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Auch ein Kritiker kann nicht gerecht sein E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Hans Fallada hat am literarischen Leben in der Weimarer Republik als Kritiker und Publizist engagiert Anteil genommen. Bevor er nicht zufällig 1933 auf diesem Gebiet verstummte, hat er die damaligen Neuerscheinungen von Erich Kästner, Erich Maria Remarque, Irmgard Keun, Carl Zuckmayer, aber auch Bücher von Ernest Hemingway und Sinclair Lewis besprochen. Die hier erstmals wieder veröffentlichten Texte, subjektive Lektüreeindrücke eines leidenschaftlichen Lesers, sind zugleich aufschlussreiche Selbstzeugnisse des Autors Hans Fallada.

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Seitenzahl: 142

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Hans Fallada

Michael Töteberg (Hg.)

Auch ein Kritiker kann nicht gerecht sein

Aufsätze zur zeitgenössischen Literatur

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Hans Fallada hat am literarischen Leben in der Weimarer Republik als Kritiker und Publizist engagiert Anteil genommen. Bevor er nicht zufällig 1933 auf diesem Gebiet verstummte, hat er die damaligen Neuerscheinungen von Erich Kästner, Erich Maria Remarque, Irmgard Keun, Carl Zuckmayer, aber auch Bücher von Ernest Hemingway und Sinclair Lewis besprochen. Die hier erstmals wieder veröffentlichten Texte, subjektive Lektüreeindrücke eines leidenschaftlichen Lesers, sind zugleich aufschlussreiche Selbstzeugnisse des Autors Hans Fallada.

Über Hans Fallada

Hans Fallada (1893–1947) gehört zu den großen deutschsprachigen Erzählern des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Roman «Kleiner Mann – was nun?» wurde in zwanzig Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt und machte ihn weltberühmt. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen außerdem «Bauern, Bonzen und Bomben», «Wer einmal aus dem Blechnapf frisst» und «Wolf unter Wölfen». Jahrzehnte nach seinem Tod wurde Hans Fallada mit «Jeder stirbt für sich allein» überraschend international noch einmal zum Bestsellerautor. Sein Werk erlebte eine Renaissance.

Was liest man eigentlich in Hinterpommern?

Geben Sie einem Agronomen, sagen wir aus Hinterpommern, ein Buch in die Hand, so hören Sie von ihm häufig die Frage: «Geht das Buch gut?» (andere Gegenden bevorzugen die Wendung: «Liest sich das Buch scheene?») Eine Frage, die auf den Mund schlägt und ein kribbliges Gefühl erregt, dem Gegenüber das Buch wieder zu entreißen. Sie merken, Sie sind in einer andern Welt. Sie sehen, wie die gebräunten, oft rassigen Hände das Buch in der Mitte öffnen, zwei, drei Zeilen oder auch nur Wörter werden gelesen, zwei Seiten weiter dasselbe, am Schluss noch ein Blick. (Dem Titelblatt wurde kein Blick geschenkt.) Man hört die Versicherung: «Ich werde das Buch mal lesen.» Und nun die Krönung: «Eigentlich lese ich ja keine Romane.»

Eigentlich liest er nur Romane. Bloß eben andere. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich das Publikum der Courths-Mahler, Werner, Wothe, Eschstruth nur von der Hintertreppe rekrutiert: den Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen nebst körperlichem und seelischen Anhang. Auch der reckenhafte Militarist versinkt in Träumen über den sylphenhaften Schleiergestalten der Kolportage.

Es fragt sich nur, warum. Was man auch sage: Die Welt, in der er arbeitet, lügt nicht. Korn, das wächst, lügt nicht, Vieh, das geboren und Milch wird, lügt nicht, das Wetter lügt nicht, die gute Erde lügt nicht. Und am Ende: ein Dorf ist so klein, auch die Menschen können sich nicht lange umlügen, hier wird alles beobachtet, da nichts geschieht, ist das Zehntel eines Geschehens schon von Wichtigkeit. Man errät aus Bewegungen, Andeutungen, aus der Richtung eines abendlichen Ganges, aus der Veränderung einer Stimmung mit Genauigkeit das Entscheidende.

