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Die hier vereinigten Vorlesungen, zuerst in der Universität Göttingen und dann in einer Vortragsreihe des NDR Hamburg gehalten, sind ein wissenschaftlicher Rechenschaftsbericht. »Was schuldet der Atomphysiker im Atomzeitalter seinen Mitmenschen?« – fragt Carl Friedrich von Weizsäcker, und er gibt die Antwort: »Das mindeste, was er ihnen schuldet, ist möglichst nüchterne Information über Tatsachen, vor die uns die Kernphysik heute stellt.« (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 189
Carl Friedrich von Weizsäcker
Atomenergie und Atomzeitalter
Zwölf Vorlesungen
FISCHER Digital
Man spricht heute oft vom Atomzeitalter. Man begrüßt das Atomzeitalter mit einer Mischung sanguinischer Hoffnungen und panischer Angst. Was schuldet der Atomphysiker seinen Mitmenschen in dieser Lage? Ich würde sagen, das mindeste, was er ihnen schuldet, ist Information. Diesem Zweck sollen die folgenden Vorlesungen dienen.
Ich möchte das noch etwas ausführen.
Atomzeitalter ist ein etwas hochtrabender Ausdruck. Es handelt sich einfach um eine neue Phase des technischen Zeitalters, aber man bezeichnet diese Phase wohl doch mit Recht mit dem Namen des Atoms. Ein dreifacher Wahrheitskern liegt in dieser Benennung. Die kriegerische Verwendbarkeit der Atomenergie gehört heute zu den entscheidenden Randbedingungen unseres politischen Daseins. Die friedliche Ausnützung der Atomenergie wird ferner nach allem, was wir voraussehen können, in wenigen Jahrzehnten unser wirtschaftliches Leben nicht minder tief umgestalten. Die theoretische Physik der Atome schließlich wandelt in einem langsam und stetig fortschreitenden Prozeß unser denkerisches Verständnis der Welt, in der wir leben. Freilich bezeichnet das Stichwort ›Atom‹ in diesen Beispielen stets nur einen Teilaspekt, aber vielleicht einen typischen. Es ist nur ein Teilaspekt: Energiewirtschaft ist nur ein Teil der Wirtschaft und Atomenergie nur eine Energieform unter mehreren. Atombomben sind nur eine Waffengattung, und niemand weiß, ob sie die schrecklichste bleiben wird. Atomphysik ist nur ein Zweig der Physik und Physik nur eine der Wissenschaften. Auch drängt uns Atomphysik zwar zum Philosophieren, aber sie ist nicht Philosophie. Jedoch haben die anderen Formen moderner technischer Wirtschaft, moderner Kriegführung und Politik, moderner Wissenschaft zwar andere Gegenstände, aber vielleicht doch eine recht ähnliche Struktur und Geisteshaltung wie diejenigen, die wir mit dem Namen ›Atom‹ bezeichnen. So stehen Atomtechnik und Atomwissenschaft, auf die in diesem letzten Jahrzehnt ein besonders grelles Licht gefallen ist, vielleicht doch zu Recht als Repräsentanten eines ganzen Zeitalters da. Wir mögen sie als Zeichen auffassen, an denen leichter etwas von dem abzulesen ist, was weniger deutlich in der Breite unseres Daseins geschieht. In diesem Sinne also möchte ich vom Atomzeitalter reden.
Was schuldet nun der Atomphysiker im Atomzeitalter seinen Mitmenschen? Er findet sich im Besitz einer Spezialkenntnis, die sich für ihn selbst unerwartet als so folgenreich erwiesen hat. Er hat viele der Erwartungen und der Sorgen, die heute die Welt erfüllen, wenigstens einige Jahre früher schon gehegt als seine Mitmenschen. Was schuldet er also damit diesen Menschen?
Das mindeste, was er ihnen meinem Empfinden nach schuldet, ist, wie ich sagte, Information. Möglichst nüchterne Information über Tatsachen.
Auch das möchte ich noch ein wenig erläutern.
