Quercher und der Totwald - Martin Calsow - E-Book

Quercher und der Totwald E-Book

Martin Calsow

4,8

Beschreibung

Max Quercher kommt den Machtzentren von Politik und Klerus gefährlich nah … Vermögensverwalter Jakob Duschl wird tot im Tegernsee gefunden. Unruhige Zeiten für die Adelsfamilie von Valepp, denn der Senior liegt im Sterben und die zerstrittenen Töchter sind ohne Duschl handlungsunfähig - er war der Einzige, der Zugang zu sämtlichen Dokumenten hatte. Der LKA-Beamte Max Quercher wird damit beauftragt, die Hintergründe von Duschls Tod zu klären. Er findet heraus, dass der Prokurist Dreh- und Angelpunkt eines konservativ-katholischen Machtzirkels war, dessen undurchsichtige Strukturen weit in die höchsten Zentren der bayerischen Elite hineinreichen. Als Quercher bemerkt, wie nah er den geheimen Strippenziehern bei seinen Ermittlungen kommt, ist es schon fast zu spät …

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Martin Calsow

Quercher und der Totwald

Kriminalroman

Für meine geliebte Frau Insa

© 2015 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str.31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Der Autor

Martin Calsow wuchs am Rande des Teutoburger Waldes auf. Nach seinem Zeitungsvolontariat arbeitete er bei verschiedenen deutschen TV-Sendern in Köln, Berlin und München. Ein langer Aufenthalt im Nahen Osten führte ihn schließlich zum Schreiben. Martin Calsow gehört der Jury des Grimme-Preises an und lebt heute mit seiner Frau am Tegernsee und in den USA.

Quercher und der Totwald ist nach Quercher und die Thomasnacht sowie Quercher und der Volkszorn der dritte Fall einer Serie um den sperrigen LKA-Beamten Max Quercher. Weitere Titel sind in Planung.

Prolog

Kreuth, 08.08., 06.15Uhr

Er hatte das Boot im Schilf von seiner Befestigung gelöst. Auf die Kuppe des Wallbergs setzte das Morgenlicht einen dünnen roten Kranz. Mücken schwirrten auf der glatten Oberfläche des Sees, den man an dieser Stelle Ringsee nannte, der aber den allermeisten als Tegernsee bekannt war.

Der Mann war kein guter Ruderer. Das mochte damit zusammenhängen, dass er nie in seinem Leben das Schwimmen erlernt hatte. Wasser war ihm als Element fremd geblieben, Natur war ihm nur in der Form eines Waldes vertraut. Doch obwohl er bereits beim kleinsten Schwanken des äußerst baufälligen und an einigen Stellen schon leckenden Boots zusammenzuckte, schaffte er es, die Ruderblätter in die Riemen zu stecken und das Boot mit einigen kräftigen Zügen weit hinaus aufs Wasser zu führen.

Aus der Tiefe des Sees entstieg die Kälte. Der Mann fröstelte und zog sich umständlich eine Windjacke über, darauf bedacht, das Boot nicht wieder zum Schwanken zu bringen. Vorsichtig goss er sich aus einer Thermoskanne einen Tee ein und trank mit stillem Vergnügen. Bald wären die Touristen fort, der See wäre wieder frei von den Hobbyseglern, die ohne Sinn für die majestätische Größe dieses Naturwerks mit wütendem Ernst über das Wasser ackerten. In der alten Klosterkirche zu Tegernsee läuteten die Glocken. Die ersten Sonnenstrahlen zauberten ein Feuerwerk an Reflexen in die Tiefe des smaragdgrünen Wassers. Eine Mischung aus Grauen und Faszination machte sich in ihm breit. Er musste sich davon losreißen.

Etwas schien ihn für einen kurzen Moment anzusehen.

Er schüttelte den Kopf, legte die Thermoskanne zurück in die Tasche und genoss das Paradies. Hier in der Mitte des Sees würde er in Ruhe die grüne Mappe lesen können. Daheim war er nicht mehr sicher. Denn er fühlte sich beobachtet. Schon lange. Aber mit niemandem hätte er reden können. Und der Graf lag im Sterben.

Wind kam auf, ließ kleine Wellen gegen das Holz des Bootes schwappen. Er las aufmerksam, blätterte langsam die vollgeschriebenen Seiten durch. Lächelte. Sah nichts. Nur die Worte, die alles verändern würden. Er bemerkte nicht, wie drei Meter unter ihm ein schwarzes Wesen aus dem tiefen Grün hinauf in das Licht strebte. Nahm nicht die Blasen wahr, die hinter ihm aufgestiegen waren, sich nun um das Boot kräuselten. Da waren nur die Klänge und die Worte auf den Aktenblättern.

Er atmete tief durch. Es war wie eine Erfüllung. Die Sonne, das Tal und die Musik. Während er sich diesem Gefühl vollkommen hingab, wurde eine nicht einmal ein Millimeter starke Angelschnur um seinen faltigen Hals gelegt. In seinen Gedanken versunken, glaubte der Mann, eine Fliege oder ein anderes Insekt hätte ihn gestochen. Das Boot schwankte, kippte nach rechts. Der Mann griff an seinen Kehlkopf.

Das schwarze Wesen war schon wieder in den See getaucht. Dorthin, wo die Angelschnur in einem Karabiner an einem langen Nylonseil verknotet worden war, welches wiederum an einer Boje hing. Das Wesen durchtrennte diese Befestigung, sodass die Seile in die Tiefe sausten, weil ein dreißig Kilo schwerer Betonsockel am anderen Ende hing.

Der Mann im Boot wollte noch schreien. Aber der Ruck, der Schmerz, das Zuschnüren seiner Kehle und nicht zuletzt der Schock über diese unerwartete Wendung seines Ausflugs verhinderten dies. Er rutschte über die Bootskante, platschte auf die Oberfläche des Wassers und sank mit dem Kopf voran hinunter in die immer dunkler werdende Tiefe. Sein Boot, das ihm wenig später folgte, sah er nicht mehr. Noch ehe er den Grund auf zweiundfünfzig Metern erreicht hatte, wo das Wasser selbst im Sommer nur auf sieben Grad erwärmte, war er schon nicht mehr unter den Lebenden.

Kapitel 1

Tegernsee, acht Tage später, 16.08., 08.45Uhr

Prustend und japsend tauchte Max Quercher aus dem Wasser auf, in das er eben, wie er fand, todesmutig gesprungen war. Er biss die Zähne zusammen. Natürlich war das Wasser nicht sehr warm. Aber jetzt, Ende August, fiel die Temperatur des Sees immerhin nicht unter neunzehn Grad.

Quercher hatte die Nacht auf seiner Hollywoodschaukel verbracht. Lumpi hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt, die Wärme des Terrassenbodens genossen. Sie hatte Quercher bewacht, der wie sie zuweilen auch ein wenig schnarchte.

Quercher wechselte vom Kraul in die Brustlage, schwamm einige Züge unter Wasser, tauchte wieder auf und fühlte nach wenigen Minuten nicht nur, wie die Wärme in seinen Körper zurückkehrte, sondern auch die gute Laune. Als er den Wendepunkt im See erreicht hatte, verweilte er und betrachtete das beeindruckende Massiv der Blauberge, das im Morgenlicht glitzerte. Dort oben wäre er vor drei Jahren fast von einer Lawine getötet worden.

Er hörte das Läuten der Klosterkirche in Tegernsee und kraulte zurück. Nicht weit von ihm schwamm eine Frau, genau wie er auf dem Rückweg zu der Badestelle in Holz. Quercher badete immer nackt. Das war sein persönlicher Widerstand gegen das hier zwar nicht ausgesprochene, aber mehrheitlich gelebte Textilgebot.

Als er noch ungefähr hundert Meter vom Ufer entfernt war, vernahm er plötzlich die Rufe der Frau. Er stoppte, drehte ihr seinen Kopf zu und hob die Hand.

»Ich habe einen Krampf«, rief sie.

Er änderte die Richtung und schwamm zu der Frau.

Sie war nicht älter als als Mitte vierzig. Dunkle Haare hingen in Strähnen über dem vor Schmerz verzerrten Gesicht. Sie trieb auf dem Wasser, bemüht, ihr rechtes Bein in die Höhe zu halten. Es gab schönere Positionen beim ersten Kennenlernen.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Irgendwo in Querchers Hirn waren aus alten Fußballtagen noch Wissensreste über Krämpfe erhalten.

»Ist die Wade, verdammt. Das passiert mir sonst nie!«, rief die Dame fast vorwurfsvoll.

