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Eine Sammlung der wichtigsten Beiträge des Altbundeskanzlers zur deutschen Einheit: Seine Analysen der Fehler und Folgen der Vereinigung verraten mehr über die Ursachen der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Probleme unseres Landes als die meisten tagesaktuellen Stellungnahmen. Aber Helmut Schmidt zeigt auch, unter welchen Bedingungen die Vereinigung doch noch gelingen könnte.
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Seitenzahl: 248
Helmut Schmidt
Bilanz und Ausblick
Wenige Politiker haben das schwierige Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West so leidenschaftlich und so genau verfolgt wie Helmut Schmidt. Sein Urteil war dabei stets von großer Nüchternheit geprägt; bereits im März 1990 mahnte er, die Probleme der Wiedervereinigung nicht kleinzureden und warnte davor, den Menschen im Osten blühende Landschaften in Aussicht zu stellen. Weil die Regierung Kohl zunächst die Notwendigkeit radikaler Schritte nicht anerkannte und ihr dann der Mut zu unpopulären Maßnahmen fehlte, standen bald schon der Wohlstand und die Zukunftsfähigkeit der gesamten Nation auf dem Spiel. «Nein – so haben wir uns die Vereinigung unseres Volkes wirklich nicht vorgestellt», lautete Schmidts bitteres Fazit schon nach drei Jahren. Er appellierte an die Solidarität, fand mit seinen vielfältigen Vorschlägen zu einer konzertierten Aktion aller Kräfte in Staat und Gesellschaft aber nur bedingt Gehör. Dabei sind sie bedenkenswert wie eh und je. Und Helmut Schmidts Analysen der Fehler und Folgen der Vereinigung verraten mehr über die Ursachen der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Probleme der Republik als viele tagesaktuelle Stellungnahmen.
Dieses Buch präsentiert die wichtigsten Aufsätze und Reden Schmidts zur deutschen Einheit. In einem großen Essay am Schluss fasste der Autor seine zentralen Thesen zum Wiederaufbau Ostdeutschlands zusammen und beschrieb, unter welchen Bedingungen die Vereinigung doch noch gelingen könnte.
Helmut Schmidt wurde 1918 in Hamburg geboren. 1946 trat er in die SPD ein, deren stellvertretender Bundesvorsitzender er von 1968 bis 1984 war. 1953 wurde er Mitglied des Deutschen Bundestags. Er wurde Innensenator in Hamburg (1961–1965) sowie Bundesminister der Verteidigung (1969–1972), für Wirtschaft und Finanzen (1972), danach Bundesminister für Finanzen (1972–1974) und von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit 1983 war er Herausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Helmut Schmidt starb im November 2015 in Hamburg.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Covergestaltung Umschlag-Konzept: any.way, Hamburg Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt
Coverabbildung Gunter Glücklich
ISBN 978-3-644-00018-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Vorwort
Was jetzt in Deutschland geschehen muß
Solidarität ist unteilbar
Schritt um Schritt zur Einheit
Das große Glück der Freiheit
Deutschlands große Chance
Ein Acht-Punkte-Programm
Zum ersten Jahrestag der Wiedervereinigung
Ein Pakt für die Einheit
Die sieben Kardinalfehler der Wiedervereinigung
Ursachen der Fehleinschätzung
Sieben Kardinalfehler
Zur Lage der Nation
Der Osten bricht weg
Ein Paukenschlag für den Osten
Weil Deutschland sich ändern muß
Die meisten Fehler der Wiedervereinigung sind nicht korrigierbar
Den Aufholprozeß des Ostens wieder in Gang bringen
Was der Osten wirklich braucht
Statt eines Nachworts
Quellennachweise
Als im Frühjahr der Rowohlt Verlag mit der Anregung an mich herantrat, eine Auswahl meiner Beiträge zu den Fragen der Wiedervereinigung und besonders zur Re-Integration der beiden über 40 Jahre getrennten deutschen Volkswirtschaften herauszugeben, habe ich gern zugestimmt. Denn ich bin seit Jahrzehnten leidenschaftlich an diesem Thema interessiert. Und die ökonomische Vereinigung hatte ich mir ganz anders vorgestellt, als wir sie seit 1989 erlebt haben. Ich bin mit dem Erreichten keineswegs zufrieden. Wenngleich kein Marxist, so wußte ich doch immer, der Lehrsatz, nach dem das ökonomische Sein das Bewußtsein bestimmt, enthält zwar nicht die ganze Wahrheit, aber doch eine psychologisch und politisch höchst wichtige Einsicht.
Dieser Band enthält eine Auswahl von 16 Beiträgen: zumeist Artikel, die ursprünglich in der ZEIT erschienen sind, zwei Reden in Rostock und Erfurt sowie einige Buchauszüge. Alle Beiträge stammen aus den Jahren 1989 bis 2004.