Ich sagte, das Atomzeitalter werde von den heutigen Menschen mit einer Mischung von sanguinischen Hoffnungen und panischer Angst begrüßt. Ich mag mich irren, aber nach meinem Eindruck ist von diesen beiden Empfindungen die Angst die stärkere, wenigstens bei uns in Europa. Zum Teil ist sie uns selbst verborgen, weil wir Angst vor der Angst haben und sie ins Unbewußte drängen. Manche laut ausgesprochene Hoffnung mag eine Maske verborgener Furcht sein. Wie dem auch sei, jedenfalls ist blinde Angst so gefährlich wie blinde Hoffnung. Blinde Hoffnung rennt oft ins Verderben, blinde Angst zieht das, wovor sie sich fürchtet, magisch an. Daß ein ungewandter Skiläufer, ein unerfahrener Autofahrer gerade dann in Gefahr ist, in einen Baum hineinzufahren, wenn er Angst hat, er werde in ihn hineinfahren, ist uns allen bekannt. Wir müssen folglich versuchen, über unsere Empfindungen Klarheit zu gewinnen. Wir müssen ihnen und ihren Gründen ins Auge sehen.
Das erste also ist, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Deshalb möchte ich zunächst versuchen, Ihnen über Tatsachen zu berichten. Aber jeder Tatsachenbericht enthält Beurteilungen. Vieles wird uns als Tatsache erzählt; was sollen wir glauben? Viele Tatsachen sind bekannt; welche sind wichtig? Wo ich selbst Tatsachen nur erschließe oder auswähle, will ich versuchen, Ihnen die Gründe meines Urteils zu nennen. Ich will die großen Linien nachzuzeichnen suchen, die nach meinem Empfinden die wichtigsten sind; aber ich will versuchen, Ihnen so viel Material zur Beurteilung zu geben, daß Sie mein Urteil selbst kritisieren können.
Im heutigen Gemeinbewußtsein stellt man sich unter der Atomphysik eine Wissenschaft vor, die seit einem halben Jahrhundert fieberhaft nach dem Schlüssel zu der im Atom verborgenen technischen Macht gesucht hätte, bis sie ihn endlich in der Uranspaltung fand. Nichts kann falscher sein. Die Uranspaltung war eine ungesuchte, unerwartete, rein wissenschaftliche Entdeckung, deren mögliche technische Folgen die Physiker zwar alsbald erkannten, aber mit Überraschung erkannten. Vielleicht darf ich hier aus meiner eigenen Erinnerung ein Wort sagen. Als ich zehn Jahre vor der Uranspaltung begann, Atomphysik zu studieren, wußte man wohl von der großen Energie, die im Atomkern steckt, aber kein Weg, sie zu entfesseln, war bekannt, und es schien aussichtslos und auch wissenschaftlich gar nicht in erster Linie interessant, einen solchen Weg zu suchen. Wir Atomphysiker waren froh, daß die menschliche Gesellschaft uns erlaubte, einer Forscherleidenschaft nachzuhängen, deren Funde voraussichtlich niemals in technischen Nutzen würden ausgemünzt werden können. Wir hatten etwas von der Unschuld und der Torheit spielender Kinder; und wenn wir Pathos hatten, so war es das der reinen, nutzlosen Wahrheit.
Es mag überraschend klingen, aber ich würde doch die Behauptung wagen, daß nur Menschen dieser Geisteshaltung den Weg zur Atomenergie finden konnten. Was schon in unseren Gesichtskreis getreten ist, kann der Geist der Nützlichkeit, der Macht, der sorgenden Verantwortung praktisch verwerten. Was niemand vorher geahnt hat, sieht aber nur das Auge, das nicht auf ein Werkstück gebeugt ist, sondern das Muße hat, den Horizont abzusuchen.
War es so die reine physikalische Forschung, die der modernen Atomtechnik den Weg gebahnt hat, so ist diese Atomphysik selbst hervorgegangen aus philosophischen Fragen. Die heutige Atomwissenschaft hat ihre unmittelbaren Vorläufer in gewissen physikalischen und chemischen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese Theorien ihrerseits aber waren angeregt durch die Wiederaufnahme der Atomlehre antiker, griechischer Philosophen. So hat die Atomphysik ihren letzten Ursprung in der philosophischen Frage nach dem Wesen des Seienden überhaupt, und sie braucht diesen Ursprung auch heute nicht zu verleugnen.