Quercher bemerkte, dass auch die Frau das Baden ohne Textilien bevorzugte. »Legen Sie sich auf den Rücken und breiten Sie Ihre Hände aus. Ich nehme Ihren Fuß.«

Was an Land sehr einfach war, erwies sich im tiefen Wasser als eine akrobatische Herausforderung. Mehrfach tauchte Quercher bei dem Versuch, nach dem Fuß zu greifen, unter, schluckte Wasser und prustete. Sie fluchte. Quercher entschuldigte sich, griff mit der rechten Hand erneut nach dem Fußgelenk der Frau und suchte mit der linken Hand Halt an ihrem Knie, um so ihre Wade zu strecken. Dabei paddelte er wie ein Pudel mit seinen Füßen herum, um sich über Wasser zu halten.

»Sie müssen das Bein strecken.«

»Mach ich doch«, kam es pampig zurück.

Er hatte keine Lust und Zeit für Diskussionen. Mit einem Ruck hob er das Bein der Frau an und versuchte, es gerade zu drücken. Dabei rutschte seine linke Hand ab und sein Mittelfinger stieß in ihre Scham.

Die Frau zuckte zurück, ging unter, kam wieder an die Oberfläche und prustete lediglich ein schnelles »Schon weg, der Krampf!«.

Querchers Gesichtsfarbe glich der einer Boje.

Schweigend schwammen sie zum Ufer zurück. Dort rafften sie ihre Sachen zusammen, ohne sich auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Lumpi hatte sich auf Querchers Klamotten gelegt und betrachtete die Frau neugierig, die eilig in einen Bademantel schlüpfte und den Hang hinauf zum Parkplatz eilte.

Quercher sah zu seinem Hund, der ihn scheinbar fragend anblickte. »Frag nicht, La Lump. Jede gute Tat wird bestraft!«

Es hatte sich viel verändert in Querchers Leben. Das Wichtigste für ihn: Seit einem Jahr fuhr er ein neues Auto, einen Ford Pick-up. Ökologisch ein Desaster, wie ihm seine Kollegin Arzu vorwarf, aber der Wagen war ausgesprochen praktisch. Quercher hatte das Monster von einem befreundeten Schrauber aus Wiessee erworben, nachdem ihn zuvor vierzehn Jahre lang sein alter Benz Kombi begleitet hatte.

Im Herbst hatte er sich an der Hüfte operieren lassen müssen. Lange hatte er sich dagegen gesträubt, eine künstliche Hüfte als üblen Einstieg in das Alter angesehen. Aber nachdem ihn sogar sein Freund und Arzt Manfred Appel als ›Glöckner vom Tegernsee‹ bezeichnet und ihn quasi in die Vollnarkose gequatscht hatte, war es passiert. Mittlerweile war er sogar froh. Er schwamm regelmäßig, machte seine Yogaübungen und fühlte sich besser als je zuvor. Man sah es ihm auch an. Die Angst vor dem Alter war vergangen. Erst sind noch andere dran, dachte er, als er wieder im Auto saß und nach München fuhr.

Heute war Pollingers letzter Tag. Sein alter Chef und Freund würde mit allem Pomp aus dem LKA verabschiedet werden. Es kamen die üblichen Schranzen aus Politik und Verwaltung. Der Lotse geht von Bord, hatte er in seiner letzten Mail an die Kollegen geschrieben. Pollinger hatte zwar seine Krebserkrankung überwunden, war dem Alltagsgeschäft der Behörde jedoch nicht mehr gewachsen. Der Alte wollte sich, so hatte er es Quercher erzählt, auch am See niederlassen. Hier sollte ein neuer Lebensabschnitt beginnen, hatte er mit Pathos in der Stimme erklärt.

Die Gebäude des LKA Bayern lagen im Westen der Stadt München, typische Architekturwarzen der Neunzigerjahre. Quercher verzichtete darauf, sich die Festrede im Innenhof anzuhören, ging stattdessen direkt in den Fahrstuhl und stieg im obersten Stockwerk wieder aus. Das Büro des LKA-Chefs ging zur Marsstraße hinaus. Handwerker hatten Pollingers extravagante Einbauten – Zirbelholz aus den Alpen und eine Sitzecke wie in einem Egerner Bauernhaus – bereits herausgerissen. Die Reste lagen in einem Container unten im Hof. Es roch nach Zigarre und einem selten gelüfteten Raum. Quercher hatte hier in seiner schlechten Zeit sogar einige Nächte verbracht. In einer Ecke auf dem Sofa.

Mit Pollinger ging auch etwas von ihm selbst, dachte Quercher gerührt. Das Kumpelhaft-Mackerartige wurde langsam, aber sicher wie das Zirbelholz hinausgeworfen. Pollingers Büro war mehr als nur ein Raum gewesen. Es war das letzte Rückzugsgebiet männlicher Polizeiarbeit.

Grinsend erinnerte sich Quercher daran, dass Pollinger auf eigene Kosten sogar einen Zapfhahn mit Tegernseer Bier, in einem Erker versteckt, hatte installieren lassen.

Doch das war die alte Zeit gewesen. Pollingers Nachfolgerin, Constanze Gerass, hatte schon ihre Möbel hierher gebracht. Langweilige Meterware aus einem Designerhöllenkatalog. Quercher sah sich um. Vierundzwanzig Jahre hatte Pollinger die Behörde geleitet. Hatte in die Abgründe der organisierten Kriminalität, der Kinderpornoringe, des Terrorismus sehen müssen. Pollinger war für Menschen, die ihn kaum kannten, der kauzige und joviale Behördenchef. Diese Rolle hatte er immer perfekt gespielt. Nur wenige, wie sein Freund Quercher, wussten, dass Pollinger auch ein extrem harter und machtbewusster Chef war.

Quercher hörte Schritte.

»Ich habe dich da unten auf meiner Beerdigung vermisst.«

»Ferdi, du bist nicht tot, nur pensioniert worden.«

»Du sehnst dich schon seit Jahren nach deiner Frühpensionierung, Max. Aber für mich wartet jetzt nur noch ein langes Sterben im Tegernseer Tal. Das werde ich nicht aushalten.« Pollinger kraulte Lumpi, die zwar widerrechtlich, aber noch geschützt von Pollingers letzten Machtminuten das leer geräumte Büro erschnüffelte.

»Du kannst ja den Schatzmeister bei den Rottacher Gebirgsschützen machen oder den Hausmeister bei der CSU in Wildbad Kreuth. Da müsste mal renoviert werden.«

Pollinger schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe etwas anderes vor.« Er reichte Quercher die Kopie eines Dokuments.

»Was ist das?«

»Lies.«

Quercher überflog das Blatt und lachte. »Du willst dich selbstständig machen? Nach gefühlt zwei Jahrhunderten als Beamter? Beratung für Sicherheit und Kontrolle – BSK? Ist dir das im Suff eingefallen?«

»Ach Max, du weißt genau, dass ich nicht der Erste aus dem Laden hier wäre, der in der freien Wirtschaft noch etwas mitnähme. Klar, die Pension ist recht hoch. Aber vielleicht reicht das nicht.«

Max wurde misstrauisch. Pollinger ging mit erheblichen Ersparnissen in den Ruhestand. Was verheimlichte er ihm? »Hast du Schulden?«

Pollinger sah ihn mitleidig an. »Im Gegensatz zu dir kann ich mit Geld umgehen, kaufe mir keine Pick-ups aus Amerika oder Immobilien in Italien.«

Der Alte spielte auf Querchers Haus auf Salina, einer Insel vor Sizilien, an, das erhebliche Kosten verursacht hatte. Obwohl er es lange vermietet hatte, konnte Quercher nie nur annähernd schwarze Zahlen erzielen – ein teures Hobby. Aber es war Querchers einzige Möglichkeit, der Alpenidylle zumindest in den Frühlings- und Herbsttagen zu entfliehen. In wenigen Wochen wäre es wieder so weit. Die Touristen mit ihren scharfen Parfums wären dann verschwunden. Die Kapernernte würde beginnen. Er könnte den Sommer verlängern.

»Ich störe ungern.«

Pollinger und Quercher drehten sich ruckartig um.

Im Türrahmen stand Constanze Gerass, die neue Chefin. Sie durfte Pollinger schon einmal während seiner Krankenzeit vertreten. Jetzt hatte der Innenminister sie trotz internen Widerstands auf den hochrangigen Posten befördert. Quercher hatte seit der Entführung der Kinder am See und den damit verbundenen internen Verwicklungen im vorletzten Jahr ein nüchternes, aber nicht schlechtes Verhältnis zu ihr. Sie hatte nach anfänglichem Zögern Pollingers Rat angenommen und versprochen, Quercher auch weiterhin nur die sperrigen Fälle zu geben. Aufträge, die diskret und ohne Personalaufwand durchgeführt werden mussten. Das alles schrappte zwar zuweilen an den Grenzen der Dienstvorschriften, erwies sich aber als höchst wirkungsvoll. Quercher und seine Kollegin Arzu waren ein kleines Team, ihre ›Ninjas‹, wie Pollinger sie spöttisch seiner Nachfolgerin vorgestellt hatte. Zwei-Personen-Teams waren keine Seltenheit beim LKA. In verschiedenen Abteilungen wurde so gearbeitet.

