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"Schatten der Vergangenheit" ist der dritte Band der Reihe "Auf den Spuren der Macht", in der es nicht nur um spannende Abenteuer, mystische Welten, Zauberei und Zeitreisen geht, sondern auch um Freundschaft, Vertrauen und Mut und ganz handfeste Situationen im Hier und Jetzt, die es ebenfalls zu meistern gilt. Der Protagonist der Romanreihe ist Lukas, ein schüchterner und überbehüteter Junge, der mit der Welt des Magischen in Berührung kommt. Mit seinem besten Freund Moppel besteht er Abenteuer in anderen Zeiten und Dimensionen, in deren Verlauf die beiden neue Erkenntnisse und Einblicke erhalten, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Ihre Welt wird auf den Kopf gestellt. Nichts ist mehr, wie es war für die Freunde, und Lukas wird bewusst, dass er sich seinem Schicksal nicht entziehen kann, denn ein mächtiger Widersacher steht im Dienst eines schrecklichen Dämons und versucht, der dunklen Seite zur Macht zu verhelfen. Lukas und Moppel sind jedoch nicht alleine. Sie werden von Helfern und Freunden aus dieser und anderen Welten begleitet. Zum Inhalt von Band 3: Während die beiden Freunde noch darüber diskutieren, ob der Dämon nun endgültig besiegt sei, wähnt sich der schaurige Rektor seinem düsteren Ziel immer näher. Zumindest bis er von dem mysteriösen Fremden erfährt, von dem Lukas’ Mutter sich verfolgt glaubt. Der bringt des Rektors Selbstsicherheit ins Wanken und Frau Kramer an ihre Grenzen. Als die Lage sich zuspitzt, fällt Lukas eine waghalsige Entscheidung. Das Abenteuer führt unsere Helden dieses Mal nicht nur in andere Zeiten und an fremde Orte, sondern auch in ihre eigenen inneren Welten. Es werden neue Freundschaften geknüpft, alte Feinde getroffen und ungewohnte Herausforderungen gemeistert, und obendrein bietet eine geheimnisumwobene Steintafel Zündstoff für wilde Spekulationen. Am Ende werden die Karten neu gemischt sein!
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Seitenzahl: 398
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29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Ultimus Walthard war zufrieden mit sich. Er saß in seinem dunklen Arbeitszimmer, das nur durch den flackernden Schein des Kerzenlichts erhellt wurde. Mitte August war es ziemlich heiß, doch die grauen steinernen Wände seiner alten Villa strahlten eine Kälte aus, die selbst für so ein Mauerwerk ungewöhnlich war, dafür aber perfekt zu Dr. Walthards Innenleben passte. Er blickte auf eine Truhe neben der Tür, gegenüber seines Schreibtisches, die wie eine Mischung aus Schatztruhe und Sarkophag aussah. Sie war das Objekt seiner niederträchtigen Zufriedenheit. Für diese Truhe hatte er extra sein Arbeitszimmer umgeräumt, sodass sie, wenn er an seinem Schreibtisch saß, direkt in seinem Blickfeld lag.
Noch vor einigen Monaten glaubte er, eine herbe Niederlage erlitten zu haben. Zugegeben, es war wirklich ein beispielloses Fiasko, da ließ sich nichts schönreden. Seine Gesichtszüge verhärmten sich zur gewohnten Fratze. Wieder und wieder hatte er überlegt, warum sein Zauber dem Dämon nicht die erhoffte Stärkung und Macht verschafft hatte. Die Erde sowie das Blutopfer waren in seinem Besitz gewesen, und er hatte die Beschwörungsformeln in der richtigen Reihenfolge aufgesagt, da war er sich sicher, doch trotzdem hatte er nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Vielleicht hätte der Zauber noch etwas Zeit gebraucht, um seine Kraft und Macht im Körper des Dämons zu entfalten… Wenn er diesen Gunnar doch nur noch ein paar Minuten hätte aufhalten können, dann hätte der Dämon die Gelegenheit gehabt, zu seiner Stärke zu gelangen. Aber so war es nun mal nicht. Bis heute war er sich der Tatsache nicht gewahr geworden, dass Marius das Blut ausgetauscht hatte, und das durfte er auch niemals erfahren!
Ultimus Walthard konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als Gunnar dem Dämon sein glänzendes Schwert in die steinverkrustete Brust rammte, und wie sicher er selbst sich gewesen war, dass dies dem Dämonenfürsten nichts anhaben konnte, und – an das Entsetzen, das in ihm aufkam, als er mit ansehen musste, wie die Essenz des Dämons dessen gequälte Hülle verließ. So lange Zeit hatten er und die anderen Obscubitoren auf diesen einen, besonderen Moment gewartet. Ihren ganzen Lebensinhalt hatten sie nur darauf ausgerichtet, ihren Herrn und Meister aus seinem steinernen Höllenkorsett zu befreien und ihm zu seiner vollen Macht zu verhelfen. Doch anstatt die Kräfte des Dämons zu bündeln und ihn zu stärken, war seine Essenz in Abertausende Teile zerstreut auf Hunderte von Menschen niedergegangen.
Während Dr. Walthard seinen trüben Gedanken nachhing, schienen seine Augen ins Unendliche zu starren, doch dann fokussierte sich sein Blick wieder und ruhte auf der Truhe. Bei ihrem Anblick überkam ihn eine Art Siegeslaune. Ein genauer Beobachter hätte sogar in den für den Bruchteil einer Sekunde nach oben zuckenden Mundwinkeln den Anflug eines Lächelns erkennen können. Walthard erhob sich von seinem Stuhl, flatterte wie eine Fledermaus – so jedenfalls wirkte er in seinem langen, wallenden Mantel, den er zu Hause trug – zum Objekt seiner Begierde und hob behutsam den Deckel der Truhe an. Für eine Weile starrte er nur auf ihren Inhalt, der aus Urnengefäßen in verschiedensten Größen bestand. Nach hiesiger Zeitrechnung hatte es fast ein ganzes Jahr gedauert, bis er die Truhe mit ihrem mysteriösen Inhalt füllen konnte, die Zeiten und Dimensionen, die er und seine Obscubitoren dafür durchwandern mussten, durfte er gar nicht zählen. Aber die Mühen traten schnell in den Hintergrund, wenn er sah, was sie erreicht hatten. Schließlich öffnete er einen der größeren Behälter und grub seine Hand in das Granulat, das darin verwahrt war. Wie ein im Sand spielendes Kind ließ er die Körner, die schwarzen Edelsteinen ähnelten und teils walnussgroß, teils salzkristallklein waren, durch seine knochigen Finger rieseln. Nach einiger Zeit schloss er den Deckel wieder, flatterte zu seinem Schreibtischstuhl zurück und gab sich erneut seinen Gedanken über die Vergangenheit hin.
Diese Muriel und dieser vermaledeite Junge mit seinem Freund. Sie hatten es abermals geschafft, ihm so kurz vor seinem Ziel einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ihm – Ultimus Walthard! Er war ja nicht irgendein dahergelaufener Möchtegernzauberer, sondern die rechte Hand des Dämonenfürsten, der Obscubitor Maximus. Er war Zaubereien mächtig, von denen andere nicht einmal zu träumen wagten. Sein Wissen hatte er über viele Jahrhunderte gesammelt. Während andere geboren wurden und starben, war es ihm gelungen, den Tod zu überlisten und sich an die Spitze der Anhänger des Dämons zu setzen. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit arroganter Überheblichkeit.
Niemand wusste Genaueres darüber, wie er diesen Zauber bewerkstelligt hatte – noch nicht einmal Cedric, obwohl Dr. Walthard ihn bereits seit zweihundertsiebenundsiebzig Jahren an der Wirkung des Zaubers teilhaben ließ. Er würde Cedric auch noch eine ganze Weile am Leben erhalten, denn einen so treuen Diener wie ihn würde er nicht mehr so schnell finden. Außerdem war die Tatsache, Cedrics Lebensdauer in der Hand zu haben, eine tiefe Befriedigung für ihn.
