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Es ist Sommer am Tegernsee – und es regnet aus allen Kübeln. Die Mangfall, der Abfluss des Sees, färbt sich rot. Vorzeichen oder schlichte biologische Reaktion? Quercher, Expolizist vom LKA, ist so gut wie pleite. Ein Auftrag soll ihn auf die Beine bringen. Die Angehörigen eines RAF-Opfers haben neue Hinweise auf den Täter, wollen Quercher als Ermittler, weil sie an den Staat nicht mehr glauben. Quercher taucht in die Vergangenheit Westdeutschlands ein, erfährt von Verstrickungen enger Freunde beim LKA und reicher Strippenzieher vom See. Und plötzlich steckt er inmitten eines teuflischen Rachefeldzugs verschiedener Gruppen. Es geht um Leben, Tod und alte Rechnungen. Und aus der Mangfall wird bald wirklich ein Blutfall …
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Seitenzahl: 322
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Es ist Sommer am Tegernsee – und es regnet aus Kübeln. Die Mangfall, der Abfluss des Sees, färbt sich rot. Vorzeichen oder schlichte biologische Reaktion?
Max Quercher, Expolizist vom LKA, ist so gut wie pleite. Da kommt ihm ein lukrativer Privatauftrag nicht ungelegen: Die Angehörigen eines RAF-Opfers haben neue Hinweise auf den Täter, wollen Quercher als Ermittler, weil sie an den Staat nicht mehr glauben.
Quercher taucht in die Vergangenheit Westdeutschlands ein, erfährt von Verstrickungen enger Freunde beim LKA und reicher Strippenzieher vom See. Und plötzlich steckt er inmitten eines teuflischen Rachefeldzugs verschiedener Gruppen. Es geht um Leben, Tod und alte Rechnungen. Und aus der Mangfall wird bald wirklich ein Blutfall …
Martin Calsow wuchs am Rande des Teutoburger Waldes auf. Nach seinem Zeitungsvolontariat arbeitete er bei verschiedenen deutschen TV-Sendern. Er gehört der Jury des Grimme-Preises an und lebt heute mit seiner Frau am Tegernsee und in den USA.
Quercher und der Blutfall ist der fünfte Band einer Serie, in der der sperrige LKA-Beamte Max Quercher im Fokus steht. In einer weiteren Romanreihe des Autors agiert der schweigsame, leicht autistische Undercover-Ermittler Andreas Atlas als Protagonist.
www.martin-calsow.de
Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buchs befindet sichmein Kollege, der Journalist Deniz Yücel, in türkischer Haft.Auch wenn das für die Regierung der Türkei eine Überraschung ist: Journalismus ist kein Verbrechen und Deniz Yücel kein Terrorist.#freedeniz
Martin Calsow
Für Insa
Es war noch Nacht, als er seine letzte Übung, den herabschauenden Hund, machte. Danach duschte er, zog sich wieder an, trank einen letzten Schluck grünen Tee und griff nach seiner Reisetasche. Anschließend schlug er den Mann, der den Eingang zum Haus kontrollierte, tot. Genauer: Er versetzte ihm einen Schlag gegen die Schläfe und drehte dann seinen Hals, bis der oberste Wirbel brach. Den Körper verstaute er in der kleinen Kammer mit den Putzmitteln und stützte ihn mit einem Plastikmob.
Letztlich war es wie bei den Hunden: Hatten die einmal einen Menschen gebissen, waren sie verloren. Der Geschmack von Blut, das Gefühl von Macht, ließen sie nie mehr gehorchen.
Er hatte vor mehr als dreißig Jahren ein ähnliches Erlebnis. In einer Autobahnunterführung hatte man ihm die Heckler & Koch in die Hand gelegt und er hatte abgedrückt. Der Sound war unbeschreiblich. Der leichte Rückstoß, das Zersplittern des Betons. Darauf war er nicht vorbereitet worden.
Danach war alles anders. Eine Neugeburt.
Dieses Gefühl war in all den Jahren auf der Insel nicht verloren gegangen, nur in einer Schublade aufbewahrt worden.
Er hatte Wochen der stillen Planung hinter sich. Viel Zeit war ihm nicht geblieben. Die Genossen schienen ihn aufgespürt zu haben. Oder man hatte ihn verraten. Oder einer hatte gequatscht. Oder er war ein Lockvogel. Egal. Man hatte ihn offensichtlich wieder im Visier. Aber er würde nicht warten wie ein dämliches Schaf, bis jemand auf einen Knopf drückte oder einen Lauf an seinen Hinterkopf presste. Er würde agieren, nicht reagieren.
Unten, in der kleinen, kaum beleuchteten Straße vor seinem Haus, stand ein Auto. Darüber lag die Wohnung seiner ›Aufpasser‹. Er kannte ihre Abläufe besser als sie seine.
Den Bärtigen, einen Ostdeutschen, passte er hinter einem Container mit Bauschutt ab. Gleiche Methode wie bei dem ersten Typen: Schlag, Knacken und Verstauen. Als er sich jedoch dem letzten der drei Männer zuwenden wollte, die auf ihn angesetzt worden waren, hatte er unvorsichtigerweise eine Flasche übersehen und dagegengetreten. Der Mann hatte sich gerade zu einer Steckdose gebeugt, um sein Telefon aufzuladen. Er wehrte sich und musste mit dem Kabel um den Hals sterben.
Dann konnte Rüdiger den Heimweg antreten.
Er hatte den schmalen Mann in den Ruinen entdeckt. Wie ein wirrer Kranich war der Fremde zwischen den Überresten längst vergangener Zeiten umhergewandert, in der Hand einen Reiseführer und auf dem Rücken einen grauen Rucksack. Wie er selbst war auch der andere hager, mit straßenköterblonden Haaren geschlagen und groß gewachsen.
Alles stimmte.
Das war gut für ihn, schlecht für den Unbekannten.
Er hatte ihn angesprochen und schnell gemerkt, dass der Hagere die Gesellschaft anderer Männer schätzte. Sie plauderten über den schlechten Zustand der Ausgrabungsstätte, fanden einander sympathisch. Der Mann stellte sich als Joachim Kutscher vor. Er selbst nannte ihm den Namen eines ehemaligen Kollegen. Als sie zurück zum Ausgang wanderten, erzählte er Kutscher von seinem Missgeschick.
