaunt hinter ihm. Er warf eine Kapsel Kardamom in die Tasse und reichte sie ihm. »Heute werden wir die Burg der Burgen sehen.«
Das syrische Christentum setzt sich aus verschiedenen Gruppen zusammen: Griechisch-Orthodoxen (500000), Melkiten (200000), Armenisch-Gregorianischen (150000), Syrisch-Orthodoxen, Syrisch-Katholischen, Armenisch-Katholischen, Maroniten, Assyrern, Chaldäern, Protestanten und Lateinern. Ein institutioneller Laizismus – der Islam ist nicht Staatsreligion, sondern die Religion des Staatsoberhauptes – garantiert den Christen eine relative Gleichberechtigung, obschon sie strengen Kontrollen unterstehen. Die seit 1964 regierende Baath-Partei versucht, die verschiedenen Minderheiten des Landes in ein »arabisches« Konzept zu integrieren. Christliche Gemeinden dürfen Grundstücke kaufen und Kirchen oder andere Pastoraleinrichtungen bauen. Priester sind nicht zum Wehrdienst verpflichtet.
Aus: »Dokumentation Internationale Katholische Presseagentur«
Ihr Wagen hatte einen Allradantrieb asiatischer Herkunft. Und Eduard holte auf der Schnellstraße, die von Damaskus nach Aleppo führte, alles aus dem Auto heraus. Sie hatten die Großstadt hinter sich gelassen, waren in die weite fruchtbare Landschaft des Nordens gefahren, als sie ein Konvoi mit schwarzen Vans fast gerammt hätte. Die Vans überholten trotz Gegenverkehrs und zwangen Ed zu einem abenteuerlichen Schlenker über den Sandstreifen neben der Fahrbahn. Selbst der erfahrene Holländer fluchte, gab aber wieder Gas. Immer wieder überholte er die reich verzierten, aber nicht verkehrssicher aussehenden Kleintransporter, sogenannte Mikrobusse – das Hauptverkehrsmittel für die syrische Landbevölkerung. Häufig waren sie überfüllt und auf dem Wagendach noch mit unzähligen Paketen und Koffern beladen. Bei Gegenverkehr nutzte Ed auch die rechte Seite zum Überholen, hupte, gab Gas und zog in einer Staubfahne an den voll besetzten Bussen vorbei. Jan hatte nichts gegen dieses halsbrecherische Tempo. Die musikalische Untermalung war für ihn jedoch schwer zu ertragen. Er mochte den Nahen Osten, aber die Musik hier hatte etwas von Katzengejammer. Er zog seinen iPod aus dem Rucksack, suchte die richtige Frequenz im Radio, und bald ertönte laut »Slave to Love« von Bryan Ferry.
Ed schaute kurz zur Seite. »Entweder spielt ihr Deutschen Marschmusik oder Schwuchtellieder. Schon mal was von Rock oder Hip-Hop gehört?«
Jan spielte auf dem Touchscreen des iPods. Das Grauen kroch in Form einer Bassstimme aus den Lautsprechern: »Sag mal, wo kommt ihr denn her, aus Schlumpfhausen bitte sehr.« Vadder Abraham mit dem Lied der Schlümpfe.
Eduard schrie auf, und Jan lachte.
»Der ist bestimmt Belgier! Holländer machen so etwas nicht.«
»Und ob! Linda de Mol ist auch Holländerin.« Jan drehte wieder leiser. »Abraham ist ein gutes Stichwort. Das hier war sein Land. Er kam mit seiner Sippe aus Harran und zog in den Süden nach Kanaan. Aber hier wird er wohl vorbeigekommen sein. Wenn dir als Protestant der Name etwas sagt.«
Eduard war ob des Themenwechsels etwas verwirrt. »Wie kommst du darauf? Und woher weißt du so was? Du bist doch nicht auch einer dieser religiösen Spinner, die hier den Sand kaputt treten?« »Nein, meine Frau, Ex-Frau besser gesagt, ist Kunsthistorikerin. Das, was ich studieren wollte, aber in einer Arztfamilie nicht durfte.« Jan blickte auf die Straße, rechts von ihnen Weizenfelder und Olivenhaine, das Land veränderte sich, wurde fruchtbarer und grüner. Halbfertige Rohbauten, mit spitzen Betonpfeilern, die dennoch schon bewohnt waren. Einsame Ziegenherden. Dann wieder Autowracks.