Die Quelle seiner Unsterblichkeit war, neben seinem Pakt mit dem Dämon und seinen Fähigkeiten in schwarzer Magie, ein weiteres dunkles Geheimnis, das Ultimus Walthard in seinem Innern verbarg. Dieses Geheimnis war zugleich der mögliche Schlüssel zu seiner Vernichtung. Doch das kam dem Obscubitor Maximus nicht in den Sinn. Seine Arroganz überwog jeden Anflug von Schwäche. Er war Herr über Leben und Tod, ein mächtiger Zauberer – und ein gewissenloser!
Trotzdem war er froh, bei seiner Rückkehr aus Sansibar Muriel und ihren Anhängern nicht mehr begegnet zu sein. Gewiss, die andere Seite war schwach. Ultimus grinste hämisch. Sie mussten immer wieder zurück zu ihrem Kreis der großen Zauberer, damit ihre Seelen geschützt blieben. Der Rektor schüttelte sich angewidert. Ihre Seelen, wie lächerlich, und was sie sich obendrein noch darauf einbildeten. Dafür hatte Dr. Walthard nur Verachtung übrig. Dennoch musste er auf der Hut sein. Er hatte es bereits am eigenen Leib erfahren, dass man seinen Gegner niemals unterschätzen durfte, aber das fiel Ultimus gar nicht so leicht, denn dafür hätte er einen gewissen Respekt vor seinem Gegner gebraucht. Trotzdem fragte er sich, ob die andere Seite nicht doch Mittel und Wege kannte, sein Schnippchen, das er dem Tod geschlagen hatte, zu entlarven. Sein früherer Mentor und Lehrer war ein mächtiger weißer Zauberer. Er durfte ihn nicht unterschätzen. Aber war er – Ultimus Walthard – mittlerweile nicht sogar ein noch größerer Zauberer? Immerhin hatten die anderen es in den letzten Monaten nicht geschafft, einen Zugang in das Jetzt zu finden, dafür hatte er gesorgt. Wie clever war es doch von ihm gewesen, den Wirkungskreis der Wächterbrut durch seinen einmaligen Begrenzungszauber einzuschränken. Leider konnte er sie damit nicht von allem fern halten, aber gewisse Dimensionsgrenzen, zu denen auch die Grenze zum Hier und Jetzt gehörte, konnten sie damit nicht mehr überschreiten. Dr. Ultimus Walthard war stolz auf seine Fähigkeiten, denn ein solcher Zauber erforderte einiges an Skrupellosigkeit. Doch er wusste, dass er sich diesbezüglich nicht ewig in Sicherheit wiegen konnte. Nach wie vor galt es, Vorsicht walten zu lassen. Zumindest hatte er die Aktivitäten der beiden Jungs dadurch, dass er die Mutter dieses immer hungrigen Jungen als Physiklehrerin an seiner Schule eingestellt hatte, einigermaßen unter Kontrolle. Außerdem verstand es der Guthmann, mit den beiden Bengeln umzugehen; vielleicht würde der es schaffen, dass sie ihm sogar vertrauten und dem jungen Lehrer ein paar nützliche Informationen gaben.
Um Kai-Uwe müsste er sich allerdings selbst kümmern. Seit der Zerstörung des Ornaments hatte Kai-Uwes Biss merklich nachgelassen. Er schien eine Art Dankbarkeit gegenüber diesem Lukas zu empfinden, der ihm das Leben gerettet hatte. Der Rektor schnaubte verächtlich. Dankbarkeit kam in seinem Wortschatz nicht vor. Er würde sich diese Kröte und ihre geistig minderbemittelte Gefolgschaft wieder für seine Zwecke zurechtbiegen. Das würde kein Problem darstellen, denn Lebensrettung hin oder her, Kai-Uwe hatte das gewisse fiese Etwas. Das war ihm bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Und wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass er so etwas wie einen leichten Hauch von Sympathie für den schlaksigen Jungen hegte, aber schließlich wusste er es besser.
Frau Kramer war unruhig. Da draußen stand er wieder – dieser Mann. Seit Tagen beschlich sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Aber warum? Was wollte dieser Mann von ihr? Oder gar von ihrer Familie? Wurde sie langsam paranoid? Bildete sie sich das alles nur ein?
Der beißende Geruch von angebrannten Zwiebeln riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie wendete ihren Blick von der Straße ab und war mit einem Sprung am Herd. Mit der selbst gekochten Tomatensoße würde es heute wohl nichts werden. Dann musste es halt ein Glas fertige Spaghettisoße tun. Gleich würden Silvi und Lukas von der Schule kommen. Heute war nämlich Dienstag, und dienstags war der einzige Tag, an dem die Geschwister beide nach der sechsten Stunde Schulschluss hatten. Frau Kramer war das dienstägliche gemeinsame Mittagessen heilig. Schlimm genug, dass sie die restlichen Tage unter der Woche so zerrissen essen mussten, da war es ihr sehr wichtig, dass wenigstens die Dienstage tipptopp klappten.
Der Tisch war bereits liebevoll gedeckt und Frau Kramer schaltete die Herdplatte aus. Dann begab sie sich wieder zum Fenster und hielt nach ihren Kindern Ausschau. Ihr Blick fiel auf die Ecke, wo vor wenigen Minuten noch dieser seltsame alte Kauz gestanden hatte, aber der war weg.
Ob sie doch zu viel in die Situation hineininterpretierte? Sie wusste selbst, dass sie zur Übervorsicht neigte, aber dass ihr dieser alte Mann die letzten Tage so oft über den Weg gelaufen war und auch noch in der Nähe ihres Hauses herumlungerte, beunruhigte sie doch mehr, als es ihr lieb war. Sie würde ein wachsames Auge auf ihn haben.
Silvi saß mal wieder gähnend den Französischunterricht ab, während Lukas und Moppel in der Doppelstunde Sport schwitzten.
„Legt mal einen Zahn zu, ihr beiden Trantüten“, tönte es vonseiten des Sportlehrers.
„Es ist Mittagszeit, die Sonne brennt und wir sind schon unendlich viele Runden gelaufen“, beschwerte sich Moppel hechelnd, dem der Schweiß in Strömen herunterrann und dessen Gesicht von der Anstrengung knallrot war.
„Jammere nicht, Glück! Wenn ihr nicht so viel schwätzen würdet, hättet ihr auch genug Luft zum Atmen.“ Damit war der Fall für Herrn Brecht erledigt, und er ließ seine Schülerinnen und Schüler gnadenlos eine Runde nach der anderen auf der heißen Aschenbahn des Stadions absolvieren, während er am Rand mit einer Wasserflasche in der Hand im Schatten einer großen Ulme das Geschehen verfolgte.
„Der hat gut reden“, meckerte Moppel. „Steht bequem im Schatten und lässt es sich gut gehen, während er sich an unserem Elend ergötzt.“ Eigentlich wollte er noch weiter lästern, aber die Luft wurde ihm knapp, deshalb schwieg er keuchend für den Rest der Runde.
Lukas erging es ähnlich. Wenn er sich umsah, waren sie nicht die Einzigen, die nach dem letzten Sauerstoffmolekül – und vor allem nach etwas Trinkbarem – lechzten.
„Es könnte alles noch viel schlechter für uns sein“, stieß er nach und nach mit jedem Ausatmen aus.
„Und wie?“ Moppel war zu keinem weiteren Wort mehr fähig.