Sein Auto sei geklaut worden. Jetzt müsse er den Bus nach Neapel nehmen. Sofort bot Kutscher an, ihn in seinem Wagen, einem Alfa Romeo, mitzunehmen. Kaum hatte er Platz genommen, spielte Kutscher eine Puccini-Arie. Unter ihnen das Meer, rechter Hand der Vesuv. Die Sonne ging unter. Sie begeisterten sich so sehr für die Musik, dass sie sich für den Abend zu einem Besuch des Teatro di San Carlo, des mit dreitausenddreihundert Plätzen jahrelang größten Opernhauses Europas, verabredeten. Das stellte eine echte Hürde für ihn dar. Zum einen hatte er Mühe, so spät in einem Geschäft mit den letzten Euros, die er besaß, einen anständigen Anzug zu kaufen. Zum anderen würde er danach kein Geld mehr für die Eintrittskarte haben. Aber lieber setzte er alles aufs Spiel, als seinen Plan aufzugeben.
Kutscher schien sich wie ein Kind über die Begleitung zu freuen, hatte schon zwei Karten besorgt und riss ihm nach der Begrüßungsumarmung diskret das Etikett am Kragen des neuen Anzugs ab. Zweimal berührten sich ihre Hände einen Hauch länger als üblich.
Das erste Mal zog er schüchtern seine Hand wieder zurück. Beim zweiten Mal blieb sie etwas länger und zauberte so ein Lächeln auf Kutschers Lippen im Halbdunkel der mit rotem Samt bespannten Loge, nicht weit vom Orchestergraben entfernt.
Nach einer berauschenden Aufführung hatte Kutscher darauf bestanden, ihn zu einem späten Abendessen einzuladen. Für jemanden, der drei Tage so gut wie nichts zu sich genommen hatte, war das gefährlich – er musste sich beim Essen vornehm zurückhalten, um nicht negativ aufzufallen. Aber Kutscher ließ sich nicht lumpen und orderte ein Fünf-Gänge-Menü.
Er hatte erfahren, dass Kutscher noch drei Wochen in Süditalien verbringen wollte, ehe es zurück nach Berlin gehen sollte. Dort arbeite er, so erzählte er im Plauderton und mit einem scheuen Lächeln, als freier Konzertpianist. Aber die Saison beginne für ihn erst im Oktober.
Und er hörte zu, saugte alles auf, fragte, in welchem Hotel Kutscher wohne und ob er es empfehlen könne. Fragte nach seinen bisherigen Urlaubserlebnissen und ließ sich so lange Selfies von einem dämlich grinsenden Kutscher vor nicht enden wollenden Ruinen zeigen, bis er Kutschers Handycode kannte. Fragte nach der Familie, die nicht vorhanden, und nach Freunden, deren Anzahl überschaubar war. Jedes noch so kleine Detail war ihm wichtig. Zudem studierte er Stimme und Gesten.
Auf der Rückfahrt zum Hotel, dessen Adresse er nahe dem Museo di Capodimonte angab, bat er Kutscher, an den Rand eines Parks zu fahren und auszusteigen. Kutscher schien zu verstehen und das auch nicht zum ersten Mal zu machen. Erst als er zwischen zwei Pinien vor seiner neuen Bekanntschaft niederkniete, bemerkte Kutscher, wie absurd das alles war: der Fremde, die unbekannte Gegend … Aber der Rotwein, die süditalienische Luft und der erlebnisreiche Tag machten ihn arglos.
Ein Fehler.
Denn anstatt seine Hose zu öffnen, hatte er schon das Messer gezogen, Kutschers Kopf nach unten gedrückt, die Klinge in den Bereich unterhalb des Atlaswirbels gestoßen und einmal kräftig gedreht.
Kutscher hatte versucht, zappelnd den Kopf wieder nach oben zu reißen. Aber die Klinge in seinem Rückenmark ließ das nicht zu. Sein Körper vibrierte. Die Füße schlugen auf und ab. Das Messer durchtrennte sofort die lebensnotwendigen Stränge des zentralen Nervensystems. Der Tod trat nach wenigen Sekunden ein.
Er hatte darauf geachtet, keine Vene zu treffen, sodass die Kleidung kaum von Blut beschmutzt wurde. Er zog Kutschers Smoking an, legte über die blutigen Stellen im Kragenbereich einen Schal, hievte den Nackten in den Kofferraum des Alfa Romeos und schlug anschließend mit einem tiefen Seufzer die Klappe über ihm zu.
Kutscher war Vergangenheit.
Aber als er schließlich am Steuer saß und auf einer Schnellstraße in den Süden der Stadt fuhr, rumpelte es plötzlich im Kofferraum. Das konnte nicht sein! Er hatte in den letzten Jahren doch nicht all seine medizinischen Fähigkeiten verloren!
Hektisch suchte er eine abgelegene Straße, diesmal am Hafen, sprang heraus, riss den Kofferraum auf und sah in weit aufgerissene Augen. Nach einigen Momenten der Panik reagierte sein Verstand wieder. Der neue Kutscher wusste, dass der bereits hirntote alte Kutscher nur noch wenige neurologische Bewegungen machte. Mit dem letzten Aufgebot an Geduld wartete er also auf das finale Zucken. Dann schloss er endgültig den Kofferraum.
Als er eine halbe Stunde später in dem Hotel ankam, nickte ihm der Concierge an der Rezeption nur müde zu. Nachdem es ihm daraufhin gelungen war, sich mithilfe der Schlüsselkarte aus der Innentasche von Kutschers Smoking Einritt in das Zimmer seines Opfers zu verschaffen, wusste er endgültig, dass er als Joachim Kutscher nach Deutschland zurückkehren würde.
Der neue Kutscher checkte am nächsten Tag aus, verließ Neapel über Landstraßen, mied, auch wenn es viel Zeit kostete, die mautpflichtigen Autobahnen und hielt erst südlich von Rom an. Er hatte genug Zeit gehabt, um sich über die Entsorgung der Leiche Gedanken zu machen. Ein See sowie das Meer waren nicht geeignet. Taucher oder Strömungen würden den Toten schneller, als er es gebrauchen konnte, zurück ans Tageslicht bringen. Vergraben an Stellen, die er nicht kannte, war ebenfalls zu risikoreich. Ein Hund, ein idiotischer Schatzsucher oder irgendein anderer zufälliger Buddler könnten ihm in die Quere kommen. Und dann wäre er zum Handeln gezwungen. Doch eine Leiche reichte für den Moment.