Ist es nicht seltsam, dass dieser Beruf, der wie kein anderer in all seinen Verrichtungen von naturhafter Wahrhaftigkeit umgeben ist, in seiner Politik und in dem Zeitvertreib seiner Mußestunden die Lüge liebt? Und nur die Lüge? Auf dem Lande jedenfalls muss der Satz erfunden worden sein: die Kunst soll erfreuen.

Die Welt, in der er lebt, ist eine sehr einfache Welt. Die Liebe, die einen Knecht und ein Hofgängermädel zusammenbringt, ist auf die primitivsten Anlässe rückgeführt, sagen wir, auf den Anlass. Hier fehlt völlig das versteckende Spiel der Redensarten, der Ideale, keine Mäntelchen, alles ist nackt. Keine Umwege, jedes kennt sein Ziel.

Das aber ist seine Sünde, dass der lesende Agrarier, vielleicht von der Schule, vielleicht von der Religionsstunde her, an eine andere Welt glaubt. Diese Welt lebt er, aber ein bisschen glaubt er doch an die andere. Er schlägt das Buch auf, und nun ist sie um ihn, diese andere Welt. Hier erlebt er unfassbare Verzichtsleistungen, einen Edelsinn, den er bewundert, eine Treue an das Ideal, die er nie besessen hat (und selbst nie haben möchte). Er, der am Tage einfach sein muss, auf kotigen Landwegen, unter wind- und regengerüttelten Bäumen, am Abend ist er in der lauen Luft der Ballsäle, sein kupferrotes Gesicht, nun von bleicher Blässe, neigt sich über eine schmale Hand …

Wie diese Leute nie denken gelernt haben und nie denken lernen wollten, so haben sie auch nie lesen gelernt. Wir wissen, wie wir uns von unsern ersten Jungenstagen weiterlasen, von Buch zu Buch, wie wir eindrangen in diese Geheimgänge, wie wir allen Verwandten unbegreiflich treulos erschienen, da wir jeden neuen Tag die Götter vom Vorigen lachend entthronten, bis wir schließlich vordrangen bis zum Blute des Buches selbst, dem Stil, seinen Verästelungen nachspürten, wie uns die leise Hebung einer Zeile entzückte, ein Beiwort, das ein wenig aus dem Gefüge herausgerückt war und das schlicht und unaufdringlich für sich stand, zu Tränen verführte.

Was wissen diese von alledem? Sie lesen Bücher, um die Leere ihrer Abendstunden zu füllen. Ich weiß nicht, ob die Anekdote schon bekannt ist von jenem Landwirt, dem ein Buchhändler Maeterlinck, «Leben der Bienen» vorlegte. Der Landwirt blättert eine Weile in dem Buch und fragt dann den Buchhändler: «Haben Sie vielleicht ein solches Buch auch über Rindvieh?»

Diese «schöne» Literatur im Bücherschranke des Landwirts führt über die Brücke von Dinters «Sünde wider das Blut» zu jenen Werken, die der Weltkrieg oder der Große Krieg heißen, und ihre letzte Ergänzung in den Memoirenwerken großer Feldherrn und in Regimentsgeschichten fanden. Friedlich daneben steht die Schweinezucht und Kellners «Fütterungslehre».

Künstler Deutschlands, hier liegt eine große Provinz, die zu erobern euch vorbehalten ist! (Ihr werdet sie nicht erobern.)

Ernest Hemingway oder Woran liegt es?

Jemand las ein Buch von Hemingway. Später sagte er: «Das war wieder wie damals, als man die Literatur entdeckte …» Dann ging ich alle meine Freunde durch, welchen ich Hemingway zutraute. Ich fand mit Not zwei.

Dies sind zwei Behauptungen: die eine, dass Hemingway eine neue beglückende Insel ist, die andere, dass die wenigsten an ihrem Strande landen können. Durchblättert man die Hunderte von Kritiken, so findet man dasselbe: Die Hälfte merkt überhaupt nicht, dass sie etwas anderes liest, als was sie alle Tage liest. Ein Viertel hat etwas läuten gehört, sie sagen: Da wird solch ein Geschrei um diesen Hemingway gemacht; nun gut, das ist interessant, das ist nicht schlecht erzählt, aber was weiter? Das letzte Viertel ist gelandet.

Woran liegt es, dass dies nicht alle spüren, wenn Hemingways Werk wirklich etwas Einmaliges, nicht zu Verwechselndes ist? Woran liegt es?