„Du könntest jetzt zweihundert Kilometer von hier entfernt deine Runden drehen und genauso schwitzen.“
Bei diesem Gedanken spürte Moppel eine große Erleichterung. Plötzlich kam ihm die Sonne viel gnädiger und das Laufen viel leichter vor. Seine Mutter hatte den Vertrag bei ihrem neuen Arbeitgeber in einer weit entfernten Stadt bereits unterschrieben gehabt und am nächsten Tag die Kündigung ihrer Wohnung wegschicken wollen, als der befreiende Anruf von Herrn Guthmann gekommen war. Moppel erinnerte sich genau an diesen Abend.
Seine Mutter und er hatten beim Abendbrot gesessen, und Moppel hatte trotz des festen Vorsatzes, keine Tränen zu vergießen, rot gequollene Augen vom Weinen gehabt. Die Tatsache, dass er und seine Mutter so weit von hier wegziehen würden und er seinen besten Freund nicht mehr so oft würde sehen können, war zu schrecklich für ihn gewesen. Die beiden Jungs hatten sich tagelang selbst bemitleidet, Pläne geschmiedet und wieder verworfen und sich schließlich traurig ihrem Schicksal ergeben.
Aber dann war der Anruf von Herrn Guthmann gekommen. Moppel war zunächst gar nicht daran interessiert gewesen, mit wem seine Mutter da redete. Wahrscheinlich mit einem potenziellen neuen Vermieter oder so. Er hatte es gar nicht wissen wollen.
„Aber ich habe bereits den Vertrag unterschrieben“, hatte Frau Glück nach einer Weile am Telefon gesagt. Danach war wieder eine kleine Redepause gefolgt, in der sie ihrem Gesprächspartner zugehört hatte. „Das geht so einfach?“ Ihre Stimme hatte aufgeregt und erfreut zugleich geklungen, woraufhin Moppel dann doch neugierig geworden war. „Natürlich, das kann ich machen. So bald schon?! Nur gut, dass ich die Kündigung des Mietvertrages noch nicht abgeschickt habe. Ihr Angebot ist ja sozusagen in der letzten Sekunde gekommen!“
Moppel hatte mittlerweile neben seiner Mutter am Telefon gestanden und fragende Zeichen gemacht, doch sie hatte aufgeregt abgewinkt.
„Danke, Herr Guthmann. Das wird Daniel freuen… Ja, da haben sie recht, Lukas auch – und mich. Danke nochmals. Bis morgen dann, und einen schönen Abend.“
Frau Glück hatte endlich aufgelegt und Moppel angestrahlt. Dann hatte sie ihn in den Arm genommen, ihn gedrückt, dass er fast keine Luft mehr bekommen hatte, ihn auf die Stirn geküsst und feierlich verkündet: „Daniel, wir bleiben hier!“
Moppel hatte die Worte erst einmal sortieren müssen, nicht dass er sich verhört hatte. Deshalb hatte er noch einmal nachgehakt: „Wir bleiben hier? Das heißt, du nimmst die Stelle nicht an?“
Seine Mutter hatte freudig genickt.
„Herr Guthmann hat mir berichtet, dass an eurer Schule dringend ein Physiklehrer gebraucht wird. Er hat mir den Posten angeboten.“
„Und was sagt der Rektor dazu?“, hatte Moppel zögerlich gefragt.
„Mit der Schulbehörde und Dr. Walthard wäre bereits alles geregelt. Ich soll morgen vorbeikommen. Dann besprechen wir noch mal die Formalitäten.“
„Bist du dir sicher, dass du den Walthard als Chef willst?“
„Warum nicht?“
„Du kennst ihn nicht.“
„So schlimm wird er schon nicht sein“, hatte Frau Glück gelacht.
„Du wirst es ja morgen sehen“, hatte Moppel seine Bedenken geäußert. Er war sich nicht sicher gewesen, ob es ein Segen oder ein Fluch sein würde, wenn seine Mutter als Lehrerin unter dem verhassten Rektor arbeitete. Auf jeden Fall hatte sich über die Freude darüber, dass sie nun hierbleiben konnten, ein Schatten gelegt, der einen Namen trug: Dr. Ultimus Walthard. Aber davon wollte sich Moppel an jenem Abend nicht die Laune verderben lassen.
Der erlösende Pfiff von Herrn Brechts Trillerpfeife riss Moppel aus seinen Gedanken, und vor allem erlöste er ihn von dem quälenden Lauf. Erschöpft und nach Luft japsend legte er sich gerade da, wo er war, flach auf die Aschenbahn, um dann aber mit letzter Kraft auf den Rasen daneben zu krabbeln, da die Bahn selbst doch ziemlich heiß war. Moppel war erledigt. Noch ein weiterer Schritt hätte seinen sicheren Tod bedeutet, dessen war er sich sicher. Lukas stand gebückt, sich mit den Händen auf den Knien abstützend neben ihm und rang seinerseits nach Luft.
„Komm“, keuchte er, „lass uns auf die Wiese in den Schatten gehen und etwas trinken.“
Moppel war fix und fertig. Obwohl er durstig war, wollte er sich für die nächsten paar Minuten erst einmal gar nicht mehr bewegen. Also trottete Lukas allein los und brachte seinem Freund die Wasserflasche. Die meisten ihrer Mitschüler waren ebenfalls k.o. Halb lagen, halb hockten sie verstreut zwischen Aschenbahn und Rasen herum. Leo kippte sich gerade den Inhalt seiner zweiten Trinkflasche über den Kopf, wobei er einen Tick zu spät merkte, dass er heute helle Limo dabeihatte. Ärgerlich sprang er trotz seiner bleiernen Beine auf. Die anderen lachten.
„Hallo Süßer“, grinste Steffen im Vorbeigehen.
In der Hitze trocknete die Flüssigkeit zügig, und Leo stürmte zielstrebig in Richtung Waschräume, um sich von seinem ungewollten, klebrigen Haargel zu befreien.
Der Sportunterricht war zu Ende, und nachdem alle körperlichen Funktionen wieder einigermaßen auf Normalbetrieb umgestellt hatten, schnappte sich einer nach dem anderen seine Sachen und sie machten sich auf den Nachhauseweg. Wie viele der Jungs behielten Lukas und Moppel einfach ihre Sportkluft an und sparten somit die Zeit des Umziehens. Nix wie heim, war das Motto.
„Sehen wir uns heute Nachmittag?“, fragte Moppel, bevor er vor der Haustür nach seinem Schlüssel kramte.
„Klar, komm einfach nach dem Essen vorbei“, erwiderte Lukas und freute sich schon auf den Mittagstisch.
„Was riecht denn hier so verbrannt?“, rief Silvi, noch ehe sie ein „Hallo“ für ihre Mutter übrighatte. Ihre Schultasche flog in die Ecke der Garderobe, und die Schuhe ließ sie genau dort stehen, wo sie sie von den Füßen gestreift hatte. Barfuß stand sie in der Küche und schaute skeptisch in den Topf, in dem die Zwiebeln zu einer rabenschwarzen Masse zusammengebacken waren.
„Das müssen wir doch hoffentlich nicht noch essen?“, fragte sie eher scherzhaft.
„Nein. Setz dich, das Essen ist bereits fertig. Wir warten nur noch auf Lukas.“
Silvi bediente sich derweil am Salat, bis ihre Mutter sie nochmals ermahnte, auf Lukas zu warten, wenigstens dienstags, weil dies doch der einzige Mittag war, an dem sie gemeinsam bei Tisch sitzen konnten.
„Wie war denn dein Tag?“, wollte sie von Silvi wissen.
„Och, wie immer.“
„Habt ihr die Mathearbeit schon zurückbekommen?“
„Nein, die kriegen wir frühestens nächste Woche.“
„Gibt es sonst irgendetwas Neues?“
„Mama, das fragst du jeden Tag!“, erwiderte Silvi genervt.