In der Abenddämmerung stellte er den Alfa in einer Wohngegend nahe dem römischen Flughafen ab, ging anschließend zu Fuß zu der nahe gelegenen Schnellstraße, wo er ein Taxi anhielt und in die Innenstadt fuhr, um dort mit Kutschers Kreditkarte und Pass in einem Hotel einzuchecken. Er schlief lange und ausgiebig, ließ sich das Frühstück aufs Zimmer bringen, ehe er mit gefülltem Bauch und halbwegs zufrieden über den bisherigen Verlauf seines neuen Daseins eine Stadttour mit einem Doppeldeckerbus machte. Er knipste mit Kutschers Handy Fotos. Später, zurück im Hotelzimmer, scrollte er durch Kutschers Mails, las sie und sandte Menschen, die er nicht kannte, die er aber anhand der WhatsApp-Historie als Kutschers Freunde identifizierte, die Bilder aus Rom. Am nächsten Tag ließ er sich von einem Taxi zu dem zurückgelassenen Alfa fahren. Er war, wie erwartet, gestohlen worden. Die Gegend hier war das Gebiet von Kriminellen. Sie hatten den Wagen wahrscheinlich kurzgeschlossen, unmittelbar nachdem er ihn abgestellt hatte, und ihn benutzt, bis jemand den Kofferraum geöffnet und Panik bekommen hatte. Wenn es besonders gut für ihn laufen würde, hatten sie den Wagen längst verschwinden lassen.
Was jetzt noch fehlte, war gleichzeitig der heikle Teil seiner Mission. Der Taxifahrer musste ihn zu einer Polizeistation fahren. Dort zeigte er den Reisepass sowie die Fahrzeugpapiere vor und meldete das Auto als gestohlen. Die Beamten in ihren schicken Uniformen nahmen alles gelangweilt zu Protokoll, gaben ihm die Unterlagen für die Versicherung mit und wünschten ihm eine gute Reise.
Dann fuhr er mit dem Zug weiter. In Rosenheim stieg er aus, kaufte ein Auto, rief bei ihr an und verkündete seine Ankunft für den nächsten Tag.
Sie schien sich zu freuen. Er würde ihr helfen, sie ihm.
Von dort aus würde er ihn beobachten, ihn in aller Ruhe studieren und auf ihn warten. Er würde endlich das Verderben über Max Quercher bringen.
»Du hast Gurke und Grünkohl zu einem Smoothie geschreddert?«, fragte Max Quercher ungläubig.
»Das ist gesund«, antwortete Regina aus der Küche.
»Ja, aber auch eklig.«
»Du salzt dich am Morgen auch nicht ab. Dann müssen wir das eben mit einem grünen Smoothie wieder wettmachen.«
Regina von Valepp lächelte. Aber es war alles andere als ein liebenswürdiges Lächeln. Für Max Quercher waren gemeinsame Frühstücke mit seiner Freundin eine Herausforderung, sowohl kulinarisch wie auch zwischenmenschlich. Schliefen sie bei ihm, gab es Kaffee und Semmeln, vielleicht einen Honig aus biologischem Anbau. Anders war es, wenn er bei Madame nächtigte. Dann brach am Morgen mit aller Macht der Wellness-Taliban aus ihr heraus. Sie lebten noch immer in getrennten Häusern. Sie fand, dass er eine Lebenskrise durchmachte, und er fand, dass sie Gesundheit zu einer neuen Religion erhoben hatte. Selbst Lumpi, die Hundedame, blieb auf ihre alten Tage davon nicht verschont. Regina kredenzte ihr biologisch dynamisches Fressen mit »Grünzeug drin«, wie er es leise verächtlich nannte, dessen Preis dem Wochenlohn eines Spargelstechers entsprach.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht trank Quercher die grüne schleimige Brühe. Vor ihm stand noch ein kalorienarmer Quark mit Chia-Samen und glibberigen Goji-Beeren.
Regina setzte sich neben ihn und schlug eine Wirtschaftszeitung auf. »Ist gut für die Verdauung. Im Alter fällt das Männern ja schwer. Und es ist gut für die Prostata. Da sind auch viel Proteine drin.«
»Ja, Waterboarding spült ja auch die Gehörgänge gut durch, viel gesünder als Ohrenstäbchen.«
Sie sah über ihre Zeitung hinweg. »Jedenfalls wirst du heute zur Abwechslung keine Blähungen haben. Wir sind übrigens zum Abendessen verabredet.«
»Ich hatte dir einen Termin geschickt, den hast du angenommen.«
»Sind das diese seltsamen Kästchen auf dem Computerbildschirm, rechts oben?«
»Ja, willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir essen bei Isolde von Scheven.«
Quercher verdrehte die Augen. Er wusste, was auf ihn zukam. Von Scheven war überzeugte Tierfreundin und Vegetarierin. Das hieß: Monologe über geschundene Tiere und dazu fades Gemüse, meist völlig zerkocht. Das Problem mit dem Adel war, fand Quercher, dass zu lange andere für ihn gekocht hatten. Die eigenen Hände zu gebrauchen, war noch nicht lange Standard in diesen Kreisen. Aber das behielt er für sich. Denn seine erprobte Devise war: Maximal eine Front pro Tag mit der Blaublutfreundin – alles andere grenzte an Selbstmord. Mehrfrontenkriege mit der Geliebten endeten in schlimmen Niederlagen beziehungsweise Friedensvorschlägen seinerseits. Er konnte nicht ansatzweise so stur wie Regina sein.
»Isolde hat erst ihre Sitzung mit dem Vorstand der Schutzkommission. Danach essen wir nur einen kleinen Happen und du leihst deinen kompetenten Verstand ihrem Sohn. Sei so lieb. Ich habe es ihr versprochen.«
Quercher verdrehte genervt die Augen. »Geht es etwa immer noch um das RAF-Attentat? Mein Gott, was soll ich denn dazu beitragen? Das ist doch schon vom LKA, vom BKA und von was weiß ich wem ausführlich auseinandergenommen worden.«
»Was weißt du denn sonst noch darüber?«, fragte Regina.