Besonders hinweisen möchte ich auf den Essay, den ich für diesen Band geschrieben und als Nachwort beigefügt habe. Er enthält eine Bewertung des bisherigen Vereinigungsprozesses aus heutiger Sicht und zieht eine Zwischenbilanz. Die meisten Fehler und Versäumnisse der letzten fünfzehn Jahre sind kaum noch zu korrigieren. Deshalb bin ich heute weniger zuversichtlich, als ich es 1989/90 gewesen bin. Aber ich will den Kopf nicht in den Sand stecken. Zum Handeln ist es noch keineswegs zu spät! Deshalb schließe ich mit drei Vorschlägen für die Zukunft.
Anders als Roman Herzog 1997 in seiner «Ruck-Rede», anders als Gerhard Schröder 2003 in seiner «Agenda-2010-Rede» und anders als Horst Köhler in seiner «Arbeit-hat-Vorfahrt-Rede» in diesem Jahr habe ich es immer für eine entscheidend wichtige innenpolitische Aufgabe angesehen, den wirtschaftlichen Aufholprozeß des Ostens wieder in Gang zu bringen. Das ist auch heute und morgen noch möglich! Ich möchte hoffen, dieser Band könnte dazu beitragen.
Hamburg, im Vorfeld der Bundestagswahl 2005
Helmut Schmidt
Dezember 1989
Seit dem Sommer dieses Jahres ändert sich die deutsche Lage in schnellem Tempo. Zum erstenmal in der deutschen Geschichte hat es eine Revolution gegeben, welche den Namen verdient. Seither und auch seit Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm vom 22. November hat sich die Lage schnell weiter entwickelt; durch Reaktionen in Washington, in Moskau, in Paris, in Warschau, in Malta, Kiew und Straßburg, in fast allen europäischen Hauptstädten. Vor allem in der DDR.
Die SED ist praktisch zusammengebrochen. Am 6. Mai 1990 soll gewählt werden; bis zur Bildung einer Regierung durch eine erstmalig frei gewählte Volkskammer werden noch mindestens fünf Monate vergehen. Bis dahin bleiben viele Unklarheiten über die Zukunft der deutschen Nation. Neue Ungewißheiten und Unklarheiten werden offenbar werden – auch nach dem 6. Mai. Eine schrittweise gegenseitige Annäherung der beiden deutschen Staaten durch Zusammenarbeit auf zusätzlichen Feldern und durch zusätzliche Institutionen ist wahrscheinlich. Sie ist dringend zu wünschen. Wer immer sich dagegen ausspräche, der könnte gefährlichen deutschen Nationalismus auslösen.
Was ist die notwendige Rang- und Reihenfolge? Das wichtigste ist die Herstellung einer vollen Garantie für Würde und Freiheit der Person, die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie und eines zuverlässigen Rechtsstaates in der DDR. Schon vor dem 6. Mai sollten gewisse Paragraphen des DDR-Strafgesetzbuches gestrichen und die völlige Unabhängigkeit der Gerichte gesichert werden, damit nicht empörte Bürger zur Selbstjustiz greifen und das Land ins Chaos stürzen.
An zweiter Stelle muß für alle Deutschen die dringend gebotene Rücksichtnahme auf die Interessen der übrigen europäischen Völker, ihrer Staaten und ihrer Regierungen stehen. Wir Deutschen tragen die Last einer besonders ungünstigen geographischen Lage. Wir haben mehr Nachbarn als irgendein anderes Volk. Mit allen Nachbarn in gutem Einvernehmen zu leben ist deshalb für uns noch schwieriger als für die anderen Völker in Europa. Unter Hitler haben deutsche Soldaten vom Nordkap bis nach Nordafrika, von Madrid bis zum Kaukasus gekämpft, auf dem Boden von mehr als der Hälfte der Staaten Europas. Dabei sind grauenhafte Verbrechen geschehen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn heute in unseren Nachbarvölkern Besorgnisse sich zu Wort melden, nachdem es jetzt zum erstenmal seit 1945 möglich erscheint, daß die Deutschen ein gemeinsames Dach über sich errichten. Deshalb müssen wir darauf sinnen, wie wir unseren Nachbarn einen solchen Vorgang erträglich und für sie nützlich gestalten können.
Ob und wie weit der deutsch-deutsche Annäherungsprozeß geht, hängt zuallererst von den Deutschen in der DDR ab. Wahrscheinlich werden eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage in der DDR und das wirtschaftliche Gefälle den Wunsch mindestens nach einem gemeinsamen wirtschafilichen Dach bald erstarken lassen. Wir Westdeutschen werden dazu bereit sein. Viele von uns werden das Wort «Wiedervereinigung» vermeiden; denn was bedeutet «wieder?» Wir wollen ja nichts «wieder» so wie zu Hitlers Zeiten, auch nicht wie anno Weimar, auch nicht wieder wie in der Wilhelminischen Epoche.