Frau Kramer verstummte, aber nicht wegen Silvis patziger Antwort, sondern weil auf der gegenüberliegenden Straßenseite wieder dieser Mann stand.
„Silvi, komm doch mal schnell“, forderte sie ihre Tochter mit einer Handbewegung auf.
„Was ist denn?“, wollte Silvi wissen, während sie zu ihrer Mutter ans Fenster trat.
„Kennst du diesen Mann dort?“
„Welchen Mann denn?“
„Dies…“ Frau Kramer sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen öffnete sie das Fenster und schaute die Straße nach allen beiden Seiten hin ab. Ein vorbeifliegender Rabe ließ sie kurz zusammenzucken, aber der Mann war wie vom Erdboden verschluckt.
„Mama, was ist mit dir?“, fragte Silvi unsicher, als sie den besorgten und verwirrten Gesichtsausdruck ihrer Mutter bemerkte.
„Nichts, nichts“, sagte Frau Kramer nachdenklich, „ich muss mich geirrt haben.“
„Hallo“, rief es vom Gartentürchen.
Frau Kramer blickte in das verschwitzte, aber fröhliche Gesicht ihres Sohnes, der zu ihr herüberwinkte. Ihre Nachdenklichkeit war verflogen und sie genoss das gemeinsame Mittagsmahl mit ihren Kindern. Lukas erzählte von Leos Missgeschick mit der Limonade und trug damit zur allgemeinen Heiterkeit bei. Nach dem Essen halfen die Geschwister sogar noch beim Abwasch und danach zogen sie sich jeder auf sein Zimmer zurück. Silvi mit ihrem MP3-Player aufs Bett und Lukas mit den Hausaufgaben an den Schreibtisch, denn er wollte sie von der Backe haben, bevor Moppel bei ihm vorbeikommen würde. Zwischendurch ging er dann aber doch noch duschen, denn das schweißbelastete Sportshirt hatte sich für feine Nasen nicht gerade zur Wohltat entwickelt.
Frisch geduscht und mit dem Großteil der Hausaufgaben fertig, saß Lukas gerade an der letzten Aufgabe für Mathe, aber er konnte sie einfach nicht lösen. Da klingelte es und er hörte den kurzen Dialog unten in der Diele.
„Hallo, Frau Kramer.“
„Hallo, Daniel, komm rein. Du weißt ja, wo’s langgeht.“
Kurz darauf stand Moppel in Lukas’ Zimmer.
„Bist du mit den Hausaufgaben schon durch?“, fragte Lukas.
„Nee, die mach ich heute Abend.“
„Ich hab nur noch die eine Aufgabe zu lösen, aber ich komme nicht weiter“, stöhnte Lukas.
„Lass mich mal sehen.“
Moppel trat an den Schreibtisch und schaute Lukas über die Schulter.
„Du hast vergessen, die Vorzeichen in den Klammern zu ändern. Wenn ein Minus vor der Klammer steht, dann wird doch in der Klammer aus plus minus und umgekehrt.“
Lukas klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn.
„Klar doch. Danke, Moppel, du bist halt doch The One and Only Brain“, lachte er. Nun ließ sich die Aufgabe leicht lösen, und die Hausaufgaben waren ruckzuck abgehakt.
„Jetzt sind schon so viele Monate vergangen, und Muriel hat sich noch nicht gemeldet. Weder bei uns noch bei Christoph oder Marius“, begann Lukas. „Sie sagte zwar, dass sie sich für die nächste Zeit nicht bei uns melden würde, aber inzwischen ist daraus fast ein ganzes Jahr geworden. Wenn ich nicht wüsste, was der olle Walthard für einer ist, könnte man glatt glauben, dass alles seinen gewohnten Gang geht.“
So oft schon hatten sie dieses Thema durchgekaut, und je mehr Zeit verging, desto klarer schien es für Moppel, dass der Alltag wirklich wieder Einzug in ihr Leben gehalten hatte. Warum auch nicht? Zu Lukas sagte er: „Du hast doch selbst gesehen, wie sich der Dämon in diesen seltsamen Ascheregen, oder was das auch immer war, verwandelt hat. Aus dieser Nummer kommt selbst er nicht mehr raus. Der ist hinüber, Exitus, Ende, das war’s.“
„Ich bin mir da nicht so sicher wie du, Moppel.“
Ihre Überlegungen endeten immer damit, dass Moppel den Dämon bereits den Geschichtsbüchern zuschrieb. Lukas hätte ihm nur zu gerne zugestimmt, aber irgendetwas in ihm sträubte sich, daran zu glauben. Er fühlte es in seinen Knochen, in seinen Zellen, dass der Dämon noch nicht besiegt war und dass noch eine große Aufgabe auf sie wartete.
„Schade eigentlich, dass hier nichts Aufregendes mehr passiert“, seufzte Moppel.
„Ich vermisse Muriel“, stellte Lukas fest.
„Lass uns doch mal wieder zu Elli fahren und in den alten Sachen von Muriel stöbern“, schlug Moppel schon etwas munterer vor.
„The Brain mal wieder! Das ist eine gute Idee“, grinste Lukas und lüpfte sein Hinterteil schon vom Schreibtischstuhl.
Lukas rief seiner Mutter zu, dass sie Elli einen Besuch abstatten wollten. Frau Kramer wünschte ihnen eine gute Fahrt und steckte ihnen noch eine Flasche Wasser zu. Lukas nahm sie ohne zu murren an. Noch vor einem Jahr hätte ihn das mit der Wasserflasche geärgert, weil es ihm das Gefühl gegeben hätte, von seiner Mutter wieder einmal betütelt und überbehütet worden zu sein. Damals wäre ja sogar die Radtour ein Riesenakt gewesen, aber nachdem Lukas’ Vater letzten Sommer seinen Standpunkt klargemacht hatte, war Frau Kramer diesbezüglich etwas zurückhaltender geworden. Daher sah Lukas die Wasserflasche als das, was sie war, nämlich eine hilfsbereite Geste seiner Mutter, die ihnen die Fahrt zu Elli angenehmer machen sollte.
Frau Kramer war keineswegs unbesorgter und lockerer, was das Wohlergehen ihrer Kinder, vor allem das von Lukas, betraf. Sie zwang sich lediglich, ihre Bedenken und Ängste nicht zu sehr zu zeigen. Am liebsten war es ihr, wenn die Familie zu Hause vereint war. So konnte sie jedes Blaulicht und jedes Martinshorn, das draußen ertönte, gelassen hinnehmen, da sie wusste, dass ihre Lieben in Sicherheit waren.
Während Lukas sein Fahrrad aus dem Schuppen holte, fiel Moppel ein Rabe auf, der auf Kramers Gartentürchen saß. Er hatte etwas Helles am linken Flügel und schien recht zutraulich zu sein, denn als Moppel sich genauer anschauen wollte, was der Vogel da hatte, hüpfte er nur etwas zur Seite, und Moppel konnte leicht erkennen, dass es sich um ein paar weiße Federn handelte. Bewundernd betrachtete er den schönen Vogel. Sein Gefieder war nicht einfach nur schwarz, wenn man genau hinsah, sondern schimmerte in allen Regenbogenfarben auf schwarzblauem Grund, und die weißen Federn sahen aus wie Perlmutt in seiner reinsten Form.
Lukas’ Ruf, dass er nun startklar sei, unterbrach Moppels ornithologische Betrachtungen, und vergnügt radelten sie los. Bis zum Ortsrand, dann über den Feldweg, und ehe sie sich versahen, bogen sie in die romantische Gasse ein, wo Elli wohnte.
