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"Der Fluchbrecher" ist der vierte Band der fünfteiligen Reihe "Auf den Spuren der Macht", in der es nicht nur um spannende Abenteuer, mystische Welten, Zauberei und Zeitreisen geht, sondern auch um Freundschaft, Vertrauen und Mut. Der Protagonist der Romanreihe ist Lukas, ein schüchterner und überbehüteter Junge, der mit der Welt des Magischen in Berührung kommt. Mit seinem besten Freund Moppel besteht er Abenteuer im Hier und Jetzt, aber auch in anderen Dimensionen, in deren Verlauf die beiden neue Erkenntnisse und Einblicke erhalten, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Ihre Welt wird auf den Kopf gestellt. Nichts ist mehr, wie es war für die Freunde, und Lukas wird bewusst, dass er sich seinem Schicksal nicht entziehen kann, denn ein mächtiger Widersacher steht im Dienst eines schrecklichen Dämons und versucht, der dunklen Seite zur Macht zu verhelfen. Doch die beiden Freunde sind nicht alleine. Zauberer mit ihren Kriegern, den Wächtern des Guten, Freunde und Familie stehen ihnen bei. Beide Seiten verfügen über umfangreiches magisches Wissen. Sowohl der dunklen als auch der lichten Seite dienen verschiedene Kreaturen, den einen Schattendämonen und grässliche Höllenhunde, den anderen kluge Raben und edle Raubkatzen. So ist offen, wer den Kampf gewinnt. Zum Inhalt von Band 4: Wer hätte gedacht, dass es Ultimus Walthard gelingen würde, die Essenz des Dämons zu vereinigen? Und nicht nur das. Er bringt es abermals fertig, seine Spuren zu verwischen und die Brutstätte des Bösen im Verborgenen zu halten. Selbst die Suche der Zauberer und Wächter laufen ins Leere. Für Lukas bedeutet das nur eins: Er muss sich den Aufgaben des Fluchbrechers stellen. Ob im Land der Drachen, als Gladiatoren im alten Rom oder in der Wüste, sein Freund Moppel ist an Lukas' Seite. Gemeinsam stellen sie sich Freund und Feind, mag es ein entlaufener Sklave, der alte Gladiator Invictus, oder der Beduine Al Magmani aus der Zwischenwelt sein. Werden die Freunde es schaffen, dem Bösen Einhalt zu gebieten, indem sie den Fluch brechen? Dem Buch ist eine kurze Zusammenfassung der vorherigen Bände und Informationen über die wichtigsten Charaktere vorangestellt, so dass Leser direkt in die Geschichte einsteigen können.
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Lukas Kramer findet einen abgegriffenen Lederbeutel und ein altes Pergament. Der Fund reißt ihn und seinen besten Freund Daniel Glück, den alle nur Moppel nennen, auf drastische Weise aus ihrem gewohnten Leben.
Mithilfe eines magischen Buches reisen die beiden Freunde durch Zeiten und Welten, um die Bruchstücke eines Ornaments zu finden, das, vervollständigt, seinem Besitzer ungeahnte Macht und Stärke verspricht. Das sind genau die Eigenschaften, die sich der eher schmächtige und zurückhaltende Lukas so sehr wünscht. Er und Moppel müssen jedoch feststellen, dass auch andere nach der Macht trachten: Das Böse, die Anhänger eines schrecklichen Dämons, die Obscubitoren, an deren Spitze niemand anderer als Dr. Ultimus Walthard, der Rektor von Lukas’ und Moppels Schule, steht.
Doch die beiden Freunde sind nicht alleine. Zauberer mit ihren Kriegern, den Wächtern des Guten, stehen ihnen bei, und schließlich gelingt es Lukas, das Ornament zu vervollständigen. Nach all dem Erlebten, den neuen Erfahrungen und dem Wissen, das Lukas erlangt hat, ist er jedoch nicht mehr der Junge von früher. Er kommt zu der Einsicht, dass niemand über eine solch große Macht und Stärke, wie sie das Ornament verheißt, alleine verfügen sollte, und schon gar nicht die Gefahr weiterbestehen soll, dass das Böse an diese Macht gelangen könnte. Daher entschließt er sich, das Ornament unwiederbringlich zu zerstören.
Leider ist das Böse deswegen noch nicht aus der Welt. Die Obscubitoren arbeiten darauf hin, dem Dämon wieder zur Macht zu verhelfen. Lukas und Moppel, die sich schon längst dem Kampf für das Gute angeschlossen haben, müssen noch einmal durch die Dimensionen reisen und gefährliche Situationen meistern, bis sie das Versteck des Dämons auf Sansibar finden.