»Na ja, ich war damals ja noch gar nicht bei der Polizei und kenne die Geschichte eigentlich nur von Ferdi, der war zu der Zeit schon beim LKA … oder war es der Verfassungsschutz? Egal. Ich war jedenfalls sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Die von Schevens haben seinerzeit noch in der Villa in Finsterwald gewohnt, nicht wie jetzt im Tal. Er gehörte zu den sogenannten gefährdeten Personen, weil er in der Atomindustrie irgendwie ein hohes Tier war. Solche Leute hat die Rote Armee Fraktion ständig im Visier.
An besagtem Morgen wurde er wie immer von seinem Fahrer abgeholt. Beim Einsteigen hat ihn jemand angesprochen und daraufhin erst ihn und dann den Fahrer abgeknallt. Die Sache ist nie aufgeklärt worden. Die Täter haben jedoch aus irgendeinem Grund von Schevens Aktentasche mitgenommen. Das war dann im Nachgang des ganzen Dramas das große Mysterium. Aber ich habe mich nie intensiver mit dem Fall auseinandergesetzt, die RAF, die man für die Drahtzieher hielt, war nie meine Baustelle. Linke Volltrottel mit Hang zum Größenwahn. Da gefielen mir die Araber einfach besser.«
»Der junge von Scheven hat neue Indizien, schau sie dir doch einmal an.«
»Und wo besprechen wir das?«, ätzte Quercher. »Im Bernsteinzimmer? Das hat er bestimmt auch gefunden.«
Regina musste leider lachen, ließ jedoch nicht locker. »Du musst ihrem Sohn wenigstens zuhören. Ich bitte dich darum.«
»Regina, die letzten Attentate wurden nie aufgeklärt. An der Stelle haben wir von der Staatsmacht uns nicht mit Ruhm bekleckert. Aber mittlerweile hat jeder drittklassige Journalist seine eigene Theorie zu dem gesamten RAF-Komplex. Was soll ich denn da bitte machen? Etwa meinen Exkollegen nachspüren?«
»Er hat Beweise und du kannst sie dir anschauen. Wenn dein Expertenauge das beurteilt hat, sind alle beruhigt.«
Er erhob sich stöhnend, ignorierte Reginas prüfenden Blick. Der Morgen, das war für Quercher längst das Stalingrad des Alters. Das lag sicher nicht nur an Reginas Gesundheitskreuzzügen. Auch er selbst war nicht unschuldig. Seit seiner Frühpensionierung beim LKA hatte er Verschiedenes ausprobiert: einen Job bei einer Sicherheitsberatung für eine der zahlreichen Firmen seiner Freundin bis hin zu gelegentlichem Arbeiten in der Schreinerei seines Freundes Lercher, die wenige Meter von seinem Haus entfernt lag. Der Holzkauz und sein Kollege Hans hatten ihn mit viel Geduld über Hilfsarbeiten zu einem anständigen Mitarbeiter für das Grobe herangezogen. Inzwischen durfte er alles machen, nur von der Kreissäge musste er sich fernhalten. Das war insofern natürlich ein Witz, als dass ausgerechnet Lercher, der Meister, im letzten Jahr mit seiner linken Hand in das Sägeblatt gekommen war und wochenlang krankgeschrieben war.
Mit diesen Tätigkeiten hatte Quercher den Winter überstanden. Aber letztendlich war das alles keine langfristige Lösung. Er war Ermittler, etwas anderes konnte er nicht.
Zudem war er wegen seines Hauses auf Salina unvorhergesehen in Schwierigkeiten geraten. Der italienische Staat hatte Quercher von einem Tag auf den anderen mit irrwitzigen Steuerforderungen konfrontiert, denen er nicht nachkommen konnte. Deswegen hatte er das Haus in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unter Wert verkaufen müssen, saß aber immer noch auf einem Haufen Schulden. Er redete nicht darüber. Aber Regina wusste über Ferdi Pollinger, Querchers ehemaligen Chef und heutigen Freund und Nachbarn, davon. Sie wollte Quercher helfen, doch er ließ es nicht zu. Er konnte zwar auf die Ersparnisse und die Bezüge aus der Frühpensionierung zurückgreifen, aber das reichte bei Weitem nicht aus für seinen Lebensabend. »Es sei denn, er fällt in zwei Jahren tot um«, wie Ferdi mitleidslos konstatiert hatte. Doch Querchers Arbeit in der Schreinerei warf so gut wie nichts ab.
Regina hatte die ›Midlife-Crisis-Praktika‹ ihres Lebensgefährten mit Argwohn betrachtet, sich aber eines Kommentars enthalten. Männern, die an Erkältung litten und in Selbstmitleid badeten, ließ man besser etwas Zeit, um vor sich hinzubrüten. Das totgeschwiegene Geldproblem aber hing trotzdem permanent wie eine dunkle Wolke über ihm. Das schien für Außenstehende wie ein Jammern auf hohem Niveau wirken, aber Querchers Verständnis von Stolz und Würde war so flexibel wie der Stamm einer Eiche.
Ihre Beziehung erinnerte überhaupt an das Auf und Ab des byzantinischen Weltreichs, fand Pollinger. Der musste heute von Quercher nach München zu einer Regeluntersuchung im Krankenhaus rechts der Isar gefahren werden. Vor Jahren hatte man ihm dort die Hälfte seines Magens entfernt. Seitdem war der Krebs in Remission. Ferdi Pollinger war felsenfest überzeugt davon, dass das an den geheimnisvollen Kräften des Heilwassers der Quellen in Wildbad Kreuth lag, das er nicht weit von hier, am südlichsten Zipfel des Tals, bezog und tagtäglich mit Eifer trank.
»Der Ferdi ist sicher aufgeregt wegen des Termins. Du musst heute lieb zu ihm sein«, ermahnte ihn Regina, das Gesicht immer noch hinter der Zeitung versteckt.