»Du hast deinen Berufswunsch geheiratet?« Eduard lachte. »Gut, dass du nicht Boxer werden wolltest.«
Jan verdrehte die Augen. »Deutsche wollen eigentlich immer nur Führer werden.« Dabei klickte er im iPod auf Wagners Ritt der Walküren.
Gegen Mittag hatten sie Homs, eine Provinzhauptstadt am Fluss Orontes, erreicht. »Die Region der Oliven, Feigen und Rebellen.« Eduard bremste und hielt an einer Wellblechhütte, die sich mit einem großen Schild als Tankstelle auswies. Zwei große Kühlschränke mit den üblichen Softdrinks standen am Eingang. Der Holländer verschwand in dem dunklen Raum und erschien wenig später mit allerlei Proviant vor der Hütte.
»Was weißt du über das Land? Ihr Deutschen präpariert euch ja immer gern vor jeder Reise.« Eduard warf Jan eine Pepsi zu, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich zu ihm auf ein Brett, das auf zwei Ölkanistern im Schatten lag.
»Achse des Bösen, Diktatur, steckt hinter allen Anschlägen im Nahen Osten, unterstützt alle im Kampf gegen Israel. Und soll eine großartige Kultur haben, nur Jordanien soll schöner sein, sagt man.«
Eduard schüttelte langsam den Kopf. »Vergiss Jordanien, vergiss sogar Ägypten. Das ist hier ein sehr spezielles Land. Ich erspare dir den Kulturteil. Im Zweifel weißt du das besser. Wenn nicht, frag einfach. Doch heute ist es noch spannender. An der Macht sind die Alawiten, weil der Vater des jetzigen Präsidenten Alawit war. Aber nur wenige gehören der Religion an. Der Rest ist entweder sunnitisch oder irgendwie christlich. Hier hast du alles: Armenier, griechisch- und syrisch-orthodox, Katholiken und sogar uns Protestanten. Die Sunniten wollten lange die Alawiten nicht anerkennen, es gab schlimme Auseinandersetzungen. In den achtziger Jahren hat der alte Assad wenige Kilometer von hier in Hama ein Blutbad unter den Muslimen angerichtet. Meine Familie hatte Freunde da, die wir über Weihnachten besuchten. Mein Vater war im Ausland, als der Aufstand losbrach. Wir kamen nicht mehr heraus, blieben fast vier Wochen in der Wohnung. Meine Mutter wurde fast wahnsinnig. Es war im Februar 82. So viele Leichen auf der Straße, verstümmelt, verrottend. Der Alte hat da hart durchgegriffen und ließ mit Panzern in die Altstadt schießen – schlimm. Aber Religion spielt hier eben eine große Rolle. Weiter nördlich liegt Maalula, dort reden sie noch in der Sprache Jesu. Am besten sprichst du so wenig wie möglich über Religion hier. Irgendeinem trittst du damit immer auf die Füße.«
»Und das soll spannend sein?«
»Hier ist nie etwas so, wie es scheint«, antwortete Eduard nur. In einem hohen Bogen warf er seine leere Dose in einen Mülleimer. »Weiter geht’s.«
Sie bogen von der Schnellstraße ab Richtung Westen, der Stadt Tartus entgegen. Links von ihnen erhoben sich am Horizont die schneebedeckten Gipfel des Libanons. Nach einer Stunde sah Jan die gigantische Burg auf einem Hügel thronen. Sie verließen die Autobahn und fuhren durch Dörfer Richtung Crac. Lehmbauten wechselten sich mit Betonhäusern ab. Und immer wieder sah Jan an den Wänden Bilder von Mekka, Zeichen, dass hier ein Hadschi, ein Mekka-Pilger, lebte. Er versuchte sich vorzustellen, wie so ein Bild auf der westfälischen Klinkerwand einer Doppelhaushälfte wirken konnte. Dann fiel ihm die Kreidemarkierung zum Dreikönigsfest an den Türen ein. Jede Religion hat ihre Markierung, dachte er. Über eine bedenklich schmale Teerstraße fuhren sie auf den Bergrücken.
Erhaben strahlte die Burg in der späten Nachmittagssonne in einem verwittert warmen Orange. Mächtig und scheinbar uneinnehmbar. Im Osten, am Ende der Straße, lag ein Parkplatz, der zu diesem Zeitpunkt von vielen Autos besetzt war. Sie lösten bei einem alten Mann ein Ticket. Von Ausländern verlangte man ungeniert das Dreifache. Sie schnauften schon vor Anstrengung, als sie auf den Crac des Chevaliers zugingen.
