Dann wäre ich Hafendirektor geworden - Helmut Schmidt - E-Book

Dann wäre ich Hafendirektor geworden E-Book

Helmut Schmidt

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Beschreibung

»Helmut Schmidt hat die Welt im Blick, aber Hamburg im Herzen.« (Olaf Scholz) - Die Hansestadt und ihren wohl berühmtesten Ehrenbürger verbindet ein besonderes Verhältnis, das dieser Band mit einer Rückschau in Texten und Fotografien aus über sechs Jahrzehnten in allen Facetten illustriert. Zugleich blickt Helmut Schmidt in einem umfangreichen Gespräch mit Bürgermeister Olaf Scholz in die Zukunft: Welchen Herausforderungen muss sich seine Heimatstadt künftig stellen? - In Hamburg begann Helmut Schmidt seine politische Laufbahn. Als Senator bewährte er sich im Krisenmanagement der Sturmflutkatastrophe von 1962 und empfahl sich so für höhere Aufgaben. In seiner Zeit als Kanzler brachte er die große Weltpolitik auch nach Hamburg, die Geschicke seiner Stadt verfolgte er stets mit leidenschaftlichem Engagement und wohlmeinender Kritik.

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Helmut Schmidt

Dann wäre ich Hafendirektor geworden

Hamburger Ansichten

Hoffmann und Campe

1949 wurde Schmidt vom Hamburger Wirtschaftssenator Karl Schiller eingestellt, zuständig zunächst für Wirtschaftspolitik, ab 1952 als Leiter des Amtes für den Verkehr zu Wasser, zu Lande und in der Luft – nicht für den Hafen. Ein Jahr später bot ihm der Vorstandsvorsitzende der Hamburger Hafen- und Lagerhaus Aktiengesellschaft, Ernst Plate, an, als sein möglicher Nachfolger in den Vorstand der HHLA einzutreten.

Schmidt wäre gern auf das Angebot eingegangen, aber Senator Schiller, dem die HHLA unterstand, legte sein Veto ein: Er wollte den begabten jungen Mann nicht gleich wieder verlieren und auch zeigen, wer Herr im Hause ist. Daraufhin beschloss Schmidt, für den Bundestag zu kandidieren – »aus Daffke«, wie er heute sagt. »Ich war es leid, wie sein Pudel behandelt zu werden.« Und wenn es mit der Plate-Nachfolge geklappt hätte? »Dann wäre ich Hafendirektor geworden.«

Anstelle einer Einleitung

Hamburger fragen Helmut Schmidt

Am 2. April 2014 veranstaltete die ZEIT zum Start ihrer neuen Hamburg-Seiten eine »lange Nacht« mit 22 Veranstaltungen an 14 besonderen Orten der Stadt. Im Deutschen Schauspielhaus unterhielt sich Chefredakteur Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt, genauer gesagt: Er stellte ihm Fragen, die zuvor von Lesern eingereicht worden waren.

Giovanni di Lorenzo Meine Damen und Herren, herzlich willkommen. Wir freuen uns riesig, in diesem Haus sein zu dürfen, wir freuen uns, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Wir hätten dieses Haus zweimal voll ausbuchen können, wir hatten fast 3000 Anmeldungen. Ich habe gesehen, dass einige noch versucht haben, vor dem Eingang Karten zu finden. Überhaupt hat es für unsere Veranstaltungsreihe heute Abend an 14 verschiedenen Orten 10000 Anmeldungen gegeben. Es ist das erste Mal, dass wir das machen, und wir hoffen sehr, dass der Andrang allen eine Ermunterung ist, diese Reihe fortzusetzen.

Der eine oder andere von Ihnen weiß es, Helmut Schmidt und ich haben lange Übung im Fragen und Antworten, aber dieses Mal, heute Abend, geht es um Ihre Fragen. Wir haben dazu aufgerufen, uns Fragen einzusenden über Facebook, über unsere Website. Es sind erwartungsgemäß sehr viele Anfragen gekommen. Ich habe mir erlaubt, ein bisschen zu sortieren und zu bündeln.

Ich würde gerne beginnen, lieber Herr Schmidt, mit einer Frage unserer Leserin B.S., die wissen möchte – und die Frage haben in verschiedenen Variationen auch andere gestellt –, wann, lieber Herr Schmidt, waren Sie zum ersten Mal auf der Reeperbahn?

Schmidt Ich glaube mit 17 oder 18 Jahren, das muss also 1936 gewesen sein.

di Lorenzo Wussten Sie damals schon, was Sie taten?