Es könnte am Stoff liegen oder am Stil, es könnte an der Art, die Dinge zu betrachten, liegen. Sehen wir zu.

Drei Bücher gibt es von diesem jungen Amerikaner in deutscher Übersetzung: «Männer», «Fiesta», «In einem andern Land». «Männer», das sind Kurzgeschichten, etwa der Art: In einer Kneipe sitzen ein paar Leute. Zwei Männer kommen dazu, sie tragen Melonenhüte, sie sind etwas kiebig, sie frotzeln die anderen Gäste und den Wirt, sie erkundigen sich auch, ob ein Gewisser diesen Abend noch dort essen wird? Vielleicht. Nachher sitzen der Wirt und sein Negerkoch gefesselt in der Küche, die anderen Gäste werden von einem Revolver in Schach gehalten. Die beiden Melonenhüte, die vom Dichter die Bezeichnung «Mörder» in der Geschichte bekommen haben, warten auf den Gewissen, den sie für einen Dritten killen wollen. Der Gewisse kommt nicht, die Melonenhüte ziehen frotzelnd ab. Ein ganz Besorgter geht noch zu dem andern auf die Bude, ihn zu warnen. Das war unnötig, der weiß schon Bescheid, er sitzt auf seiner Bude und hat Angst. Der hat immerzu Angst, das ist nun sein Leben. Schluss. Fertig. Ende. Wir erfahren nicht, ob er später gekillt wird, ob er vielleicht doch noch ausreißen wird, warum er eigentlich gekillt werden soll. Gar nichts. – Geschichten etwa dieser Art, meist ohne Pointe.

Das nächste Buch, ein Roman, «Fiesta». Fiesta, das ist Stiergefecht in Spanien, ein Fest. Ein paar Amerikaner fahren dahin, nun gut, ist man in Europa, sieht man sich schon so etwas an. Es ist eine Frau dabei, es wird unendlich getrunken, sie lernen den Slang der Stierfechter (und die Frau noch mehr als das), sie sind begeistert, sie gehen auch mal zwischendurch Forellen angeln. Was weiter? Eine durchschnittliche Rotte Amerika, Europa betrachtend, ein bisschen verlottert vielleicht, nun gut. Auch eine Liebesgeschichte ist darin, sie lieben sich wohl, obgleich er eigentlich seit einem Bauchschuss im Kriege kein Mann mehr ist. Dann ist die Fiesta zu Ende, sie reisen wieder weiter. Hallo, hallo, wo ist jetzt etwas los? San Sebastian, es ist recht. Die sehen sich wieder, trennen sich wieder, sehen sich wieder wieder. Was hat es für einen Zweck? Aus der Sache kann nichts werden, so viel ist klar, wo nichts mehr ist, geht es nicht. Die haben Sorgen, nun, ich habe auch meine Sorgen. Warum geht der Krempel mich eigentlich etwas an? Ich finde ja geradeheraus gesagt, dass die Welt etwas vollkommener, sagen wir ganz banal, schöner geworden ist, seit ich dies Buch kenne. Aber warum? Warum?

Das dritte Buch heißt «In einem andern Land». Also, das ist die Geschichte eines Amerikaners, Leutnant an der italienischen Front. Anno Weltkrieg. Er findet diesen Krieg nicht ganz nach seinem Geschmack, er desertiert. Eine Krankenschwester, mit der poussiert und der er ein Kind gemacht hat, nimmt er mit, sie stirbt bei der Geburt. «Ich ging durch den Regen ins Hotel zurück.» Schluss damit. Adieu Krieg.

So hieß übrigens auch mal der Titel, als der Roman in der «Frankfurter» abgedruckt wurde. Der Titel der amerikanischen Ausgabe ist wieder anders, er heißt «A Farewell to Arms».

Mit diesen Titeln ist es eine seltsame Geschichte. Dass der amerikanische nicht zu übersetzen ist, versteht sich, er ist doppelsinnig: Lebewohl den Waffen, aber auch Lebewohl den Armen, der Liebe. Adieu Krieg, adieu Liebe. Aber «In einem andern Land» – ist das nicht ein wenig blass? Ein Amerikaner an der italienischen Front, aber genügt das für einen Titel? Dann hört man, dass sich Hemingway diesen Titel gewünscht hat, es sei der «eigentliche» Titel für sein Buch. Da ist ein Motto vor dem Roman: «Aber du hast Hurerei getrieben?» – «Ja, schon. Aber es war in einem andern Land. Und außerdem ist die Hure tot.»