Lawrence von Arabien hatte ihn, bevor er der Held der arabischen Nomaden wurde, als die »perfekte Burg« bezeichnet. Jan kannte seine Geschichte, und so erzählte er sie, während sie die unebenen Stufen weiter emporstiegen. »Die Araber haben die Burg Anfang des 11. Jahrhunderts gebaut. Dann kamen 1099 die Franken und belagerten sie monatelang. Die Verteidiger ließen Schweine frei, und die ausgehungerten Christen liefen daraufhin den Tieren hinterher und gaben die Belagerung auf. Aber zehn Jahre später haben sie die Burg doch eingenommen. Die längste Zeit lebten hier die Johanniter. Die mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Danach konnte die Burg nie mehr eingenommen werden.«
Eduard stand auf dem Ostportal und schaute über die darunterliegenden kleinen Dörfer. Wie ein gigantischer Königsthron mutete dieses riesige Bauwerk an. Ihm schien zu gefallen, mit wieviel Stolz über sein Wissen Jan von dieser Burg erzählte. Geflissentlich missachtete er das Schild mit den historischen Angaben, das man neben dem Tor aufgestellt hatte. Kreischende Schulklassen kamen ihnen entgegen, strömten zurück in die Busse. Die Burg war das Highlight in dieser Region. Aber langsam ebbte der Besucherstrom ab. Sie waren wohl die Letzten, die noch Tickets bekamen.
»Was steht da oben?« Jan zeigte auf eine arabische Inschrift oberhalb des Portals.
»Sultan Baibar hat dieses Portal errichtet zu Ehren … Den Rest kann ich nicht so recht entziffern.« Eduard hob die Schultern.
Jedes Kind stellt sich eine Burg genau so vor, dachte Jan. Eine Wehrmauer umgab sie, eine Brücke führte über einen Wassergraben, der obligatorische Bergfried thronte über allem. Der ganze Komplex bedeckte drei Hektar; sowohl Außen- als auch Innenmauern folgten den natürlichen Formen des Terrains. Der äußere Mauerring wurde durch halbrunde und eckige Türme verstärkt.
Die Hitze des Tages steckte in den verwitterten rauen Sandsteinen und strahlte ihnen entgegen. Sie ließen die Außenmauern links liegen und schlenderten Richtung Innenhof.
Jan war euphorisch. Er hatte genau von dieser Burg geträumt.
»Und hier ist der Rittersaal.« Eduard stapfte durch einen gotischen Portikus voran. Reich verziert war die Decke, doch der Boden war uneben und sandig. Ed drehte sich in dem vielleicht dreißig Meter langen Raum. Durch die Öffnungen bildeten sich Lichtsäulen von der Decke bis zum Boden. Aufgewirbelter Staub sammelte sich darin, ließ sie wie Finger erscheinen.
»Schließ die Augen und stell dir hier große Tische vor, an denen Männer reden und essen. An den Wänden Teppiche. Man spielt eine Laute und singt von großen Taten.«
Jan war ergriffen.
In die Stille hinein sagte Eduard: »Kreuzritter haben hier keinen guten Ruf. Sie gelten als barbarische, unmenschliche Feinde. Bis heute. Und das, obwohl der letzte Ritter hier vor fast tausend Jahren verschwand. Hier hörst du nichts von Minnegesang und edlen Recken. Sie sind einfach verhasst, stehen für die brutale Seite des Christentums.«
Jan schaute ihn missmutig an. »Würdest du auch in der Alhambra in Granada von den Terroranschlägen erzählen? Warum muss immer auf die dunkle Seite verwiesen werden? Jede Zeit hat ihre eigenen Gesetze. Wenn wir sie mit heutigen Maßstäben messen würden, wäre das völlig blöd.«
Eduard wollte etwas erwidern, merkte aber, dass Jan etwas anderes eigentlich mehr beschäftigte, und so ging er ein paar Schritte Richtung Bergfried. Jan griff in sein Portemonnaie und zog einen knittrigen Zettel hervor. Schweiß tropfte darauf. Vorsichtig wischte er ihn weg. Eben noch begeistert, versank er für wenige Sekunden in tiefe Traurigkeit.