»Frau Gerass, kommen Sie ruhig rein. Ist ja schließlich Ihr Büro.« Pollinger schaltete auf jovial.

»Ich wollte mit Herrn Quercher den Duschl-Fall besprechen. Aber das hat noch ein paar Minuten Zeit. Ich bin dann in meinem … alten … Büro.«

»Ach was«, widersprach Pollinger. »Ich mache jetzt sowieso meine letzte Runde durchs Haus. Max wird mich heute sicher mit dem Rest meiner Sachen zum See hinausfahren.«

»Ach so?«

»Ja, wenn du so nett wärst und diese drei Kisten dort hinten in deinen Amischlitten packst?«

»Ich dachte, der Herr ordert die Kutsche für die Fahrt zum Schloss?«

Pollinger grinste. »Was für ein gutes Stichwort für deinen nächsten Fall«, bemerkte er nur, ehe er pfeifend den Raum verließ.

Gerass schob einen alten, nach Zigarre riechenden Bürostuhl an das Fenster und wies auf einen danebenstehenden Sessel. Quercher setzte sich und sah sie erwartungsvoll an. Als er realisierte, dass sie höher saß als er, wurde er etwas unruhig.

Gerass hatte sich in den vergangenen Monaten verändert. War sie einst als kommissarische Leiterin betont nüchtern und streng erschienen, ließ sie jetzt, wie Quercher fand, mehr Weiblichkeit zu. Mit der Zusicherung auf den neuen Posten wirkte sie souveräner, weniger verbissen. Kein schlechter Anfang, wenn sich der Eindruck verfestigen sollte.

Sie stellte die Füße, die in High Heels steckten, auf die niedrige Fensterbank, wo Pollingers Bierkrugsammlung gelbe Ränder hinterlassen hatte.

»Sagt Ihnen der Name von Valepp etwas?«

Quercher nickte. »Klar, der Hochadel vom Tegernsee. Franz von Valepp gehört so ziemlich alles, was am See vor sich hinwächst.«

»Sie meinen Wald, nehme ich an, und nicht Ihr geliebtes Cannabis.«

Quercher hielt mit seinem Konsum des Krauts nicht hinterm Berg. Aber wenn ihn schon seine Vorgesetzte darauf ansprach, musste er vielleicht etwas diskreter werden. Er nickte.

»Franz von Valepp liegt im Sterben. Er hatte einen Generalbevollmächtigten, Jakob Duschl. Seit zehn Tagen ist der Mann verschwunden. Am Abend zuvor wurde er das letzte Mal von Zeugen in einer Bar gesehen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur. Duschl lebt allein, hat keine Angehörigen. Franz von Valepp hat ihn quasi adoptiert, seit er eine Lehre in der familieneigenen Hausbank gemacht hat. Das ist fünfunddreißig Jahre her. Die Kollegen von der Kripo in Miesbach wie auch die Dienststelle in Bad Wiessee haben die üblichen Ermittlungen angestellt. Aber ohne Erfolg.«

»Warum ist der Mann so wichtig? Oder anders: Seit wann kümmern wir uns um Vermisstenfälle?«

Gerass überhörte den leisen Vorwurf. »Jakob Duschl hatte Zugang zu allen administrativen und wirtschaftlichen Dingen des Hauses von Valepp. Er war der Mann, der für Franz von Valepp alles regelte, still und schnell. Er war eigentlich nie sichtbar. Die Kollegen hatten Mühe, ein Foto für die Fahndung aufzutreiben. Es schien, als ob der Mann es tunlichst vermieden hätte, jemals fotografiert zu werden. Die von Valepps hatten nicht ein Bild von ihm, kein Video von Familienfeiern, gar nichts. Komisch, nicht?«

»Und wie sind wir dann an ein Foto von ihm gekommen?«

»Sein Führerscheinfoto und das schlechte Bild einer Überwachungskamera auf dem Anwesen der von Valepps, nicht wirklich hilfreich.«

»Und was soll ich da jetzt machen? Das Phantom vom See suchen?«

Gerass sah ihn lächelnd an. »Nein, das, was Sie am besten können – auf Frauen aufpassen.«

Quercher runzelte die Stirn. Das fing hier schon wieder genauso blöd an wie bei Pollinger, dachte er.

»Franz von Valepp hat zwei Töchter, Regina und Cordelia. Regina Hartl dürfte Ihnen als regelmäßiger Leser von Wirtschaftszeitungen bestimmt etwas sagen.«

»Schön, dass Sie bei mir immerhin von einer Lesefähigkeit ausgehen. Das ist doch diese Firmentante aus München. Ich wusste gar nicht, dass die eine geborene von Valepp ist.«

»Es gibt noch Menschen, die heiraten, Herr Quercher.«

»Ist das ein Antrag, Frau Doktor?«

»Sie sind zu alt, Herr Quercher.«

»Mitarbeitermotivation geht anders. Aber zu dieser Thematik soll es bald Kurse vom Ministerpräsidenten geben.«

»Besser nicht. Da wird man sofort schwanger.«

»Augenblick mal, unten im Hof steht noch die Limousine des Landesvaters. Mögen Sie ihm das vielleicht so sagen?« Quercher grinste.

Gerass nicht. »Werden Sie wieder ernst. Regina Hartl führt die Firma ihres verstorbenen Mannes. Die Hartl satellite system. Wenig bekannt. Aber, wie sagt man heute so schön, ein ›hidden champion‹. Stellt Bauteile für Satelliten und Raketen-Hardware her. Weltweit Marktführer. Sitzt in Unterhaching und in Franken und ist ein Lieblingskonzern von unserem Landesvater höchstselbst. Und wo der Vater draufschaut, müssen wir sorgfältig sein.«

»Sind wir doch immer, Frau Doktor.«

»Sagt ausgerechnet Max Quercher, das personifizierte Chaos. Also: Der verschwundene Duschl war auch ein Vertrauter der jüngeren Tochter Cordelia. Zudem …« Sie machte eine Pause, wirkte unsicher, ob sie ihm eine zusätzliche Information geben sollte.

»Nur mal raus. Nichts verschweigen. Bringt vor der Ehe nichts. Kommt alles raus«, kalauerte Quercher.

Sie sah ihn resigniert an und seufzte. »Herr Quercher, hier ist die Akte in digitaler Form.« Sie hielt ihm einen USB-Stick hin.

»Wo steckt man so etwas rein?«

»Wie wäre es mit Ihrem Nasenloch? Bringen Sie bitte Dr.Pollinger heim und dann treffen Sie Frau Hartl. Sie hat um siebzehn Uhr für Sie einen Termin freigeräumt. Ich will, dass Sie Herrn Duschl wiederfinden.« Sie sah ihn jetzt ernst an. »Ich mache keinen Spaß. Sie haben es da mit sehr … wie soll ich sagen … sehr seltsamen Strukturen und Menschen zu tun. Dr.Pollinger kann Ihnen vielleicht mehr sagen.«

»Geht es konkreter?«, hakte Quercher nach. Es war jetzt dreizehn Uhr. Er müsste schnell Pollingers Kisten einpacken und den Alten in sein Haus bringen. Viel Zeit blieb ihm also nicht mehr. Doch wenn er bei der Blaublütigen nicht als Vollpfosten dastehen wollte, müsste er ein paar Hintergründe kennen.

»Kennen Sie nicht Reginas Schwester Cordelia?«, fragte Gerass mokant.

»Warum sollte ich?«

»Na ja, das werden Sie schon herausfinden. Ich muss jetzt los. Auf Ihrem Schreibtisch liegen die ersten Ermittlungsschritte der Kollegen aus Miesbach. Und wenn Sie bei Frau Hartl sind, richten Sie bitte liebe Grüße von mir aus.«

»Von Entscheiderin zu Entscheiderin?«

»Ach, Herr Quercher, ich rieche ja förmlich Ihre Angst vor der weiblichen Vorherrschaft.«

»Ich würde dieser Vorherrschaft übrigens gern in zwei Wochen entfliehen, also Urlaub nehmen.«

»Dann mal flugs den Herrn Duschl gefunden, Herr Quercher. Hinterher dürfen Sie auch Oliven pflücken.«

Es war mittlerweile fünfzehn Uhr, als er völlig verschwitzt die letzte Kiste auf die Ladefläche seines Wagens hievte.