Wir Westdeutschen sind voller Hoffnung bereit zur Gemeinsamkeit aller Deutschen. «Es wird zusammenwachsen, was zusammengehört», so mit Recht Willy Brandt. Das deutsche Interesse können wir jedoch nicht ohne die anderen verwirklichen. Deutscher Glaube kann keine Berge versetzen. Er darf Grenzen weder verschieben noch aufheben wollen; er darf es nicht um des Friedens willen. Mindestens drei kategorische Interessen anderer müssen wir berücksichtigen:
das Interesse der Sowjetunion, ihren Weltmachtstatus und ihre Sicherheit in Europa strategisch zu sichern;
die Besorgnis vieler Menschen in beiden Teilen Europas vor einer Wiederkehr des sowjetischen Imperialismus, gleich ob Gorbatschow gestürzt werden oder ob Perestrojka langfristig zur Erstarkung der Sowjetunion führen sollte;
das gemeinsame Interesse fast aller anderen Europäer, vor einer späteren Wiederaufrichtung deutscher Hegemonie sicher zu sein.
Alle Interessen unter einen Hut zu bringen erscheint schwierig, aber es ist möglich. Mancherorts wird deshalb heute an Modellen oder Blaupausen für die Zukunft der Struktur Europas und der beiden Bündnisse gearbeitet. Einige der Modelle sind voreilig. Man soll nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Aber es gibt Prinzipien und Ziele, die nicht aus den Augen gelassen werden dürfen.
Das Selbstbestimmungsrecht, von den Vereinten Nationen mehrfach bekräftigt, gilt selbstverständlich auch für uns Deutsche. Die Helsinki-Schlußakte 1975 hat daran nichts geändert; der seitherige Helsinki-Prozeß und dessen von allen Beteiligten beabsichtigte Fortsetzung liegen im deutschen Interesse. Unabhängig davon gelten aber das Viermächteabkommen über Berlin sowie der Deutschland-Vertrag zwischen den drei Westmächten und der Bundesrepublik.
Die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten verlangen nach einem Gleichgewicht der in Europa stationierten militärischen Kräfte, die Vernunft gebietet Absenkung der gegenwärtigen Zahlen durch Abrüstungsvertrag. Das hieraus resultierende gesamteuropäische Sicherheitssystem – die «Europäische Friedensordnung» – bedarf der Mitwirkung der Vereinigten Staaten und der Bündnissysteme in West und Ost. Eine Auflösung der militärischen Bündnissysteme sollte für den Rest des 20. Jahrhunderts nicht zur Debatte gestellt werden. Für den Fall einer schrittweisen Konföderation beider deutscher Teile kann für das Territorium der DDR ein besonderer militärischer Status zweckmäßig sein, aufgrund dessen dort für einen noch zu definierenden Zeitraum sowjetische Streitkräfte präsent bleiben.
Die demokratischen Staaten im östlichen Teil Europas bedürfen erheblicher wirtschaftlicher Hilfe durch die Europäische Gemeinschaft, damit sich die jungen Demokratien stabilisieren können. Die Europäische Gemeinschaft ist ein allgemeiner wirtschaftlicher Stabilitätsanker, sie ist zugleich das politische Gravitationszentrum des Kontinents. Wir Deutschen dürfen das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion und das Endziel der politischen Union nicht gefährden; nur als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft können wir hoffen, die Besorgnisse unserer Nachbarn abzubauen. Die Europäische Gemeinschaft bedarf der Vertiefung, zum Beispiel durch das europäische System der Zentralbanken und durch gemeinsame Geld- und Währungspolitik, durch gemeinsame Außenpolitik und – hoffentlich eines nicht fernen Tages – durch gemeinsame Sicherheitspolitik. Vertiefung also, nicht Verwässerung.
Die wichtigsten unmittelbaren Nachbarn unseres Volkes sind die Franzosen und die Polen, danach kommen die Holländer, die Tschechen und alle anderen. Den Polen wie den Franzosen gegenüber haben wir politisch und psychologisch besondere Anstrengungen nötig.