Quercher sah hinaus in den Regen, dachte an die bevorstehende Fahrt mit Pollinger nach München, das Warten in den Fluren des Krankenhauses und wünschte sich in diesem Moment so etwas wie Nähe, wenn er schon seinen alten Freund auf diesem Trip begleiten musste. Mit einem Satz rutschte er über den Tisch, schubste den Quark beiseite, stieß die Zeitung weg, umgriff Reginas Gesicht und küsste sie.
»Bäh, du schmeckst nach Gurke und Kohl“, presste sie angewidert hervor und wollte sich wegdrehen.
Mit einer Hand fasste er hinter sich in die Schüssel mit Quark und schmierte der inzwischen kreischenden Regina die weiße Pampe ins Gesicht, um sie anschließend abzulecken. Lumpi, die bis dahin von ihrem Körbchen aus interessiert zugeschaut hatte, trollte sich, als sich Quercher und Regina auf dem sündteuren Teppich mit allerlei Nahrungsmitteln und Sex vergnügten.
Bei Quercher zumindest schien das zu funktionieren: Weder hörte er, wie Reginas Smartphone auf dem Granit der Küchenarbeitsplatte zu vibrieren begann, noch nahm er wahr, wie sie mit einem kurzen, besorgten Blick Richtung Handy sah.
Pollinger ließ auf sich warten. Quercher hatte wie verabredet pünktlich um elf Uhr vor dem Haus gestanden und gehupt. Der Regen prasselte in feinen kleinen Tropfen unaufhörlich auf seine Scheibe. Eigentlich ein Wetter zum Daheimbleiben, fand Quercher, entschied sich aber, trotzdem aus dem Wagen zu steigen und ums Haus zu gehen. Er sackte tief mit seinen Sneakers in den nassen Rasen, hinterließ Löcher und gab beim Laufen ein schmatzendes Geräusch von sich. Nichts, was man am Morgen zwingend gebrauchen konnte. Bei dem Versuch, durch die Terrassentür in Pollingers Wohnzimmer zu schauen, stieß er gegen einen alten Kinderwagen, der verloren auf den ungepflegten Bodenfliesen stand. Dieser Anblick machte Quercher noch sentimentaler, als er sowieso schon war.
Pollinger war seit zwei Monaten wieder allein. Er hatte in diesem Haus die letzten Jahre mit Arzu, einer LKA-Polizistin, und ihrem Sohn zusammengelebt. Angesichts des deutlichen Altersunterschieds hatten nur wenige, Quercher inbegriffen, dem Paar eine Chance gegeben. So war es dann schlussendlich auch gekommen. Arzu hatte sich in einen Kollegen verliebt, war nach wochenlangen Diskussionen und tränenreichen Auseinandersetzungen irgendwann ausgezogen und hatte Pollinger allein in dem überdimensionierten Haus zurückgelassen.
Der wiederum hatte die Trennung zumindest nach außen hin erstaunlich souverän gemeistert. »Es war eine gute Zeit. Ich habe sie genossen. Jetzt ist die Geschichte eben wieder vorbei. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Das war seine lapidare Erklärung gewesen, als er Regina und Quercher bei einem gemeinsamen Essen von Arzus Auszug erzählt hatte.
Im Gegensatz zu Quercher war Pollinger ein geselliger Mensch. Er tauchte seitdem wieder verstärkt bei diversen Vereinen im Tal auf, wurde Gebirgsschütze, besuchte Trommelkurse in der Volkshochschule und reiste mit dem örtlichen Rotary Club nach Italien. Nach außen hin wirkte er also stets wie der lustige Pensionär. Doch Quercher nahm ihm das nicht ab. Denn er wusste, dass Arzus Sohn Max Ali dem alten Mann sehr fehlte.
Er klopfte mehrmals an das Fenster, rief nach Pollinger, bekam aber keine Antwort. Doch das überraschte ihn wirklich. Quercher ging davon aus, dass sich sein Freund wieder am frühen Morgen auf den Weg zu einem seiner Lieblingsorte aufgemacht hatte. Denn seit seiner Pensionierung und unter dem Eindruck der Krebserkrankung war Pollinger felsenfest davon überzeugt, dass das Quellwasser an bestimmten Plätzen innerhalb des Tegernseer Tals heilende Kräfte besaß, die er sich zunutze machen konnte. Statt eines Weinkellers hütete Querchers ehemaliger Chef seitdem kistenweise Flaschen mit Wasser aus diesen Quellen in seinem Haus. Fein säuberlich geordnet nach Quellort, Mond- und Jahreszeit.
Querchers neues Auto rumpelte über den Forstweg, der sich neben dem Breitenbach hinauf in die Berge zog. Als er mit dem Auto nicht mehr weiterkam, musste Lumpi ran. Die Schweißhunddame besaß nämlich das Talent, den Alten sogar noch auf eine Distanz von mehreren Kilometern zu riechen und seiner Spur folgen zu können. Sie fanden Pollinger schließlich oberhalb eines Teichs in der Nähe einer Hütte. Er kniete dort im Matsch und füllte in strömendem Regen eine Flasche Wasser ab. Quercher sah ihn bereits von Weitem – einen hutzeligen, dürren Mann mit weißen Haaren und einer grünen Regenjacke, die viel zu groß für ihn war. Der halbe Magen, der ihm nach seiner Krebs-OP noch geblieben war, ließ kein Zusatzfett zu. Kurz vor seiner Pensionierung hatte die Krankheit Pollinger getroffen. Es war ein Kampf um Leben und Tod, den Pollinger – vorerst – gewonnen hatte.
Quercher verspürte schlagartig tiefes Mitleid für den alten Mann – und Sorge. Pollinger hatte sich über die Dienstjahre von einem Chef zu einem Mentor gewandelt. Er war zu einem engen Freund geworden. Doch Quercher verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. »Um elf Uhr müssen wir in München sein. Es wäre also sehr zuvorkommend, wenn der feine Herr sich endlich erbarmen und seinen Fahrer nicht noch länger warten lassen würde«, klagte er, als er Lumpi folgte und sich neben den Alten stellte.
»Trink.«
»Igitt!«, schüttelte er sich und verzog angewidert das Gesicht. »Da oben stehen bestimmt Kühe auf den Almen, die brunzen mehrmals täglich in den Bach und hier unten kommt das Ganze dann als dein Heilwasser an. Wie in Lourdes.«
Pollinger schwieg und hielt weiter die Flasche hoch.