Pollinger kam mit einer Aktentasche unterm Arm über den Parkplatz gelaufen. »Körperliche Arbeit war nie deine Stärke. Da musstest du ja bei uns landen«, ätzte er Quercher im Vorbeigehen an, ehe er mit einigen Mühen in den Pick-up stieg. Missgelaunt starrte er vor sich hin und hielt die Aktentasche, in der seine Entlassungsurkunde steckte, vor seinem Bauch. Zwischen Pollinger und Quercher hatte Lumpi Platz genommen und hechelte mit heraushängender Zunge.

Es war ein müder Spätsommertag, nicht ganz so heiß wie noch wenige Wochen zuvor, aber es hatte lange nicht mehr geregnet. Die Straßen waren staubig. Jeder Windstoß wirbelte Fontänen von ersten gelben Blättern und Dreck auf.

Quercher stellte die Klimaanlage ein. »Kennst du den von Valepp?«, fragte er Pollinger, während er Lumpi sachte zur Seite drückte, um an eine Wasserflasche zu kommen. Das bockige Vieh widersetzte sich zäh.

»Gehorcht dir nicht einmal dein Hund?«, fragte Pollinger mitleidig.

»Sie hört nicht mehr auf Lumpi. Und das ist deine Schuld. Weil du sie seit Monaten mit ›La Lump‹ anredest. Du hast sie verzogen.«

»Wenn du dich ein wenig mehr mit Tieren auskennen würdest, wüsstest du, dass sich Hunde immer an den Ranghöchsten halten. Das ist eben so«, erklärte Pollinger mit einer Mischung aus Ernst und Ironie. »La Lump, komm her.«

Quercher verdrehte die Augen, weil sein Hund Pollingers Anweisung tatsächlich folgte. »Also noch mal: von Valepp. Was weißt du?«

Pollinger betrachtete durch das Fenster den frühen Feierabendverkehr. Noch hatten die Schüler Ferien. Kinder kamen aus den Freibädern mit ihren Badetaschen über den Schultern und mit nassen Haaren. Ein Fetzen Erinnerung an seine Kindheit, die er hier im München der Sechzigerjahre verbracht hatte, ließ ihn melancholisch werden. Der Wagen überquerte die Isar. Ein blauer Dunst von Grillfeuern hatte sich wie eine Smogglocke über den Fluss gelegt, den Pollinger noch aus Zeiten kannte, als er noch kein riesiger Freizeitpark war.

»Die von Valepps sind alter bayerischer Adel, und zwar schon seit mehr als tausend Jahren. Ich erspare dir und mir einen Ausflug in die Geschichte. Du würdest die Details eh sofort vergessen. Die Mitglieder der Familie jedenfalls sind seit jeher immer in den engsten Umkreis der bayerischen Herrscher berufen worden. Sei es als Minister oder in Kirchenämtern. Die Familie besitzt ausgedehnte Ländereien, riesige Waldflächen und ein Kiesabbauunternehmen. Franz von Valepp war mit Elisabeth Gräfin von Soelring, ebenfalls bayerischer Adel, verheiratet. Die Gute war etwas seltsam, manche würden sie als den Männern nicht abgeneigt bezeichnen. Während Franz im Wald war, hat sich Lisbeth so ziemlich jeden stattlichen Angestellten näher angeschaut.«

Quercher grinste. »Du bist ja ein richtiger Adelsexperte, wusste ich gar nicht.«

»Sehr witzig. Ich mochte Franz nie so recht. Er und sein älterer Bruder waren im Zweiten Weltkrieg angeblich im Widerstand. Zumindest sein Bruder war aber bis 1944 extrem eng mit den Nazis. Dann hat man ihn jedoch fälschlicherweise zum Widerstand gezählt und ihn in Stadlheim aufgehängt. Der Familienbesitz wurde bis zum Kriegsende konfisziert. Aus dieser Nummer entstand später die Familiensaga der Gutmenschen. So jedenfalls konnte sich die Familie unbeschadet durch die Nachkriegszeit manövrieren, hat alle ihre Güter wiederbekommen und Franz tauchte bei jeder Gedenkfeier für die Widerständler in der ersten Reihe auf. Heute ist von Valepp der drittgrößte Waldbesitzer in ganz Deutschland.«

»Komisch, die sind mir noch nie über den Weg gelaufen. Die Tochter sagt mir irgendetwas. Aber ich weiß nicht genau, was.«

»Vorsicht. Die ist eine ganz Harte. War Unternehmensberaterin bei McKinsey, hat dort ihren Mann, Reinhard Hartl, kennengelernt. Sie ist dann zu Goldman Sachs, der Investmentbank, gegangen. Später wechselte sie in die Firma ihres Mannes. Der verstarb vor drei Jahren bei einem Jagdunfall in Osteuropa. Jemand hat ihn bei einer Treibjagd auf Wildschweine mit einer Armbrust versehentlich getroffen.«

»Mit einer Armbrust? Wer macht denn so was?«, fragte Quercher irritiert.

»Es gibt auch Leute, die nehmen eine Lanze.«

»Warum nicht auch einen Morgenstern?«

»Jedenfalls ist sie jetzt Alleininhaberin der Firma. Die Frau taucht nirgendwo auf. Hält sich völlig aus der Presse. Gilt als eine der reichsten Frauen Deutschlands, wirkt aber sehr bescheiden. Hat den Adelstitel freiwillig für ihren Mann abgegeben. Sehr sympathisch, finde ich. Sie scheint den ganzen Tag nur zu arbeiten. Keine Kinder. Kaum einer weiß etwas über sie.«

»Du hingegen scheinst sie ja gut zu kennen.«

»Nein, überhaupt nicht. Aber sie wäre etwas für dich. Anständig, vermögend, selbstsicher und vor allem: in deinem Alter!«

Quercher trat auf die Bremse. »Wie bitte?«

»Wenn du so fährst, bist du nicht rechtzeitig dort. Regina Hartl schätzt Pünktlichkeit.«

Er hatte Pollinger in einem Hotel am See abgesetzt, wo der Alte mit irgendwem zum Kaffee verabredet war. Die Kisten sollte Quercher noch nicht abladen, sondern bei sich lagern. Pollinger würde sich später darum kümmern, versprach er. Quercher war froh darüber, so konnte er noch kurz nach Hause fahren und sich wenigstens duschen und umziehen. Auf die Minute genau kam er schließlich bei der von Gerass benannten Adresse an.

Das Anwesen der Dame lag nördlich von Querchers Heimatort Bad Wiessee im Ortsteil Holz.Das Haus wirkte zwar dezent, thronte aber dennoch erhaben auf einem Hügel weit oberhalb des Sees. Schon von der Auffahrt hatte man einen wunderschönen Blick auf das Wasser und die dahinterliegenden Alpen. Das Haus war in dem für diese Gegend so typischen wie langweiligen Landhausstil gebaut. Der Privatweg führte zu einer Schranke. Quercher beugte sich aus dem Fenster hinaus und wollte gerade die Ruftaste betätigen, als sich die Schranke wie von Geisterhand hob und die Einfahrt zum Haus freigab. Zwei Meter hohe Hecken, dazwischen Zäune. Hier schien jemand auf Sicherheit Wert zu legen.

Quercher stieg aus, ließ La Lump aber vorsichtshalber im Wagen sitzen. Das gefiel der prätentiösen Hundedame nicht. Doch vielleicht hatte La Hartl ja eine Allergie oder schlicht Angst vor Hunden.

Die Eingangstür öffnete sich, als Quercher gerade auf sie zuschritt. Vor ihm stand die Hausherrin. Es dauerte eine Sekunde, bis die Röte in Max Querchers Gesicht gestiegen war und sein Mittelfinger juckte: Das war die Dame aus dem See!

Kapitel 2

Miesbach, 16.08., 13.25Uhr

Hunderte Menschen strömten in den Waitzinger Keller. Das Kulturzentrum in Miesbach bot normalerweise Landfrauentagungen, Kabaretts oder Lesungen ein Zuhause. Heute Mittag aber war hier die Welt der Heilung beheimatet. Denn heute kam Lush.

Der selbst ernannte Heiler aus den albanischen Bergen war bei seinen Anhängern unumstritten, sein Verfahren denkbar schlicht. Schon Tage zuvor waren seine Jünger aus anderen Städten nach Miesbach gefahren, weil sie sich von der Aura des Albaners so viel erhofften. Sie standen ohne Murren stundenlang in der Mittagshitze vor der Halle und flüsterten sich gegenseitig die Wundergeschichten des Mannes zu, der sich ›Luusch‹ wie ›Licht‹ ansprechen ließ. Es waren viele Frauen mittleren Alters vor Ort, offensichtlich alleinstehend und nicht selten esoterisch angehaucht. Aber auch gestandene Männer, die man eher auf dem Fußballplatz vermuten würde, fanden den Weg zum Heiler.