So, das ist wirklich seltsam. Es ist die herrlichste Liebesgeschichte, arme Katharina, wundervolle Katharina – und außerdem ist die Hure tot. «Ich ging durch den Regen ins Hotel.» Er hat es erlebt, er hat es geschrieben, es war das Herrlichste, was das Leben geben konnte, es kommt nicht wieder. Und hier bricht etwas durch von der Urangst des Mannes, etwas Atavistisches, ich will es nicht berufen, es war nicht so schön, es war nicht das Herrlichste, sie war nur eine Hure, es war in einem andern Land, es gilt nicht! Ist es so? Vielleicht ist es so!

Doch dies nur nebenbei.

An sich sind es Stoffe wie alle Stoffe, in ihnen liegt das Besondere nicht, jeder könnte sich mit ihnen befassen, der sich mit Schreiben abgibt. Also liegt es am Stil?

Beschäftigt man sich mit dem Stil, so macht man beispielsweise die Entdeckung, dass Hemingway das schmückende Beiwort, das Epitheton ornans, nicht kennt. Er braucht natürlich Adjektive, aber wenn er weiße Elefanten sagt, so meint er Elefanten mit weißer Haut, und sagt er dunkle Straße, so meint er wirklich eine Straße, die dunkel ist, fertig. Er schmückt nicht, er macht keinen Schmus, er will keine Stimmungsmalerei machen, einmal versteigt er sich zu einem wirklich gutaussehenden Land – «es war wirklich gutaussehendes Land» – dies ist das Höchste, was er sagt. Und sein italienisch-amerikanischer Leutnant formuliert das einmal so: «Mich verwirrten immer Worte wie heilig, ruhmreich und Opfer und der Ausdruck umsonst … Es gab viele Worte, die man nicht anhören konnte, und schließlich hatten nur noch Ortsnamen Würde.»

Schön, also das ist der Leutnant Henry, heißt Ernest Hemingway. Er hat eine fanatische Liebe zu den Dingen, zu den guten greifbaren Dingen. Wenn er Apfel sagt, so meint er Apfel, den kennt man ja. Es gibt Leute, die brauchen die Verkleidung, den Schmuck, dagegen ist nichts zu sagen. Aber es gibt andere Leute, die finden, der Apfel ist für sie gut genug, auch wenn man ihn nicht rotbäckig, nicht wohlriechend nennt. Hemingway gibt nur das Notwendigste. So macht er das auch in der Art der Erzählung. Die ist unerhört primitiv. Erst tat er das, dann tat er das. Beinahe wie in der Bibel: er ging hin und nahm ein Weib.

Zeichnen ist Weglassen, auch Erzählen ist Weglassen. Es ist ganz ungeheuerlich, wie er das macht. Er erzählt Details über Details. Wie man in eine Stadt kommt, sich ein Hotelzimmer nimmt, mit dem Portier ein paar Worte spricht, raufgeht, sich wäscht, ein frisches Hemd anzieht, Anzüge in den Schrank hängt, wieder in die Stadt geht, eine Zeitung kauft – Details über Details, Weglassen aller Gefühle, es gibt keinen Autor –: und aus alldem steigt Traurigkeit auf, die Verlorenheit im Leben, unsere Ziellosigkeit, Ausgeliefertsein an das Schicksal. Hemingway spricht nie davon, er spricht nie von Gefühlen, wenn er von Liebe spricht, ist das keine hohe Göttertochter, sondern eine ganz irdische Sache, Geschwätz zu zweien, wie schön es ist, zusammen ins Bett zu gehen, den Regen vor den Fenstern zu hören, sich zu halten.

Er zeichnet nur ein paar Striche, grade die Striche, die notwendig sind für die Kontur. Das andere überlässt er seinen Lesern, uns. Nun kommt es darauf an, wie wir zu den Dingen stehen.