Im Verhältnis zu Polen heißt dies: strikte und eindeutige Anerkennung der polnischen Westgrenze – ohne juristische Spitzfindigkeiten und ohne Wenn und Aber. Die Polen sind nicht schuld an der Westverschiebung ihres ganzen Volkes durch die Macht Stalins. Aber daß es dazu kommen konnte, das war eine Folge der deutschen Angriffe auf Polen und auf die Sowjetunion. Heute müssen wir endgültig unseren polnischen Nachbarn die Sorge nehmen vor der Möglichkeit einer abermaligen Grenzverschiebung. Die Gebiete der DDR und der Bundesrepublik bieten bei weitem genug Raum für 77 Millionen in selbst erarbeitetem Wohlstand lebende Menschen und für mehr; das Argument vom angeblichen Volk ohne Raum ist schon seit Jahrzehnten als ökonomischer Unfug entlarvt. Laßt uns endlich die gebotene Schlußfolgerung ziehen! Es gibt ohnehin kein Volk und keine Regierung auf der Welt, welche deutsche Grenzansprüche gegen Polen anerkennen wird. Deren Aufrechterhaltung führt zu deutscher Selbstisolierung: ein schweres Hindernis für die internationale Anerkennung des deutsch-deutschen Annährungsprozesses.
Für die internationale Anerkennung des Annährungsprozesses ist kein anderes Volk wichtiger als die Franzosen. Seit einer Reihe von Jahren antwortet das französische Volk mit großer Mehrheit auf die Meinungsumfrage nach seinem besten Freund: die Deutschen. Und ebensolange und mit gleicher Mehrheit antworten wir Deutschen auf die gleiche Frage: die Franzosen. Die jahrzehntelange Arbeit Jean Monnets, Schumans, de Gaulles, Giscard d'Estaings und Mitterrands, die Arbeit Adenauers und anderer Deutscher hat gute Früchte getragen. Keine andere Nation der ganzen Welt könnte den deutsch-deutschen Wunsch nach gegenseitiger Annäherung und nach einem gemeinsamen Dach eher und besser und glaubwürdiger legitimieren als die Franzosen. Allerdings gibt es in der politischen Klasse Frankreichs Hemmungen. Sie ergeben sich aus einem wirtschaftlichen und demographischen Zahlenvergleich, aus historischen Erinnerungen und auch aus Bonner Ungeschicklichkeiten. Aber das darf so nicht bleiben, denn Paris besitzt Trumpfkarten, die wir nicht besitzen und nie erlangen können.
Dies sind der ständige Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen; die Teilhabe am Deutschlandvertrag (mit dem Vorbehaltsrecht bezüglich Deutschlands als Ganzes) und am Viermächteabkommen über Berlin; die beträchtliche autonome nuklearstrategische Rüstung, der wir Deutschen durch den Atomwaffensperrvertrag (NPT) vertraglich entsagt haben. Vor allem aber: Frankreich hat in der Welt ein enormes, auf Geschichte und Kultur gegründetes Prestige als Nation, während auf uns Deutschen noch generationenlang die Erinnerung an Auschwitz und alle anderen Naziverbrechen lasten wird.
Wir Deutschen glauben den Franzosen, daß sie die Europäische Gemeinschaft zum Vereinigten Europa entwickeln wollen, den Engländern können wir das schwerlich glauben. Kein Engländer kann 77 Millionen Deutsche an den Westen binden, auch kein amerikanischer Präsident aus Georgia oder Kalifornien. Aber de Gaulle konnte es, so Giscard d'Estaing, so kann es Mitterrand, so kann es Frankreich insgesamt. Wir Deutschen bedürfen der Franzosen, ihres Verständnisses, ihrer Initiativen, ihres Verstandes, ihrer Führung. Es ist dringend nötig, denn es liegt im dringenden gesamtdeutschen Interesse, daß man sich in Bonn der französischen Schlüsselrolle wieder bewußt wird, daß die Bundesregierung sich bei jedem Schritt der bonne entente bewußt ist, daß sie keinen Schritt ohne Frankreich tut und Paris den Vortritt läßt, der den Franzosen gebührt. Mehr noch: Wenn eines Tages amerikanische und sowjetische Truppen in Europa stark vermindert werden, so sollte ein Franzose im Rahmen der Allianz die Stellung eines europäischen Oberkommandierenden einnehmen. Gewiß, auch die Franzosen müssen all dies selber wollen.
Keine Machtkonstellation dauert ewig, die Geschichte der Staaten folgt ihren eigenen Gesetzen. So im 19. Jahrhundert; als 1814/15 fünf Mächte im Wiener Kongreß ein Gleichgewicht über Europa errichteten, war die Konstruktion spätestens um die Mitte des 20. Jahrhunderts hinfällig geworden. So im 20. Jahrhundert, in dem zuerst der Hitlersche und heute der Stalinsche Imperialismus zuschanden wurden. Aber auch im 21. Jahrhundert werden Franzosen und Polen unsere wichtigsten Nachbarn bleiben. Und so wie jahrhundertelang – und am Ende mit Erfolg – die Polen an ihrem Willen zur Wiederherstellung ihres Staates festgehalten haben, so werden wir Deutschen an unserer nationalen Einheit festhalten. Aber wir selber müssen wissen: Ohne unsere Nachbarn geht das nicht.
