Kill Katzelmacher! - Martin Calsow - E-Book

Kill Katzelmacher! E-Book

Martin Calsow

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Beschreibung

Ein Kriminalroman, der unter die Haut geht! 1948: Die bayerische Landeshauptstadt liegt in Trümmern, die Währungsreform steht bevor – und die Bevölkerung versucht so gut es geht, unter amerikanischer Besatzung zur Normalität zurückzufinden. Doch ein perfider Serienmörder weiß das zu unterbinden: Er häutet seine Opfer bei lebendigem Leib und stellt seine Trophäen öffentlich zur Schau. Schnell ist klar, dass alle Toten ehemalige SS-Soldaten waren. Handelt es sich um Rachemorde Holocaust-Überlebender? Der junge jüdische US‑Offizier Marcus Feinstein, der das Mordkommissariat interimsweise leitet, soll den Fall rasch und mit möglichst wenig Aufwand lösen. Doch das geht nur mit der Unterstützung seines deutschen Kollegen. Und Steinmüller, ehemaliger Wehrmachtssoldat, zeigt sich gegenüber der amerikanischen Besatzungsführung alles andere als kooperativ ...

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Martin Calsow

Kill Katzelmacher!

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Shchus (Treppenhaus), Malivan_Iuliia (Mann, Körper), Richard Peterson (Kopf), Shutterstock/KN (Fahrrad)

Lektorat: Nadine Buranaseda, Bonn

eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-678-4

Martin Calsow

Jenen gewidmet,

Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muss; das ist klar.

Prolog

Böhmen, Mai 1945

Bei Bauschowitz schlich er an das Ufer der Eger. Bis jetzt war die Eisenbahnbrücke, die Dresden mit Prag verband, intakt. Aber er wusste, dass dies bald nicht mehr der Fall sein würde. Die Nazis würden sie in den nächsten Tagen sprengen, aus schierer Angst, dass die heranstürmende Rote Armee noch schneller in das deutsche Kernland vorstoßen und sich für all das Blut rächen könnte, das in ihrer Heimat vergossen wurde.

Er stapfte durch das hohe Gras, sackte tief in den Morast, den der Regen der letzten Tage verursacht hatte, zog sich heraus und kroch auf allen vieren über den schlammigen Untergrund, bis jeder Fleck seiner Haut und seiner zerrissenen Kleidung von Dreck überzogen war. Er tröstete sich damit, dass die kalten Temperaturen keine nennenswerten Mückenschwärme hervorgebracht hatten. Erschöpft gönnte sich Katzel inmitten des Schlamms eine Atempause. Er drehte sich auf den Rücken und sah hinauf in den Regen, der vom Himmel fiel, die Erdbrocken in seinem Gesicht auflöste und sie in Rinnsalen über Wange und Hals zurück zum Boden fließen ließ. Er schien ein Teil dieses Stück Landes voller Blut und Dreck zu werden.

Die Messer, die er im Gürtel trug, drückten gegen seinen dürren Rücken. Fünf Jahre hatte er überlebt. Jeden Tag hatte er den Tod vor Augen gehabt, hatte mit ihm verhandelt und immer gewonnen. Jeden neuen Tag für sich gewonnen. Er war frei. Niemand richtete den Lauf eines deutschen Karabiners oder einer schwarzen 08-Pistole gegen seine Schläfe. Er war endlich auf sich selbst gestellt. Er bestimmte sein Leben. Nun musste er seine Familie finden, die nicht weit von hier im Lager leben musste. War er zu spät gekommen? Hatten sie seinen Sohn, die Tochter, die Frau, seine Eltern schon getötet? Er ließ den Gedanken nicht zu, wollte das Grauen nicht annehmen und schüttelte sich.

Er hatte den kleinen Kahn vom Hochufer aus gesehen. Er schien flussaufwärts losgerissen zu sein, schlingerte zwischen zwei ins Wasser gefallenen Weidenästen, war bis zur Hälfte mit Regenwasser gefüllt. Krieg und Flucht bedeutete auch, einfache, effektive Wege zur Fortbewegung zu finden.

Zwei Meter vor dem Kahn entdeckte er sie, zuckte zusammen, langte sofort an seinen Rücken und umfasste eines der Messer.

Zitternd und wimmernd hockten sie eng aneinandergelehnt am Stamm der Weide, blickten ihn mit schreckensweiten Augen an, die in tiefen Höhlen versteckt waren. Beide trugen viel zu große Filzmäntel mit Markierungen auf Höhe der Brust. Markierungen, die er kannte. Die über Leben und Tod bestimmen konnten. Der Junge hatte eine frische Narbe an der linken Kopfhälfte. Selbst in dem diffusen Regenlicht schimmerte sie rot. Was hatte man den Kindern angetan? Er schüttelte sich unwillkürlich und nahm die Hand vom Messer.

Langsam und vorsichtig tastete er sich nach vorn und redete leise beschwichtigend auf das Mädchen und den Jungen ein. Ihr Wimmern wurde lauter, je näher er kam. Er legte den Zeigefinger auf die aufgesprungenen und schorfigen Lippen, langte unter seinen dreckigen Mantel und zog langsam aus einem Sack darunter ein Stück trockenes Brot und den letzten Rest einer Hartwurst. Auf der rechten Handfläche hielt er sie den Kindern hin.

»Schaut, was der Katzel für euch hat«, murmelte er, wiederholte den Satz, ohne sie anzusehen, und verharrte in der unbequemen Position.

Das Mädchen, vielleicht zwei Jahre älter als der Junge, wagte sich als Erstes zu ihm. Im Entengang watschelte es vorsichtig auf ihn zu, ließ plötzlich die Hand vorschnellen, griff sich das Brot und die Wurst in einer Bewegung, ehe es sich nach hinten fallen ließ. Das war außerordentlich geschickt für solch ein kleines Mädchen und er musste lächeln. Hastig teilte es die Beute mit seinem Bruder, der sich den Mund vollstopfte und kaute und schluckte und erneut etwas hineinschob. Dabei sah er ihn an wie ein vorsichtiges Tier. Das war nicht gut. Er hatte in den letzten Jahren der Hölle zu oft gesehen, wie Menschen, die nahezu verhungert waren, beim ersten Bissen scheinbar zu leuchten begannen. Doch kurz darauf hatte meist der geschwächte Körper rebelliert.

»Ich muss ins Lager. Da sind meine Kinder«, flüsterte er den Kindern zu, die still aßen. »Sie heißen …«

Ein Kopfschütteln des Mädchens unterbrach ihn. Es deutete auf das Schilffeld wenige Schritte entfernt. Etwas raschelte. Wie ein Schlangenmensch bog er sich, breitete die Arme aus und bedeckte mit seinem großen Körper die Kinder, die nun unter ihm kauerten.

Es waren zwei Rehe, die sich den Weg zum Fluss bahnten, um zu saufen. Geduldig wartete er, bis die Tiere fertig waren und langsam in das Schilf zurücktrotteten, ehe er die beiden von sich befreite.

»Ist das Lager frei?«, flüsterte er.

»Ja, doch überall draußen sind Soldaten. Wir warten auf die Russen«, erwiderte das Mädchen distanziert.

»Das ist klug«, sagte er leise.

»Der Krieg ist nicht vorbei?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber bald. Der Katzelmacher nimmt euch mit. Wir gehen ins Lager, ihr helft mir suchen. Und dann gehen wir alle zurück«, bestimmte er, ohne einen blassen Schimmer, wie er darauf kommen konnte, diese Kinder unter seine Fittiche zu nehmen.

»Wo ist das?«, fragte das Mädchen.