Schmidt Ich wusste, was ich tat, und wusste, was ich nicht tun würde.

di Lorenzo Mehrere Leserinnen möchten gerne wissen, welches Erlebnis aus Ihrer Kindheit oder Jugend in Bezug auf Hamburg für Sie besonders eindrucksvoll war.

Schmidt Ich bin von meinem Vater als Schüler nach England geschickt worden und drei Wochen in Manchester zur Schule gegangen. Und auf der Rückfahrt kamen wir in einen dollen Sturm, das war im Jahre 1932, wenn ich das einigermaßen richtig erinnere.

di Lorenzo Das heißt, Sie waren 14?

Schmidt Ich wurde 14, ich war 13. Ich erinnere zwei Ereignisse. Es gab ein schlimmes Unwetter – in dem Vorschiff, in dem wir saßen, waren 40 Jungs, alle haben gekotzt –, aber gleichzeitig ging westlich von Fehmarn die Niobe unter; das war ein Segelschulschiff. Das haben wir erst zwei, drei Tage später in der Zeitung gelesen oder gehört. Und zugleich gab es in Altona, in Ottensen, eine Schießerei zwischen SA und Kommunisten. Diese beiden Ereignisse – der Untergang der Niobe, unsere eigene Seekrankheit und die Schießerei in Altona, ich glaube 17 Tote – haben sich mir tief eingeprägt.

di Lorenzo K.B., der offenbar ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer ist, wüsste gerne, ob Sie früher Hamburg per Fahrrad erkundet haben. Und wenn ja, welches war Ihre Lieblingsstrecke?

Schmidt Ich habe Hamburg nicht per Fahrrad erkundet, sondern ich habe zu Hause gesessen und gelesen.

di Lorenzo Ganz viele möchten wissen, warum Sie sich für Langenhorn als Wohnort entschieden haben.

Schmidt Das war in einer Zeit, in der hatte kein Mensch in Hamburg eine eigene Wohnung. Zum Beispiel meine Frau und ich, wir waren als eine von vier Parteien Mieter ein und derselben Wohnung; vier Frauen in der Küche, es ging einigermaßen gut. Und in jenen Jahren wurde ich gefragt, willst du nicht bei uns für den Bundestag kandidieren? Und ich habe gedacht, das ist eine interessante Erfahrung, das machst du einmal. Und ich habe das getan und wurde gewählt. Und dann hat sich die damalige Baugenossenschaft, genannt Neue Heimat, an mich gewendet und hat gesagt, du musst doch in deinem Wahlkreis wohnen, du kannst doch nicht in Othmarschen bleiben mit vier Parteien in einer Wohnung.

di Lorenzo Und vier Frauen in der Küche.

Schmidt Ich musste in meinen Wahlkreis ziehen, und das war Langenhorn, Fuhlsbüttel, Barmbek, Eppendorf. Das war ein reiner Zufall, das muss 1961 gewesen sein, und seitdem wohnen wir in Langenhorn und fühlen uns ganz wohl.

di Lorenzo Welche Persönlichkeit der Hamburger Zeitgeschichte schätzen Sie am meisten?

Schmidt Max Brauer.

di Lorenzo Den Namen kennen wahrscheinlich die meisten in Hamburg, aber Sie müssen ein bisschen erklären, was er der Stadt Gutes getan hat.

Schmidt Das Beste, was er der Stadt beigebracht hat, war sein Optimismus. Er kam als Amerikaner wieder, war amerikanischer Staatsbürger geworden, und wir haben ihm – das war bei Planten un Blomen – zugerufen, er soll hier bleiben, das war damals noch gar nicht sicher. Das muss 1946 gewesen sein. Max, hierbleiben! Ich habe auch mit gebrüllt. Und das hat er gemacht und hat dann kandidiert zur Bürgerschaft. Er wurde gewählt. Er ist derjenige, der den Hamburgern Optimismus gepredigt hat. Und er hat auch ein paar gute Sachen zustande gebracht. Wenn Sie heute den Harvestehuder Weg langgehen, den hat es damals nicht gegeben, den hat Max Brauer geschaffen. Er hat die Villenbesitzer davon überzeugt, dass sie ihre Gärten hergeben müssen.

di Lorenzo Haben Sie ihn auch persönlich kennengelernt?

Schmidt Ja. Und ich war ganz stolz darauf – als Sozi duzte man sich damals –, zu ihm »Max« sagen zu dürfen.

di Lorenzo Gibt es einen bestimmten Hamburger Typus, Kaufleute oder Reeder, der Ihnen am Herzen liegt? Sie können auch andere Gruppen nennen.