Direkt hinter den Eingangstüren hatten Lushs Helfer, die unentgeltlich arbeiteten, Tische mit den üblichen Heil-CDs sowie mit Chakrenschmuck aufgestellt. In einer Ecke stand eine Frau und beaufsichtigte still, aber umso genauer die Arbeit der Mitarbeiter. Sie trug ein Sommerkleid, an den Handgelenken bunte Armbänder. Das falsche Blond ihrer Haare war an einigen Stellen herausgewachsen. Die grünen Augen standen über hohen Wangenknochen weit auseinander. Ihre Schönheit war im Laufe der Jahre etwas verblasst, aber noch zu erahnen.

Nach einer Stunde leerte sich der Vorraum, die Menschen schritten in die Halle. Die Frau ging über mehrere Treppen zur Garderobe. Hier bereitete ER sich vor.

Lush lag auf einem Tisch. Er trug eine braune Leinenhose, darüber ein weißes Baumwollhemd. Seine Hände hatte er ausgebreitet. Von oben betrachtet, glaubte man, einer Kreuzigung beizuwohnen.

»Lush«, flüsterte sie.

Keine Reaktion. Der Mann war in anderen Sphären. Lush, der, wie ein Prospekt verriet, aus Orosh in Nordalbanien kam, war jetzt ganz Heiler. Seine langen schwarzen Haare hingen über der Tischkante herunter. Einige Strähnen dazwischen waren grau. Das Gesicht wirkte ausgemergelt, aber dennoch freundlich. Dem Körper schien jegliches Fett zu fehlen. Nur Muskeln und Sehnen überzogen die Knochen – das Resultat permanenter Yogaübungen und des konsequenten Verzichts auf tierische Produkte.

»Lush, es geht los.«

Er öffnete seine Augen, sah die Frau lange und durchdringend an und flüsterte lächelnd: »Cordelia, heute wird unser Tag sein. Heute werden wir deinen Vater Franz besuchen. Es wird Zeit, dass wir dir das geben, was dir gehört. Wir werden nach der heutigen Heilung zum See fahren.«

Nach zwei Stunden war die Vorstellung vorbei. Die Menschen glaubten, erleuchtet zu sein, Lush und Cordelia fanden, ein gutes Werk getan zu haben. Sie hatte den kleinen Wagen zum Hintereingang gefahren. Lush war von der Arbeit erschöpft und nicht geneigt, sich seinen Jüngern noch einmal zu zeigen. Stumm saß er neben Cordelia und hatte die Augen geschlossen. Er meditierte und wollte nicht gestört werden. ›Sich wieder aufladen‹, nannte er das.

So war seine Frau und Fahrerin mit ihren Gedanken allein. Sie fuhr über Hausham Richtung Gmund. Eine Strecke, die sich bergauf und bergab durch das Oberland schlängelte. Links neben ihr die Mangfall, das kleine Flüsschen, das sich aus dem Tegernsee speiste.

Cordelia hatte vor fünf Jahren das letzte Mal ihren Vater im Tal besucht, die Gegend war ihr aber vertraut. Wenn sie in München aufgelegt hatte, die Nacht in den Morgen übergegangen war und sie und ihre damaligen Freunde noch immer aufgedreht von Energydrinks und Koks waren, hatten sie sich in ein Auto gezwängt und waren hinaus in das Tal gefahren. Der Kontrast war dann der Reiz. Sie waren den Privatweg im Wald ihres Vaters hinaufgerast, hatten laut Lounge-Musik aufgedreht und sich auf einer Alm in eine Wiese fallen lassen. Irgendjemand hatte dann Dope kreisen lassen, Bier aus dem Kofferraum geholt und alle hatten auf den Sonnenaufgang gewartet.

Bei dem Gedanken konnte sie kaum noch die Augen offen halten. An einer Kfz-Werkstatt bog sie links ab und fuhr nun, die Berge des Tals vor sich, auf den See zu. Sie schaute auf die abgeernteten Wiesen zu ihrer Linken, nahm den Duft der Kräuter wahr.

»Brems!«, schrie Lush plötzlich wie von Sinnen.

Erschrocken sah sie nach vorn. Ein Kind stand auf der Straße und hatte die Arme weit in die Luft gestreckt. Das Gesicht war blutüberströmt. Die Augen waren weit aufgerissen, der Mund ebenso. Fünf Meter schlitterte der Wagen, obwohl Cordelia mit aller Kraft gebremst hatte. Wenige Zentimeter vor dem Kind kam das Auto zum Stehen.

»Um Gottes willen.« Cordelia war wie erstarrt.

»Der Wagen, da drüben. Los, halt jemanden an! Der soll die Polizei rufen.« Lush schnallte sich ab, drückte auf das Warnblinklicht und riss die Tür auf.

Jetzt sah auch Cordelia das Auto. Beziehungsweise das, was noch davon übrig war. Die Karosserie schien sich nahezu um einen an der Straße stehenden Baum gewickelt zu haben. Der vordere Teil des Wracks qualmte. Cordelia rannte hinüber. Weder sie noch Lush besaß ein Mobiltelefon, da Lush glaubte, dass die Strahlen seine Kraft schmälerten. Aber auf ein vorbeikommendes Auto warteten sie vergeblich. Die Kfz-Werkstatt war vielleicht dreihundert Meter entfernt. Cordelia war unentschlossen. Also kümmerte sie sich um das Kind, ein Mädchen, das jetzt stumm und immer noch mit aufgerissenem Mund an der Kühlerhaube des verunfallten Wagens lehnte und ins Nichts stierte.

Lush hatte das Wrack erreicht. Das Mädchen schien sich aus der Windschutzscheibe befreit zu haben. Er sah auf die Rücksitzreihe. Nichts. Dann auf den Beifahrersitz. Da war ein Kindersitz, aber auch er war leer. Überall im Fond, an den Sitzen und den Türen, befand sich eine gelblich schmierige, seltsam riechende Masse. Lushs erster Gedanke war, dass es sich um das Gehirn eines zerplatzten Kopfes handeln musste. Er stemmte sich auf den zerbeulten Kofferraum und schob sich durch das Rückenfenster in das Wageninnere. Er vernahm einen menschlichen Laut und blickte nach vorn. Unter dem Armaturenbrett, zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, lag zusammengekrümmt eine Frau. Der aufgeplatzte Airbag hatte ihren Körper verdeckt. Dann sah er, dass sich vor der Frau ein Baby befand. Es lebte noch und wimmerte leise.

Von der Werkstatt her rannten jetzt ein Lehrling und eine Frau in Richtung der Unfallstelle. Cordelia rief ihnen zu, dass sie die Polizei und den Notarzt alarmieren sollten.

»Cordelia, ich brauche dich hier!« Lush winkte, ohne sich umzudrehen.

Als die Frau aus der Werkstatt sie erreicht hatte, übergab Cordelia ihr das Mädchen. »In unserem Auto finden Sie Decken. Legen Sie das Kind auf die Straße.« Dann eilte sie zu Lush.

»Die Mutter hat sich offensichtlich zum Schutz vor ihr Baby geworfen, statt sich vom Airbag retten zu lassen. Das Kleine lebt, aber die Mutter hält es fest. Ihre Beine sind vom Motorblock zerquetscht. Sie blutet stark. Der Tank wird gleich brennen.«

Cordelia konnte die ganzen Informationen, die auf sie einprasselten, kaum verarbeiten. »Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?«

Lush sah sie eindringlich an. »Komm.« Er zog seine Jacke aus, warf sie über das inzwischen verstummte Baby und schritt um das Auto herum. Aus dem Kofferraum, der sich nach dem Unfall geöffnet hatte, zog er einen Wagenheber. Lush stellte sich vor das Seitenfenster und schlug mit großer Kraft gegen das Glas, wieder und wieder, bis es in kleine Teile zersprang und er die Scheibe eindrücken konnte.

Aus der Ferne waren Sirenen zu hören. Die Helfer waren offensichtlich noch weit entfernt. Wenn Lush das Baby retten wollte, musste er sofort handeln. Er griff also in den Wagen, zog seine Jacke zur Seite, die das Kind vor den Glasscherben geschützt hatte, und wollte es hochheben.

In diesem Moment versteifte sich die Hand der Mutter und umklammerte ein Bein ihres Kindes. Sie schien nicht tot zu sein.

Lush musste sich in Bruchteilen einer Sekunde entscheiden. Das Auto konnte jederzeit in Flammen stehen. Die Mutter würde man nicht so schnell bergen können.

Der erste Rettungswagen war zu sehen.

Die Frau schrie plötzlich.

Cordelia schrak zurück. Es war nicht auszuhalten.

Lush hievte sich weiter in den Wagen und umfasste die Hand der Frau. Schwerfällig drehte sie ihm ihren Kopf zu und sah Lush an.