Da ist die Geschichte mit den Mördern. Ein Mann sitzt in seinem Zimmer und hat Angst, er weiß, er wird abgeschossen, davor hat er Furcht. Nun kann man ja erzählen, was für Gemeinheiten der Kerl gemacht hat, wie sie ihm draufgekommen sind, wie er ausgerissen ist von Zimmer zu Zimmer, von Stadt zu Stadt. Wie sie ihm näher kamen, wie er gerade noch einmal entwischte … Nichts von alledem. Da kommen zwei Kerle in eine Bar, machen Witze, und drüben, drei Straßen weiter, sitzt er und hat Angst. Fertig.

Er gibt den Umriss, das andere haben wir zu geben. Wenn wir etwas zu geben haben, da liegt das Geheimnis. Er gibt die Vorbedingungen für die Gefühle, das andere müssen wir schon machen, wenn wir eben fühlen können. Er gibt den Anlass zur Liebe, aber haben wir auch das Herz, zu lieben? Daran liegt es.

Wohl dem, der zwei Freunde für Hemingway hat.

Lampel der Jäger

Er ist 33 Jahre, als er sein erstes Drama schreibt. Bis dahin hat er das Leben jener Generation gelebt, für die der Krieg den großen Einschnitt bedeutet. In ihm war er Offizier, nach und vor ihm hat er gelernt, studiert, gemalt, Bankangestellter, Reklamezeichner: alles, nichts. Dieser Pastorensohn aus dem Niederschlesischen hat sich nicht einfügen können. Immer ist er hinter etwas her gewesen, und ist es heute Oberschlesien, morgen die schwarze Reichswehr, übermorgen Malerei: es hält ihn nichts, er muss weiter.

Plötzlich merkt er, er ist allein. Was von seiner Generation noch lebt, ist untergekommen, auf Kontorstühlen oder Offiziersposten. Die wilden Zeiten sind vorbei, er allein weiß nicht, wohin er gehört. Er grübelt: woran liegt es? Die andern fanden den Anschluss, es schien kaum ein Übergang für sie zu sein, eines schloss sich mühelos an das andere. Aber ich –? Er grübelt, er sucht. Und was aus diesem Suchen wird, ist etwas Geschriebenes, ein Bericht, genau gesagt ein Schauspiel, ein historisches Schauspiel. Historisch –?

«Putsch» (1927), das ist das Schill’sche Abenteuer 1809, endend mit dem Tode Schills in den Straßen von Stralsund, mit der Erschießung der elf Offiziere in Wesel. Putsch, das ist in Verhandlungen mit gebügelten Stabsoffizieren Botschaften an einen entschlusslosen Souverän, mit den «Sympathien» der Oberen, die nachher, wenn es schiefgeht, nichts gewusst haben, das ist mit seinen Intrigen, Gemeinheiten, Idealismus und Abenteuerlust nicht 1809, das ist 1923 der Putsch der schwarzen Reichswehr in Küstrin. «Putsch», das ist die Abrechnung mit eine Periode des eigenen Lebens: Habe ich darum den Anschluss an die Frontkameraden verloren? Sitze ich darum allein? Und aus dem Wust von Patriotismus und Geschäft erhebt sich die Klage um die nutzlos auftrags des Vaterlandes geopferten namenlosen Soldaten. Heißt es am Ende «Wir sind die ersten Toten einer deutschen Republik», so klingt vernehmlicher als dies Sterbewort der Schill’schen Elf die Stimme Lampels aus dem Stück: Besser freilich ist es, für diese Republik zu leben und zu wirken.

Er tut es, und eine Weile später ist er Hospitant in einem jener Erziehungshäuser, die zehn Jahre früher noch die Vorsilbe «Zwang» trugen. Doch das gibt es heute nicht mehr. Warum eigentlich nicht, denkt der Hospitant, es ist doch alles Zwang, das bisschen Humanität aufgeklebter Gips. Und er ist ganz bei den Jungen, die ihm nicht weniger misstrauen als den andern «Erziehern», und solange er dort wirkt, versucht er, ihnen zu helfen. Er wird als Idealist verlacht, aber er ist einer jener trockenen praktischen Idealisten, die über dem großen Ziel nicht die nahe Kleinarbeit vergessen (das hat er im Felde gelernt). Und darum, als alles in einer Revolte zusammenbricht, die er gar mit verschuldet haben soll, weiß er Hilfe. Plötzlich sind zwei Bücher von ihm da, und alle Welt spricht von Zwangserziehung, sagt wieder «Zwangs»-Erziehung.