»Alles okay? Was hast du da? Eine Schatzkarte?«, fragte Eduard. Sie standen am Ostturm. Jan blickte Eduard an, und etwas zu scharf sagte er: »Ich bin in echten Schwierigkeiten … Aber bevor du fragst, nein, ich will nicht darüber reden.«
Ed zuckte nur mit den Schultern. Sie waren mittlerweile die letzten Besucher. Schwärme von Schwalben zogen über sie hinweg. Die Reisebusse hatten den Parkplatz längst verlassen. Jan sah drei verdunkelte Vans, die jenen glichen, die sie am Vormittag so riskant überholt hatten, die Straße zur Burg hinaufrasen. Tauben gurrten, und der Wind wehte durch die Fensteröffnungen. Plötzlich erklang ein Schrei. Beide drehten sich um und blickten den Rittersaal hinunter. Noch ein Schrei. Dann wieder Stille.
Eduard lief los.
»Die Schreie kommen von dort oben«, rief Jan und deutete auf den Bergfried. Sie hetzten die Stufen hinauf, eilten über den gestampften Lehmboden des Speisesaals und gelangten in eine Nische. Dann, kaum hörbar, vernahmen sie ein Wispern aus einem der benachbarten Räume. Ed drückte Jan mit einem Arm gegen die Wand. Mit der anderen Hand legte er seinen Finger auf die Lippen. Er blickte nach oben, sah, dass die Wand mehrere Löcher aufwies, und bedeutete Jan, eine Räuberleiter zu machen. Er schwang seinen Fuß hinein und zog sich sehr leise und gekonnt an der Wand hoch. Jan schwitzte. Keinesfalls wollte er in solch einem schwierigen Land Ärger bekommen.
Einen Moment später stieg Ed vorsichtig wieder herab. Das Gesicht des Holländers wirkte wie versteinert.
»Ich glaube, wir haben ein Problem. Sie sind vier, haben Waffen und wollen jemanden töten.«
»Dann sollten wir zu den Wärtern gehen. Ich habe nicht vor, mich auf einer Ritterburg abknallen zu lassen.« Jan zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Ja, klar«, kam es von Ed.
Im nächsten Moment huschte er an dem Eingang vorbei auf die andere Seite, griff nach einem Stein und warf ihn Richtung Jan.
Die Stimmen verstummten, leise wurden wohl Befehle gewispert, und Schritte kamen näher. Dann ging alles sehr schnell: Eine Pistole mit einem Schalldämpfer tauchte auf, Ed verpasste dem Schützen einen Schlag an den Hals und griff nach der Waffe. Er wirbelte herum, schrie Jan an, er solle loslaufen.
Jan rannte los. Nach wenigen Metern blickte er sich um und sah zwei Männer, die ihm folgten. Eine Sekunde später hörte er drei fremdartig klingende Plops und sah die Köpfe der Männer regelrecht zerplatzen.
All das ging auf merkwürdige Weise fast lautlos vor sich. Jan hielt inne, er sah Ed, der die Pistole immer noch in seiner rechten Hand hielt und sie mit der linken stützte. Er rannte zurück und beugte sich über die zwei Männer, um nach ihrem Puls zu fühlen.
»Dein Job ist hier nicht mehr gefragt«, zischte Ed und riss ihn hoch. »Da drinnen braucht dich jemand dringender. Ich kümmere mich um Nummer vier.« Schon hastete er die Treppe zum Bergfried hoch.
Wie benommen wankte Jan die Stufen zur ehemaligen Großmeisterwohnung hinunter. Was er sah, ließ ihn kurz erstarren. Der Kopf eines jungen Mannes ragte aus der Erde, sein Mund war verklebt, und auf seinem Kopf trug er ein Geflecht aus Stacheldraht. Steine verschiedener Größe lagen verstreut im Raum, der vielleicht zwanzig Quadratmeter maß. Jan trat näher, kniete vor dem Kopf, der sich plötzlich ruckartig bewegte, und sprach ihn leise an. Der Junge schlug die Augen auf, pures Entsetzen war in ihnen zu lesen.