Schmidt Einen meiner beiden Großväter habe ich überhaupt nicht kennengelernt, der andere Großvater war ein Adoptivgroßvater, ein sehr einfacher Mann, in Hamburg heißen diese Leute Schauerleute. Er war am Sandtorkai, hat sich mit dem Ent- und Beladen von Schiffen beschäftigt. Und er musste morgens zu Fuß von Barmbek zum Hafen marschieren. Wenn er Glück hatte, wurde er eingeteilt zur Arbeit, und dann kam er abends mit der Heuer nach Hause. Wenn er Pech hatte, wurde er nicht eingeteilt, dann ging er gleich in die Kneipe, und wenn er dann nach Hause kam, war er unleidlich. Sonntags war es anders, sonntags kriegten wir, wenn wir den Opa besuchten, all die guten Sachen vorgesetzt, Sardinen, Apfelsinen, Bananen – da hatte er »einen Sack fallen lassen«. Das war damals eine Art Deputat, das war so. Er war ein einfacher Mann, aber nicht unbedingt liebenswert. Seine Frau, Oma Schmidt, das war eine wunderbare Frau, die stammte aus Siethwende im Kreis Pinneberg, wenn ich das richtig erinnere, sie habe ich in guter Erinnerung. Was hatten Sie gefragt?

di Lorenzo Ich finde, die Antwort passt sehr gut zu meiner Frage, die lautete: Gibt es einen bestimmten Typus in Hamburg, den Sie besonders schätzen?

Schmidt Eigentlich nicht. Eigentlich sind mir die Hamburger insgesamt ans Herz gewachsen, besonders aber die Industriearbeiter; von denen gibt es relativ wenige in Hamburg, die meisten Arbeiter sind in Wirklichkeit Angestellte.

di Lorenzo Weil Sie von Ihren Großeltern gerade gesprochen haben, haben Sie eigentlich Ihren jüdischen Großvater jemals kennengelernt?

Schmidt Nein.

di Lorenzo S.W. hat uns eine Frage geschickt, die ihn eindeutig als ZEIT-Leser ausweist: »Sehr geehrter Herr Schmidt, Gräfin Dönhoff schrieb einmal, Sie hätten eine heimliche Leidenschaft, die Ornithologie. Wenn Sie den Brahmsee oder die Außenalster sehen, was bedeuten Ihnen Haubentaucher, Kormoran und Stockente?«

Schmidt Das sind für mich Haustiere. Aber ich kenne sehr viel mehr Vögel. An den Brahmsee beispielsweise kommen Wissenschaftler aus Kiel, die sich mit Ornithologie oder mit Biologie beschäftigen; sie haben inzwischen auf unserem Grundstück über dreißig verschiedene Vogelarten kennengelernt. Ich weiß zum Beispiel von einem Eisvogel, den die Engländer Kingfisher nennen, der lebt versteckt abseits der Straße von Nortorf nach Rendsburg. Ich weiß genau, wo das ist, aber ich werde das nicht verraten.

di Lorenzo Gibt es denn noch den von Ihnen und Loki angelegten kleinen Urwald am Brahmsee?

Schmidt Den gibt es noch. Aber wir haben ihn nicht angelegt, sondern wir haben eine Brache sich selbst überlassen. Das war schlechter Boden dort, Sandboden, dort wuchs nichts richtig; der Landwirt ließ die Brache liegen, und wir haben sie ihm abgekauft. Wir haben nicht gewässert, nicht gedüngt, wir haben nichts gepflanzt, wir haben nur abgewartet. Inzwischen sind die Bäume 16 Meter hoch, einige noch ein bisschen mehr. Und mitten in diesem sogenannten Urwald gibt es auch eine Eierpflaume, die müssen die Vögel dahin gepflanzt haben.

di Lorenzo Unsere Leser haben sich offenbar mit Ihnen gründlich auseinandergesetzt, sonst wüssten sie nicht, dass Sie ein besonderes Faible haben für Architektur. Als junger Mann träumten Sie auch davon, Architekt zu werden. Deshalb wollen einige von Ihnen wissen, welcher Ihr Lieblingsplatz in Hamburg ist.

Schmidt Eigentlich müsste ich hier drei verschiedene Plätze nennen.

di Lorenzo Tun Sie es.

Schmidt Das eine ist die Lichtwarkschule am Stadtpark, das war nämlich meine Schule.

di Lorenzo In Winterhude.

Schmidt Und das andere ist das Chilehaus von Westen gesehen, wenn man auf diesen Steven eines Schiffes schaut. Und das dritte ist die Stele an der Kleinen Alster mit dem Barlach’schen Basrelief: eine Mutter mit einem Kind, der Mann ist offenbar gefallen. Die Mutter ist abgebildet und das Kind, und es steht geschrieben: »Vierzigtausend Söhne der Stadt ließen ihr Leben für Euch.«

di Lorenzo Ist das die Stele, die die Nazis dann zerstörten?