Er begann mit ihr zu reden, leise und bedächtig. »Es ist gut. Du kannst loslassen. Es ist gut. Du kannst loslassen.« Wie ein Mantra sprach er die immer gleichen Sätze. Irgendwann hörte sie auf zu schreien und wimmerte nur noch. Lush nickte und die Frau ließ los.

Sachte hob er das Baby heraus. Es war stumm, die Augen waren nach hinten verdreht. Dann blickte er die Frau ein letztes Mal an, bevor er sich mit dem Kind im Arm rückwärts von dem Wrack entfernte. Er sah, wie die Flammen aus dem Motorblock schossen. Schlagartig war überall Feuer und die Frau nicht mehr zu sehen.

»Es ist tot!«, erklärte ein junger Rettungssanitäter und verwies mit dem Kopf in Richtung des Babys. Er hatte verzweifelt die Herztöne gesucht. Doch da war nichts mehr. Während der Wagen lichterloh hinter ihnen brannte, bemühten sich mehrere Helfer um das Baby, das auf einer Decke lag.

Lush beugte sich über das Kind. Der Sanitäter wollte ihn daran hindern, aber etwas hielt ihn zurück. Später sagte er, dass es Lushs Blick gewesen sei.

Kapitel 3

Holz, 16.08., 17.00Uhr

Die Engländer haben für diese Situation eine Redewendung: Keiner sieht den Elefanten im Raum. Es ist die charmante Umschreibung für ein riesiges Problem, das von allen Beteiligten ignoriert wird. Genau das war hier der Fall.

Quercher hatte Regina Hartl sofort erkannt und sich an den morgendlichen ›Unfall‹ im See erinnert. Sie jedoch ließ sich nichts dergleichen anmerken und führte ihn nach einer kurzen Begrüßung, die ihm eine Spur zu distanziert erschien, in das Haus.

Max Quercher verstand nicht viel von Inneneinrichtung. Das, was er hier sah, war zwar teuer, aber nicht schön. Ließ das Äußere des Gebäudes auf bayerische Gemütlichkeit –oder das, was Menschen aus München dafür hielten – schließen, schien er jetzt in eine Tiefkühltruhe gekommen zu sein. Weiße Möbel, wohin er sah. Zweckmäßig, sicherlich erlesen, aber ohne jegliche Verbindung zur Außenwelt. Das Haus hätte so auch in New York, Oberhausen oder Moskau stehen können. Es war die möblierte Inkarnation eines Beratertraums. Und tatsächlich standen auf dem Esstisch mehrere kleine Fläschchen mit Säften, wie man sie aus Konferenzräumen kannte. Daneben prunkte, statt einer Blumenvase oder den obligatorischen Bildbänden, eine sogenannte Spinne, ein Gerät, das Telefonkonferenzen mit mehreren Teilnehmern ermöglichte.

»Was möchten Sie trinken? Einen Kaffee?«

Regina Hartl trug eine weiße Hose und darüber eine bunte Seidentunika mit wirren Mustern. Sie hatte dunkle Haare, die zweifellos nachgefärbt waren. Ihre Haut war gebräunt, ihre blauen Augen zeigten aber, dass sie dennoch angestrengt und übermüdet war.

Quercher schüttelte den Kopf. »Ich möchte Ihre Zeit nicht verschwenden. Meine Behörde bat mich, noch einmal das Verschwinden von Jakob Duschl zu untersuchen. Welche Rolle spielt er für Ihre Familie?«

Hartl drückte auf den Knopf einer Espressomaschine und sprach gegen den Lärm an. »Jakob Duschl war ein langjähriger Vertrauter meines Vaters …« Das Rauschen hatte aufgehört. Der Kaffee lief in die Tasse, deren Henkel Regina Hartl umklammert hielt. »… und hat eine der wichtigsten Rollen in seinem Familienbetrieb gespielt.«

Quercher sah hinaus auf die Terrasse. Umzugskartons standen aufeinandergestapelt neben einem Außenkamin. Hartl schien erst kürzlich hierhergezogen zu sein.

Regina Hartl folgte seinem Blick und wirkte ein wenig ungehalten, weil Quercher ihr nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte.

Er drehte sich zu ihr. »Sie sagen ›war‹. Ist Herr Duschl denn Ihrer Meinung nach tot?«

»Nein, so ist das nicht zu verstehen. Ich hatte mit Jakob Duschl in den letzten Jahren nicht mehr so viel zu tun. Ich war …«

»Sie waren nicht mehr so häufig bei Ihrem Vater? Klar, Sie mussten ja die Firma Ihres Mannes leiten. Und deshalb haben Sie sicher auch in München gewohnt, nicht wahr?«

Sie zögerte, ehe sie nickte. »Ja, mein verstorbener Mann und ich wohnten in München. Sowohl mein Arbeitgeber als auch die Firma meines Mannes befinden sich dort, zumindest im Umkreis.«

»Und warum sind Sie jetzt hierhergekommen?«

Wieder zögerte sie. Aber sie hatte sich völlig unter Kontrolle. »Herr Quercher, interessieren Sie sich für Herrn Duschl oder für mich?«

Quercher lächelte. Da wollte offensichtlich jemand Grenzen setzen. Na gut. »Mögen Sie mir noch einmal genau die Funktion erklären, die Jakob Duschl im Hause Ihres Vaters hatte?«

Sie atmete tief durch, ehe sie antwortete. »Ich war noch sehr jung, vielleicht zehn Jahre oder so, da kam Jakob Duschl zu meinem Vater. Er hatte eine Bankausbildung hinter sich, kam aus Schliersee, das ist ein Ort im Tal weiter.«

Quercher schmunzelte. Da er vom See kam, kannte er die Gegend hier im Schlaf. Aber das musste die Grenzenzieherin ja nicht gleich wissen.

»Duschls Mutter war schon für meine Urgroßeltern tätig. Mein Vater gestattete ihm nach und nach Einblick in die verschiedenen Geschäftsbereiche. Duschl hat nie geheiratet, nur gearbeitet. Er war immer da, wenn mein Vater und meine Mutter etwas brauchten.«

»Ihre Mutter ist verstorben?«

»Ja, vor sieben Jahren. Sie lebte zuletzt an der Côte d’Azur, war versorgt. Beim Baden ist sie ertrunken. Es war ein Herzinfarkt. Sie ist auf dem Friedhof in Kreuth begraben. Das hatte Duschl damals organisiert, gegen den Willen meines Vaters. Aber da war der Duschl sehr … wie soll ich sagen … durchsetzungsstark.«

»Waren Ihre Eltern geschieden?«

»Nein, natürlich nicht. Nicht in dieser Generation und in diesen Kreisen.« Sie grinste kurz und bitter. »Nein, mein Vater und sie hatten sich auseinandergelebt, wie man heute so sagen würde.«

»Und auch solche sehr privaten Dinge hat Herr Duschl geregelt? Das ist ja durchaus außergewöhnlich angesichts der Größe des Valepp-Unternehmens.«

»Es war vor allem unprofessionell.«

»Warum haben Sie das elterliche Unternehmen nicht übernommen?«

Hartls Gesicht versteinerte. »Ist das für das Auffinden von Herrn Duschl relevant?«

Sie sah ihn jetzt direkt an. Es war ein kalter, sehr abschätziger Blick. Er schien auf dem richtigen Weg zu sein.

»Bis 1989 umfasste unser Familienbetrieb vier große Bereiche: Forst, Kies, Brauereiwesen und natürlich Immobilien. Duschl hat sich über die Jahre in all diese Felder auf sehr beeindruckende Weise eingearbeitet und Mitstreiter nicht so geschätzt. Aber er war ja auch eine Zeit lang erfolgreich.«

»So?«

»Ja, für jemanden, der nicht einmal studiert hatte.«

Quercher spürte die flüchtige Arroganz, die in diesem Satz lag. Auch er hatte nicht studiert, eine Wunde, von der aber niemand wusste. »Duschl war außerdem für den Verkauf einer sehr lukrativen Sparte in den Neunzigern verantwortlich. Las ich zumindest im Internet.«

»Ja, für den Verkauf unserer beiden Brauereien an einen multinationalen Konzern aus den USA. Das war notwendig geworden. Mein Vater hatte latente Liquiditätsengpässe.«

»Lief der Kiesabbau schlecht?«, fragte Quercher bewusst naiv.

»Nein, es mussten aus privaten Gründen größere Summen zur Verfügung gestellt werden. Aber danach ging alles seinen geregelten Weg. Ich kann Ihnen darüber nicht so viel sagen, weil mein persönlicher Fokus zu diesem Zeitpunkt auf der Ausgestaltung meiner eigenen Wege lag. Familiendinge waren da nicht so wichtig.«

Quercher war erstaunt, wie sehr man einfache Dinge kompliziert und verklausuliert formulieren konnte, um seine Emotionen nicht zu zeigen. »Was sagt denn Ihr Vater dazu? Weiß er, dass Duschl verschwunden ist? Man sagte mir, dass er sehr krank sei.«

»Ja, mein Vater wird sterben. Wann, weiß man nicht.« Sie hielt inne.