Jan riss ihm den Knebel vom Mund. Mit einer fast hilflosen Geste versuchte er, ihn zu beruhigen. Er legte seine Hände auf die Brust, atmete tief durch und zeigte seine Handinnenflächen, hob und senkte sie. Tatsächlich atmete der Junge tief durch. Die Männer hatten den Jungen an einen T-förmigen Holzbalken befestigt, der in einer genau passenden Öffnung des Bodens versenkt worden war. Selbst wenn er ihm helfen wollte, hätte Jan ihn unmöglich aus diesem Loch ziehen können. Das Kreuz schien sehr massiv zu sein. Jan warf seinen Rucksack auf den Boden, riss die Wasserflasche heraus und führte sie vorsichtig an den Mund des Opfers. In diesem Moment hörte er ein weiteres Ploppen. Schritte kamen näher. Ed stand in der Tür. »Fertig! Was haben wir hier?«
Jan spürte, wie er zu zittern begann. Als Arzt hatte ihn nie etwas aus der Fassung bringen können, aber ein Holländer, der in weniger als fünf Minuten vier Menschenleben ausgelöscht hatte und dann seelenruhig nach dem Stand der Dinge fragte, war zu viel für ihn. »Hast du den Verstand verloren?«, schrie er. »Was hast du getan? Was soll das?« Seine Stimme überschlug sich.
Statt zu antworten, drehte sich der Holländer um und verschwand. Wenige Augenblicke später kehrte er, eine der Leichen hinter sich her schleifend, wieder zurück.
»Wir holen den Jungen raus, werfen das Gesindel ins Loch und verziehen uns, ehe im Dorf unter uns«, er nickte in Richtung Fenster, »jemand etwas mitbekommt.«
»Vorher wirst du mir noch die Frage beantworten, was dieser Irrsinn hier soll!« Jan beugte sich wieder über den Jungen. »Frag ihn, wie er heißt. Dann heben wir ihn gemeinsam heraus, und ich versorge ihn. Ich habe ein Erste-Hilfe-Päckchen dabei.«
Ed sprach den Jungen leise auf Arabisch an. Dieser antwortete mit schwacher Stimme. Ed drehte sich um: »Er heißt Yussef, und er bittet uns, ihm zu helfen.«
Gemeinsam griffen sie in das Loch und hoben das Kreuz an dem Querbalken ein Stück nach oben. Der Junge schrie vor Schmerzen auf. Unter großer Anstrengung zogen sie das Kreuz weiter nach hinten, wo sich die Öffnung verjüngte. Das Kreuz mit dem wimmernden Jungen hing zwar in der Luft, aber sie konnten nun die Fesseln lösen. Jan zog den stöhnenden Jungen vorsichtig nach oben auf den Boden des Raumes. Er riss eine Verpackung mit einer Nadel auf und steckte sich eine kleine Taschenlampe in den Mund. Dann nahm er ein Fläschchen aus einer Seitentasche und sog die Flüssigkeit mit einer Spritze auf.
Nachdem er die Spritze bekommen hatte, hörte der Junge auf zu wimmern. Das Schmerzmittel tat schnell seine Wirkung. Jan beugte sich über den Jungen, leuchtete den Körper ab und untersuchte vorsichtig die Wunden.
Die Kerle hatten richtig zugelangt. Links unterhalb des Brustkorbs hatte sich die Haut gewölbt. An verschiedenen Stellen der Haut registrierte Jan Hämatome und kleine Einstichwunden. Am schlimmsten waren die Extremitäten betroffen. Jeweils zwei große Zimmermannsnägel waren durch die Arme, oberhalb des Handgelenks geschlagen worden. Die Beine waren glücklicherweise nur angebunden, aber die Fesseln hatten tiefe Schürfwunden hinterlassen; die Füße waren blau angeschwollen.
Eduard durchsuchte die Taschen der Toten. Syrische Pfundscheine, Handketten, Patronen kamen zum Vorschein, aber keine Ausweise. Jeder der Toten hatte jedoch eine Tätowierung im Nacken. Es sah aus wie das Zeichen für unendlich.
»Vielleicht der geheime Unendlich-Orden«, raunte Ed. Er griff in die Ledertasche, öffnete sie und ertastete einen harten Gegenstand. Als er sich umblickte, sah er, wie Jan den Gekreuzigten versorgte, die Nägel vorsichtig aus dem Holz zog, sie mit Tape und Mullbinden umwickelte, aber sie nicht aus dem Arm des Jungen entfernte. Dann zogen sie einem der Männer Hose und Jacke aus, um dem nackten Jungen etwas Schutz zu geben und nicht sofort aufzufallen, falls sie anderen Besuchern über den Weg laufen sollten.