Schmidt Richtig. Die Nazis haben diese Stele übergetüncht und haben einen Adler daraus gemacht, und später ist sie dann wiederhergestellt worden.

di Lorenzo T.S. fragt Sie als Architekturliebhaber, welcher Stadtteil aus Ihrer Ansicht einen neuen Anstrich besonders nötig hätte.

Schmidt Da gibt es mehrere, nicht nur einen. Besonders notwendig wäre das für Osdorfer Born und für Mümmelmannsberg.

di Lorenzo C.E. schickt uns folgende Zeilen: »Sehr geehrter Herr Schmidt, 1962 wurden Sie zum Retter von Wilhelmsburg und zum Helden von ganz Hamburg. Viele Jahre ist der Stadtteil in Vergessenheit geraten und steht nun wieder stärker im Fokus der Stadtentwicklung. Wie sehen Sie die Entwicklung von Hamburgs Elbinsel, und was wurde Ihrer Meinung nach versäumt?«

Schmidt Es hat wenig Sinn, über Versäumtes nachträglich zu philosophieren oder darüber zu schreiben oder zu reden. Übrigens war ich weniger der Retter von Wilhelmsburg als vielmehr der Retter von Waltershof.

di Lorenzo Warum?

Schmidt Waltershof war ein Hafenbecken, das trocken war. Das Becken war ausgehoben, aber zur Elbe hin war es abgeschottet. In diesem ausgehobenen Hafen haben vor dem Krieg viele Hamburger ihre Wochenendbuden gehabt. Dann wurden sie ausgebombt in Eimsbüttel oder in Barmbek, mussten ihre Ruinen verlassen und gingen in ihre Wochenendbuden. Nun kam aber die Flut, und die Flut überflutete Waltershof. Da sind wahrscheinlich 250 Menschen ums Leben gekommen in einer einzigen Nacht. Und als ich morgens um halb sieben in die Polizeibehörde kam – ich war damals Polizeisenator, ich kam aus Berlin –, da habe ich gedacht, du lieber Gott. Ich habe mit zehntausend Toten gerechnet insgesamt, ich habe ganz Wilhelmsburg unter Wasser gesehen. Dann habe ich mich in einen Hubschrauber gesetzt und habe das ganze überflutete Gebiet abgeflogen und habe gesehen, dass überall Leute auf den Dächern ihrer Wochenendbuden und ihrer Häuser saßen, weil die Buden selber unter Wasser waren, und viele tote Kühe trieben im Wasser. Das war ein schrecklicher Anblick. Wir haben damals viel Glück gehabt, große Hilfe durch Amerikaner, Holländer, Dänen, Engländer, Bundeswehr – die Bundeswehr hat sich damals erstklassig bewährt. Insgesamt sind wir mit knapp über dreihundert Toten davongekommen. Da war viel Glück dabei.

di Lorenzo An diese Frage schließt sich eine an, die ein bisschen rhetorisch klingt, nämlich: Wurden beim Aufbau Hamburgs nach dem Zweiten Weltkrieg Ihrer Einschätzung nach Bausünden begangen?

Schmidt Ganz sicher ja, aber das war nicht bloß in Hamburg der Fall, das war überall so. In der ersten wilden Zeit, in den fünfziger Jahren, sind viele scheußliche Dinge gebaut worden; einige sind inzwischen wieder abgerissen, aber nicht alle.

di Lorenzo Weil Sie in dieser Stadt alle als den Helden der Sturmflut in Erinnerung haben, verblüfft es, von Ihnen gelegentlich zu erfahren, als Senator hätten Sie nichts zu tun gehabt. Was meinen Sie damit oder was haben Sie damit gemeint?