»Wo ist was?«

»Na, zurück.«

»Zu deiner Familie natürlich«, entgegnete er ratlos, bis er die Tränen bemerkte, die dem Jungen über die schmutzigen Wangen liefen.

Er verstand, ohne zu fragen.

»Wir nehmen das Boot«, sagte er, wissend, dass das nicht die Antwort war, die sich das Mädchen erhofft hatte.

Jetzt erst fiel ihm der Ausschlag am Hals und am Ansatz der Schulter auf. Es erhob sich, wollte auf ihn zugehen und brach wieder in die Knie.

Katzel sprang nach vorn, um es zu stützen, griff nach dem Kopf des Mädchens und spürte, dass er förmlich glühte.

Er kannte das. Hatte es Hunderte Male gesehen. Es hatte das Fieber. Typhus. Es war zu schwach. Zu schwach für eine Reise. Vorsichtig bettete er das Kind auf den Boden vor dem Baumstamm, kroch sachte auf den Jungen zu, der von Flecken vorerst nicht betroffen war.

»Bleib hier, rühr dich nicht. Ich gehe ins Lager. Ich werde wiederkommen. Mit meiner Familie. Wir werden euch heimbringen. Du darfst keine Angst haben.«

Der Junge blickte ihn mit ernsten Augen an, als hätte er in seinem kurzen Leben schon viele Lügen gehört, und nickte dennoch.

Er legte sich zurück zu seiner Schwester, deren Kopf nach rechts gesunken war und am Stamm lehnte.

Katzel lief gebückt an einem sandigen Uferweg die letzten Meter zum Lager, immer auf der Hut, um keinen deutschen Soldaten zu begegnen.

Kurz vor dem Tor verharrte er. In einem Halbbogen waren drei Worte mit schwarzer Farbe auf weißen Kalk über den Eingang gemalt worden. Er konnte nicht lesen. Doch diesen Satz hatte er schon einmal gesehen. Vier Autobusse mit dem roten Kreuz an der Seite standen auf der Straße. Nirgendwo waren Männer der SS, war Wachpersonal zu sehen. Nur Männer in weißen Kitteln und Zivilisten, die hektisch zwischen den Bussen und Baracken hin und her eilten. Der Regen wurde stärker, die Menschen duckten sich, stellten sich unter einen Wachturm und blickten besorgt in den Himmel. Einzig ein Mann blieb scheinbar unberührt vor einem Bus stehen und wies Kinder in das Innere. Er hielt einen Regenschirm in der einen Hand, in der anderen einen Messzähler. Katzel trat mit all seinem verzweifelten Mut auf ihn zu und sprach ihn an.

»Guten Tag, der Herr. Ich suche meine Familie.«

Der Mann drehte sich um, sah in das ausgemergelte, harte Gesicht und erschrak.

»Sie müssen ins Lager gehen, auf der linken Seite ist die Registratur. Dort wird man Ihnen helfen. Bestimmt.«

Er sprach mit einem Schweizer Akzent. Die Stimme war jedoch warm und klang nach Vertrauen. Also folgte er dem Rat und rannte die wenigen Schritte hinunter, vorbei an der langen Reihe von Kindern, die aus dem Lager kamen.

Tatsächlich fand er die Registratur. Ein junger Mann, augenscheinlich ein ehemaliger Häftling, half ihm. Und er fand seine Familie. Sein Sohn hatte noch vor zwei Tagen gelebt. Die anderen waren in der Woche zuvor an Flecktyphus gestorben.

Er ging hinaus auf den Exerzierplatz des Lagers Theresienstadt. Es war der 6. Mai 1945. Katzel wollte weinen, aber er konnte es nicht. So, wie er nie lesen und schreiben gelernt hatte, so war ihm auch das Weinen fremd. Es war irgendwo in seiner Seele versteckt. Stattdessen verschränkte er die Arme, beugte sich vor und wiegte den Oberkörper im kalten Maimorgen, ließ den Regen prasseln, der nun wie eine Dusche auf ihn niederging, und hielt es aus. So wie er es immer ausgehalten hatte. Jemand wollte ihn zur Seite drängen, weil eine Kolonne von Menschen das Lager über den Platz verlassen sollte. Blitzschnell zog er eines der Messer und hielt es dem verschreckten Mann an den Hals. Erst als der wieder atmen konnte, ließ er von ihm ab und schlurfte aus dem Lager.

Der Regen hatte aufgehört, als er den Kahn aus den Ästen befreite und ihn, bis zur Brust im Wasser stehend, hinauf auf den Fluss schob. Der Junge weinte still, saß am Bug und kaute auf dem restlichen Stück Brot, das seine Schwester nicht mehr gegessen hatte. Katzelmacher steuerte mühsam mit einem langen Ast in der Strömung. Er blickte nicht einmal zurück, dorthin, wo das Mädchen unter den Ästen lag, die er von der Weide abgebrochen hatte. Er würde nach München zurückkehren müssen. Irgendwo dort war der Oberst. Das hatte er gesagt. Er würde kommen. Mit dem Jungen.

1

München, 1948

Hier oben war ihre Welt. Das ovale, karge Zimmer, direkt unter dem Dach. Hierher kam kein Mörder. Hier war er. Er passte auf Salomea auf. Sie lag in seinem Bett, genoss seine Wärme, die er hinterlassen hatte, zog die nach Mottenpulver riechende Bettdecke übers Gesicht und hörte den Geräuschen zu, die er im Nebenzimmer produzierte.

Das Überziehen der braunen Hose, das Knöpfen der Jacke. Jetzt setzte er sein Käppi auf. Jetzt schnallte er sein Koppel um, nahm wie jeden Morgen seinen Colt aus dem Holster, spannte und sicherte, ehe er die Waffe zurücksteckte. Diese Uniform war besonders. Das hatte sie beim ersten Zusammentreffen gleich gedacht. Die Helme seiner Männer zierten zwei breite gelbe Streifen, vorn prangte in einem Kreis ein großes blaues C, von einem roten Blitz zerschnitten. Noch auffälliger war das knallgelbe Halstuch. Hätte es sich um Engländer gehandelt, hätte man ihnen Snobismus vorgeworfen. So aber erschien das Outfit lässig.

Das Aufklappen des Zippos. Das kochende Wasser für den Kaffee.

Sie hörte draußen auf dem Katzenkopfpflaster das Rumpeln des Jeeps. Seine Schritte kamen näher. Er blieb im Türrahmen stehen. Sie schaute auf, ein wenig vom Morgenlicht geblendet.

»Salomea, in der Küche steht frischer Kaffee. Steh auf. Es wird helfen.«

Da stand Marcus Feinstein, First Lieutenant der US Army »und Münchner Boxstadtjugendmeister im Weltergewicht von 1935«, wie er gern hinzufügte.

Er gehörte zu den United States Constabulary, einer Spezialeinheit, die von den Deutschen ehrfurchtsvoll »Blitzpolizei« genannt wurde. Die »Gelbbetuchten« kümmerten sich um drei Dinge: Sie setzten die Gesetze der Besatzungsmacht durch, übernahmen die Verbrechensbekämpfung und sollten die neuen Polizeikräfte ausbilden, die nicht nazibelastet waren.

Er war schlicht schön. Blaue Augen, blonde Locken, die schwer zurückgestutzt waren. Breites Kreuz, die auf Taille geschnittene Jacke betonte die sportliche Figur noch mehr. Er hatte sich einen Clark-Gable-Bart stehen lassen, der bei jedem anderen lächerlich gewirkt hätte. Marcus stand es. Die Nazis hätten an diesem arischen Typ ihre Freude gehabt. Nur, Marcus war Jude und die Nazis Vergangenheit – zumindest besiegt.