Obwohl der Dämon dort zu Staub und Asche zerfällt und somit seine Vernichtung sicher scheint, gelingt es Ultimus Walthard, die Essenz zu retten, durch deren Verschmelzung ein Auferstehen des Dämons möglich würde.
Beide Seiten, die Obscubitoren und die Zauberer, verfügen über umfangreiches magisches Wissen. Sowohl der dunklen als auch der lichten Seite dienen verschiedene Kreaturen, den einen Schattendämonen und grässliche Höllenhunde, den anderen kluge Raben und edle Raubkatzen. So ist offen, wer den Kampf gewinnt.
Katharina und Klemens sind Lukas’ Eltern, Silvi ist seine ältere Schwester.
Muriel war es, die Lukas mit dem Magischen bekannt gemacht hat. Dass sie seine Urgroßmutter und sogar die Tochter des weißen Zauberers ist, erfährt er erst später. Sie kann, wie die Wächter, durch Zeit und Raum reisen.
Elli, Katharina Kramers Schwester, wohnt jetzt in Muriels ehemaligem Häuschen und kennt sich in deren Sammelsurium an Mittelchen, Zaubertränken und Büchern gut aus.
Christoph und Marius sind Wächter, die im Hier und Jetzt Aufgaben übernommen haben. Marius genießt zudem das Vertrauen von Ultimus Walthard.
Berahthraban, der ehemalige beste Freund von Ultimus Walthard, wurde von ihm an die Wand der Verdammnis gekettet und ist zu Dr. Walthards Entsetzen der Wand entkommen. Ultimus ist sich noch nicht sicher, ob ihm sein ehemaliger Freund möglicherweise gefährlich werden kann.
Cedric, Ultimus Walthards getreuer Diener, partizipiert ebenfalls am Zauber seines Herrn, der beide für den Tod unsichtbar macht.
Kai-Uwe Tanner, der Fiesling der Schule, der früher Lukas das Leben schwergemacht hat, jagt Lukas mittlerweile keine Angst mehr ein, aber Vorsicht ist immer noch geboten, da sich Kai-Uwe inzwischen zum Handlanger des Rektors hochgearbeitet hat.
Lucy, eine Klassenkameradin von Lukas und Moppel, ist zu einer verlässlichen Verbündeten und Freundin geworden.
Hannibal wurde von Lukas aus der Gefangenschaft der Piraten befreit. Was genau er ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Am ehesten ähnelt er wohl einer Mischung aus Wolf und Grizzly.
Ultimus Walthard war aufs Äußerste angespannt. Ab jetzt durfte nichts mehr schiefgehen, nicht die geringste Kleinigkeit. Daher überließ er nichts dem Zufall. Denn trotz aller Vorsicht wäre es dieser verdammten Muriel mit ihren Männern fast gelungen, die Überführung der Essenz des Dämons zu vereiteln. Zum Glück hatte Ultimus dies, einer dunklen Vorahnung folgend, gerade noch rechtzeitig verhindern können.
Ursprünglich hatte er geplant, die granulierte Essenz des Dämons in einer feierlichen Zeremonie und im Beisein seiner Getreuen zu verschmelzen. Das wäre er seinen ergebenen Obscubitoren schuldig gewesen. Der Macht des inkarnierten Bösen angemessen zu huldigen, hätte das Lechzen seiner Anhänger nach der körperlichen Wiedergeburt ihres angebeteten Herrn, dem sie sich mit Leib und Seele verschrieben hatten, gestillt und sie noch mehr motiviert. Das Ritual der Essenzverschmelzung hätte der erste Schritt zur Wiedergeburt sein sollen. Ein erhabener Moment, den ausgewählte Obscubitoren gemeinsam hatten feiern wollen. Doch es war anders gekommen.
Obwohl Ultimus’ Villa mit Schutzzaubern belegt worden war und nicht nur genügend Obscubitoren, sondern auch zusätzlich angeworbene Höllensöldner bereitgestanden hatten, um die Überführung der Truhe mit der Essenz des Dämons zu sichern, so war doch nach wie vor ein ungutes Gefühl in Ultimus’ Magengegend präsent gewesen. Alles schien bestens geplant und die Reise durch das Raum-Zeit-Portal sicher. Doch wenige Stunden vor dem Eintreffen seiner Obscubitoren hatte das Gefühl – etwas, was der Obscubitor Maximus normalerweise nicht zuließ – endgültig die Oberhand über den Verstand gewonnen und Ultimus hatte gegen alle Regeln seinen getreuen Diener Cedric zu sich in sein Arbeitszimmer zitiert.