Wie kamen im 5. Jahrhundert v. Chr. die griechischen Philosophen Leukipp und Demokrit von Abdera darauf, den Gedanken des Atoms zu fassen? Was dachten sie sich dabei?
Nach ihnen gibt es in der Welt überhaupt nichts anderes als die Atome und das Leere; alles andere ist bloß menschliche Meinung. Die Atome, die man auch das Volle nennen kann, sind raumerfüllende unteilbare Bröckchen von verschiedener Gestalt und Größe. Das Leere ist eben jener Raum, in dem jeweils keine Atome sind; es ist der Zwischenraum, der nötig ist, damit die Atome sich bewegen können.
Bitte, versuchen Sie, sich die ungeheure Erklärungskraft dieses Gedankens zu vergegenwärtigen. Ich wähle ein oft gebrauchtes Beispiel, die Aggregatzustände.
Wir wollen zuerst versuchen, die kindliche Gabe des Staunens wieder in uns zu erwecken. Wir haben jetzt Spätherbst. Es hat oft geregnet. In wenigen Wochen wird es Winter sein. Dann wird statt Wasser Schnee vom Himmel fallen. Aber früher oder später wird der Schnee wieder schmelzen. Er wird zu Wasser werden. Wieso fällt einmal Wasser vom Himmel, einmal Schnee? Wieso wird der Schnee zu Wasser? Wir sagen: Eigentlich ist er Wasser, nur ist er in einem anderen Zustand. Damit nicht genug. Wasser kann verdampfen. Als Dampf steigt es aus dem Meer. Dann bildet es die Wolken, um als Niederschlag bei uns zu fallen. Das Wasser wurde Dampf; der Dampf wird wieder Wasser. Wir sagen, auch der Dampf ist eigentlich Wasser; er ist dasselbe wie Wasser. Wie kann aber etwas Festes, etwas Flüssiges, etwas Gasförmiges doch dasselbe sein? Wenn sie dasselbe sind, warum erscheinen sie uns in so verschiedener Weise? Ist diese Verschiedenheit bloßer Schein? Angenommen, Schnee und Wasser seien verschiedene Substanzen, wie kann aus der einen Substanz die andere werden? Angenommen, sie sind dieselbe Substanz, warum sind sie so verschieden? Welch ein verwirrendes Spiel zwischen Sein und Schein verbirgt diese alltägliche Erfahrung, die wir den Wechsel der Erscheinungen nennen!
Die Atomlehre erhebt nun den Anspruch, Ordnung in diese Verwirrung zu bringen. Sie sagt: Schnee, Wasser und Dampf bestehen aus denselben Atomen. In diesem Sinne dürfen wir sagen, sie seien dieselbe Substanz. Die Atome sind – so meinten wenigstens die griechischen Atomisten – unwandelbar, und darum sind sie auch unteilbar. Sie sind wahrhaft Seiendes, wie es die griechische Philosophie suchte. Aber sie können verschieden angeordnet sein, und sie können verschieden bewegt sein. Und der Wechsel ihrer Anordnung und Bewegung ist der ganze Wechsel der Erscheinung.