Im Bett musste er einiges lernen, aber sie hatten ja ein paar Tage Zeit, bis er ihr die Papiere besorgt haben würde. Ihre Papiere für Palästina. Ihr Weg in die Sonne.

Seine Kontakte bei den Engländern hatten ihm verraten, dass jeden Tag mit dem Abzug der britischen Mandatstruppen aus dem Nahen Osten zu rechnen war. Dann war Palästina endlich Israel. Montag, in fünf Tagen also, ging ein Schiff aus Rotterdam nach Tel Aviv. Das würde sie nehmen. Wenn die Papiere kamen.

Der Fahrer schnippte die Zigarette in den Park, wo die ersten Schwarzhändler des Tages so taten, als seien sie normale Spaziergänger, die lediglich zur Erholung auf und ab gingen. Tatsächlich machte sie der Jeep nervös. Feinstein wohnte in der Maria-Theresia-Straße in Bogenhausen. Sie war die westliche Grenze des größten Schwarzmarkts Münchens und in wenigen Minuten würde hier der Teufel los sein.

»Guten Morgen, Jay«, rief Feinstein und der Private machte Anstalten, militärisch zu grüßen.

Feinstein winkte ab. Sie setzten zurück, wendeten, fuhren mit Vollgas auf den Friedensengel zu und mit quietschenden Reifen hinunter zur Isar über die Luitpoldbrücke ins Zentrum. Je weiter sie sich der Altstadt näherten, desto weniger Häuser waren halbwegs unbeschädigt. Das war nach wie vor so. Er genoss es nicht mehr, wie er es beim Einmarsch vor drei Jahren getan hatte. Diese Stadt hatte ihn 1936 wie verdorbenes Essen ausgekotzt. Doch er war zurückgekommen. Hatte schon am dritten Tag jenen Beamten gefunden, der seinen Eltern die Ausreise verweigert und sie zum Transport angemeldet hatte. Der Mann hatte wie der einst »geliebte Führer« den Schnauzbart kurz unter der Nase getragen. Nach einer Viertelstunde Behandlung mit Feinsteins Colt war weder vom Bart noch vom Rest des Gesichts etwas zu erkennen gewesen. Feinstein hatte genug getötet, aber zu wenig Rache genommen. Drei Jahre später war er immer noch hier, obwohl er längst wieder in New York hätte sein können.

Sie hatten ihn ausgetrickst, ganz schlicht. Er hatte seine Papiere in der Hand gehabt, den Transport nach Bremerhaven und die Passage mit dem Truppentransporter zurück in die USA organisiert. Anschließend hatte er jedoch eine Zigarette zu viel im Hof der Kaserne geraucht und war seinem Captain Clifton, Chef der Münchner Einheit der Constabulary Police, aufgefallen. Der hatte ihn erst freundlich, dann für einen Moment zu freundlich, angelächelt, weil ihm wohl in diesem Augenblick eine Idee in den Kopf geschossen war.

»Du bist mein Mann, Feinstein«, hatte er ihm mit einer Hand auf der Schulter gesagt und ihn mit hoch in sein Büro genommen.

Dort hatte ihm der langsam sprechende und umso schneller denkende Captain Clifton aus Kentucky eine neue Aufgabe zugeteilt.

»Die Nazis liebten es zentral. Damit bekamen wenige sehr viel Macht, verstehst du?«

Feinstein hatte genickt. In zwei Stunden ging sein Zug. Sollte er den verpassen, müsste er erneut Wochen warten.

»Du hast in New York das Prinzip der Police Departments kennengelernt. Hübsch dezentral. Bring es den Krauts bei. Keine zentrale Gestapo mehr, keine Folterkeller. Ermittlungsarbeit ohne Lager. Du bist der Mann dafür. Ist ’ne Beförderung drin.«

»Hm, wer hat das denn bislang gemacht?«, fragte Feinstein vorsichtig.

»Lieutenant Murray.«

»Und wo ist der jetzt hin versetzt worden?«

Clifton grinste. »Dem haben Schieber vom Schwarzmarkt eine Kugel verpasst und ihn in die Isar geworfen. Doch wir haben sie geschnappt. Zwei wurden bereits gehängt.«

»Das ist ja ein Trost.«

»Nicht wahr? Gut, du hast den Job. Morgen stelle ich dich dem Polizeipräsidenten vor. Kein echter Nazi, aber ein Kommunist, also schön aufpassen.«

Am Abend hatte Feinstein in einem Drecksloch, das eine Bar sein sollte und in dem eine Band grauenhaft laute Beatmusik spielte, einem Kameraden zugebrüllt, dass sich sein Sarge ins Knie ficken könne. Der Typ war ein enger Freund des Chefs. Das hatte er jedoch zu spät bemerkt.

Am nächsten Morgen hatte er völlig verkatert zum ersten Mal an einem alten Schreibtisch im Gebäude an der Ettstraße in der Münchner Innenstadt gesessen und sich in deutsche Polizeiarbeit hineingefressen.

Sie sollten »Botschafter der Demokratie« sein. Das hatte General Harmon von ihnen gefordert. Sie sollten bestrebt sein, Vorurteile gegenüber Besatzern durch betont gerechtes und gesetzestreues Auftreten abzubauen. Feinstein musste darüber immer den Kopf schütteln. Diese Deutschen hatten fast seine gesamte Familie ausgelöscht und er war hier, um ihnen Zivilisation beizubringen. Das funktionierte nicht immer.

Waren seine Untergebenen anfangs noch devot und eilfertig mit allerlei Tätigkeiten, zeigten sich Feinsteins deutsche Mitarbeiter zunehmend selbstbewusster, nicht einmal drei Jahre nach ihrer größten Niederlage. Je mehr sie sich heimlich seinen Anweisungen widersetzten, sie vorsichtig torpedierten, hinter seinem Rücken über ihn lachten, desto mehr herrschte er sie an, zwang sie zu sinnlosen Aufgaben. Bald hasste er sie. Manchmal hatte er das tiefe Verlangen nach willkürlicher Gewalt, nach einer sinnlosen körperlichen Schikane. Er konnte es allerdings unterdrücken. In spätestens einem Jahr würde er nach New York zurückkehren und dieses Trümmerfeld sich selbst überlassen.

München hatte dreiundsiebzig Luftangriffe erlebt. Mehr als sechstausend Menschen waren gestorben. Die historische Altstadt war zu neunzig Prozent zerstört, die gesamte Stadt zu fünfzig Prozent. Durch Tod, Evakuierung und Flucht aus der Stadt war die Bevölkerungszahl auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Doch nun, drei Jahre später, strömten neue Gruppen in die Stadt, in der schon wieder alle Straßen freigeräumt waren. In der das Wasser aus dem Hahn floss und Menschen mit tausendfünfhundert Kalorien pro Tag auskommen mussten.

Der Jeep donnerte vorbei an großen Gruppen Steine klopfender, werfender und wegschaffender Menschen in zerschlissenen Mänteln und Hemden. Menschen, die wie Ameisen versuchten, ihre einst so prächtige Residenzstadt wiederaufzubauen. Loren wurden von alten Männern mit staubdreckigen Mützen bewegt, Kinder sprangen über Trümmerhügel, wurden in scharfem Ton von Müttern gemaßregelt, die sich den Schweiß in einem Moment der Pause wegwischten.

Sie mussten einem Lkw ausweichen, der rückwärts aus einer Hofeinfahrt fuhr. Frauen schrien.