Quercher verdrehte die Augen und trank einen Höflichkeitsschluck. Er schmeckte sofort, dass das Wasser eisenhaltig war. Aber sonst fand er es eigentlich ganz gut. Doch das würde er niemals laut vor dem Waldschrat zugeben.
»Schau.«
»Wohin?«, fragte Quercher gedehnt. Das Wetter lud nicht gerade dazu ein, tiefschürfende Gespräche an der frischen Luft zu führen. Er wollte zurück zu seinem Wagen.
»Schau auf den Regen. Er liefert das Wasser, das sich im Teich sammelt, wieder in den Breitenbach geführt wird und auf diese Weise weiter unten in den See fließt. Der wiederum geht in die Mangfall über und …«
»… weiter in den Inn und dann in die Donau.«
Pollinger nickte. »Genau, und am Ende mündet die Donau ins Schwarze Meer.« Er zögerte einen Moment. »Ich bitte dich um ein Versprechen, Maximilian.«
Quercher zuckte unmerklich zusammen. Wenn Pollinger ihn mit seinem vollen Namen ansprach, war es ernst.
»Wenn ich gestorben bin, verbrennt’s mich und streut die Asche droben in die Quellen unterhalb des Huders. Dann reise ich über Jahre durch meine geliebte Heimat.«
»Quasi ein Fliegender Holländer des Süßwassers.«
Pollinger sah ihn eindringlich an. »Versprichst du mir das?«
Quercher nickte.
Schweigend saßen sie am Rande des Teichs und starrten gedankenverloren auf die Tropfen, die auf die glatte Wasseroberfläche fielen und kleine Kreise bildeten. Selbst Lumpi, die Regen hasste, saß gottergeben neben ihnen und lehnte sich an den Alten, ohne aufzumucken.
Wenn er mit Pollinger in die Stadt fuhr, hatte das für Quercher immer etwas von einer heiligen Inquisition auf vier Rädern. Denn kaum hatten sie das Tal verlassen, begann der Alte, während er Lumpi hinter den Ohren kraulte, die Fragestunde.
»Musste dein neuer Wagen unbedingt ein Türken-Benz sein?«
Quercher hatte eine lange, erfolglose, aber dennoch nachhaltige Liebe zu Autos seiner Kindheit. Viele Jahre fuhr er einen alten Benz, nun aber hatte er sich einen mokkafarbenen Ford Granada, Baujahr 1980, gekauft. »In was für einem Wagen wünscht der Herr Pensionär denn, herumkutschiert zu werden? Papamobil? Sänfte?«
»In einem vernünftigen Wagen, in dem sich deine Freundin sehen lassen kann. Du bist nicht mehr mit einer deiner Münchener Discomiezen zusammen.«
»Ferdi, kein Mensch sagt heute noch Worte wie ›Disco‹ oder ›Miezen‹.«
»Du lenkst ab. Über kurz oder lang wirst du Regina verlieren. Ich weiß, was das heißt. Aber du solltest auf dem Schirm haben, dass du mit bald achtundvierzig Jahren nicht mehr so leicht vermittelbar bist, erst recht nicht als Hilfsschreiner mit einem gigantischen Haufen Schulden im Gepäck. Junge Damen wünschen sich heute nämlich nicht mehr Kriminal-Geschichten von früher, sondern finanzielle Sicherheit.«
»Unsinn. Junge Damen sorgen heute selbst für ihre finanzielle Sicherheit. Die sind nämlich besser gebildet als die jungen Herren und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man über Männer- statt Frauenquoten in den Chefetagen diskutieren wird.«
Pollinger grummelte etwas unverständlich Abfälliges und wechselte das Thema: »Hast du den Schuldnerberater angerufen?«
Quercher verdrehte genervt die Augen. Sie waren gerade mal in Warngau und Pollinger lief jetzt schon zu Höchstform auf! Womit kommt der Alte wohl sonst noch um die Ecke?, überlegte er mit grimmigem Gesicht.
Als ob er Gedanken lesen konnte, setzte Pollinger im selben Moment zum Hauptschlag an: »Und hast du den Therapeuten angerufen, den ich dir empfohlen habe?«
Quercher merkte, wie sein Blutdruck stieg, als sein ehemaliger Mentor auf einen Vorfall anspielte, der inzwischen bereits ein Jahr zurücklag. Quercher und Regina waren während eines Urlaubs auf Salina von dem flüchtigen Mörder Jan Poschner angegriffen worden – und Pollinger war überzeugt davon, dass dieses Ereignis nachhaltige Schatten auf Querchers Leben warf, die dringend bearbeitet werden sollten.
»Können wir das Thema bitte wechseln? Danke.«
Er hatte bis heute mit keinem Menschen darüber gesprochen, wie das letzte Aufeinandertreffen mit seinem Kontrahenten damals verlaufen war. Der Polizei, die von Sizilien nach Salina herübergekommen war, um den Vorfall zu ermitteln, hatte er lediglich eine dürftige, aber für die Herren ausreichende Version aufgetischt. Selbst Regina, die schlief, als es passiert war, tappte nach wie vor im Dunkeln.
»Du weißt so gut wie ich, dass Regina mit ihrer Vermutung recht haben könnte. Vielleicht lebt er doch«, ignorierte Pollinger Querchers Einwand.
»Ja, vor allem wenn du ihr noch weiteren Stoff für so einen Gedankenmüll verabreichst. Poschner ist tot, verdammt noch mal! Ende, finito. Vor meinen Augen im Meer vor Salina untergegangen. Das muss euch als Beweis doch wohl reichen!«
»Aber nicht mal mir hast du erzählt, was genau da in Salina abgelaufen ist. Das wirft bei mir natürlich Fragen auf! Außerdem ist es nicht gesund für die Seele, alles nur mit sich selbst auszumachen.«
»Ferdi, es reicht! Du weißt genug!«
Quercher war so laut geworden, dass Lumpi auf dem Rücksitz leise jaulte. Er beugte seinen rechten Arm nach hinten und kraulte die verängstigte Hundedame.