Es war die weitgehende Abwesenheit europäischer Vernunft in den Köpfen deutscher Politiker, die nach 1890 und abermals nach 1919 dramatische Folgen gehabt hat. Nach 1890 hat in Berlin niemand mehr verstanden, wie sehr die anderen europäischen Mächte Gleichgewicht für nötig hielten. Mit egozentrischer Naivität machte sich das wilhelminische Deutschland – ohne Not – allzu viele Feinde. Nach 1919 blieben sowohl Locarno gegenüber Frankreich als auch Rapallo gegenüber der Sowjetunion bloß taktische Ansätze. Ein Ost-Locarno gegenüber Polen wurde von Stresemann sogar ausdrücklich abgelehnt.
Damit sich dergleichen nicht wiederholen kann, habe ich eine Reihe von Bitten an die Deutschen hüben und drüben.
Deutsch-deutsche Alleingänge können nicht ans Ziel führen, laßt uns Rücksicht nehmen auf alle unsere Nachbarn! Auch auf die strategischen Sicherheitsinteressen der Sowjetunion.
Laßt uns die großartige Errungenschaft des Vertrages über die nuklearen Mittelstreckenwaffen, nämlich die gegenseitigen Kontrollen und Inspektionen zum Vorbild nehmen für die Wiener Verhandlungen über den Abbau konventioneller Streitkräfte.
Weder die Aufrechterhaltung der beiden Bündnissysteme noch eine fortdauernde Anwesenheit eines Teils fremder Truppen muß uns Deutsche in beiden Staaten daran hindern, im Verkehr, auf der Schiene, der Straße, in der Luft oder per Telephon unsere Netze auszubauen, zu modernisieren und miteinander zu verknüpfen. Modrows Wort von der Vertragsgemeinschaft und Kohls Wort von neuen gemeinsamen Institutionen passen ohne Schwierigkeiten ineinander; bitte fangt alsbald damit an! Die jüngste Verlautbarung über den privaten Reiseverkehr und seine Finanzierung war ein guter Auftakt. Laßt unsere Regierungen schrittweise, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgehen und Überraschungen für Nachbarn und Partner vermeiden! Das Dach des seit 1975 andauernden Helsinki-Prozesses zu nutzen liegt in unserem beiderseitigen Interesse – und im Interesse aller unserer Nachbarn.
Wir Bundesdeutschen müssen uns zu großzügiger wirtschaftlicher Hilfe an die demokratischen Staaten im Osten entschließen, aber nicht allein durch die Bundesregierung, denn dies weckte Neid und Argwohn, sondern durch die Europäische Gemeinschaft. Laßt uns für Kooperationsverträge mit der EG eintreten. Bilateral bleibt dann noch genug zu tun, zum Beispiel die Entsendung von jungen Ärzten für Not- und Nachtdienst oder von Werkstattleitern, die an der Altersgrenze stehen. Natürlich muß derjenige mehr geben, der mehr hat; das gilt für die Mitgliedstaaten der EG ebenso wie für die Einzelpersonen.
Laßt uns Deutsche ein für jedermann fühlbares Opfer bringen: durch eine Vermögensabgabe oder eine vorübergehende Erhöhung der Einkommen-, Lohn- und Körperschaftsteuer.
Laßt die Bundestagsfraktionen unsere Schritte gemeinsam beraten und beschließen. Laßt keinen Opportunismus zu gegenüber Spießbürgern oder Extremisten, weder rechts noch links. Macht die Deutschland-Politik nicht zum Wahlkampfthema: In Ungarn oder Polen, in der ČSSR oder der DDR hat weder «der Kapitalismus» gesiegt noch die soziale Marktwirtschaft, sondern gesiegt hat der Wille zur Freiheit.
Vergeßt nicht, daß die DDR-Bürger selbst bestimmen müssen, was sie wollen.
Und vergeßt nicht: Unsere Zuverlässigkeit darf nirgendwo in Zweifel geraten. Es genügt nicht, über Gräbern und Konzentrationslagern einander zu umarmen. Entscheidend ist, wie wir in der tatsächlichen Politik miteinander umgehen.
Nach Eurem Meisterwerk der Gewaltlosigkeit erhoffen wir von Euch Deutschen in der DDR ein Meisterwerk der Umsicht, der Beharrlichkeit und der Geduld. Je länger es dauert, bis es zu freien Wahlen kommt, desto größer die Gefahr wirtschaftlicher und staatlicher Unordnung; je eher es aber zu Wahlen kommt, desto schwieriger die freie Organisation demokratischer Parteien, die Abhaltung von Parteitagen und die Aufstellung von Kandidaten.
Der 6. Mai als Wahltag ist ein Kompromiß. Ihr solltet sofort Telephone, Telefaxe, Zugang zu Fernsehen, zu Druckereien und Papier verlangen. Aber widersteht allen Versuchungen zum Faustrecht, gebt niemandem einen Anlaß, Gewalt einzusetzen, vertraut auf die Selbstheilungskraft Eurer Bewegung.