»Die Weiber haben in diesem Land diesen harten Ton drauf. Sie verstehen das ja, Sir«, versuchte sich der Fahrer in Konversation, als einige Frauen kreischend am Jeep vorbeiliefen, der stehen geblieben war.

Feinstein sah in die Richtung, aus der die Frauen kamen, erkannte die Fundamente des einstigen Braunen Hauses, wo mehrere Männer zusammenstanden und wild gestikulierten. Er stieg aus, bedeutete dem Fahrer, seine MP vom Rücksitz mitzunehmen, und lief auf die Menge zu.

Jemand schien aus den Trümmern eines Bekleidungsgeschäfts eine seltsam anmutende Schaufensterpuppe gezogen zu haben, hatte ihr den rechten Arm nach oben gedreht, als sollte sie den Hitlergruß entrichten, und sie auf das Restfundament gestellt. Er kam näher, Menschen stöhnten, hielten sich die Hände vor die Münder. Er drängte Kinder und Männer beiseite, die erst entrüstet waren, dann jedoch beim Anblick seiner Uniform sofort zurückwichen.

Die Sonne schob sich über die Trümmer der Ruinen vom Karolinenplatz, ihre Strahlen wanderten wie Scheinwerfer über die Schaufensterpuppe, die mit starren Augen zur Glyptothek blickte. Als er davorstand, begriff Marcus Feinstein, warum seine ehemaligen Landsleute so aufgeregt waren. Die Puppe war bekleidet. Jemand hatte etwas über sie gezogen, etwas, das selbst Menschen, die einen sechsjährigen Krieg überlebt hatten, das Grauen ins Gesicht schrieb.

Achthundert Meter entfernt vom Königsplatz landete eine Taube, die vom Gerüst des Liebfrauendoms hinuntergesegelt war, auf dem Fensterbrett vor einem Büro der Münchner Stadtpolizei, wackelte mit dem Kopf, gurrte und wurde von einem jungen Mann mit einem geschickten Griff gefangen. Eine schnelle Bewegung mit der Hand und der Taube war das kleine Genick gebrochen. Kein schöner Morgen für das Tier, aber ein lukratives Nebengeschäft für den Mann. Sein Zimmernachbar nahm davon keine Notiz.

»Das ist mein Schreibtisch. Das ist mein Bleistift. Das sind meine Stempel.«

Steinmüller legte die Hände auf den Tisch und schloss die Augen. Die Finger zuckten unwillkürlich. In der linken Schublade des altersschwachen Tischs befand sich die Dose. Er sah sie vor sich. Weiße Schrift auf blauem Grund. Geschwungen. Pervitin. Ein Kran der Army wurde mit quietschenden Ketten zu einer Ruine am Promenadeplatz gezogen. Das Geräusch von Metall auf Steinen, das Zermahlen von kleinen Brocken, der Dieselgestank und die Rufe der Männer, die das Monstrum bewegten, hatten Steinmüller erstarren lassen. Wie ein Drache hatte sich der Kran unterhalb seines Büros durch die enge Gasse gezwängt, war stehen geblieben, war vor- und rückwärtsgefahren.

Er erblickte den T34 durch den Schlitz im Bunker. Rauszulaufen bedeutete den Tod. Drinnen lagen zwei Männer in ihrem Blut. Eben noch hatte er sie zusammen mit dem Arzt behandelt. Dann war der Mediziner mit blutiger Schürze in Panik hinausgestürzt und, rückwärts von einer Kugel getroffen, mit zerplatztem Kopf zurück in den Eingang gefallen. Die Ketten schoben das Metallmonster über den Graben, über den Draht. Wie ein zorniger Gott richtete der Panzer das Kanonenrohr in den Himmel, um Sekunden später wie ein Hammer auf den Amboss auf den Bunker zu fallen. Alles knirschte, zerbarst und staubte. Die Decke senkte sich, Brocken aus Steinen und Holz fielen herab, erschlugen die Patienten, durchstießen ihre Leiber. Der Panzer drehte sich auf der Stelle. Er hatte so etwas aus der Ferne schon einmal mitansehen müssen. Es würde nur noch Herzschläge dauern, bis der Panzer die Oberfläche des Bunkers zerdrückte, ihn lebendig begraben würde.

»Steinmüller, pack mer’s. Der Isidor will uns alle sehen.« Anian Birmoster stand in der Tür, Reste des Taubenbluts an den Händen.

Steinmüller nickte und schluckte die zwei Pervitin-Tabletten auf dem Weg zum Büro im zweiten Stock.

»Was machst mit deinen Rationen, verkaufst die? Du bist eine schmale Ziege«, frotzelte Birmoster. Lebensmittelrationen waren nach wie vor das tägliche Thema in einer Stadt, in der vor wenigen Monaten Hunderte schlicht verhungert waren. Birmosters Eltern hatten einen Hof im Bayerischen Oberland bewirtschaftet. Er wurde versorgt und war auch deswegen ein beliebter Kollege.

Sie kannten sich vom ersten Tag an, waren im Januar 1946 gemeinsam als Stadtpolizisten eingestellt worden, Steinmüller wegen seiner medizinischen Vorbildung, Birmoster wegen seiner Zeit als Feldjäger und seiner Fähigkeit, Bierkellerschlägereien binnen zehn Minuten mit vier Mann und ihren Schlagstöcken zu beenden.

Noch immer hatten die Amerikaner ihnen keine Waffen zugeteilt. Noch immer misstrauten die Besatzer den deutschen Polizisten. Die Situation war absurd. Vor und während des Kriegs, selbst in den schlimmsten Bombennächten, hatte es eine intakte Kripo mit geschultem Personal gegeben. Gut, einige von ihnen waren zu »besonderen Tätigkeiten« an die Front beordert worden. Doch einige lebten wieder in der Stadt, wären sofort einsatzfähig gewesen. Nur wollten die Amis ebenjene Experten nicht mehr. Steinmüller hätte das nie im Kollegenkreis gesagt, konnte die Amis aber verstehen. Er hatte diese Experten an der Front erlebt. Also griff man auf Anfänger wie Steinmüller zurück, was Birmoster zu diversen Spötteleien veranlasste.

›Isidor‹, wie sie Feinstein heimlich nannten, wie sie Juden gern in den Jahren von 1933 bis 1945 genannt hatten, hatte sie in den großen Konferenzraum einbestellt. Neben ihm stand Franz Xaver Pitzer, ein ehemaliger Kunstschreiner, Sozialdemokrat und Polizeipräsident Münchens.

Die Fenster waren weit geöffnet. Der Frühlingswind wehte herein, Blätter auf den Tischen wirbelten umher. Jemand lief eilfertig zu den Fenstern, wurde jedoch mit einem Ruf von Feinstein brüsk zurückgewiesen.

Steinmüller saß in der hintersten Reihe und spürte, wie das Pervitin in seine Adern schoss und ihn munter machte. Er atmete tief ein und aus und suchte nach einer Zigarette in seiner Uniform. Birmoster hielt ihm eine angerauchte Kippe hin, die Steinmüller dankbar nahm und anzündete.

»Heute Morgen wurde an der Brienner Straße, Ecke Arcisstraße etwas aufgefunden, was dort nicht hingehört.« Feinstein machte eine nachlässige Handbewegung.

Ein Mann in einem weißen Kittel erhob sich von einem Stuhl, eilte in einen Nebenraum und kehrte mit einer Puppe zurück, die auf ein Radgestell montiert war. Elf Augenpaare, eben noch müde und wenig erwartungsvoll, starrten mit immer stärker werdendem Entsetzen auf die Figur, die der Assistent in die Mitte des Raums zwischen die Stuhlreihen geschoben hatte. Einige wichen zurück. Andere hoben interessiert die Köpfe.