»Was ich sagen will …«
»Jaja, Traumatherapeut. Da können Regina und ich über alles reden. Lass gut sein, Ferdi. Lieber trinke ich deinen Heilwasservorrat aus, als mit Regina und ihren Spitzfindigkeiten zu einem Seelenklempner zu wackeln. Da komme ich gestörter raus, als ich reingehe.«
»Das dürfte schwer werden«, frotzelte Pollinger versöhnlich und wechselte das Thema. »Heute Abend spielt Deutschland gegen Russland. Kommst du rüber zum Schauen?«
»Ich find Fußball fad, weißt du doch, Ferdi. Außerdem hat mein Vater schon gegen die Russen verloren – 1944.«
»Himmel, reiß solche Witze bloß nicht im Beisein von Regina. Die ist zu schlau für deinen Pennälerhumor.«
»Okay, du bist grantig, weil du gleich auf Befehl pieseln musst. Mach dir bitte keinen Kopf deswegen. Alles wird ordentlich laufen, Ferdi. Du gehst da fröhlich raus und die im Krankenhaus sind froh, so einen Quälgeist wie dich möglichst schnell wieder los zu sein. Ich warte im Wiener, ruf mich einfach an, wenn du fertig bist. Ich treffe mich übrigens mit Picker. Der hat doch da um die Ecke seinen Fahrradladen aufgemacht.«
Pollinger sah aus dem Fenster und murmelte leise vor sich hin.
»Was? Sprich, Orakel vom See«, forderte Quercher ihn auf, als er auf der Ismaninger Straße fluchend eine Parkmöglichkeit suchte. Regen und Autofahrer in der Stadt – keine gute Kombination, fand er. »Der Münchner an sich wirkt immer überfordert bei besonderen Wetterereignissen«, ätzte er, während er angestrengt durch die Windschutzscheibe starrte. »Zwar fährt man vorzugsweise dicke SUVs. Aber kaum fällt auch nur ein einziger Regentropfen, drehen sie durch, die Muttis und Papis, die ihre Gottesgeschenke zur Kita bringen.«
»Wer von uns beiden ist denn hier jetzt der Grantler?«
Obwohl Quercher noch nicht richtig eingeparkt hatte, öffnete Pollinger die Tür und stieg aus. »Ich ruf dich an«, rief er über die Schulter zurück, ging gebückt durch den Regen auf die andere Straßenseite und verschwand.
Quercher sah ihm nach, wie er durch den Eingang das Krankenhaus betrat, und es stach einmal kurz und heftig unter seinen linken Rippen beim Anblick seines ältesten und zweifellos besten Freundes.
Picker stand in seinem Fahrradladen und beriet gerade einen Kunden, als Quercher mit Lumpi in den Laden trat.
»Dreckswetter.«
Picker und der ältere Herr sahen die Eindringlinge mit erstaunten Gesichtern an.
»Regnet«, entgegnete Quercher überflüssigerweise.
»Ich bin gleich bei dir. Kannst du warten?«, fragte Picker mit Anspannung in der Stimme.
Lumpi schnupperte sich durch den Laden, während Quercher angesichts der hohen Preise der Räder die Augenbrauen hob. Irgendwann setzte er sich auf eine Bank am Fenster und sah hinaus. Junge Frauen und Männer, die trotz des Regens an den Geschäften vorbeiliefen, ihre Drahtesel über die Straße zu den dort aufgestellten Marktbuden schoben. Jedes Mal, wenn er aus dem Tal in die Stadt fuhr, fiel ihm nach wenigen Minuten auf, wie alt die Bevölkerung im Tal dagegen war.
Dieser Gedanke kroch in Querchers Hirn, als Picker seinen Laden hinter ihnen abschloss und mit ihm über die Kreuzung zum Essen ging.
Das Café am Wiener Platz war ein typisches Hangout für die linksliberale Klientel des Viertels. Kam man früh genug, erwischte man einen ruhigen Platz, noch bevor die Heerscharen an jungen Müttern einfielen, die brunchend den Tag herumbringen mussten und mit ihren Bugaboo-Kinderwagen sogar die Wege zum Klo versperrten.
Quercher hatte seinen früheren Kollegen seit Wochen nicht mehr gesehen. Sein einstiger Rivale beim LKA, ein knallharter CSUler, hatte eine erstaunliche Lebenswende hingelegt. Picker trug die mittlerweile weißen Haare lang, trainierte für diverse Ausdauersportarten und hatte einen Fahrradladen in Haidhausen aufgemacht. Er setzte von Beginn an auf den Verkauf von E-Bikes und das wurde ein kleiner Erfolg. Picker hatte seinen Platz im Leben gefunden, dachte Quercher missmutig, als er sich zu ihm setzte.
»Was macht der Alte?«, fragte Picker, ehe er sich ein Smoothie bestellte.
»Fängst du jetzt etwa auch noch mit dem Schmarrn an?«, ätzte Quercher. »Gesundheit ist die neue Ersatzreligion. Ihr spinnt doch alle.« Mit giftigem Blick wandte er sich an die Bedienung. »Ich hätte gern Rührei mit Speck und einen Kaffee, ach ja, und eine Cola auch!«
Picker schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Also, was macht der Alte?«
Quercher stöhnte. »Die Trennung von Arzu setzt ihm ordentlich zu. Er ist allein. Wird auch zunehmend wunderlich, läuft im Tal ›Kraftorte‹ ab, trinkt fässerweise dieses Dreckswasser aus Kreuth und anderen obskuren Quellen, so etwas halt. Anstrengender Nachbar.«
»Ich meinte eigentlich seine Untersuchung heute«, erklärte Picker ruhig.
»Na, was soll dabei schon herauskommen? Ein Pensionär mit halbem Magen trinkt nur noch Wasser. Da sagt selbst die gemeinste Krebszelle: ›Ich bin dann mal weg.‹ Der ist zäh, der Ferdi.«
Der Kellner kam mit den Getränken und servierte sie mit einem Lächeln.