Anscheinend wollte sie dieses Thema nicht so ausführlich behandeln, dachte Quercher. »Woran leidet er?«, hakte er dennoch nach.

»Er ist achtundachtzig Jahre alt. Seit fünf Jahren hat er Parkinson. Bis auf wenige wache Momente dämmert er dahin. Er zerfällt, wenn Sie so wollen. Duschl hat ihn vor wenigen Wochen in ein Pflegeheim nach Kreuth bringen lassen. Dort lebt er jetzt oder wartet auf den Tod, je nach Sichtweise.«

»Dann hat nur Jakob Duschl einen kompletten Überblick über die Firmen Ihres Vaters?«

Sie nickte.

»Mit Verlaub, nach meinen Informationen besitzt die Familie von Valepp mehrere Tausend Hektar Wald und ist damit der drittgrößte Waldbesitzer in Deutschland. Das sind doch gigantische Aufgaben. Die kann ein Mensch allein nicht organisieren oder überblicken. Hatte Herr Duschl eine Vollmacht für all diese Geschäfte?«

Wieder nickte sie aufmunternd, so als sei er auf eine richtige Spur getroffen. »Er hatte Prokura für alles. War zeichnungsberechtigt. Konnte kaufen und verkaufen. Mein Vater wollte es so.«

»Und Sie? Hatten oder haben Sie Rechte oder zumindest einen Zugang, zum Beispiel zu Konten und Daten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat sehr viel Wert darauf gelegt, dass Herr Duschl diesen exklusiven Zugang hatte. Wir Kinder hatten nie die Möglichkeit, uns da hineinzubegeben.«

»Ich möchte nicht zu schroff wirken. Aber wäre es möglich, dass Duschl noch lebt und sich mit dem Geld Ihrer Familie ein feines Leben macht?«

»Ach nein, das halte ich für ausgeschlossen. Jakob Duschl ist nicht so konstruiert. Sein Leben war das der Familie von Valepp. Es gab nichts anderes.«

»Wo wohnt er?«

»In einem kleinen Haus zwischen Kreuth und Bad Wiessee. Jeden Tag fuhr er zum Haus meines Vaters, setzte sich ins Büro und arbeitete dort die Aufgaben ab. Es gab für ihn kaum einen Feiertag. Krank war er nie. Nur an einem Tag in der Woche fuhr er nach Schliersee zu seiner Mutter. Die starb aber auch vor drei Jahren. Das war sein Leben.«

»Wer führt jetzt die Geschäfte?«

»Keiner. Ich werde die rechtliche Betreuung meines Vaters bis zu seinem Tod beantragen. Auch wenn diese Aufgabe nicht leicht werden wird. Morgen werde ich in das Büro meines Vaters gehen und mir einen Überblick verschaffen. Es müssen Gehälter und Rechnungen bezahlt werden. Über zweihundert Menschen arbeiten direkt und indirekt für unsere Familie. Allein in der Forstwirtschaft sind es bestimmt achtzig Menschen. Wollen Sie mich dabei vielleicht begleiten?«

Das kam überraschend für Quercher. Madame gab den kleinen Finger der Kooperation. Nicht dumm, dachte er.

»Ja, gern. Ich würde mich vormittags allerdings gern noch mit den Kollegen aus Miesbach zusammensetzen, um zu erfahren, was die Ermittlungen bislang ergeben haben. Wenn es Ihnen passt, wäre ich um vierzehn Uhr bereit?«

Er erhob sich. Draußen dämmerte die Abendsonne hinter den Bergen im Westen. Ein müder Spätsommerabend würde seinen Anfang nehmen. Er wollte noch einmal schwimmen gehen, um dann die Akten, die Gerass ihm gegeben hatte, zu studieren.

»Eins noch, Frau Hartl. Gehört Ihnen das Haus hier?«

»Dient das dem Auffinden von Herrn Duschl?«

»Nicht direkt. Aber mit einem Ja oder Nein hätten Sie jetzt nicht meine Aufmerksamkeit geweckt.«

Sie lächelte und strich mit ihrer Zunge kurz über ihre Lippen, wie ein Tier, das sich auf das Fressen freute. »Es gehört meinem Vater, aber ich habe es bezogen. Natürlich mit seinem Wissen und seiner Zusage. Sie wissen, wo das Anwesen meines Vaters ist?«

»Wer wüsste das nicht? Jeder hier kennt Schloss Valepp in Rottach-Egern.«

»Es ist kein Schloss, aber ein ganz anständiges Anwesen.«

»Natürlich. Anständig. Das trifft es.«

Sie reagierte nicht auf seinen Sarkasmus. Stattdessen trat sie mit ihm in die Abendsonne vor der Haustür. »Gehen Sie jetzt schwimmen?«, fragte sie unvermittelt.

»Äh, warum? Also, ich wollte, also … aber ich würde sonst …« Er wurde rot.

Sie lächelte. »Ein Ja oder Nein hätte genügt.«

Er war erleichtert, als er zu der hechelnden Lumpi ins Auto steigen und über die Kieseinfahrt wieder davonfahren konnte. Quercher verzichtete auf das Bad und hielt stattdessen an einer Werkstatt, nicht weit entfernt von seinem Haus in Bad Wiessee.

Hans Birmoser hatte mehrere Jahre in Kanada gearbeitet und vor einiger Zeit die lange verwaiste Schreinerei seines verstorbenen Cousins übernommen. Im Augenblick war er dabei, seinen Transporter auszuräumen.

Quercher kannte den Mann gut. Sie hatten in der Jugend zusammen Fußball gespielt, kamen beide aus wenig betuchten Familien und waren eher eigenbrötlerisch. Auch Birmoser hatte einen bayerischen Gebirgsschweißhund, allerdings einen Rüden. Lumpi sprang schwanzwedelnd aus dem Wagen und beschnupperte den unbekannten bellenden Hund.

Quercher grüßte. »Servus, hast Feierabend?«

Birmoser nickte und deutete auf einen anderen Schreiner, der im Türrahmen der Werkstatt stand. »Ihr kennt euch, das ist der Lercher Peter. Peter, das ist der Quercher Max. Du hast ihm mal in der Jugend die Beine weggetreten, als es gegen Kreuth ging.«

Der Angesprochene grinste breit, griff in eine Holzkiste, die er in der Hand hielt, und warf eine Eisenplatte zu Quercher. Der reagierte schnell und fing das Metall auf.

Das viereckige Stück war ein Plattl. Der wichtigste Bestandteil eines Spiels, das hier im Tal meist nur Handwerker spielten: Steckäplattln. Es war dem Boccia oder Hufeisenspiel ähnlich. Zwei Mannschaften warfen Eisenstücke in ein Feld. Ziel war es, einen dreizehn Meter entfernten Holzquader zu treffen oder ihm wenigstens nahe zu kommen. Viele der Beteiligten entwickelten dabei einen ungeahnten Ehrgeiz. Der sonst so ruhige Talbewohner konnte in diesen Momentan ausgesprochen giftig werden. Und deshalb war der Meterstab ein häufig gebrauchtes Hilfsmittel zur Feststellung des Siegers.

Quercher, sonst Sport und einheimischen Traditionen eher abgeneigt, hatte eine gewisse Begabung für dieses Spiel. Zudem wurde viel gefrotzelt. Da Handwerker rechte Tratschen waren, erfuhr man bei solchen Treffen meist, was im Tal jenseits der offiziellen Meldungen so vor sich ging.

»Spielst mit?«

Quercher nickte.

Kapitel 4

Tegernsee, unterhalb des Riedersteins, 16.08., 17.45Uhr

Das Mädchen hatte blaue Lippen, zitterte und lachte. Der Vater hatte es endgültig aus dem Wasser beordert. Mit einem Frotteehandtuch hatte er seine Tochter trocken gerubbelt, sie danach in den Arm genommen und ihr einen Kuss gegeben. Das Mädchen verzog das Gesicht.

»Kommt«, sagte die Mutter, eine kleine Frau mit einem Pferdeschwanz und einem Bauch, der seit der Schwangerschaft vor sechs Jahren nicht mehr weichen wollte und jetzt über dem Saum ihres Bikinis lag.

Auch der Mann hatte seinen Körper nicht mehr ganz unter Kontrolle. Dennoch liebten sie sich. Ihre Tochter war der Beweis dafür.