Wir erläutern das am Wasser. Schnee besteht, wie jeder Blick durch ein Vergrößerungsglas zeigt, aus kleinen, regelmäßig geformten, durchsichtigen Kristallen. Wasser ist eine Flüssigkeit; Wasserdampf ist ein Gas. Im Schnee, überhaupt im Kristall, sind die Atome regelmäßig angeordnet. Sie sind fest an ihre Plätze gebunden, so etwa wie Sie, meine Hörer, hier im Hörsaal vor mir auf festen Plätzen sitzen. Gewiß bewegt sich der eine oder andere, aber im ganzen bleibt doch jeder während der ganzen Vorlesungsstunde da sitzen, wo er sitzt. Daher kann auch der Kristall, in dem die Atome so fest angeordnet sind, eine feste äußere Gestalt haben, und zwar eine regelmäßige. Wenn aber die Vorlesungsstunde zu Ende ist, so erheben sich die Hörer und strömen dichtgedrängt durch das Treppenhaus hinaus auf die Straße. Die Flüssigkeit gleicht dem Zustand der Hörerschaft im Treppenhaus. Die Atome hängen hier noch gewissermaßen eng zusammen, eines berührt das andere. Aber sie haben keine feste gegenseitige Lage, sondern sie schieben sich aneinander vorbei, und so ist es möglich, daß die äußere Gestalt der gesamten Menschenmenge sich der Gestalt des Schlauches anpaßt, durch den sie sich preßt. Ebenso paßt sich die äußere Gestalt der Flüssigkeit jedem Gefäß an, in das wir sie gießen, weil in der Flüssigkeit die Atome gegeneinander verschieblich sind, obwohl sie aneinanderhaften. Wenn dann die Hörerschaft die freie Straße gewonnen hat, so geht jeder nach Hause oder in ein anderes Kolleg, der eine hierhin, der andere dorthin. Nun schwirren die einzelnen Atome frei herum – um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen – wie die Mücken in einem Mückenschwarm. Nur ab und zu bleiben einige Grüppchen beisammen, und diese mögen wir dann dem vergleichen, was in der heutigen Atomlehre Molekül heißt. Ein Molekül ist eine Ansammlung einer kleinen Anzahl von Atomen, die aneinanderhängen.
Hiermit hat uns die Atomlehre darüber aufgeklärt, was am Wandel der Erscheinungen eine wirkliche Veränderung ist und was in ihnen unverändert bleibt. Die Atome selbst bleiben in ihrem Innern unverändert, aber ihre gegenseitige Lagerung und Bewegung hat sich verändert.
Trotz dieser ihrer schlagenden Einfachheit hat sich die Atomlehre etwa zweitausend Jahre lang nicht allgemein durchgesetzt. Ich will in dieser Stunde die Einwände, die gegen sie erhoben wurden, noch nicht ausführlich besprechen. Das soll, soweit es in dieser Vorlesung überhaupt am Platze ist, in der vierten Stunde geschehen. Hingegen möchte ich die Einwände wenigstens einmal nennen.
Die Einwände beziehen sich zum Teil auf die Grundbegriffe. Alle größeren Körper, die wir kennen, sind teilbar. Warum eigentlich sollen gerade die Atome unteilbar sein? Ferner: Was ist eigentlich der leere Raum? Die Atome sind nach der Meinung der Atomisten wahrhaft Seiendes und eben darum unwandelbar und unteilbar. Dann aber ist der leere Raum offenbar nichts wahrhaft Seiendes. Trotzdem ist er notwendig, damit die Atome sich überhaupt bewegen können. Es scheint, daß die Atomlehre hier mit ihrer eigenen Voraussetzung, der griechischen (eleatischen) Auffassung vom unwandelbaren Sein, in Konflikt kommt. Die Philosophie hat aus solchen Gründen im allgemeinen die Existenz eines leeren Raums überhaupt geleugnet.
Ist ferner die Atomlehre nicht begrifflich zu arm? Vermag sie Rechenschaft zu geben von solchen Wirklichkeiten wie der Seele, dem Bewußtsein? Die Atomisten sprachen von Seelenatomen. Aber ist das nicht nur eine Redensart, die nichts erklärt? Wie machen es die Seelenatome, zu empfinden, zu denken?
Eine wichtige Rolle bei der historischen Niederlage der Atomlehre, zumal gegen das Ende der antiken Kultur, spielt ihre antireligiöse Haltung. Die Atomlehre wurde von denen, welche Priesterherrschaft und Aberglauben bekämpften, verkündet und freudig begrüßt. In der Spätantike empfand die Menschheit, daß die Inhalte der antiken Aufklärung nicht mehr ausreichten, um ihr Leben zu tragen. Sie verlangte nach Religion, und so mußte ihr eine Lehre, die nichts als Atome und leeren Raum als wirklich anerkannte, zutiefst verdächtig sein.