»Das, meine Herren, ist eine Schaufensterpuppe. Sie trägt an einigen Stellen«, Feinstein machte eine Kunstpause, um sich eine Zigarette anzünden, »menschliche Haut.« Er zog an seiner Camel, blies den Rauch aus, ließ die Männer vor ihm murmeln und fluchen, ehe er fortfuhr. »Männlich, wie mir der Rechtsmediziner versicherte.« Er deutete auf die Hautteile im Intimbereich.

Die Herren stöhnten leise auf.

Pitzer schüttelte den Kopf. Schwarzmarkt, Schiebereien, zuweilen ein Mord aus Habgier – das war an der Tagesordnung. München hatte selten so viele brutale Morde zu ertragen wie nach dem Krieg. Aber so etwas in seiner Stadt? Steinmüller bemerkte, wie der Mediziner angestrengt aus dem Fenster sah, hinaus zu den blühenden Platanen im Innenhof.

»Schauen Sie sich die Haut genau an«, forderte Feinstein die Kollegen auf, trat auf sie zu, drückte sie in Richtung Puppe. »Es gibt kein Gesicht. Teile des linken Arms, das rechte Bein, wenig Brust und ein Stück Unterleibshaut. Das war’s.«

Es dauerte bloß Augenblicke, bis selbst der letzte Mann im Raum wusste, dass Feinstein bei dieser Bestialität einen einzigen Gedanken haben konnte: Das war eines jener Grauen, die man gerüchteweise aus den KZs gehört hatte. Damit konnte Feinstein, Jude, Ami und Befreier von Dachau, nur glauben, dass es einer von jenen Schergen aus den Lagern dort getan haben musste.

Langsam kehrte betretene Stille ein. Hier die Deutschen, dort Feinstein, der auch einmal Münchner gewesen war. Der auf die eigenen Leute geschossen hatte. Der sie nach wie vor hasste.

»Was fällt Ihnen auf?«

Stille. Keiner wagte, etwas zu sagen.

»Wenn jemand von euch glaubt, dass ich einer der Bestien in dieser Stadt wieder das Morden erlaube, täuscht ihr euch. Hier wird niemandem mehr die Haut abgezogen, um sie zu Lampenschirmen zu verarbeiten.« Feinstein wurde lauter. »Also, der Herr aus der Rechtsmedizin hat mir gesagt, dass ein solches Abtrennen der Haut nur schwer zu bewerkstelligen ist. Wir haben es also mit einem Spezialisten zu tun. Aber wer ist ein Spezialist im Abtrennen menschlicher Häute? Und wo ist der Rest?«

Jetzt musste es jedem klar sein: Feinstein hatte im Kopf bereits die möglichen Tätergruppen definiert.

»Ich will den Täter. Mir ist es egal, ob Sie an Schwarzmarktgrößen dran sind, ob Sie Unzucht mit US-Army-Soldaten verfolgen wollen. Wer so etwas tut, hat es gern getan. So etwas macht man nicht aus Rache. Ich will diese Nazischeiße nicht mehr.« Die letzten Worte hatte er fast geschrien.

Es war still. Windböen ließen die Puppe ein wenig ins Schaukeln geraten. Sie drohte fast umzukippen.

Steinmüller hatte sich erhoben, war zwischen den Stuhlreihen nach vorn gekommen und hatte sich die Haut näher angesehen. »Die genaue Lage ist etwa zwanzig Zentimeter über dem linken Ellbogen auf der Innenseite des Oberarms. Die Tätowierung ist ungefähr sieben Millimeter groß und besteht lediglich aus ein oder zwei Zeichen, und zwar der Bezeichnung der Blutgruppe A, B, null oder AB. Die Rhesusformel ist nicht angegeben, da der Rhesusfaktor erst kurz zuvor entdeckt worden ist und unsere … Forschung darüber in den Anfängen gesteckt hat.«

Gemurmel.

Steinmüller wollte sich setzen, als Feinstein ihn anherrschte. »Was haben Sie gesagt? Was wollen Sie mir sagen?«

Steinmüller zuckte mit den Schultern. »Ihre Theorie bedarf mehr Fakten.«

»Wieso?« Feinstein ging bedrohlich auf Steinmüller zu, blieb mit in den Seiten gestemmten Armen vor ihm stehen.

»Das ist die Haut eines SS-Soldaten!«

»Sie sind ja ein ganz schlaues Kerlchen«, gab Feinstein zurück und sah den schmalen Mann, der vor ihm stand, aufreizend lange an.

Der erwiderte seinen Blick nicht, schaute nach vorn und wiederholte seine These. »Das ist die Haut eines …«

»Ich habe Sie schon verstanden. Wie ist Ihr Name?«

»Steinmüller. Harald Steinmüller.«

»Hat man bei Ihnen in der Wehrmacht nicht gelernt, den Vorgesetzen anzusehen?«, giftete Feinstein ihn an.

Jemand räusperte sich auffallend. Es schien der Polizeipräsident zu sein.

»Wollen wir über Benimmregeln sprechen oder über den Fall?«, fragte Steinmüller leise.

Das war weit entfernt von dem, was sich ein Deutscher einem amerikanischen Besatzungssoldaten gegenüber herausnehmen sollte. Feinsteins Wut kochte fast über. Das bemerkte Steinmüller mit einem stillen Hochgefühl. Der Ami schien jedoch klug genug zu sein, sich in dieser Situation keiner Machtprobe mit einem Deutschen zu stellen.

»Gut, was würde denn der Herr Steinmüller als Erstes machen, wenn er den Fall lösen müsste?«

Nach wie vor blickte Steinmüller ihn nicht an. Einige Kollegen begannen zu grinsen.

»Ich würde erst einmal wissen wollen, ob der Mensch, dem diese Haut entfernt wurde, noch gelebt hat.«

»Gut. Weiter.« Feinstein hatte ihn.

»Ich würde mich fragen, ob es ein Akt der Rache oder der puren Lust gewesen sein könnte.«

Der Polizeipräsident wollte intervenieren, doch Feinstein hob die Hand. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob vor ihm ein Querulant oder ein verstecktes Talent saß.

»Wissen Sie, meine Herren, seit drei Jahren hat sich das Verhalten der besiegten Deutschen in dieser Stadt stetig verändert. Waren Sie und Ihre Landsleute anfangs unterwürfig, nahezu hündisch gewesen, kommt langsam, aber sicher wieder die deutsche Arroganz, die Herrenmenschenattitüde hoch, immer dann, wenn es nicht existenzgefährdend ist.«

Allgemeines Räuspern. Feinstein, so kam es Steinmüller vor, wollte keinen Fall aufklären. Er wollte demütigen.

»Ich denke gerade an eine Geschichte, die mir ein Freund im Offizierskorps erzählt hat«, fuhr Feinstein fort. »Der war in einem Vorauskommando gewesen, das die Villa eines ehemaligen KZ-Kommandanten durchsucht hatte. Auf seinem Schreibtisch hatten sie merkwürdig aussehende Lampen untersucht. Ein Sanitäter hatte ihnen erklärt, dass die Schirme aus Häuten von KZ-Insassen gemacht worden waren.«

Betretenes Schweigen.

Jetzt blickte Steinmüller auf. »Vorgesetzter Feinstein, Sie wollen doch sicher wissen, ob es ein perverser Deutscher gewesen ist, nicht wahr?«

Steinmüllers Sitznachbar zog laut hörbar die Luft durch die Zähne. Steinmüller wusste es. Das war ein Schritt zu weit, fanden bestimmt auch die Kollegen, die es immer gern sahen, wenn den verdammten Amis mal einer Bescheid gab.