»Hoffentlich. Und wie läuft es mit Regina?«
Quercher zuckte mit den Schultern. »Die trinkt wie du dieses grüne Giftzeug, lebt vom Geld ihrer Firmen, taucht da ab und an auf und gibt kluge Ratschläge. So richtig dufte findet sie es nicht, dass ich in einer Schreinerei arbeite. Aber sie steckt es, wie es sich für eine Adelige geziemt, gut und diskret weg. Ich glaube, sie sieht es als exzentrisches Hobby.«
Picker grinste. »Wir beide wissen, dass Regina recht hat. Dir fehlt die Kohle! Du bist auf dem Weg nach unten.«
»Werden eigentlich meine Kontoauszüge schon im Internet diskutiert? Oder habt ihr, also du, Ferdi und Regina, einen Gläubigerkreis gegründet?«
»Wir wollen dir helfen!«
»Rararara, fall du mir jetzt ruhig auch noch in den Rücken.«
Picker schüttelte resigniert den Kopf. Sie aßen noch und plauderten dabei über ihre Beziehungen, als sich Picker plötzlich den Mund abwischte und ohne Vorankündigung sowohl seinen als auch Querchers Teller mit den Speckresten wegschob.
»He!«, fluchte Quercher und sah Picker erbost an.
»Hör zu, Max.«
»Kann ich, auch während ich esse!«
»Aber nicht gut.«
»Du redest, als wären wir verheiratet!«
»Du wirst wieder für die Staatsmacht arbeiten.«
»Och bitte! Jetzt fang nicht auch noch damit an!« Quercher verdrehte entnervt die Augen und wollte nach seinem Teller greifen, aber Picker war schneller und reichte ihn einem vorbeieilenden Kellner, der ihn mitnahm.
»Ich rede nicht vom LKA. Es geht um unsere Bundespolizisten in Wiesbaden.«
Der Kellner kam zurück und wollte den Rest abräumen.
»Ich hätte gern noch einen Teller mit Speck«, beeilte sich Quercher zu sagen. »Nur Speck!«
Picker verdrehte die Augen und ergänzte die Bestellung: »Und bringen Sie dem Jungen noch ein Pinocchio-Eis zum Nachtisch. Danke!« Dann wandte er sich wieder Quercher zu. »Hörst du mir jetzt zu?«
Quercher grinste und schüttelte den Kopf.
»Der Mann, der an dir interessiert ist, heißt Hans Schaffelheuber. Er hat jahrelang noch die Altlasten der RAF betreut, ist inzwischen aber im Bereich organisierte Kriminalität Referatsleiter beim BKA. Er sucht jemanden, der ihm bei internen Ermittlungen helfen kann, also das Metier kennt, aber von außen kommt.«
»Picker, es ist ganz lieb, dass du dich um meine berufliche Situation kümmerst. Der Alte sorgt sich auch, Regina sorgt sich ebenfalls. Heute Abend darf ich deswegen sogar zu einem Abendessen mit Isolde von Scheven.«
»Die von Scheven, mit dem Mann, der …«
»Genau. Deren Geschichte soll ich mir anhören. Selbst Arzu wollte mir Aufträge zuschustern. Ich habe aber nun mal abgeschlossen mit dem LKA, mit der Polizeiarbeit. Es ist vorbei. Das ist momentan offenbar nur für mich nicht verstörend.«
»Nein, aber vielleicht für dein näheres Umfeld und deine Bank.«
Quercher bekam seinen zweiten Teller, merkte aber bereits beim dritten Bissen, dass er sich zu viel bestellt hatte.
»Na, hat der kleine Max wieder größere Augen als Hunger gehabt?«, frotzelte Picker, während er nach der Rechnung verlangte.
»Der Rest ist für Lumpi. Sag dem Schergen aus Wiesbaden, dass wir uns bei einem guten Essen am See gern treffen können. Aber er muss schon mit was sehr Interessantem ankommen.«
Picker nickte. »Ich richte es ihm aus. Komm jetzt, ich zeig dir noch meine neuen Modelle in der Werkstatt.«
In diesem Moment piepte Querchers Handy. Eine SMS.
Stehe vor dem Eingang. Wo bist du?
Quercher zeigte Picker die Nachricht.
Der grinste. »Einmal Chef, immer Chef. Na, dann mal los, Harry, fahr den Wagen vor.«
Quercher weckte Lumpi, die schlafend auf dem Rücksitz lag, und zuckelte hinter einer Trambahn zum Klinikum rechts der Isar. Dort stand Pollinger in strömendem Regen neben einigen Rauchern in Pyjamas und schaute wie ein pensionierter Raubvogel auf die Straße.
»Wie lief es?«, fragte Quercher, als der Alte eingestiegen war und sie auf der Ismaninger Straße Richtung Norden fuhren.
»Gut. Halt noch mal beim Käfer. Ich will mir ein paar Spezereien kaufen, zur Feier des Tages.«
»Jawohl, der Herr. Bringst du mir Fleischpflanzerl mit?« Er wartete, bis Pollinger sich ächzend aus dem Wagen gehievt hatte, und parkte anschließend in der Einfahrt eines Wohnhauses. Kaum hatte er den Motor ausgeschaltet, klingelte sein Telefon.
Es war Regina. »Und? Was haben die Ärzte gesagt? Wie geht es Ferdi?«
»Himmel. Es geht ihm gut. Er kauft gerade beim Käfer ein. Ich glaube ja, er will denen sein Heilwasser verticken … Nein, ernsthaft: Es geht ihm gut. Sehen wir uns heute Abend?«, fragte er und biss sich im nächsten Moment auf die Zunge.
»Du hast es vergessen, nicht wahr?«
»Regina! Ich werde brav mit Messer und Gabel essen und den Ausführungen der Dame lauschen.«
»Es geht weniger um Isolde«, ignorierte Regina Querchers süffisanten Unterton. »Vielmehr hat ihr Sohn da so einige Ideen, die du dir in deiner Funktion als Polizist anhören sollst.«
»Jawohl, Herrin«, seufzte er und fügte sich in sein Schicksal. »Hör zu, ich muss wieder Schluss machen, König Macbeth kehrt von seiner Feinkostshoppingtour zurück. Ich melde mich später.«
Kaum hatte er das Gespräch beendet, öffnete Pollinger die Beifahrertür, schüttelte sich und rieb sich die Nässe aus den Haaren, bevor er in den Wagen stieg.
»Ich denke, du warst bei Käfer. Wo ist die Tüte?«, fragte Quercher erstaunt.
»Die haben nicht, was ich will. Fahr los.«
»Was haben die Ärzte denn nun gesagt?«, wollte Quercher wissen, als sie auf den Ring einbogen.