Als in der Neuzeit die Naturwissenschaft auf eine neue Weise begann, waren viele ihrer Vertreter alsbald der alten Atomlehre zugeneigt. In glücklicher Naivität ging die neuzeitliche Naturwissenschaft über die philosophischen Schwierigkeiten der Atomlehre hinweg. Sie hat diese Schwierigkeiten keineswegs gelöst, sie hat sie aber einige Jahrhunderte lang ignoriert. Gerade dies erwies sich als fruchtbar. Man entdeckte eine Fülle von Tatsachen, die durch die Atomlehre erklärt werden konnten. Als diese Tatsachen dann sehr vollständig bekannt waren, zeigte sich, daß die Atome, die man zu ihrer Erklärung brauchte, von den Atomen der griechischen Philosophie sehr verschieden waren. Es zeigte sich, daß man zum Verständnis dieser Atome eben solche Abweichungen von der einfachen alten Atomlehre brauchte, daß die Einwände, die man gegen die alte Atomlehre erheben konnte, nunmehr gegenstandslos wurden. Dies aber ist erst eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts, die wir in der vierten Vorlesung streifen wollen.
Eine erste wichtige Anwendung der Atomvorstellung war die kinetische Theorie der Gase und die kinetische Theorie der Wärme. In dem Wort ›kinetisch‹ steckt das griechische Wort ›kinesis‹, Bewegung. Kinetische Theorie der Wärme ist die Lehre, daß Wärme in Wirklichkeit eine Form der Bewegung sei. In der kinetischen Theorie der Gase wird gelehrt, daß der Druck der Gase auf die das Gas jeweils umgebenden Wände herrühre von den ständigen Stößen der bewegten Moleküle oder Atome des Gases. Diese Lehre wurde schon im 18. Jahrhundert entwickelt (Daniel Bernoulli). Die Temperatur ist ein Maß der Bewegungsenergie. Je heißer das Gas ist, desto heftiger sind seine Moleküle bewegt, desto größer ist daher auch der Druck, den sie auf die Gefäßwände ausüben.
Diese Deutung der Wärme erklärt auch den Übergang der Aggregatzustände ineinander, also Schmelzen und Gefrieren sowie Verdampfen und Kondensieren. Im festen Körper sind die Atome am schwächsten bewegt, daher haften sie an ihren Plätzen. In der Flüssigkeit sind sie heftiger bewegt, daher beginnen sie, aneinander vorbeizugleiten. Im Gas sind sie am heftigsten bewegt, daher halten sie nicht mehr aneinander. Dies erklärt, warum man einen Körper durch Erwärmung zuerst schmelzen und dann verdampfen kann.
Den nächsten wichtigen Schritt tat die Chemie. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts lehrte Dalton (1808), daß alle Atome eines und desselben chemischen Elements untereinander gleich sind, insbesondere also, daß alle Atome desselben chemischen Elements gleich schwer sind. Wir werden zwar diese Behauptung alsbald wieder einschränken müssen, aber zunächst übernehmen wir sie in der Form, in der sie damals ausgesprochen wurde. Damit erklären sich nun einige Grundgesetze der Chemie. Das erste von ihnen ist das Gesetz der konstanten Proportionen. Verbrennen wir etwa Kohlenstoff und Sauerstoff miteinander zu Kohlensäure, so können die beiden Reaktionspartner nicht in jedem beliebigen Gewichtsverhältnis in die Kohlensäure eingehen, sondern zum Beispiel 12 g Kohlenstoff binden immer gerade 32 g Sauerstoff an sich. Eine chemische Verbindung ist charakterisiert durch die ›konstante Proportion‹, in der ihre Partner zueinander stehen. Dies erklärt die Atomlehre, indem sie sagt: Alle Kohlenstoffatome sind untereinander gleich schwer. Ferner sind alle Sauerstoffatome untereinander gleich schwer. Ein Sauerstoffatom hat aber ein anderes Gewicht als ein Kohlenstoffatom. In den Einheiten, die man heute wählt, hat ein Kohlenstoffatom das Gewicht 12, ein Sauerstoffatom das Gewicht 16. In Kohlensäure sind auf 12 Gewichtseinheiten Kohlenstoff 32 Gewichtseinheiten Sauerstoff vorhanden, also muß im Molekül der Kohlensäure auf ein Kohlenstoffatom immer gerade ein Paar von Sauerstoffatomen kommen. Daher schreibt man die Kohlensäure mit dem chemischen Symbol H2CO3.