Ehe Feinstein etwas erwidern konnte, wurde die Tür zum Saal aufgerissen. Sein Fahrer lief mit zwei groß gewachsenen US-Soldaten der Militärpolizei herein und winkte ihm zu. Er wandte sich von Steinmüller ab und folgte dem Trio nach draußen.

»Was ist los?«

Sein Fahrer wollte schon sprechen, wurde jedoch von dem ranghöheren Unteroffizier der Militärpolizei unterbrochen. »Wir haben eine weitere … also Reste … gefunden.«

»Private, was für Reste?« Feinstein war noch immer voller Wut über diesen renitenten Deutschen.

Die Militärpolizisten hatten einen deutschen Dolmetscher dabei, der übersetzte.

»Haut. Menschen haben sie am Prinzregentenplatz gefunden, nicht weit vom Theater entfernt.«

Feinstein wurde ungeduldig. Dieser Dolmetscher wirkte auf ihn wie eine verschreckte Ratte. Er flüsterte, sodass Feinstein ihn kaum verstand.

»Sie hatte …«

»Lauter, verdammt! Ich verstehe kein Wort«, herrschte Feinstein ihn an.

»… eine silberne Totenkopfspange auf der Rückenhaut befestigt.«

Feinstein hatte das unangenehme Gefühl, dass alle deutschen Polizisten, die hinter ihm im Raum saßen, ihn still auslachten.

2

Im Jahr 1895 erwarb laut Münchner Grundsteuerkataster der Ingenieur Clemens Freiherr von Bechtolsheim von der Stadt ein 3.940 Quadratmeter großes Grundstück an der Maria-Theresia-Straße 27, in bester Bogenhausener Lage gegenüber den Maximiliansanlagen, zum Preis von 136.381 Mark. Die Villa war am 10. Mai 1898 bezugsfertig. Die Baukosten betrugen 112.500 Mark. Der Ingenieur hatte mit seinem Patent für einen Rahmabscheider ein Vermögen gemacht. Elf Tage vor Fertigstellung der Villa hatte er die Gräfin Fugger zu Kirchberg und Weißenhorn geheiratet. 1930 starb er. Drei Jahre später kamen die Nazis an die Macht.

Als diese von einigen eifrigen Damen und Herren der feinen Münchner Gesellschaft hoffähig gemacht wurden, kauften sich prominente Vertreter der neuen Macht in der Nachbarschaft ein. Nebenan wohnte Martin Bormann, Hitlers Paladin, nicht weit entfernt lebte, zumindest offiziell, Eva Braun.

Die Villa Bechtolsheim hatte einen raffinierten Grundriss: Im Hochparterre gingen alle Räume von einer achteckigen Zentralhalle aus. Hier residierte nun nach dem Krieg ein amerikanischer General mit seiner Familie. Und im Obergeschoss, wo sich die Dienstbotenzimmer und die Schlafräume der ursprünglichen Besitzer befunden hatten, lebten Salomea und Marcus.

Das Turmzimmer, in dem Salomea den Tag verbrachte, bot einem Baumhaus gleich einen wunderbaren Blick hinaus in den Park und in die Wipfel der Buchen. Aber das eigentliche Wunder war ein kleines Detail, fand Salomea. Sie, die in ihrer alten Heimat Wien sehr wohl Luxus gekannt hatte, erfreute sich an einer im Boden verschließbaren Öffnung, durch die ein sogenanntes Tischleindeckdich heraufgezogen werden konnte. Der Hausmeister, der mit seiner Frau im Keller wohnte, schickte ihr so das Essen nach oben, ohne dass sie das Haus verlassen musste.

Vor fast genau acht Jahren hatte sie, nach einer Odyssee von Wien über Prag nach Paris, an einem Morgen in ihrem Verschlag, hoch oben über der Rue de Faubourg Saint-Honoré, den Einmarsch der deutschen Soldaten gehört. Das Dröhnen der Lkw-Motoren mit ihren angehängten Geschützen, das Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster. Das Knirschen der Panzerketten. Die Rufe, das Schreien. Alle siegestrunken. Vier Jahre hatte sie anschließend in dem Verschlag vegetiert, umgeben von Hunderten Büchern, die ihre Schutzheilige hier oben deponiert hatte. Eine reiche Französin, deren Mann mit den Deutschen kollaboriert hatte. Ohne ihn zu informieren, hatte sie Salomea versteckt, ihr Essen und Schutz gegeben.

Zwei Wochen nach der Befreiung hatten Anhänger der Resistance sie und ihren Mann durch die Straßen getrieben, ihr die Haare geschoren und den Mann in die Seine geworfen. Er war ertrunken. Sie hatte sich das Leben genommen, oben auf dem Dachboden, wo Salomea überlebt hatte. Man hatte sie erst Wochen später gefunden. Da war Salomea bereits in Deutschland angekommen. Mit einem amerikanischen Militärrabbi war sie von Paris nach Frankfurt weitergereist, ehe sie in München gestrandet war, weil Wien von den Russen dominiert wurde. Dort hatte sie Feinstein getroffen.

In Wien hatte sie das Flanieren geliebt, konnte stundenlang spazieren gehen, hatte so in den Anfängen ihres Psychologiestudiums und des heranwachsenden Faschismus in den Parks der Stadt einen klaren Kopf gekriegt. Doch das wäre in Paris für vier Jahre, zwei Wochen und drei Tage Selbstmord gewesen. Also hatte sie gelernt, Geduld zu haben, nie laut auf dem Holzboden aufzutreten, ein Buch nach dem anderen zu studieren und den Tag in Gedankenscheiben zu schneiden. So hatte sie überlebt. So tat sie es jetzt. Salomea las. Salomea lief leise. Salomea zerschnitt den Tag. Bis sie glaubte, wahnsinnig zu werden.

Nur in der Nacht ging es ihr besser. Das war ihre Zeit. Zweimal war sie versucht gewesen, hinaus in den Park zu gehen, einen Baum anzufassen, loszulaufen und keine Wand zu haben, die den Lauf bremste. Aber schon im Treppenhaus war die Angst hochgekrochen und hatte sie auf der Stelle zurückkehren lassen.

Wie konnte sie, die den Wahnsinn dieser Deutschen überlebt hatte, noch in ihrer Mitte leben? Marcus war es, der sie auf eine Idee gebracht hatte.

»Nutze dein Talent. So viele da draußen sind verstört, wollen sich töten, haben Schlimmes gesehen und erlebt. Hilf ihnen.«

Sie hatte widersprochen, gestritten, geschwiegen. Allein die Vorstellung, jemand käme hinauf in ihr Versteck, ließ sie erstarren. Dann jedoch brachte Marcus ihren ersten Patienten vom Schwarzmarkt mit. Der lag bloß eine Straße weiter. Hier handelten alle mit allem, um zu überleben. Taschenuhren gegen Zigaretten, Wurst gegen Mäntel. Es waren viele überlebende Juden dabei, die der Krieg hierhergeschwemmt hatte, die wie Salomea auf ihre Ausreise nach Palästina warteten oder einfach ein Leben suchten, von dem sie wussten, dass es untergegangen war, im Hass der Mitmenschen und der Trümmer der Stadt.

Mehr als zwölftausend jüdische Bürger hatten vor 1933 in München gelebt. Im April 1945 hatten Marcus’ Kameraden noch vierundachtzig Überlebende vorgefunden. Dann kamen sie wieder, zusammen mit jenen, die keine Heimat mehr hatten, die nach wie vor Verfolgung und Tod fürchten mussten. Menschen wie Abraham.