„Guck mal, ist das nicht der Roller von Christoph?“
„Exakt, das ist er.“
Sie zogen an dem altmodischen Klingelzug, und das fröhliche Lied der Glocke, die am anderen Ende hing, erklang. Während sie warteten, fiel Lukas’ Blick kurz auf einen Raben mit weißen Federn in der Schwinge, der sich auf einer Fensterbank des Nachbarhauses niedergelassen hatte. Was für ein schöner und stolzer Vogel, dachte Lukas noch, als er sah, wie das Sonnenlicht das glänzende Gefieder zur Geltung brachte. Aber nachdem Elli die Tür geöffnet hatte, war der Rabe wieder vergessen.
Elli strahlte die Jungs an: „Hallo, ihr beiden, das ist ja eine schöne Überraschung! Kommt herein.“
Als sie in die Küche eintraten, lag Christoph Mailand halb unter dem Spülbecken.
„Mein Abfluss war undicht und Christoph ist so nett, ihn mir zu reparieren“, sagte Elli fast entschuldigend und bekam dabei leicht gerötete Wangen.
„Hallo“, hallte es aus dem Spülenschrank. „Ich bin gleich fertig.“ Kaum hatte er das gesagt, da krabbelte Christoph Mailand, der den Schulbus fuhr und den Elli nach dem letzten Abenteuer gesund gepflegt hatte, auch schon aus seiner unbequemen Lage heraus. „So, alles dicht, das Wasser läuft wieder zuverlässig ab. Einem frisch gebrühten Tee steht also nichts mehr im Weg“, grinste er und setzte sich zu den Jungs an den Tisch.
Elli hantierte mit dem Wasserkessel und der Teekanne, während die Jungs die Gedecke auf dem Tisch verteilten.
„Gibt’s auch Kekse?“, wollte Moppel wissen.
Elli lachte: „Natürlich! Du weißt doch, wo sie sind.“
Moppel sprang auf und holte eine Dose aus dem unteren Fach des in die Jahre gekommenen Küchenschranks. Er prüfte ihr Gewicht mit zufriedener Miene. „Gut gefüllt.“ Beim Lüpfen des Deckels entfuhr ihm ein Jubelschrei: „Kokosplätzchen, meine Lieblingssorte!“
Moppel war im siebten Plätzchenhimmel und dezimierte den Bestand im Laufe des Nachmittags kräftig. Nachdem sie ihren Tee getrunken hatten, gingen sie nämlich alle zusammen hinunter in den Keller, um ein wenig in Muriels mysteriösen Sachen zu stöbern. Die Keksdose hatten sie mitgenommen.
Elli öffnete eines der vielen kleineren und größeren Kästchen, die es aus den verschiedensten Materialien in den außergewöhnlichsten Formen gab. Gerade wollte sie eine unscheinbare hölzerne Truhe wieder zuklappen, als sie stutzte. „Komisch, da müsste doch viel mehr Platz drin sein“, dachte sie und begann, das kleine Behältnis genauer zu untersuchen. Zunächst drehte sie es hin und her und begutachtete es von allen Seiten. Sie befühlte die Wände, den Deckel und den Boden, aber sie konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Erst als sie auf den Boden klopfte, ertönte ein verräterisches Geräusch. Es unterschied sich von dem der Truhenwände. Dann erkannte sie auch den unscheinbaren Spalt. Sie sprang auf und rannte die Treppe so schnell nach oben, dass die anderen sich verwundert anschauten.
„Da pressiert’s wohl jemandem“, grinste Moppel, aber er wurde eines Besseren belehrt, als Elli mit einem kleinen Küchenmesser zurückkam. Nun waren auch die anderen neugierig geworden.
„Für was brauchst du denn das Messer?“, fragte Christoph Mailand.
„Ich glaube, dass dieses Kistchen hier einen doppelten Boden hat.“
„Ein Geheimfach?“, platzte Lukas heraus.
„Wir werden es gleich sehen.“ Elli schob die dünne Messerschneide in den Spalt und fuhr an der Rille entlang. Plötzlich stieß sie auf Widerstand, und mit einem kleinen Klick öffnete sich der Boden. Zum Vorschein kam eine mehrfach gefaltete silbrige Metallfolie, die gleich von vier neugierigen Augenpaaren angestarrt wurde, als hätten sie gerade die Weltformel entdeckt. Ihre Neugierde wurde nur noch von dem Erstaunen über das, was dann kam, übertroffen. Als Elli die zarte Folie aus dem Kästchen nehmen wollte, fing sie bei der ersten Berührung an, sich wie von Zauberhand zu entfalten. Sie klappte sich ein paarmal auseinander, wobei sie ihre Größe bei jeder Entfaltung verdoppelte, bis sie schließlich die Größe eines DIN-A2-Zeichenblocks hatte. Ungläubig starrten die Anwesenden auf den Vorgang.
„Was soll das denn darstellen?“ Lukas war zunächst fast ein wenig enttäuscht gewesen, dass das vielversprechende Geheimfach nur ein Stück Folie barg, doch nachdem sich die Folie selbstständig entfaltet hatte, war von Enttäuschung keine Spur mehr – im Gegenteil. Moppel erging es nicht anders.
„Toll, eine sich selbst entfaltende Alufolie. Wir sollten sie als Patent anmelden“, schlug er scherzhaft vor.
„Ich habe davon gehört.“ Christoph Mailand hatte vor Erregung glänzende Augen. Elli schaute zu ihm hinüber und musste feststellen, dass ihm dieses Feuer im Blick gut stand.
„Von sich selbst entfaltender Alufolie?“, fragte Moppel ungläubig nach.
„Warte nur ab. Wenn es das ist, was ich vermute, dann ist das viel mehr.“
Kaum hatte Christoph Mailand den Satz zu Ende gesprochen, da fing die Folie an zu zittern und zu rumoren, um dann mit einem dumpfen Plopp zu einer dicken Steintafel zu werden. Dabei war sie von glitzernden Silberpartikeln umgeben. Erst als der Staub sich legte, klappten nacheinander Moppels und Lukas’ Münder wieder zu. Die Sache fing wirklich an, interessant zu werden. Christoph Mailand hob die nun schwere Tafel ehrfürchtig hoch und fuhr zart mit den Fingern über die kühle Oberfläche.
„Da!“, rief Elli aus. „Habt ihr das gesehen?“
„Was denn?“, fragte Lukas.
„Als du die Fläche berührtest, war kurz eine Schrift zu sehen“, sagte Elli aufgeregt zu Christoph.
Der lächelte feierlich und weihte dann seine Freunde in das Geheimnis der Tafel ein.
„Von dieser Tafel habe ich schon als Kind gehört. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es sich eher um eine Legende als um die Wahrheit handelte, aber nun halte ich sie sogar in meinen eigenen Händen“, sagte er sichtlich ergriffen.
„Nun sag schon, was ist das für ein Teil“, drängelte Moppel.
„Das könnte der Fluchbrecher sein.“
„Der Fluchbrecher? Was ist das?“, wollte Lukas wissen.
„Die Legende erzählt, dass damals, vor langer Zeit, der Dämon aus einem Zauber heraus geschaffen wurde, der zum Fluch mutierte. Solange dieser Fluch nicht gebrochen würde, könne auch der Dämon nicht vernichtet werden.“
Für einen Moment herrschte Grabesstille. Die Zeit schien wie eingefroren, und ihre Herzen schienen sogar für den Moment stillzustehen. Jedem der vier schossen sofort verschiedene Gedanken durch den Kopf.
„Dann ist der Dämon doch nicht tot, oder?“, fragte Lukas leise und zögerlich.
„Die Möglichkeit besteht durchaus“, antwortete Christoph Mailand.
„Setzt dann die Tafel selbst den Fluch außer Kraft?“, interessierte sich Moppel für das Praktische.
Christoph Mailand strich erneut zart über die Oberfläche, und die fremdartigen Schriftzeichen waren abermals für einen kurzen Moment zu sehen.