Ein anderes Gesetz, das ebenfalls erklärt wird, ist das der multiplen Proportionen. Es ist auch möglich, aus Kohlenstoff und Sauerstoff eine andere Verbindung herzustellen: das Kohlenoxyd. Dieses wegen seiner Giftigkeit gefürchtete Gas enthält auf 12 Gewichtseinheiten Kohlenstoff gerade 16 Gewichtseinheiten Sauerstoff. Man schreibt ihm also das Molekül zu, das zu einem Kohlenstoffatom nur ein Sauerstoffatom enthält. Daher ist die Formel für Kohlenoxyd CO. Das Verhältnis, in dem der Sauerstoff zum Kohlenstoff im einen Fall steht, ist ein genaues Vielfaches des Verhältnisses, in dem er im andern Fall zum Kohlenstoff steht. Dies ist wiederum aus der Atomlehre her unmittelbar verständlich, denn es kann in ein Molekül immer nur ein ganzes, zwei ganze, drei ganze Atome usw. eingehen, aber keine gebrochene Anzahl von Atomen. Nebenbei sei bemerkt, daß auch die Giftigkeit des Kohlenoxyds leicht verständlich ist, wenn man noch die Tatsache hinzunimmt, daß Kohlensäure eine besonders stabile Verbindung ist, das heißt, daß gerade zwei Sauerstoffatome besonders gut an einem Kohlenstoffatom haften. Man nennt eine solche Verbindung ›gesättigt‹. Im Kohlenoxyd fehlt noch ein Sauerstoffatom, und dieses holt sich daher das Kohlenoxyd, wo es ein solches finden kann. Gelangt nun Kohlenoxyd in die Lunge, so nimmt es aus dem Blut den Sauerstoff heraus und führt dadurch eine Erstickung herbei.
Auf Einzelheiten der Chemie wollen wir in dieser Vorlesung nicht eingehen. Die Chemie hat, wie wir bald sehen werden, mit der Atomhülle zu tun. Uns geht aber für die Kernenergie, die man heute Atomenergie zu nennen pflegt, vor allem der Atomkern an. Einen für alles Künftige sehr wichtigen Begriff wollen wir aber an dieser Stelle schon einführen, den der Isotopie.
Betrachten wir die Atomgewichte, das heißt die Gewichtszahlen der Atome der verschiedenen Elemente in den willkürlichen Einheiten, die die Chemiker gewählt haben, so stellen wir fest, daß diese Einheiten sich so haben wählen lassen, daß die Atomgewichte in vielen Fällen ganze Zahlen sind oder wenigstens nahezu ganze Zahlen. So ist zum Beispiel Kohlenstoff ein Atom mit dem Gewicht 12, Sauerstoff ein Atom mit dem Gewicht 16, Uran ein Atom mit dem Gewicht 238. Schon 1815 hat Prout die Vermutung geäußert, daß auch dies eine Art Gesetz der multiplen Proportionen sei, das heißt, daß in Wirklichkeit alle Atome noch einmal zusammengesetzt seien aus einer und derselben Art von Grundatomen, nämlich dem Wasserstoffatom, das in chemischen Gewichtseinheiten gerade das Gewicht 1 hat.