In der Möhlstraße hatte Marcus bei einer Razzia den jungen Mann, nur wenige Jahre jünger als Salomea, aufgegriffen, als er mit blutigen Knien auf der Straße gelegen hatte und von einem deutschen Polizisten hatte weggeführt werden sollen. Der Mann hatte den Jungen angeschrien und hochgerissen. Marcus war dazwischengegangen und hatte ihn, ohne zu fragen, hinauf zu Salomea gebracht. Sie hatte Abraham mit dem amerikanischen Sanitätsmaterial die Wunden am Knie versorgt und Marcus irgendwann weggeschickt. Seitdem kam Abraham zweimal in der Woche. Anfangs schwieg und aß er, die Arme um das Essen gelegt, als wollte ihm jemand etwas nehmen. Später, langsam, sehr langsam, hatte er zu sprechen begonnen. Er hatte ein Lager überlebt. Salomea fragte, doch Abraham antwortete nicht, er erzählte. Das Grauen goss sich in beider Köpfe zu Stanzen von Buchstaben, Sätzen und Skizzen. Es wurde geordnet.

»Es ist geordnet, aber nicht in Ordnung«, hatte sie Marcus einmal erklärt. »So wie wir befreit, aber nicht frei sind.«

Er hatte mit den Schultern gezuckt, was sie erst aufbrachte, schließlich akzeptierte, weil er nicht ahnen konnte und wollte, was den beiden passiert war.

Feinstein hatte große Pakete mit Hershey-Schokolade in der Speisekammer deponiert. Salomea drückte Abraham eine Tafel in die Hand, ehe der die Holztreppe hinunterstieg. Diese eine Stunde bei ihr war sein Leuchten und sein Horror zugleich. Hier war er geschützt. Der Preis war das Öffnen seiner eigenen Hölle.

Sie sah aus dem Treppenfenster hinaus in den Hof, wo ein scheinbar missgelaunter Marcus Feinstein an Abraham vorbeilief, ihn müde grüßte, bald mit einem Paket Lebensmitteln im Flur stand und mit einem Mann sprach. Auf Wunsch Salomeas tauschte Feinstein immer mit dem Hausmeister zwei Pfund Kaffee gegen eine Flasche Riesling, den der Alte über den Krieg in seinem Keller versteckt hatte. Der Riesling erfüllte einen Zweck, diente einem Ritual, das er zwar eingeführt, doch von Salomea ausgebaut worden war.

»Wieso Weißwein? Bier täte es auch, oder?«, fragte er beim Betreten der Wohnung.

Sie hatte den Tisch allein an die Wand geschoben und so Platz wie in einem Tanzsaal geschaffen. »Das war so bei den Herrschaften vor dem Krieg. Die tranken Champagner oder eben Weißwein und kein Bier. Bier ist für den Pöbel.« Sie lachte.

Nach jeder ihrer Sitzungen mit Abraham musste sie sich bewegen. Da sie nicht vor die Tür ging, musste es etwas anderes sein.

»Time forrr zeee …«

»Himmel, Salomea, dein Akzent ist grauenhaft.«

»Sag es«, forderte sie ihn auf.

»The Lindy Hop!«

Wenige Tage nachdem er Salomea aufgenommen hatte, hatte sie den Plattenspieler gefunden und lernte eine Musik kennen, die sie nie zuvor gehört hatte: Swing. Aus Harlem. Feinstein hatte sie aus New York mitgebracht. Dort war er als junger Polizist in den Klubs nördlich des Central Park eingesetzt worden und hatte diese Musik in sich aufgenommen. Vor allem hatte er jedoch dort tanzen gelernt. Es war der Lindy Hop, der da seit den Dreißigern ein Standardtanz war. Der wandelte sich in den Jitterbug. Salomea war begeistert gewesen. Nie hatte sie ihre Hüfte so lasziv geschwungen, ihre Beine und Füße so schnell beim Tanzen bewegt. Sie trug ein einfaches anschmiegsames Baumwollkleid mit blauen und weißen Punkten und hatte ihre geflickten Tanzschuhe angezogen.

Feinstein stellte die Lebensmittel ab, wusch sich die Hände in einer Keramikschüssel und zog seine Uniformjacke aus. Nach diesem Tag war ihm nicht nach Tanzen. Aber er wusste, dass Salomea niemals einen Widerspruch dulden würde.

Er suchte am Radio nach dem amerikanischen Armeesender und hörte Nat King Cole von einem Paper Moon singen. Feinstein blickte Salomea müde an, breitete dennoch die Arme aus und gemeinsam schwangen sie über das Fischgrätparkett. Sie hatte wie immer die Augen geschlossen, wiegte den Kopf, während er die Hand um ihre Hüfte legte und sie sanft drehte. Ihr aufgegangener Saum schwang leicht unter ihren Bewegungen. Leise summte er in ihr Ohr. Sie lächelte. Nach wenigen Minuten entließ er sie. Zufrieden tanzte sie ein paar Schritte allein, während Feinstein den Riesling öffnete und in zwei Metallbecher goss.

»Meinst du, dass nächste Woche meine Papiere bei euch angekommen sind, Marcus?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon. Es muss eben seinen militärisch bürokratischen Gang gehen. Die Tommys haben es von ihrem Sitz in Bad Oeynhausen nach Wiesbaden zu meinen Leuten geschickt. Anschließend nach München. Sind die Papiere erst mal bei den US-Behörden, wird es vermutlich schnell gehen.«

»Warum?«, fragte sie genervt. »Eure Bürokratie ist nicht besser.«

»Das war der Deal mit Clifton. Ich verlängere meine Dienstzeit und er unterstützt mich bei deinen Einreiseformalitäten nach Palästina. Gestern habe ich in Wiesbaden angerufen. Da hat man mir gesagt, die Unterlagen seien bereits verschickt worden. Also, nächste Woche bist du auf dem Weg. Und ich werde dich, wie ich es dir versprochen habe, nach Marseille begleiten.«

Sie küsste ihn lange und voller Wollust. Dann erst legte sie eine neue Platte auf.

Duke Ellingtons Caravan schien sie förmlich explodieren zu lassen. Das war ihr Swing, das war ihr so geliebter Lindy Hop. Er schwang sie in die Luft, sodass sie fast mit dem Kopf an die Decke stieß. Verschwitzt und erschöpft tanzten sie langsam ins Schlafzimmer und fielen lachend ins Bett.

Sie drückte ihn auf das Laken, zog langsam die Strümpfe aus, die deutliche Löcher aufwiesen, drehte sich sanft zu den Klängen von Fred Astaires Puttin’ on the Ritz und öffnete ihren BH. Ihre weißen Brüste wippten im Takt. Feinstein musste schon aus gesundheitlichen Gründen die Hose loswerden, während sie nackt immer wieder im Bett über ihn hinwegtanzte, fast das Gleichgewicht verlor, sich über ihn beugte, ihre Brüste wie Früchte an einem Baum schüttelte und die Augen gespielt überrascht auf seine Erektion richtete, ehe sie sich wie eine Königin daraufsetzte und Feinstein die Müdigkeit wegvögelte.

Sie schaffte es tatsächlich, dass er für Augenblicke den Horror des Tages vergaß. Das hatte seine Gründe. Niemals zuvor hatte eine Frau mit einem Schluck Riesling im Mund seinen Schwanz bespielt. Die Kälte, die Zunge, die Dreistigkeit, das Frivole. Sie konnte nicht aufhören. Doch eines war immer klar: Sie bestimmte die Musik. Sie bestimmte die Geschwindigkeit.