Schmidt Ja, das stimmt. Die eigentliche Aufgabe lag am Anfang meiner Senatorenzeit, hinterher gab es nur noch normale Verwaltung; das habe ich nicht als besondere Arbeit empfunden. Ich hatte damals schon acht Jahre im Bundestag hinter mir und war einer derjenigen, die dort gegen den erklärten Willen von Adenauer eine Große Koalition zustande brachten für eine Änderung der Verfassungsgesetzgebung. Wir wollten die Bundeswehr im Grundgesetz eindeutig verankert haben und haben eine Reihe von Gesetzen und eine Grundgesetzänderung zustande gebracht. Das hat mich dazu gebracht, mich mit der damals gültigen Strategie des Nordatlantischen Bündnisses zu beschäftigen. Und ich schrieb 1961 ein Buch, das anschließend ins Englische und ins Amerikanische übersetzt wurde, in dem die damals gültige Strategie der sogenannten massiven Vergeltung für abwegig erklärt wurde. Es bestand zahlenmäßig eine große russische Überlegenheit; der Westen hatte sehr viel weniger Soldaten, und er drohte den Russen an, wenn ihr kommt, dann schmeißen wir euch atomare Bomben auf den Kopf. Was dabei nicht ausreichend bedacht wurde, war, dass die Russen auch atomare Waffen hatten, und die würden sie zurückschmeißen, und das Schlachtfeld würde Deutschland werden. Die völlig irrsinnige Drohung mit atomaren Waffen fand ihren Höhepunkt ein Jahr später, 1962, in der sogenannten Kuba-Raketen-Krise. Und da gab es zwei vernünftige Leute – einer hieß Chruschtschow, und der andere hieß Kennedy –, die die Krise entschärft haben.

di Lorenzo Wissen Sie noch, was ich Sie gefragt hatte?

Schmidt Weiß ich nicht mehr.

di Lorenzo Aber wir haben verstanden, warum Sie sich in Ihrem Job als Senator im Vergleich dazu ein bisschen unterfordert fühlten.

Schmidt Jedenfalls war er insofern für mich ganz nützlich, als ich gelernt habe, zu verwalten.

di Lorenzo Okay. Sind Sie heute noch der Meinung, dass man für ein Amt allenfalls ein halbes Jahr Einarbeitungszeit braucht, wenn man es dann nicht schafft, ist sowieso Hopfen und Malz verloren?

Schmidt Ungefähr würde ich das unterschreiben, richtig.

di Lorenzo Zurück zu den Leserinnen und Lesern. Viele wollen wissen, warum Sie die Hafencity nicht mögen.

Schmidt Zum Teil sind mir die Häuser ein bisschen zu schräg, zum Teil sind sie mir zu brav, aber insgesamt ist die Hafencity in Ordnung.

di Lorenzo Schmidt revidiert heute, am 2. April, eine Position – das müssen wir uns merken. A.K. hat eine vielleicht etwas indiskret klingende Frage, aber eine sehr schöne: Welches Gebäude oder welcher Raum in Hamburg löst bei Ihnen leidenschaftliche Gefühle aus?

Schmidt Dass ein Gebäude, das da steht und sich nicht bewegt, leidenschaftliche Gefühle auslöst? Das kommt mir sehr unwahrscheinlich vor.

di Lorenzo Würde ich jetzt das Interview führen, würde ich nachhaken. Gibt es aus Ihrer Sicht – das wollen sechs Leser wissen –, alte hanseatische Tugenden, die auch heute noch gelten oder zumindest gelten sollten?

Schmidt Die hanseatischen Tugenden sind nicht auf Hamburg beschränkt. Die alte hanseatische Liga stammt aus dem 13. und 14. Jahrhundert und ist sehr viel älter als die Bedeutung der Stadt Hamburg. Lübeck war die Hauptstadt der Hanse. Was die alten Hanseaten auszeichnete, war eine doppelte Liebe, nämlich die Liebe zur eigenen Heimat – sie kehrten immer in die eigene Stadt zurück –, und gleichzeitig waren sie neugierig auf die ganze Welt. Dieser doppelte Fokus, einerseits die Welt draußen und andererseits die Liebe zur Heimat, das war typisch hanseatisch. Übrigens gibt es das auch in Oberitalien: Die Kaufleute aus Venedig, Florenz, Pisa, die haben auch die ganze Welt befahren, ähnlich wie die Hanseaten. Die einen sind nach Osten gefahren, und die anderen, die Hanseaten, fuhren nach Westen. Das war der große Unterschied. Was die Hanseaten auszeichnet, ist das Bewusstsein der Verantwortung, der Verantwortung für das, was sie tun, und das, was sie lassen. Sie haben auch manche Dinge zu verantworten, die nicht in Ordnung waren, zum Beispiel den Sklavenhandel.

di Lorenzo Über welchen Hamburger Bürgermeister haben Sie sich am meisten geärgert?

Schmidt Geärgert? Ich habe mich eigentlich nicht über die Hamburger Bürgermeister geärgert, so wichtig waren die auch nicht.

di Lorenzo K.M. würde gerne wissen, wie Sie im Rückblick die Entscheidung beurteilen, Anfang des Jahres in Hamburg die umstrittenen Gefahrengebiete einzurichten.

Schmidt Ich habe die damals instinktiv missbilligt, und sie sind inzwischen ja auch aufgehoben worden.

di Lorenzo Warum?