„So schnell kann doch kein Mensch lesen“, beschwerte sich Moppel. „Außerdem sind das ja echt komische Zeichen.“
„Fast jeder von uns Wächtern kennt diese Schrift.“
„Dann lies sie uns doch vor“, bat Elli.
Christoph Mailand schaute in die Runde. „Gut, setzt euch.“
Als jeder seiner Aufforderung gefolgt war, ließ er seine Finger wieder über die Oberfläche gleiten und las vor: „Der Zauber erfüllt sein Werk. Das Böse hat seine Macht und Kraft gestärkt. Der ist bereit, den Fluch zu brechen und wird damit alle Opfer rächen, dem die Prüfungen werden offenbart und der die Aufgaben zu meistern wagt.“
„Was bedeutet das? Wer ist damit gemeint?“, wollte Lukas wissen.
„Und von welchen Prüfungen ist da die Rede?“, hakte Moppel nach.
„Die Legende besagt, dass der Fluchbrecher Prüfungen bereithält, die denjenigen, der sie besteht, dazu befähigen, den Dämon endgültig zu besiegen.“ Christoph Mailand wurde sehr nachdenklich. „Mir scheint, es handelt sich hierbei doch nicht um eine bloße Legende, sondern um die Wahrheit. Den Beweis halte ich hier in Händen.“ Ehrfürchtig betrachtete er die Tafel. „Wir haben es schon mehrfach versucht, den Dämon zu besiegen. So nahe wie das letzte Mal sind wir seiner Vernichtung noch nie gekommen.“
„Aber er hat sich doch in Millionen kleine Teile aufgelöst“, sagte Moppel.
„Ja, das ist wahr, aber es bleibt eine Restunsicherheit“, erwiderte Christoph besorgt. „Und wenn das stimmt, was die Tafel sagt, dann können wir davon ausgehen, dass der Dämon noch nicht endgültig vernichtet ist.“
„Vielleicht hat ja schon einmal jemand die Prüfungen bestanden und der Fluch ist wirklich gebrochen“, dachte Moppel laut.
Christoph schob Moppels Hoffnungen gleich einen Riegel vor: „In dem Fall hätte sich die Tafel aufgelöst.“
Das war nicht gerade das, was die anderen hören wollten.
„Wie oft muss dieses Ungeheuer denn getötet werden, bis es wirklich tot ist?“, fragte Lukas erregt.
„Nach dem, was die Tafel sagt, ist es nicht eine Frage, wie oft der Dämon vernichtet wird, sondern wem und wie es gelingt, den Fluch zu brechen.“
„Vielleicht kann ja einer von euch Wächtern die Prüfungen bestehen“, meinte Moppel. „Komm, lies doch mal weiter. Vielleicht sagt uns die Tafel noch etwas darüber.“
Der Aufforderung Moppels nachgebend, strich Christoph Mailand über den unteren Teil der Tafel, doch die Oberfläche staubte nur kurz auf, ohne ihre Schriftzeichen preiszugeben.
„Hm, sie lässt mich nicht weiterlesen“, stellte er ernüchtert fest.
„Und was bedeutet das? Du konntest doch die obere Hälfte lesen“, hakte Lukas nach.
„Anscheinend gehöre ich nicht zu dem erlauchten Kreis derer, welche der Fluchbrecher für würdig erachtet, sein Geheimnis gänzlich zu enthüllen.“
„Das ist jetzt aber doof“, entfuhr es Elli.
Die anderen stimmten ihr leidenschaftlich zu. Nur zu gerne hätten sie alle gewusst, was es mit den Prüfungen, von denen der Fluchbrecher sprach, auf sich hatte und wer es war, der diesen ominösen Fluch brechen konnte und somit den Dämon zu besiegen fähig war.
Lukas gingen die vergangenen Abenteuer durch den Kopf. Wie oft hatten sie sich in Gefahr begeben, gekämpft und gefochten, was das Zeug hielt, und das sollte alles vergebens gewesen sein? Na gut, das Ornament vernichtet und somit die Gefahr gebannt zu haben, dass es der dunklen Seite zur Verfügung stand, war ein wichtiger Schritt in Richtung Sieg. Aber was hatte das Kämpfen gegen den Dämon für einen Sinn, wenn sie ihn gar nicht endgültig vernichten konnten? Wenn es nur demjenigen gelänge, von dem der Fluchbrecher sprach? Während Lukas darüber nachdachte, war Moppel schon wieder ganz nervös und ungeduldig, weil er doch so gerne gewusst hätte, was die Tafel vor ihnen verbarg. Er bat darum, den Fluchbrecher halten zu dürfen, und betrachtete die Tafel gründlich von allen Seiten. Er drehte und wendete sie, strich erst sanft, dann etwas fester zunächst mit den Fingern, dann mit der ganzen Handfläche über sie. Die Tafel wurde angehaucht und gegen das Licht gehalten, mit der rechten Hand berührt und mit der linken.
„Willst du es vielleicht noch mit den Füßen probieren?“, fragte ihn Lukas, dem das Ganze so langsam auf die Nerven ging.
Moppel musste einsehen, dass sein Bemühen leider nicht von Erfolg gekrönt war. Der vernichtende Blick, den er seinem Freund zuwarf, war da nur ein schwacher Trost.
„Das wird dir nicht weiterhelfen“, bremste auch Christoph Mailand Moppels Versuche. „Wenn die Geschichten stimmen, dann entscheidet die Tafel selbst darüber, wen sie für die Prüfungen auserwählt.“
„Bestimmt weiß Muriel etwas darüber. Wir brauchen unbedingt einen Zugang zu ihr, wenn wir hiermit weiterkommen wollen“, fand Lukas.
„Ich frag mich sowieso, warum sie sich so lange nicht bei uns gemeldet hat“, sagte Moppel und legte die Tafel neben sich.
„Vielleicht stimmt es tatsächlich, dass Ultimus es geschafft hat, die Dimensionen zu versiegeln. Marius hat so etwas verlauten lassen“, überlegte Christoph.
„Schaut mal, die Tafel“, unterbrach Elli. Das schwere steinerne Teil war gerade dabei, sich in seinen Ursprungszustand zurückzuverwandeln. Übrig blieb eine kleine zusammengefaltete silberne Folie, die Elli behutsam in das Kästchen legte.
„Aber wir können doch nicht tatenlos hier herumsitzen. Lasst uns doch noch mal das Raum-Zeit-Portal vom ollen Walthard nutzen“, kam Moppel unbeeindruckt auf das eigentliche Thema zurück.
„Das können wir vergessen!“, nahm ihm Christoph Mailand jegliche Hoffnung. „Nach dem letzten Gebrauch hat Ultimus das Raum-Zeit-Portal mit den verschiedensten Schutzzaubern belegt, die nur in seinem Beisein umgangen werden können. Noch nicht einmal Marius hat den kompletten Einblick in diese magischen Fußangeln.“
„Was hat Marius denn in letzter Zeit über den Walthard alles herausgefunden? Gibt es Neuigkeiten?“, wollte Elli wissen.
„Abgesehen davon, dass Ultimus glaubt, euch beide durch die Vergabe der Physiklehrerstelle an deine Mutter noch etwas besser unter Kontrolle zu haben, sei im Hause Walthard alles verdächtig ruhig, hat er berichtet.“
„Du sagst es: Das ist verdächtig!“, bemerkte Lukas trocken.
„Mehr als verdächtig“, setzte Moppel noch eins drauf. „Wir sollten mal wieder eine kleine Überwachungsaktion starten“, schlug er noch vor. „Wenn wir schon nichts von Muriel hören und auch beim ollen Walthard alles still ist, dann sollten wir wenigstens mal aus unserer Starre erwachen und etwas unternehmen.“
„Gut, dann setzen wir Walthards eigene Spionage-Marienkäfer ein“, stimmte ihnen Christoph zu.