Die Sonne verschwand hinter den Baumwipfeln der Maximiliansanlagen, als sie mit geschlossenen Augen rauchend im Bett lagen.

»Was war schlimm heute?«, fragte sie leise.

Feinstein zog den Rauch tief in seine Lungen, drehte sich zum Fenster, das einen Spalt geöffnet war, und blies den Rauch hinaus. Ein Rotkehlchen saß unterhalb auf einer halb zerstörten Regenrinne und sang sein Lied zur Nacht.

»Schlimm? Es war der Irrsinn. Das passt nicht hierher«, wiegelte er ab.

Sie umfasste sein schlaffes Glied und drückte zu.

Er zuckte zusammen und musste husten. »Gehört das zu deinen Kunststücken oder ist das Folter?«, fragte er, gleichzeitig lachend und hustend.

»Sprich, Ami«, forderte sie.

Er küsste sie. »Salomea, das sind Dienstgeheimnisse, die kann ich einer Frau mit unklarem Geisteszustand nicht mitteilen. Wir sollen den Deutschen ein Vorbild sein … Aua!«

»Los!«

»In der Zeit zwischen heute Morgen und heute Nachmittag sind zwei menschliche Häute im Münchner Stadtgebiet gefunden worden.«

»Oh!«, sagte sie.

»Oh? Du sagst ›oh‹?«

Salomea richtete sich auf, goss sich ein wenig Wein in den Becher und trank.

»Es sind die Häute von SS-Soldaten. Wir haben Blutgruppennummern am Arm identifizieren können. Mehr nicht. Weder wissen wir, wer sie sind, noch, woher sie stammen oder warum sie sterben mussten. Doch es ist eine Riesensauerei …«

Sie nickte.

»Ich will nicht die Genugtuung über den Tod dieser verhassten Menschen aufkommen lassen, will sachlich bleiben, verstehst du?«

»Sind es Racheakte?«, fragte sie.

Er wiegte den Kopf. »Das ist alles neu. Ich habe in New York nur ein halbes Jahr im Morddezernat gearbeitet. Im Münchner Präsidium sitzen entweder entlassene Soldaten mit scheinbar sauberer Vergangenheit, Kommunisten oder versteckte Nazis. Da traue ich keinem. Wenn diese Fälle zunehmen, habe ich ein Problem. Die Krauts sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir Juden uns an ihnen rächen. So wie die Irren aus Palästina.«

»Israel, Marcus. Es heißt Israel.«

Ja, also die, die in Nürnberg vor zwei Jahren das Brot in einem Kriegsgefangenenlager vergiftet haben.«

»Ach? Das wusste ich gar nicht, das höre ich zum ersten Mal«, wunderte sich Salomea.

»Ja, das Kälbchen weiß nicht immer, was sich hinter dem Mond zuträgt.« Er lachte.

Sie biss in seinen Arm.

»Aua! Also, Vergiften ist das eine. Aber Menschen die Haut abziehen, das ist nicht mehr schön und passt nicht ins aktuelle Bild, das wir als US-Besatzungsordnung haben wollen.«

»Ach ja, jene, die uns eben noch ins Gas geschickt haben, sind jetzt unsere Freunde«, bemerkte Salomea bitter.

Feinstein stöhnte. Ihm war die Politik seines Präsidenten auch nicht lieb. Die Russen drehten in Berlin jedoch den Hahn auf. Das war der neue Feind, hatten ihm seine Freunde vom OSS, dem US-Militärgeheimdienst, schon vor zwei Jahren erzählt.

Sie zuckten zusammen, als sie das Quietschen eines Jeeps hörten. Kurz darauf erklang das Stampfen von Stiefeln auf der Holztreppe und Salomea murmelte leise: »Klopfen an der Tür in drei … zwei … eins …«

Es klopfte mehrfach.

Jay stand vor der Tür. Etwas fiel zu Boden. Sein Fahrer hatte die unangenehme Angewohnheit, seinen Kaugummi an den Türrahmen zu kleben. Sie starrten auf den weißen Klops, der zu ihren Füßen lag.

»Was ist so dringend?«, fragte Feinstein säuerlich.

»Der Boss will Sie im Casino sehen – sofort!«

Jay sah verstohlen an Feinstein vorbei hinein in die Wohnung, wo Salomea, auf dem Bauch liegend, eine Zigarette rauchte.

»Warte unten im Jeep. Ich bin in fünf Minuten fertig.«

Das Casino befand sich im ehemaligen Haus der Kunst an der Prinzregentenstraße. Im Gegensatz zu den meisten anderen repräsentativen Bauten der Nazis war dieses Monstrum aus Granit nahezu unbeschädigt aus dem Krieg hervorgegangen. Es lag am südlichen Ende des Englischen Gartens. Zwanzig Säulen säumten den Eingang der Südfassade, vor dem der Fahrer den Jeep neben vielen anderen Fahrzeugen einordnete. Feinstein durchquerte eine gigantische Halle, bog am Ende nach rechts in einen langen Flur und erreichte das Casino. Lautes Lachen, Gläserklirren waren zu vernehmen. Sein Vorgesetzter Captain Clifton entdeckte ihn und winkte ihn zu seinem Tisch.

Bei der Eröffnung 1937 als Haus der Deutschen Kunst waren weniger die Exponate der Nazis begehrt gewesen als vielmehr die Bar, die an das zentrale Restaurant mit Gartenterrasse anschloss. Das hatten auch die Amis erkannt. Feinstein hatte das schon nicht mehr miterlebt. Er war von seinen Eltern 1936 in die USA zu seiner Tante Regina Schiff, einer Bankierswitwe, geschickt worden.

Der Raum bestach neben einem überdimensionierten kristallenen Lüster vor einer lang gezogenen holzvertäfelten Bar mit unzähligen Flaschen vor allem durch die deckenhohen Wandmalereien. Auf leuchtend goldfarbenem Untergrund, akkurat angeordneten Mosaiksteinchen, war die Herkunft der einst hier ausgeschenkten Weine und Spirituosen durch Landkarten und Szenen dargestellt. Feinstein konnte von seinem Sitz aus eine Szene im Rheingau betrachten. Es war der übliche Nazikitsch in mittelalterlichem Gewand: kräftige blonde Männer und ebensolche Frauen im Weinberg, reich geschmückte Pferdefuhrwerke und weinselige Adelspaare. Von den deutschen Weinregionen spannte sich der Bogen über Europas Weinländer und die Britischen Inseln, wo Whisky und Gin daheim waren, bis in die Karibik mit ihrem Rum und Tabak. Diese Malerei der Nazis hatte Weltläufigkeit demonstrieren sollen. Inzwischen war sie nur eine komische Erinnerung an ein untergegangenes Reich.

»Marcus, mein Lieber, was trinkst du?«

»Ein Bier bitte«, antwortete Feinstein und blickte in die Runde.

Clifton stellte die Herren vor, die eben noch lachend über eine Person, die Feinstein nicht kannte, geredet hatten.

»Das ist Lieutenant Colonel Berkshire, Leiter USARI.«

Es gab im Militär weltweit die lästige Art, alles in Abkürzungen zu gießen. USARI stand für United States Army Russian Institute, eine Einrichtung, die offiziell Russlandforschungen für die Armee zusammentrug, inoffiziell den einstigen Alliierten als Feind betrachtete.

»Das ist Major Moyse«, fuhr Clifton fort. »Er arbeitet mit den Deutschen in Wiesbaden zusammen, war vorher beim OSS. Du kennst ihn, glaube ich.«