Schmidt Das war eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, die eher das Gegenteil von dem auslösen konnte, was sie hätte auslösen wollen.

di Lorenzo Eine sehr interessante Frage an Sie hat J.T. Die HSH Nordbank gehört zu 85 Prozent Hamburg und Schleswig-Holstein. Müsste man einer Staatsbank verbieten, hoch riskante Spekulationsgeschäfte zu unternehmen?

Schmidt Ich würde das nicht nur der Staatsbank verbieten, ich würde das allen Banken verbieten. Ich muss eines hinzufügen: Die HSH Nordbank ist eine von vielen Landesbanken. Wir hatten einmal beinahe für jedes einzelne Bundesland eine Landesbank, und keine einzige von denen ist ohne staatliches Geld gerettet worden, keine einzige. Insofern besteht ein großer Unterschied zwischen den deutschen Landesbanken und den von vielen etwas belächelten deutschen Sparkassen und Volksbanken, die sind sehr viel solider als alle Landesbanken.

di Lorenzo Nicht nur weil wir hier jetzt im Schauspielhaus sitzen: Wie beurteilen Sie das kulturelle Angebot Hamburgs? Nutzen Sie es gelegentlich?

Schmidt Da ich kaum noch hören kann, kann ich nicht mehr ins Theater gehen, ich kann auch nicht ins Konzert gehen. Ich finde das schrecklich, es ist richtig eine Tragödie. Aber ich verfolge zum Beispiel in den hamburgischen Zeitungen den Theaterzettel und zähle die Zahl der Theater, die jeden Tag spielen. Und da kann Hamburg ganz gut mitkommen mit Wien und mit München und mit Berlin.

di Lorenzo Haben Sie die Beatles noch selber miterlebt in Hamburg?

Schmidt Jawohl. Das habe ich, das muss in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gewesen sein, im Star-Club in einer Seitenstraße der Reeperbahn.

di Lorenzo Mochten Sie sie?

Schmidt Ich fand die ganz gut, ja.

di Lorenzo Wenn man Schmidt ein bisschen kennt, weiß man, das ist ein richtiges Kompliment. Nun weiß ich, dass man Sie schon mit einer Erbsensuppe ziemlich glücklich machen kann. Viele Leserinnen und Leser wollen wissen, ob es ein Lieblingsrestaurant oder eine Lieblingskneipe gab in Hamburg oder noch gibt?

Schmidt Ich muss gestehen, dass ich nicht so häufig in eine Kneipe gehe. Ich erinnere zwei Kneipen, das eine war ein ehemaliges Feuerschiff am Baumwall, wo es erstklassiges Labskaus gab, und bei dem zweiten gab es auch erstklassiges Labskaus, das war gegenüber dem Michel.

di Lorenzo Das gibt es heute noch (Old Commercial Room).

Schmidt Ja, das gibt es wohl noch. Der Sohn ist inzwischen der Kneipier.

di Lorenzo Und kreuzen Sie dort ab und zu noch auf?

Schmidt Nein, das macht zu viel Aufstand.

di Lorenzo Eine der Fragen, die am häufigsten gestellt wurden: Liegt Ihnen der weltoffene, aber linke FC St. Pauli mehr oder der ruhmreiche, aber abstiegsbedrohte HSV?

Schmidt Also, ich muss bekennen, als ich ein Junge war – wir wohnten damals in Barmbek –, war für mich Barmbek-Uhlenhorst der große Sportverein. Etwas später kam dann Viktoria, und noch später kam die Teilung in St. Paulianer und HSV-Leute. Mein Freund Hans Apel war ein Anhänger von St. Pauli, und ich bin ein Leben lang – mit Abstand, aber trotzdem – ein Anhänger vom HSV geblieben.

di Lorenzo Das Protokoll vermeldet: verhaltener Beifall. – Wir sitzen ja heute auch deswegen hier, weil wir morgen mit der ersten Hamburg-Ausgabe der ZEIT starten. In dieser Hamburg-Ausgabe gibt es zwei aufsehenerregende Stücke, finde ich. Eines von Klaus von Dohnanyi, das andere von Ole von Beust, und beide warnen die Hamburger vor ein paar Eigenschaften und ein paar Charakteristika, die sich hier eingeschlichen haben. Die Schlagzeile ist ein Zitat: »Wir sind ein großes Baden-Baden des Norden«. Läuft Hamburg Gefahr, in eine Art Schönheitsfalle zu tappen, dass man sich zu schnell mit dem zufriedengibt, was in der Stadt augenscheinlich gut und schön ist?