Eure wirtschaftliche Lage wird sich zunächst verschlechtern. Vertraut auf unsere Hilfsbereitschaft. Sagt uns, was Ihr braucht. Habt keine Angst vor dem Gespenst Kapitalismus, von dem Ihr angeblich aufgefressen werden sollt; denn nichts kann in der DDR geschehen ohne den Willen der von Euch frei gewählten Volksvertreter.
Und laßt Euch nicht von antipolnischer Hetze verleiten. Was hülfe es der Freiheit, wenn nach Beseitigung von Mauer und Stacheldraht statt dessen die Oder zu einer unüberwindlichen Grenze gemacht würde? Das Käfigdasein muß ein Ende haben. Die Hetze der Völker gegeneinander muß auch ein Ende haben.
Vergeßt nicht: Ohne die Revolutionen in Polen und Ungarn wäre die Revolution in der DDR gewaltlos kaum zum Erfolg gelangt – und auch nicht ohne die Duldung durch die sowjetische Führung. Gorbatschow hat ein Risiko auf sich genommen, indem er dem Völkerrecht gehorsam war; Breschnew hätte statt dessen Panzer eingesetzt. Wir alle in Europa haben ein Interesse daran, daß Gorbatschow am Ruder bleibt. Dann wird es eines Tages auch zu einem echten gemeinsamen europäischen Haus kommen.
Februar 1990
Liebe Rostocker! Ich grüße Sie alle, Bürgerinnen und Bürger, schönen Dank für die Rosen. Käthe Woltemath hat eben daran erinnert, daß es keine zwei Jahre her ist, daß ich in der Marienkirche zu Ihnen sprechen durfte. Ich möchte einen Satz wiederholen, den ich damals gesagt habe. Ich habe in der Marienkirche im Sommer 1988 gesagt, ich sei dankbar dafür, daß ich von Ihnen hier in Rostock als Bruder angenommen wurde, und ich habe hinzugefügt, jeder von uns, von Euch in der DDR wie von uns in der Bundesrepublik, jeder von uns darf an seiner Hoffnung festhalten auf ein gemeinsames Dach über der deutschen Nation.
Das ist anderthalb Jahre her, und jetzt sind wir ein ganz großes Stück dichter dran, als wir damals waren. Damals auf dem Kirchentag, da durften wir nur in geschlossenen Räumen miteinander reden. Und beinahe hätte die Staatsmacht auch noch die Lautsprecher am Kirchendach abmontiert, aber, liebe Freunde, auf die Dauer läßt sich das freie Wort nicht unterbinden. Wir stehen hier unter freiem und offenem Himmel als ein freies Volk. Nie wieder dürfen Mauer und Stacheldraht und Reiseverbot und Schießbefehl die Deutschen von den Deutschen trennen. Darauf habt Ihr jahrzehntelang gewartet, dafür habt Ihr jahrzehntelang gearbeitet, dafür seid Ihr auf die Straße gegangen, dafür habt Ihr die Zähne zusammengebissen. Ihr Bürgerinnen und Bürger von Rostock, Ihr dürft stolz sein auf das, was Ihr bis heute erreicht habt. Aber vieles bleibt noch zu tun!
Ich erinnere mich: Vor gut sieben Jahren, da habe ich das letzte Mal als Regierungschef in Bonn vor dem Bonner Bundestag zu reden gehabt. Ich habe in dieser letzten Rede gesagt: Der Kern unserer Deutschland-Politik ist die Erhaltung der Einheit der Nation. Niemand hat damals vorhersehen können, daß sich schon sieben Jahre später die Möglichkeit eröffnen würde, die beiden Teile der Nation wieder aufeinander zuzuführen. Wir verdanken diese Möglichkeit, wir verdanken diese Chance Eurer gewaltlosen Revolution. Wir verdanken sie auch unserem gemeinsamen Festhalten am Willen zur Einheit.
Wir verdanken die Chance auch den Polen und den Ungarn, die Euch ein wenig vorangegangen sind. Und wir verdanken sie auch unseren westlichen Verbündeten, die uns in der Bundesrepublik in den Jahrzehnten sowjetischer Bedrohung durch Stalin, durch Chruschtschow, durch Breschnew den Rücken gestärkt haben und die Euch, den Deutschen in der DDR, die Hoffnung gegeben haben. Wir verdanken diese Chance allen Völkern Europas, die vor fünfzehn Jahren gemeinsam in der großen europäischen Konferenz zu Helsinki den Weg gebahnt haben zu einem gemeinsamen europäischen Haus. Und wenn ich dieses Wort erwähne, das wir bisweilen aus dem Munde des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow gehört haben, dann glaube ich, muß ich auch hinzufügen: Wir verdanken die Chance von heute auch der Tatsache, daß Gorbatschow die Urkunde von Helsinki honoriert, daß er sie befolgt, daß er ihr gehorcht. Der Vorgänger Breschnew hätte möglicherweise seine Panzer in Marsch gesetzt, so wie es 1968 im Prager Frühling schon einmal geschehen ist.