Der Beschluss, neue Pläne zur Überwachung des verhassten Rektors zu schmieden, motivierte die Jungs wieder und brachte einige haarsträubende Ideen mit sich. Angefangen von einem weiteren Besuch der Villa über Entführungspläne bis zu Sabotageakten kam alles auf den Tisch. Doch letzten Endes einigten sie sich darauf, erst einmal die kleinen Marienkäferspione zu aktivieren.
„Hol mir noch eine Flasche Wodka, hab ich gesagt!“, schrie er heiser aus dem Wohnzimmer.
„Du hast vorhin die letzte Flasche getrunken“, kam es aus der Küche.
„Dann geh und kauf welchen!“
„Es ist erst Mitte des Monats, und unser Geld wird schon knapp.“
„Was heißt hier unser Geld? Das ist mein hart verdientes Geld! Ich stehe Tag für Tag zwischen den Scheißrinderhälften und schufte, damit du es verfressen kannst. Tu was für dein Essen und kauf mir meinen Wodka, und nimm diese verdammten Stöpsel aus den Ohren! Ich habe es satt, dich dauernd rufen zu müssen!“
Ein würgendes Geräusch und ein dumpfer Aufprall waren zu hören. Kai-Uwe ging ins Wohnzimmer und fand seinen Vater inmitten seines eigenen Erbrochenen liegen. Er war von der Couch gefallen. Hustend und würgend schaffte er es aber immer noch, seinen Sohn zu beschimpfen und seinen Alkohol zu fordern. Im Fernsehen lief lautstark irgendeine der täglichen Dokusoaps für Gehirnamputierte oder solche, die es werden wollten.
„Papa, leg dich doch ins Bett!“
„Ha, ins Bett“, lallte dieser, „damit du die Bude für dich alleine haben kannst.“
Auf allen vieren krabbelte Kai-Uwes Vater ins Bad, um sich das Erbrochene aus dem Gesicht zu waschen. Kai-Uwe stellte seinen MP3-Player lauter und wischte derweil den Boden sauber – wieder einmal. Wie oft hatte er schon die verschiedensten Lachen seines Vaters in der Wohnung weggeputzt. Er wusste nicht, ob er seinen Vater dafür bemitleiden oder hassen sollte.
Kai-Uwes Mutter hatte die beiden verlassen, als Kai-Uwe noch ein kleines Kind war. Seitdem lebte er zusammen mit seinem Vater. Den hatte die Trennung von seiner Frau sehr mitgenommen. Er haderte mit dem Leben, mit Gott, einfach mit allem und jedem. Gerade als es schien, dass er sich wieder einigermaßen fangen würde, hatte er die Konsequenzen seines Tiefs zu spüren bekommen. Sein Arbeitgeber hatte ihm gekündigt. Für einige Zeit war er arbeitslos gewesen, was die seelischmoralische Lage nicht gerade zum Positiven beeinflusst hatte. Schließlich war er dann heilfroh gewesen, die Stelle beim Schlachthof bekommen zu haben. Aber ab da hatte das Drama erst richtig begonnen. Die Arbeit forderte körperlich und seelisch ihren Tribut. Tagtäglich mit dem Töten von Lebewesen konfrontiert zu sein, die Schreie der Tiere, die in Todesangst zum Schlachten getrieben wurden, der Geruch des Blutes und der Innereien, das Töten im Fließbandtakt. Das alles hatte Kai-Uwes Vater ziemlich zugesetzt. Anfangs hatten noch ein paar Flaschen Bier nach Feierabend gereicht, doch mittlerweile ging er nicht einmal mehr nüchtern aus dem Haus. Bereits zum Frühstück hatte er einen gewissen Alkoholpegel, denn ohne dieses „Standgas“ war es ihm schwer möglich, das Bolzenschussgerät richtig zu setzen, weil seine Hände zitterten. Das machte das Zusammenleben mit ihm nicht gerade einfacher.
Kai-Uwe hatte schon früh gelernt, dass von elterlicher Seite keine Liebe und kein Verständnis für seine Sorgen und Nöte zu erwarten waren. Von seiner Mutter hatte er seit der Trennung der Eltern nichts mehr gehört. Weder hatte sie ihm zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschrieben noch hatte sie ihn jemals besucht. Und sein Vater? Na ja, das Abziehbild von einem Mann. Kai-Uwe schnaubte verächtlich aus, als er ihn über der Kloschüssel hängen sah. Die Spuren des Erbrochenen noch auf seinem Unterhemd.
„Hast du den Wodka?“, fragte sein Vater mit schwerer Zunge.
Kai-Uwe schüttete den Inhalt seines Putzeimers – in Anbetracht der anderweitig blockierten Kloschüssel – einfach wortlos in die Badewanne, zog den Stöpsel komplett heraus, sodass die stinkende Brühe besser ablaufen konnte, und knallte ein paar Minuten später die Haustür hinter sich zu.
Als er spätnachts nach Hause kam, fand er seinen Vater schnarchend auf dem Badvorleger. Kai-Uwe stieg über ihn, spülte den Inhalt der Toilette, putzte sich die Zähne und ging ins Bett. Die beiden Wodkaflaschen hatte er einfach neben seinem schlafenden Erzeuger abgestellt.
Dr. Walthard wusste um die Familienverhältnisse, in denen Kai-Uwe aufwuchs, ebenso wie er wusste, wie es in dem Schlachthof, in dem Kai-Uwes Vater arbeitete, zuging. Ganz unbeteiligt waren er und seine Konsorten nicht daran. Wo es Leid und Elend gab, da war die dunkle Seite nicht weit entfernt. Wenn sie irgendwo ein Körnchen Böses aufkeimen sahen, dann waren die Diener des Dämons zur Stelle, um die Saat des Schlechten zu hegen und zu pflegen. Denn das Leid nährte ihre Energie und Macht.
Je näher sie ihrem Heim kam, desto schneller wurden Frau Kramers Schritte. Dieser Mann. Sie hatte ihn im Supermarkt gesehen, beim Gemüsehändler und auf dem Markt. Für Frau Kramer gab es keinen Zweifel: Dieser Mann verfolgte und beobachtete sie. Noch während sie überlegte, ob sie sich umdrehen und schauen sollte, ob er hinter ihr wäre, hörte sie deutlich Schritte nahen. Abrupt und verteidigungsbereit wandte sie sich um und blickte in das Gesicht einer jungen Passantin. Der Gesichtsausdruck von Frau Kramer musste in diesem Moment wohl mehr sagen als tausend Worte, denn die junge Frau stoppte ihren forschen Schritt, als sei sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.
„Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich dachte, Sie seien jemand anderes“, stammelte Frau Kramer, die sich innerlich für ihren Verfolgungswahn schämte, als sie in das erschrockene Gesicht der jungen Frau schaute. Mit einem „Schon gut, nichts passiert“ setzte die ihren Weg fort.
Frau Kramer war beunruhigt. Den Mann hatte sie sicher gesehen, so viel stand fest. Sie war doch nicht bescheuert. Außerdem lungerte er immer wieder in der Nähe ihres Hauses herum. Was wollte er nur von ihr, und wer war er überhaupt? Sollte sie zur Polizei gehen? Nein, den Gedanken verwarf sie schnell. Vorher müsste sie mit ihrem Mann darüber reden, aber der hatte bei ihrem ersten zaghaften Versuch einfach nur abgewinkt. Fast ein wenig verspottet hatte er sie. Sie und ihre Übervorsichtigkeit, hatte er gesagt. Das grenze ja fast schon an Paranoia. Ihr Ehemann war in diesem Fall nicht gerade eine große Hilfe. Lukas und Silvi wollte Frau Kramer auf keinen Fall damit belasten. Vielleicht könnte sie ja mal mit Elli darüber reden.