Schmidt Das ist eine komplizierte Frage. Sicherlich sind die Hamburger nicht sonderlich leichtfertig, aber sie nehmen es hin, dass sie schlechte Produzenten sind. Hamburg hatte einmal eine große Vergangenheit als Werftplatz – die Deutsche Werft, Blohm+Voss, Stülcken, ganz zu schweigen von Sietas. Es gab viele Werften, und die haben Tausende von Arbeitern beschäftigt. Heute gibt es nirgendwo eine Werft, und Sietas, die letzte kleine Werft, ist in Schwierigkeiten. Hamburg ist eine Handelsstadt und eine Seefahrerstadt, aber sowohl die Zukunft als Seehafen als auch die Zukunft des Außenhandels ist nicht ganz sicher. Eigentlich braucht das Volkswagenwerk keinen Exporteur mehr und auch keinen Importeur, das machen die alles selbst. Und das Gleiche gilt für Opel und für Ford, für BMW und für Daimler-Benz. Das heißt, die Hamburger müssten eigentlich Industriegüter herstellen. Sie haben zweimal Glück gehabt, einmal in Fuhlsbüttel, da ist die technische Basis der Lufthansa entstanden; das sind 10000 oder 12000 Arbeitsplätze. Und zum anderen ist auf Finkenwerder diese wunderbare Airbus-Industrie entstanden, das sind ein paar mehr Arbeitskräfte. Aber wo sind die großen elektronischen Unternehmen? Wo ist die moderne Entwicklung der Elektronik, der Vernetzung der Elektronik mit Hilfe von Satelliten? Das fehlt. Das ist eines der Gebiete, auf denen Hamburg dringend Aktivitäten nötig hätte. Inzwischen gibt es viele kleine Unternehmen, meistens siedeln sie sich außerhalb Hamburgs an wegen der Gewerbesteuer oder wegen der Bodenpreise. Hermann Göring hat 1937, als er das Großhamburg-Gesetz machte, nicht vorhergesehen, dass Hamburg über die Ufer treten würde, das ist aber inzwischen der Fall.

di Lorenzo Ole von Beust beklagt, wir beschwören unsere Internationalität und Weltoffenheit; wer aber wirklich international ist, der ist es eben und betont es nicht immer trotzig.

Schmidt Mhm.

di Lorenzo Und Klaus von Dohnanyi fügt hinzu, Hamburg bewegt sich kaum noch. Teilen Sie diese Einschätzung?

Schmidt Das kommt mir ziemlich bekannt vor. Ich habe heute vor 50 Jahren in der Zeitung Die Welt einen Brief an Hamburger Freunde geschrieben, das war 1962. Ich habe nicht meinen Namen daruntergesetzt, sondern drei Sterne – ein Dreisterne-Artikel, der eine Diskussion in der Stadt auslöste. Damals habe ich ähnlich wie heute Beust oder Dohnanyi beklagt, dass die Hamburger zu selbstzufrieden seien. Wahrscheinlich ist an dieser Klage etwas dran. Die Hamburger sind durchaus ein bisschen arrogant, wenngleich sie sorgfältig versuchen, das zu verschweigen und zu verstecken, aber ein bisschen ist da was dran.

di Lorenzo Eine letzte Frage, die bestimmt hundertmal gestellt worden ist. Ich komprimiere sie ein bisschen. Halten Sie das Rauchverbot in öffentlichen Räumen für eine dauerhafte Einrichtung? Oder glauben Sie an eine Modeerscheinung wie die Prohibition in den zwanziger Jahren in den Vereinigten Staaten?

Schmidt Das ist eine sehr persönliche Frage, und viele Leute hören sich diese Antwort ganz genau an. Ich weiß, dass alle Ärzte auf der Welt heute der Meinung sind, dass das Rauchen die Verbreitung von Krebserkrankungen fördert. Ich selber rauche, seit ich 15 Jahre alt war, jetzt bin ich 95. Das heißt, ich rauche seit 80 Jahren und lebe immer noch, also bei mir stimmt das nicht. Vielleicht liegt es ja an meinen Ärzten, vielleicht habe ich ja auch bloß Glück gehabt, aber persönlich bin ich der Meinung, dass das mit dem Rauchverbot ein bisschen zu weit gegangen ist.

di Lorenzo Dann wissen wir ja, was diese Stadt Ihnen möglicherweise zum 100. Geburtstag schenken kann. Einen Tag lang Aufhebung …

Schmidt Was den heutigen Abend angeht, gehe ich davon aus, dass der Aschenbecher hierhin gestellt worden ist, weil er ein Teil der Inszenierung darstellt.

di Lorenzo So ist es. Lieber Helmut Schmidt, wir danken Ihnen von Herzen. Danke, dass Sie gekommen sind!