Als Cedric eingetreten war, hatte er die verschiedenen urnenähnlichen Gefäße auf einen dunklen Samtteppich entleert vorgefunden. Den dunklen Samt umgab ein Kreis schwarzer Kerzen. Ihre Flammen schienen kein bisschen Helligkeit abzugeben – im Gegenteil, der von den restlichen Kerzen verbreitete Schein, der das Arbeitszimmer mit seinem flackernden Licht schummrig erhellte, wurde von ihnen eher verschlungen, sodass die Essenz des Dämons in Dunkelheit lag. Außen herum hatte der Rektor mit gemahlenem Knochenpulver – wer weiß aus welchen oder wessen Knochen?! - machtvolle geheime Schriftzeichen auf den Fußboden aufgetragen. Der Anblick war gruselig. Jedem normalen Menschen wäre ein gänsehautmäßiger Schauer über den Rücken gelaufen, aber nicht Cedric. Er war seinem Herrn charakterlich schon so nahe, dass auch er der Umgebung mehr als nur entsprach. Er hatte geahnt, was die Vorbereitungen bedeuteten, und sich stolz gewähnt, der bevorstehenden Zeremonie beiwohnen zu dürfen.
Ultimus Walthard hatte sich entschieden, mit der Essenzverschmelzung nicht länger zu warten. Der innere Drang, der jeder Logik trotzte, war übermächtig geworden. Kurz entschlossen hatte er die nötigen Vorbereitungen getroffen und dann Cedric herbeigerufen, um mit ihm zusammen das Ritual zu vollziehen.
Cedric hielt ein silbernes Tablett mit den verschiedensten Dosen, Phiolen und anderen Behältern in den Händen, während er seinem Herrn, der den Kreis Zaubersprüche murmelnd umschritt, folgte. Immer wieder blieb Ultimus stehen und nahm etwas von dem Tablett, sprühte oder stäubte es auf die Essenz und huschte dann weiter. In regelmäßigen Abständen verbeugte er sich demütig und kniete nieder, bis seine langen grauen Haare den Boden berührten. Dabei flatterte sein weiter Umhang um ihn herum, als besäße er ein Eigenleben. Ultimus pustete eines der aus Knochenmehl aufgetragenen Zeichen in Richtung der granulatartigen Essenz des Dämons. Cedric schaute zu, wie sich der helle Staub über das Granulat legte und sich ein Rest im Dunkel der Kerzen verlor. Sein Herr erhob sich und wiederholte das Ritual, bis auch das letzte Zeichen in die Essenz hineingeblasen war.
Das schwarze Granulat begann nun langsam seine Farbe zu ändern. Es wurde immer heller, bis es sich in eine milchig weiße, durchscheinende, fast gelartige Masse verwandelt hatte. Feierlich öffnete Dr. Walthard eines der Holzpaneele der Wandverkleidung, das eine kleine Tür freigab. Cedric war überrascht. Bis dato hatte er nicht gewusst, dass sich dahinter so etwas wie ein Geheimfach befand. Dr. Walthard zog den kleinen Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug und der zu dem Tresor hinter seinen Büchern gehörte, hervor und er passte perfekt auch in dieses Schloss. Unverständlich vor sich hin murmelnd drehte er das Schlüsselchen erst zweimal nach links, dann viermal nach rechts und öffnete die Tür. Mit allergrößter Vorsicht holte er ein Tongefäß aus dem Geheimfach hervor und stellte es auf seinen Schreibtisch. Cedric war gespannt, was darin enthalten war.