Als im November, kurz vor Weihnachten, die Mecklenburger zu Zigtausenden zu uns nach Hamburg gekommen sind, da war das bei uns genauso wie bei Euch eine unbändige Freude. Heute stehen die Türen sperrangelweit offen. Sie sollen niemals wieder zugemacht werden! Diese offenen Türen, das ist ein Sieg Eures Willens zur Freiheit. Es ist nicht ein Sieg des sogenannten Sozialismus. Sondern es ist ein Sieg des Willens zur Freiheit für jedermann.
Vor einem halben Jahrhundert, mitten im Zweiten Weltkrieg, hat der amerikanische Präsident Roosevelt vier Freiheiten für die Welt verkündet, die für ihn als Amerikaner das Ziel des Krieges gegen Hitler waren. Die erste Freiheit, die er erstrebte, war die Freiheit der Rede. Und diese Freiheit, zu reden, wie Ihr denkt, die habt Ihr bereits erkämpft. Die zweite Freiheit, von der Roosevelt sprach, war die Freiheit, des religiösen Bekenntnisses. Und dazu muß ich mit Dankbarkeit sagen: Ohne die Freiheit der Religion, ohne die Gastfreundschaft unserer Kirche gegenüber der Freiheitsbewegung stündet Ihr heute nicht dort. Die dritte Freiheit, von der jener Amerikaner sprach, war die Freiheit von Not. Aber dies ist ein Feld, auf dem noch vieles zu tun ist. Es gibt viele Menschen in der DDR, die in Not sind oder die in Not zu kommen sich fürchten. Und damit bin ich bei der vierten Freiheit jenes amerikanischen Präsidenten. Er wollte, daß überall in Europa die Menschen frei sein können von Furcht und frei von Angst. Angst und Furcht sind schlechte Ratgeber, und deshalb ist es notwendig, daß wir uns ganz klar darüber werden, auf welchem Boden wir stehen, was unser nächster und unser übernächster Schritt sein muß und wie der Weg von hier morgen und übermorgen und nächsten Monat und im Laufe dieses Jahres weitergeführt werden muß.
Nachdem die Kommunisten und die SED-Genossen ihr Machtmonopol verloren haben, ist klar: Das dürfen sie niemals wieder in die Hände kriegen. Aber nicht nur die, überhaupt keiner, überhaupt keine Partei darf jemals wieder ein Machtmonopol in die Hände kriegen. Wir Deutschen haben das zweimal erlebt, daß eine Partei ein Monopol der Macht in den Händen hatte, und beide Male ist es uns saudreckig ergangen. Freiheit für die Menschen, das bedeutet Demokratie. Und Demokratie bedeutet, daß es Regierungsgewalt immer nur gibt von einer Wahl bis zur nächsten und keinen Tag länger. Und deswegen ist es gut, daß mit diesem Weg von einer Wahl zur anderen nun auch hier der Anfang endlich gemacht wird – am 18. März.
Ich bin hier nicht als Wahlkämpfer zum 18. März hergekommen, aber das muß ich schon sagen, ich bin hier auch als ein Sozi hergekommen. Hier ist eben von dem Vater meines Freundes Peter Schulz geredet worden. Albert Schulz war vor 1933 Gauführer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, war Landtagsabgeordneter, eine ganz kurze Zeit sogar mal Reichstagsabgeordneter. Dann haben die Nazis ihn eingebuchtet. Und nach 1945, als die Sozialdemokratische Partei wieder auflebte – das war ja leider nur eine ganz kurze Zeit –, war er hier Bürgermeister. Und dann haben die Kommunisten ihn eingesperrt und haben mit Gewalt und mit der Macht der Besatzungstruppen die Kommunistische und die Sozialdemokratische Partei vereinigt, mit Zwang. Ich möchte gerne, daß nach diesen Jahren seit 1933 – das sind 57 Jahre – die große Tradition der Sozialdemokratischen Partei wieder begründet wird und daß diese Partei lebt. Ohne diese Partei können die kleinen Leute nicht zu ihrem Recht kommen.