Diese geistreiche Vermutung hat sich heute, wenngleich in etwas abgeänderter Form, als richtig erwiesen. Wir kommen darauf in den nächsten Vorlesungen noch zurück. Im 19. Jahrhundert kam diese Lehre aber zunächst dadurch in Mißkredit, daß man Elemente feststellte, deren Atomgewicht, wie es schien, doch eine gebrochene Zahl war, zum Beispiel Chlor mit dem Atomgewicht 35,4. Erst in unserem Jahrhundert hat sich gezeigt, daß Prout mehr recht hatte, als man im 19. Jahrhundert hatte wissen können. Es zeigte sich nämlich, daß es von vielen Elementen verschiedene Atomsorten gibt, – so gibt es ein Chlor mit dem Gewicht 35 und ein Chlor mit dem Gewicht 37. Chlor 35 ist das häufigere von beiden und im normalen Mischungsverhältnis sind sie gerade so miteinander vermengt, daß das Durchschnittsgewicht 35,4 ist. Man nennt zwei Atomsorten, die zum selben chemischen Element gehören, aber verschiedenes Gewicht haben, Isotope. Sie stehen am selben Ort in der chemischen Systematik (isos topos), sind aber in gewissen physikalischen Eigenschaften, wie eben dem Gewicht, verschieden. Mehr wollen wir über die allgemeine Frage: »Was ist ein Atom?« im Augenblick nicht erfahren. In den nächsten Vorlesungen werden wir uns dieser Frage unter einem neuen Aspekt zuwenden, der dem 20. Jahrhundert eigentümlich ist, nämlich dem, daß auch das, was die Chemiker Atome genannt haben, noch teilbar ist.
Was ich in der letzten Vorlesung nur am Beispiel der verschiedenen Zustände des Wassers einmal erläutert habe, möchte ich heute etwas mehr im Zusammenhang durchführen. Die Frage ist: Wie hängt die Welt, die wir durch unsere Sinne kennen, zusammen mit jener abstrakten Welt der Atome, die der Gegenstand der heutigen Physik ist?
Beginnend von den Sinnen und endend bei den abstraktesten und einheitlichsten Gedanken der heutigen Physik, möchte ich diese Frage in sieben Stufen behandeln. Da ich versuchen will, verständlich zu bleiben, kann ich natürlich überall nur Andeutungen geben.
Die erste Stufe ist die Stufe der Sinne.
Wir haben gelernt, wir hätten fünf Sinne. Halten wir uns ruhig zunächst an diese Einteilung. Was lehrt uns das Sehen? Wir sehen Licht oder Dunkelheit. Wir sehen im Licht die Dinge mit bestimmten Gestalten. Wir sehen sie mit Farben. Wir sehen den blauen Himmel, das grüne Laub, den braunen Tisch, das weiße Papier. Auch hören wir die Dinge und die Lebewesen. Wir hören den Schrei des Vogels. Wir hören das Rauschen des Regens. Der Schall kann laut oder leise sein, der Ton hoch oder tief. Riechen und Schmecken sind aneinander nahe benachbart. Wir schmecken, daß der Zucker süß ist, die Wurst gesalzen, zwischen den süßen Mandeln eine bittere. Für Düfte haben wir keine abstrakten Namen. Wir riechen die Rose. In einem Haus riecht es wie in dem Treppenhaus unserer Kindheit. Der allgemeine Name des Tastsinns umfaßt mehrere ganz verschiedene Empfindungsqualitäten. Wir können die Form eines Körpers abtasten. Wir spüren, ob er rauh oder glatt ist. Wir spüren aber auch, ob er warm oder kalt ist. Wir fühlen den kalten Wind, das heiße Eisen. Ein Wespenstich bekundet sich durch sofortigen brennenden Schmerz. Wir spüren so unseren eigenen Körper. Wir fühlen Kopfweh. Wir spüren die Bewegung unserer Glieder und durch die Bewegung der Glieder wiederum die Körper ringsum. Wir spüren den Widerstand, die Undurchdringlichkeit und die Beweglichkeit der Körper.
Die zweite Stufe ist die Stufe der physikalischen Gegenstände.
Was wir mit den Sinnen wahrnehmen, sind Gegenstände. Ich sehe nicht grün, ich sehe einen Baum. Ich höre nicht das hohe C, ich höre die Stimme eines Vogels. Die Physik versucht nun, die Fülle der Gegenstände zurückzuführen auf einige wenige. Sie führt einen Grundbegriff ein, der das Gemeinsame, wie es zunächst scheint, aller Gegenstände umfaßt, den Begriff der Materie. Der Baum, der Leib des Vogels, der Stein, auf dem ich stehe, der Stern am Himmel, sie alle sind Materie.