»Wird er durchkommen?«, fragte Eduard wie beiläufig.
»Er ist nicht wirklich schwer verletzt und hat auch nicht viel Blut verloren, die Wunden sind allerdings übel und schmerzhaft, aber er ist jung. Da hält man auch mal eine Kreuzigung aus.« Jan war über seinen eigenen Sarkasmus erstaunt.
»Woran stirbt man eigentlich am Kreuz?«, wollte der Holländer wissen.
Jan atmete kurz durch. »Ruptur der Herzwand, tuberkulöse Pleuritis, Verrenkungen innerer Organe, Rippenbrüche durch den Sturz beim Tragen des Kreuzes bis hin zu Blutstockungen durch die Bewegungslosigkeit am Kreuz. Die Gekreuzigten wurden ja nach ihrem Tod immer sofort abgenommen, die Kreuze blieben stehen und warteten auf die nächsten Opfer. Verbluten durch die zugefügten Verletzungen ist kaum wahrscheinlich, eher ein Verdursten oder Kreislaufstörungen durch Ausfall der Beinmuskulatur, die wie eine Pumpe wirkt. Möglich ist auch eine Lungenembolie, wie sie bei Langstreckenflügen durch die Bewegungsarmut ausgelöst werden kann.« Jan hatte das Notwendige erledigt. Er stützte sich auf die Knie und fuhr fort: »Am wahrscheinlichsten aber ist Ersticken. Wenn der Gekreuzigte keine Kraft mehr hat, sich mit den Beinen nach oben zu drücken und nur noch an den Händen hängt, ist durch die eingeschränkte Ausdehnung des Brustkorbs eine ausreichende Sauerstoffversorgung nicht mehr gewährleistet. Am Kreuz war zum Abstützen der Füße deshalb ein Vorsprung angebracht. Der Todeskampf sollte lange dauern, Kreuzigungen waren zur Abschreckung gedacht. Alles in allem ein qualvoller Tod.«
Eduard hatte die vier Männer mittlerweile samt ihrer Waffen und Rucksäcke vor das Loch geschafft. »Soldaten sind das nicht, die Uniformen kenne ich gar nicht. Seltsam.« Er schüttelte den Kopf, als er hinabschaute. »Gib mir mal deine Taschenlampe. Da liegt etwas.« Er leuchtete nach unten und schwang sich dann über den bröckelnden Rand.
»Was siehst du?«, fragte Jan, während er weiter den Jungen untersuchte.
»Hier steht etwas – Wahnsinn …«, rief Ed aus dem Loch. Jan blickte hinunter. »Was?«
»Il … Warte … Illuminatus was here.«
»Verdammt, das ist kein Scherz hier, du Idiot«, rief Jan völlig fassungslos. Dann landete etwas neben Jan: eine Ledertasche, umwickelt mit einem Tuch.
Ed stemmte sich aus dem Loch hoch. »Lass uns abhauen.«
Rasch rollte er einen Körper nach dem anderen in die Grube und warf ein paar herumliegende Steine hinterher. Mit dem Fuß schob er noch ein wenig Erde nach. »Für ein paar Tage könnte das gut gehen«, murmelte er. Er schaute auf Yussef, dessen Gesicht immer mehr anschwoll, griff ihm unter die Arme und wollte ihn auf seinen Rücken ziehen.
»Du bist zu ungeschickt. Ich nehme den Jungen«, meinte Jan. »Nimm dein Ledertäschchen und sieh zu, dass wir keinen Besuch bekommen. Die holländische Polizei, dein Freund und Helfer …«
Eduard lachte leise. »Hast wahrscheinlich ein differenziertes Hollandbild: kiffen und killen.«
Sie gingen in Richtung Ausgang.
So entstehen Alpträume, dachte Jan, als sie ins Restlicht des Tages hinaustraten. »Wenn wir jetzt entdeckt werden, sitzen wir bis über beide Ohren in der Tinte.«
Tatsächlich aber war die Burg wie ausgestorben. Sie schritten über provisorische Bretter, die über die Dächer der Säle gelegt worden waren, und erreichten den Ausgang. Es war niemand zu sehen. Dennoch hatte Jan den Eindruck, beobachtet zu werden, als er den Jungen ans Tageslicht schleppte. Ein Gefühl von Panik ergriff ihn wieder.
»Reiß dich zusammen, Hysterie hilft nicht. Du musst den Jungen versorgen«, sagte er sich still.