IWeckrufe

Am 28. Juni 1962, gut vier Monate nach der Flutkatastrophe, erschien in der Tageszeitung Die Welt unter der Überschrift Brief an Hamburger Freunde ein mit drei Sternchen gekennzeichneter Artikel, der den Hamburgern vorhielt, sie seien ein bisschen träge. Auch in der Bonner Politik suche man vergeblich nach Hamburgern. Weil Hamburg seine deutsche Aufgabe verkenne, kämen auch die Interessen der Stadt zu kurz. Der angeblich von einem Berliner stammende Brief erregte einiges Aufsehen, zumal da sein Verfasser die Anonymität wahren konnte. Anfang August ließ Schmidt an gleicher Stelle eine Fortsetzung folgen, wiederum anonym, diesmal: Hamburg aus Bonner Sicht.

Mehr als zwanzig Jahre später, im April 1984, nahm sich Schmidt noch einmal des Themas an, beklagte den wirtschaftlichen Niedergang Hamburgs und mahnte überfällige Strukturreformen an: Hamburg muss neu anfangen. Der damalige Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi antwortete mit einem eigenen Artikel Hamburgs Zukunft hat schon begonnen, in dem er sich gegen seiner Ansicht nach unbegründete Vorwürfe zur Wehr setzte.

Brief an Hamburger Freunde

Wenn ich nicht Berliner wäre, so würde ich gern für immer in Hamburg bleiben wollen, vielleicht auch in München – aber wo sonst noch in Deutschland?

In Frankfurt verdienen sie zu viel Geld, in Düsseldorf zeigen sie es außerdem noch, in Stuttgart sind sie mir zu eifrig und in Neu-Bonn zu aufgeblasen.

Es bleibt Hamburg, diese großartige Synthese einer Stadt aus Atlantik und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Lebenlassen. Ich liebe diese Stadt mit ihren kaum verhüllten Anglizismen in Form und Gebärden, mit ihrem zeremoniellen Traditionsstolz, ihrem kaufmännischen Pragmatismus und zugleich ihrer liebenswerten Provinzialität.

Aber ich liebe sie mit Wehmut, denn sie schläft, meine Schöne, sie träumt; sie ist eitel mit ihren Tugenden, ohne sie recht zu nutzen; sie genießt den heutigen Tag und scheint den morgigen für selbstverständlich zu halten – sie sonnt sich ein wenig zu selbstgefällig und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein.

»Hamburg – das ist unser Wille zu sein«, so schrieb ein Sohn dieser Stadt. Aber ist Hamburg wirklich der Wille zu sein? – Die Hanseaten scheinen müde geworden. Albert Ballin, Sloman, Laeisz: Wer sind ihre Nachfolger?

Zwar ist immer noch ganz Hamburg stolz auf seine Schiffe; die aus Eimsbüttel genauso wie die von der Elbchaussee, Sozialdemokraten und Konservative gleichermaßen.

Aber in Wahrheit neigt sich die große Zeit des Primats von Hafen und Überseehandel. Die Hamburger starren auf die Häfen von Rotterdam und Bremen, auf EWG und EFTA – aber sie lassen es geschehen.

Nicht, dass sie nicht fleißig genug wären. Aber sie sind zu vornehm, ob sie Brauer heißen oder Sieveking. Sie streiten nicht gern und überlassen den Bonnern das Feld.

Wer eigentlich wäre eher legitimiert, der deutschen Außenwirtschaftspolitik Ziel und Richtung zu weisen, wer hätte größeren Sachverstand, um der Entwicklungshilfe zu raten, wer kennte die Sorgen Englands und Skandinaviens besser, wenn es um das Zusammenspiel dieser Länder mit der Europäischen Gemeinschaft geht, Länder, die seit Jahrhunderten Hamburgs Nachbarn und Partner waren und sind?

Leider jedoch fassen die Hamburger ihre Mitwirkung an der deutschen Politik als Pflichtübung auf. Ein Hamburger Bankier, vom Kanzler zum Gespräch über die Währung gebeten, wird zwar hingehen, aber innerlich wird er mit den Achseln zucken: Was für einen Zweck habe das schon?

Und die politischen Führer der Stadt haben sich ihre Bonner Pflichten bequem gemacht: Sie haben sich dort einen Botschafter bestellt, sogar mit einem Senatorentitel. Sie selbst aber kümmern sich nicht um Bonn. Sie halten nichts von Seebohm, vielleicht zu Recht; sie halten nicht viel von Erhard, vielleicht zu Unrecht; sie halten nicht viel von den Bonnern überhaupt und bleiben lieber für sich – gewiss zu Unrecht.