Mittlerweile stand Frau Kramer vor ihrer Haustür und war froh, die schweren Taschen endlich abstellen zu können. Sie kramte ihren Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Beim Verstauen ihrer Einkäufe fiel ihr ein, dass sie ja noch gar nicht nach der Post geschaut hatte. Auf dem Weg zum Briefkasten warf sie einen Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Da stand er wieder – dieser Mann! Ohne nach der Post zu sehen, hechtete Frau Kramer ins Haus zurück, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte mit zitternden Knien an der Innenseite ihrer Haustür. Sie war sich sicher: Sie hatte einen Verfolger!
Sie traute sich nicht, sich zu rühren. Sie hatte das Gefühl, dass er sie bei der kleinsten Bewegung ertappen könnte. Natürlich war das Quatsch und ihr Kopf wusste es auch, aber manchmal lassen sich Gefühle einfach nicht rational erklären. „Ruhig, beruhige dich, Katharina“, sprach sie selbst auf sich ein. „Erst einmal Elli anrufen. Er kann ja nicht durch Wände sehen.“ Sämtliche Fenster meidend, schlich sie sich wie ein Verbrecher im eigenen Haus ans Telefon und wählte die Nummer ihrer Schwester. Zum Glück ging Elli gleich dran.
Katharina Kramer druckste anfangs herum, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Befürchtungen ausdrücken konnte, ohne sich lächerlich zu machen, aber bei Elli waren solche Vorsichtsmaßnahmen nicht nötig. Direkt bat sie ihre Schwester, mit der Sache herauszurücken, und zwar ohne Schnörkel und Umschweife. Nachdem sich Frau Kramer ihre Ängste grob von der Seele geredet hatte, versprach Elli, gleich vorbeizukommen.
Frau Kramer war erleichtert. Elli nahm sie ernst. In freudiger Erwartung von Ellis Besuch fing sie an, Kaffee aufzusetzen und einen Waffelteig anzurühren. Zwischendurch konnte sie es aber nicht lassen, aus dem Fenster zu spähen, um festzustellen, ob der mysteriöse Fremde noch da war. Ja, da war er noch, allerdings verursachte ihr sein Anblick in Anbetracht dessen, dass sie nun eine Verbündete hatte, nicht mehr so ein großes Unbehagen wie zuvor. Als sie sich noch ein wenig im Bad frisch machte, ging sie an Lukas’ offen stehender Zimmertür vorbei, was Billy, der Graupapagei, sofort zum Anlass für eine Unterhaltung nahm. „Billy, Willy, Silly“, tönte er vergnügt. „Alles wird gut, Billy. Alles wird gut“, sagte Frau Kramer zu ihrem gefiederten Hausgenossen. „Alles wird gut“, krächzte Billy daraufhin zurück und machte den Eindruck, dass er sich über die neuen Worte freute. Frau Kramer musste lachen, was ihre Ängste noch mehr beschwichtigte. Das weiterführende „Gespräch“ mit Billy wurde von der Türklingel unterbrochen.
Freudig sprang Katharina Kramer die Treppe hinunter und öffnete ihrer Schwester die Tür. Mit den Worten „Schön, dass du kommen konntest“ umarmte sie Elli. Dabei entging ihr nicht der Mann gegenüber. „Dreh dich jetzt nicht um, da drüben steht er“, wisperte sie Elli erregt ins Ohr. „Komm erst einmal herein. Wir schauen dann durchs Küchenfenster.“ Sie zog Elli ins Haus und die beiden eilten zielstrebig ans Fenster. „Siehst du ihn?“, fragte Katharina Kramer aufgeregt, aber Elli schüttelte nur den Kopf. „Geh mal zur Seite, Elli. Eben war er noch da. Ich schwöre es dir. Genau dort drüben vor Gerlings grünem Hoftor stand er.“
„Bist du dir sicher, dass er dort war?“, fragte Elli nach.
„Natürlich! Zweifelst du jetzt auch schon an meinem Verstand?“
„Nein, natürlich nicht, Katharina. Wer zweifelt denn überhaupt an deinem Verstand, wenn du ‚auch schon’ sagst?“
„Ach, Klemens. Er denkt, ich bin wieder mal übervorsichtig und hypernervös.“
„Und? Bist du es?“
„Du glaubst auch, dass ich spinne“, stellte Frau Kramer niedergeschlagen fest.
„Aber nein, Katharina. Ich glaube dir. Es wäre nur viel einfacher, wenn jemand anders den Mann auch mal sehen würde. Wenn er euer Haus ständig beobachtet und dich verfolgt, dann müsste doch auch einer von uns mal einen Blick auf ihn erhaschen können.“
„Ja, ich weiß, das klingt alles sehr merkwürdig, aber ich schwöre dir, er war da.“
„Ah, möchtest du etwa Waffeln backen?“ Elli hatte ihr Augenmerk auf die süße Köstlichkeit gerichtet.
„Ja, für uns“, nahm Lukas’ Mutter die Ablenkung gerne auf. Bevor sie zum Waffeleisen ging, schaute sie noch einmal aus dem Fenster. „Elli, schnell, da ist er wieder.“
Elli sprang sofort zum Fenster, doch als sie auf die Straße sah, lag die ruhig, friedlich und vor allem menschenleer da.
Im weiteren Verlauf des Vormittags wollte Frau Kramer nicht mehr über das Thema sprechen und Elli akzeptierte es schließlich. So aßen sie ihre Waffeln, tranken Kaffee dazu und redeten über belangloses Zeug, aber innerlich waren beide beunruhigt.
Kaum, dass Elli gegangen war, sah Frau Kramer den Fremden wieder. Dieses Mal stand er weiter unten in der Straße. Warum konnte ihn niemand außer ihr sehen? Das war doch nicht möglich. Nach langem Überlegen kam Frau Kramer eine Idee. Sie würde einen Privatdetektiv anheuern. Von ihrem Geistesblitz angetan, nahm sie das Telefonbuch zur Hand und machte gleich Nägel mit Köpfen. Eine Detektei war schnell gefunden. Sie vereinbarte Barzahlung, damit ihr Mann bei der Durchsicht der Kontoauszüge keinen Verdacht schöpfte. So, das war geregelt. Mit der Aktion hatte Katharina Kramer für den Rest des Tages das Gefühl der Hilflosigkeit ein Stück zurückgedrängt, und in dieser Nacht schlief sie seit Langem einmal wieder durch.
Einige Tage später waren Lukas und Moppel wieder einmal zusammen mit Christoph Mailand bei Elli. Christoph war in letzter Zeit übrigens ziemlich häufig bei Elli anzutreffen. Jetzt saßen sie am Küchentisch, auf dem sieben mit einer Nadel aufgespießte kleine Marienkäfer aus Metall lagen und Werkzeug, wie es von Uhrmachern benutzt wurde.
„Sooo winzig habe ich mir die Teile ja nicht vorgestellt“, bemerkte Moppel und drückte damit seine Besorgnis aus, wie sie es schaffen sollten, diese kleinen tierischen Spionagemaschinchen zu aktivieren.
„Da stimme ich dir zu“, nickte Lukas zu ihm rüber.
„Hierfür braucht es jemanden, der ruhige Hände hat“, war die Bemerkung von Elli.
„Hmm, das scheint mir so ähnlich wie eine OP am offenen Herzen eines Flohs“, brachte es Christoph Mailand auf den Punkt.
„Hat ein Floh überhaupt ein Herz?“, wollte Moppel wissen.
„Klar doch“, lachte Christoph fröhlich.
„Und? Gibt es hier jemanden, der Erfahrung mit Herzoperationen an Flöhen hat?“, fragte Lukas.