Die Sonne ging als roter Ball am Horizont unter. Der Gang zum Portal war nun in Dunkelheit getaucht. Ein Eisenwehr versperrte den Ausgang – und war verschlossen.
»Mist«, fluchte Jan. Er beobachtete die Körperdrehung, die Ed machte. Dann kam der Tritt. Mit einem lauten Knirschen öffnete sich das Tor.
Kopfschüttelnd hob Jan den ohnmächtigen Yussef über die Steinfassung des Eingangs. Sie hatten den Wagen erreicht, als sie die zwei Jeeps erblickten, die sehr schnell die Straße aus dem Dorf herauffuhren.
»Sieht nicht nach einer Reisegruppe für die Mondscheinsonate auf der Burg aus«, meinte Ed. »Ins Auto, los!«
Der Holländer stieß Jan und den bewusstlosen jungen Araber auf den Rücksitz, knallte die Tür zu und sprang hinter das Lenkrad. Dann startete er und gab Gas. Gekonnt wendete er in einer großen Staubwolke, und gerade als der erste Jeep um die Ecke bog, zog er außen an ihm vorbei. Er starrte in das Innere des Wagens und sah nur Uniformen. »Verdammt, Militär.«
Mit hoher Geschwindigkeit fuhr er die steile Straße hinab, die in mehreren Kehren zu dem Dorf hinunterführte. Wann auch immer er in den Rückspiegel blickte, folgte ihnen niemand. Er verringerte das Tempo, das Dorf kam näher. Dann erschütterte ein heftiger Schlag das Auto. Die Windschutzscheibe zerbarst in tausend Splitter. Statt zu bremsen, gab Eduard wieder Gas, kuppelte wie wild und brachte den Wagen schlingernd durch die nun immer enger werdenden Windungen der Dorfstraße. Direkt vor ihm tauchte eine völlig verdutzt schauende Ziege auf, im nächsten Moment gab es einen Stoß, und Jan, der nach hinten blickte, sah den verdrehten Körper des Tieres durch die Luft fliegen. Menschen stoben aus den Häusern, kreischten, liefen hinterher.
»Was war das?«, schrie Jan und sah, dass etwas Schwarzes in Eds rechter Wange steckte und kleine Blutrinnsale verursachte.
»Schrot oder eine großkalibrige Kugel«, kam es vom Fahrersitz.
Hundert Meter vor ihnen fuhr ein Mikrobus mit langsamer Geschwindigkeit. Ed bremste, aber die hohe Geschwindigkeit und der Splitt auf der Dorfstraße sorgten dafür, dass der Wagen ins Schlingern geriet. Jan wurde hin und her geworfen, der bewusstlose Junge rutschte in den Fußraum. Ed gab wieder Gas und versuchte, am Bus vorbeizuziehen, touchierte ihn jedoch leicht. Es reichte aus, dass sich das Auto auf der Straße um 360 Grad drehte.
Jan prallte mit dem Kopf nach links gegen das Fenster und dann abrupt nach vorn, schlug mit dem Mund auf den Halter der Kopfstützen. Sofort schoss Blut in seinen Mund. Der Wagen drehte sich noch einmal, ehe er mit dem Heck gegen eine Hauswand krachte und stehen blieb. Der Motor erstarb.
»Fucking Hell«, rief Ed und schlug auf das Lenkrad. Er wandte sich nach hinten um und blickte in Jans aschfahles Gesicht. Aus dem Seitenfenster sah er, dass die Businsassen aus der Tür stoben; ein wild schreiender Block aus weißen Kaftanen und roten Tüchern lief auf ihren Wagen zu.
Seien Sie froh, dass ich das schöne Wien für Sie judenfrei gemacht habe.
SS-Offizier Alois Brunner 1987 in einem Interview der Kronenzeitung, Wien
Der Präsident hasste es, hierherzukommen. Obwohl er Arzt war, konnte er die Verstümmelungen des Mannes an den Händen nicht ohne eine gewisse Schadenfreude betrachten. Der Alte spürte die Ablehnung. Er kannte den langen, schlaksig wirkenden Mann, der jetzt in seiner Wohnung in Jableh an der syrischen Küste stand, schon seit dessen Kindheit. Sein Vater war diesem Greis noch wohlgesinnt gewesen und hatte seine Fähigkeiten immer mit Wertschätzung und Sicherheit belohnt.
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