Dank heimlicher Schwarzarbeiten am Wochenende hatten sie die notwendigen finanziellen Mittel, um sich den ganzen Sommer über eine kleine Wohnung in Gmund leisten zu können. Das war seine Idee gewesen. In München, wo sie am Stadtrand lebten, war es jetzt kaum auszuhalten. Die Luft war stickig, an der Isar war es überlaufen und die Schwimmbäder platzten wegen der Sommerferien aus allen Nähten.

»Zeit zum Abendessen«, rief die Frau.

Vater und Tochter machten eine Grimasse.

»Keine Widerrede, es gibt Nudelsalat und Würstchen.«

Die Kleine kreischte vor Glück.

Sie packten ihre Sachen in den Wagen und fuhren zurück nach Ostin.«Willst du noch einmal laufen gehen?«, fragte die Frau, als sie einen Verkehrskreisel passierten.

Der Mann nickte. Er war Feuerwehrmann, seine Kondition war ihm wichtig. Bei den zum Teil anspruchsvollen Prüfungen wollte er mit seinen neununddreißig Jahren nicht schwächeln. »Ich laufe heute an der Weissach in Kreuth. Da ist es halbwegs flach. In zwei Stunden bin ich wieder da.«

Die Frau war ein wenig enttäuscht, dass er nicht zum Abendessen da sein würde. Aber sie hatte früh verstanden, dass ihr Mann nach einem Familientag Freiräume brauchte. Sie ließ ihn dann gehen. Hinterher kam er entspannt und meist sehr glücklich wieder heim.

Zu Hause angekommen, deponierte er die Kühltasche, die Badematten und den Sonnenschirm im Flur. Es sah ein wenig wild aus, die Wohnung besaß kaum Stauraum. Er küsste seine Frau zum Abschied, griff ihr an den Po und grinste.

Nicht einmal zwanzig Minuten später hatte er seinen Wagen bei Glashütte, einem Kreuther Ortsteil, abgestellt und war hinauf in den Wald gelaufen.

Es war die Matte vierundzwanzig. Er hatte sie durchnummeriert. Nichts würde von ihnen übrigbleiben. Diese dreifach gepressten Planen saugten Flüssigkeiten jeder Art auf und speicherten sie. Meist kamen sie bei Chemieunfällen zum Einsatz. Diese hier sollten eigentlich vernichtet werden, weil der TÜV sie als nicht zuverlässig eingestuft hatte. Die Entsorgung der Matten war sein Job. Und den erledigte er auch. Nur nicht so, wie es sich sein Vorgesetzter gewünscht hätte.

Der Mann hatte den ganzen Sommer über sein Zielgebiet mit Ruhe und Bedacht ausgesucht, präpariert und sich mit den zu erwartenden Reaktionen beschäftigt. Jetzt war er fast am Ende seiner Arbeit. Die Matten, kaum größer als eine Schreibtischplatte, lagen in Mulden unter angehäuften Reisighaufen.

Die ersten Zünder würden drüben zwischen Mitteralm und Bodigbergalm von ihm aktiviert werden. Der Wind würde das Feuer wie ein Fön nach Norden treiben, in das Tal hinein. Dann, wenn die Kollegen mit massivem Hubschraubereinsatz löschen würden, würden seine Brandnester an den Südhängen unterhalb des Buchstein und des Roßsteins losgehen. Der kleine Talfortsatz, der Bayerwald, würde mit seiner Mikrothermik, so glaubte er, den Wind und die Wärme wie ein Kamin noch weiter nordwärts schieben. Das Feuer könnte dann über die Kuppen rauschen und wäre nicht aufhaltbar.

Das war sein Testament!

Feuer hatte ihn schon immer fasziniert. Als Bub war er im Heim oft allein gewesen. Dann hatte er den Spiritus, den der Hausmeister für den Grill bereitgelegt hatte, genommen und damit gespielt. Hatte den Alkohol über die Ameisenstraßen gegossen, das Streichholz entzündet und sich an den schnell verkokelnden Insekten gelabt. Bald hatte ihm das nicht mehr gereicht. Also fing er Mäuse, später zündete er zwei kleine Katzen an. Nie hatte jemand etwas gemerkt.

Sein erstes großes Feuer hatte er in einem Kuhstall in Bayerischzell gelegt. Er hatte in einem Graben gelegen, dem Schreien der Viecher und dem Knistern des Brandes zugehört und sich an den Flammen erfreut. Alles leuchtete, roch und verging. Und wieder kam ihm keiner auf die Schliche.

Nach einer Lehre bei einem Heizungsbauer im Tegernseer Tal bewarb er sich bei der Feuerwehr in München. Im zweiten Anlauf hatte es geklappt. Aber die wenigen Brände in der Stadt befriedigten ihn nicht. Ein Meisterstück musste her. Denn das Leben, das er sich all die Jahre erhofft hatte, würde nicht eintreten. Es hätte sein Wald werden sollen. Aber das würde nicht mehr geschehen.

Lieber brennen als vergehen, hatte sein Lieblingssänger Neil Young gesungen.

Acht Wochen Trockenheit. Das war schon einmal eine großartige Voraussetzung. Es fehlte nur noch ein Tiefdruckgebiet in Italien, das den Regen und die Kälte gegen die Südseite der Gipfel treiben und so den Föhn, den warmen Wind aus den Bergen, entfachen würde. Das war der Beschleuniger, den er brauchte, um das Tal zu entzünden.

Aber er hatte es nicht eilig. Die Meteorologen hatten von einem sich langsam anbahnenden Tief über Spanien gesprochen, das ostwärts zog, sich über dem Meer mit Feuchtigkeit aufsaugen und in der Poebene für lang anhaltende Regenfälle sorgen würde.

Kapitel 5

Bad Wiessee, 16.08., 19.48Uhr

Sie hatten drei Bahnen gespielt. Neben Lercher, Birmoser und Quercher hatten sich noch der Beni aus Abwinkel und der Rentner Gerd Ruschel eingefunden. Es waren knappe Partien. Lercher, ein äußerst ehrgeiziger Spieler, wurde von Birmoser und Quercher schwer gefoppt. Der Schreiner konnte nicht spielen, wenn ihn jemand von der Seite ansah. Fuchsteufelswild warf er die Eisen dann zuweilen weit vom Holzblock entfernt in den Boden. Genau von solchen Dingen lebte das Spiel. Eigentlich gab es nur zwei Gruppen: Jene, die das Spiel als solches betrachteten und ihre Gaudi haben wollten. Und jene, die es mit heiligem Ernst betrieben und somit Opfer von Spott und Stichelei wurden.

Quercher saß mit Lumpi auf einer alten Holzbank und trank ein Tegernseer Bier. Birmoser hatte einen kleinen wackeligen Grill aufgestellt und legte mehrere Würstchen auf den Rost.

»Kennst du die Familie von Valepp?«, fragte Quercher, während er seiner Hündin eine halbe Wurst zuwarf, die sie gekonnt und ohne sich wesentlich zu bewegen verschlang.

»Ja, klar. Den alten Franz und seine beiden geilen Töchter. Warum?«

»Ich bin hier aufgewachsen und kenne die überhaupt nicht. Warum weißt du so genau über die Bescheid?«

»Mei, das sind die größten Waldbesitzer hier. Mindestens die Hälfte des Waldes um den See herum bis in das Tal der Valepp gehört denen. Der Alte wohnt ja schon lange hier. Aber die Töchter waren immer in München. Ich kenne die nur von irgendwelchen Jagdempfängen, wo sie auftreten mussten. Die Ältere ist ein hartes Luder, ein Biest. Hat nie gelacht. Die ist in München zur Schule gegangen und hat dann irgendwo im Ausland studiert.«

»In was für Kreisen du so verkehrst. Soll ich dich von Birmoser nennen?«

»Durchlaucht reicht. Nein, die Regina hatte einen Mann, der auch Jäger war. Den habe ich mitgenommen, wenn er auf Gemsen gehen wollte. Netter Kerl. Etwas scheu. Aber der hat mir ein wenig von der Familie erzählt. Für den war ich nicht nur ein Jagdangestellter.«

»Sind die so hochnäsig?«

Birmoser zuckte mit den Schultern. »Der alte Franz ganz sicher. Die Töchter auch. Aber die Mutter, die war …« Er grinste.

»Ist das die Frau mit dem Hang zum Personal?«

Birmoser lachte und grinste. »Genau. Ein riemiges Ding, kannst schon sagen.«

»Hat die auch hier gewohnt?«

»Nein, die kam immer nur, um den Alten zu ärgern, die Kohle abzugreifen und dann wieder zu verschwinden. Zwischendurch hat sie sich ein paar Jungs gegriffen, ist mit denen in die Jagdhütten des Alten und hat sie rangenommen. Man könnte es sicher auch netter sagen. Aber am Ende war es so.«

»Durftest du auch mal?«

»Ich war der zu dick.«

»Ein seltenes Exemplar realistischer Selbsteinschätzung.«