Demokratie heißt auch, daß jedermann frei reden kann. Das Recht zur freien Rede gilt auch für uns Westdeutsche. Ich fand das sehr lustig, als ich gelesen habe, während des Wahlkampfes dürften die Westdeutschen bei Euch nicht das Maul aufmachen. Also Ihr dürft bei uns jederzeit das Maul aufmachen. Es schlägt ja wohl dreizehn! Das Recht zur freien Rede ist nicht teilbar, das gilt für jedermann in Deutschland. Wo kommen wir denn da hin? Unter dem Herrn Honecker durfte ich jedenfalls noch in der Nikolaikirche sprechen, und jetzt soll ich überhaupt nicht mehr reden dürfen? Die Redefreiheit wie die Freiheit insgesamt ist unteilbar für alle Deutschen.
Einen anderen Satz will ich gleich hinzufügen: Ebenso unteilbar ist die Solidarität zwischen allen Deutschen. Wir Deutschen müssen uns gegenseitig helfen. Das gilt ganz besonders für uns Westdeutsche, die wir Euch helfen müssen und auch helfen wollen bei der Überwindung der wirtschaftlichen und der finanziellen Schwierigkeiten, in denen Ihr steckt und die durchaus ernst genommen werden müssen.
Ich will ein kleines Beispiel erzählen. In der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT, für die ich seit sechs oder sieben Jahren arbeite, habe ich kurz vor Weihnachten einen Aufsatz geschrieben auf der Seite 1, in dem ich mich eingesetzt habe dafür, daß jedermann in der Bundesrepublik für eine Reihe von Jahren, eine begrenzte Zahl von Jahren, einen Zuschlag bezahlen soll zur Lohnsteuer, einen Zuschlag zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer, damit wir Euch in ausreichendem Maße finanziell helfen können. Wir wollen das nicht für ewig tun, eines Tages werdet Ihr das nicht mehr brauchen, hoffentlich früher als später. Mein Kollege Dr. Bucerius, der Inhaber der Zeitung, ein früherer CDU-Kollege von mir aus dem Bundestag, hat etwas Ähnliches geschrieben. Er hat sich ausgesprochen für eine Vermögensabgabe aller vermögenden Menschen in der Bundesrepublik, damit wir in die Lage kommen, finanzwirtschaftlich der DDR zu helfen. Und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, hat vor ein paar Tagen sich ähnlich öffentlich geäußert. Diese Vorschläge sind ernst gemeint. Sie sind nicht populär, das hört keiner gern, wenn er mehr Steuern zahlen soll. Aber sie sind ganz ernst gemeint, und mir kommen sie wirklich aus Überzeugung.
Denn Ihr werdet für eine längere Zeit Hilfe nötig haben. Es ist ja so: Damals, als die Amerikaner uns mit dem Marshall-Plan geholfen haben und den Franzosen, den Engländern, den Italienern, da hat Stalin verboten, daß Polen und die spätere DDRund die Tschechoslowakei die Hilfe des Marshall-Plans annahmen. Wir haben sie bekommen, die Ungarn nicht und die Polen nicht und Ihr auch nicht. Und jetzt wird es Zeit, vierzig Jahre später, daß wir unsererseits unsere Kräfte zusammennehmen und den Menschen helfen in Mitteleuropa und im Osten Europas, die nun so viele Jahre lang unter der Kommandowirtschaft der Herren Kommunisten gedarbt haben.
Eine doppelte Hilfe ist notwendig. Erstens eine allgemeine Hilfe der ganzen Europäischen Gemeinschaft, der Engländer, der Franzosen, der Italiener, der Belgier, Holländer, Dänen, der Deutschen aus der Bundesrepublik, eine allgemeine wirtschaftliche Hilfe für alle die Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa, die nun endlich diese Kommandowirtschaft des real vegetierenden Sozialismus losgeworden sind. Aber ebenso ist auch eine besondere Hilfe der Westdeutschen für die Ostdeutschen notwendig.
Und ich will hier in aller Klarheit sagen: Es gibt einige unter Ihnen, die mit dem Gedanken schwanger gehen, ob sie nicht vielleicht auch abhauen und in den Westen gehen sollen. Macht Euch eins klar: Wir sind bereit, Euch zu helfen, aber wir können auch in Hamburg oder in Bremen oder in Lübeck keine Wohnungen aus dem Boden stampfen. Wir haben keine mehr, und wir haben auch keine freien Arbeitsplätze. Es ist notwendig, daß Ihr hierbleibt und hier den Laden in Ordnung bringt. Und Ihr habt ein paar Trümpfe in der Hand. Zum Beispiel gibt es in der DDR eine durchaus ansehnliche Kapazität, ein ansehnliches Potential, was moderne Forschung angeht und was technische Entwicklung angeht. Wichtiger noch: Es gibt in der DDR eine ausgezeichnet ausgebildete, fleißige, zuverlässige Facharbeiterschaft. Die Facharbeiterschaft hier bei Euch in Rostock ist ganz genauso gut wie die Facharbeiterschaft bei uns in Hamburg. Nur müssen die Betriebe endlich anständig und kaufmännisch geführt und geleitet werden.