Als Dr. Walthard den Deckel abgenommen hatte, fischte er mit seinen knochigen Fingern äußerst behutsam den Inhalt heraus. Anfangs konnte Cedric nicht erkennen, was sein Herr in den Händen hielt, doch als Walthard das seltsame Objekt auf der gelartigen Masse, zu der die Essenz des Dämons mittlerweile geworden war, abgelegt hatte, sah er, um was es sich handelte: ein mumifiziertes Herz. Weitere Zaubersprüche folgten und das verschrumpelte Herz sank langsam in die wabbelige Essenz ein. Je mehr sich das milchig weiße Gel um das dunkle, vertrocknete Organ schloss, desto lebendiger schien die Farbe des Herzens zu werden. Schließlich war es völlig von der milchigen Substanz umhüllt und die mit ihm verschmolzene Essenz des Dämons lag als ein helles, kokonartiges Etwas im Kreis der schwarzen Kerzen. Mit Dr. Walthards einem Donnerhall gleichen »Vive!«, das Cedric zusammenzucken ließ, begann das Herz zu schlagen. Die Essenz des Dämons war mit dem Herzen vereinigt und das Leben begann in ihr zu wachsen. Cedric war Zeuge, wie diese Verschmelzung die Wiedergeburt des Bösen eingeleitet hatte. Es war nur ein erster Funke des Lebens, winzig klein, aber der würde genügen, um einen diabolischen Großbrand in Gang zu setzen. Cedric war mächtig stolz. Er – nicht die Obscubitoren – hatte diesem Moment beigewohnt!
Ultimus Walthard legte das kleine pulsierende Bündel wieder in die Truhe und schloss den Deckel. Die Truhe war wichtig für das Überleben des Dämons. Solange ihm eine schützende Hülle fehlte, übernahm sie die Funktion eines Brutkastens. In ihr war der Embryo des Bösen sicher, bis er an seinen Bestimmungsort, seine eigentliche zur Reifung vorgesehene Umgebung, gebracht würde. Dort, an jenem akribisch präparierten Ort, konnte er dann in Ruhe wachsen und gedeihen.
Die Obscubitoren hatten die leere Hülle des Dämons, die sie damals in Sansibar hatten retten können, zwar mit aller Mühe und Sorgfalt zu erhalten versucht, aber sie war über die Zeiten so fragil und brüchig geworden, dass sie der Essenz des Dämons nicht mehr dienen konnte. Der Dämon musste von selbst wachsen und eine neue Haut bilden, die nach und nach immer fester und widerstandsfähiger werden würde. Da der Dämon in dieser Zeit äußerst verwundbar war, würde Dr. Ultimus Walthard höchstpersönlich den Reifeprozess nicht nur begleiten, sondern auch vorantreiben und bewachen. Während dieser Zeit würde er nicht in seine Villa zurückkehren und seine Rektorentätigkeit war mit der Wiedergeburt des Dämons eh hinfällig. Bei dem Gedanken, als was und mit wem er zurückkehren würde, huschte sogar ein Grinsen über sein Gesicht.
Ultimus wies Cedric an, ihm beim Packen seiner Kisten zu helfen. Einiges aus seinem Arbeitszimmer würde er in der Festung brauchen. Anderes wiederum wollte er nicht in der alleinigen Obhut von Cedric wissen.
Wie gut seine Entscheidung gewesen war, die Essenzverschmelzung schon im Hier und Jetzt durchzuführen, hatten die nachfolgenden Ereignisse bestätigt. Die Truhe mit der Essenz hätte Ultimus nicht so einfach in Sicherheit bringen können, und selbst mit der Aktion, den Dämon in seinem embryonalen Zustand aus der Truhe zu holen und mit ihm durch das Raum-Zeit-Portal zu verschwinden, war er ein hohes Risiko eingegangen. Aber es hatte funktioniert.
In dem frühen embryonalen Stadium und ohne den Schutz der Truhe war der Dämon nur allzu verletzbar, doch für Ultimus hatte es keine Alternative gegeben. Die Essenz zu verlieren, wäre fatal gewesen. Ein paar Stunden konnte der Embryo des Bösen außerhalb der Truhe überleben. Ultimus hatte gehofft, dass sie die Zeitspanne erst gar nicht bis an ihre Grenzen ausreizen mussten, um ihn an seinen Bestimmungsort und somit in Sicherheit zu bringen. Die Essenz zu verlieren, wäre ungleich risikoreicher gewesen. Und nun, im Nachhinein betrachtet, hatte Ultimus alles richtig gemacht. Nicht nur, dass der Dämon an einem geheimen Ort, den nur er und die wenigen von ihm auserwählten Obscubitoren kannten, in Ruhe heranreifen konnte: Er hatte auch noch Berahthraban in seiner Gewalt. Endlich konnte er zu Ende bringen, was er vor so langer Zeit begonnen hatte. Dessen ungeachtet beschlich Ultimus Walthard nach wie vor ein ungutes Gefühl. Er konnte sich nicht erklären, warum er von einer Anspannung heimgesucht wurde, die ihn fest im Griff zu haben schien und von einer großen Unruhe begleitet wurde. Sein letztes Gefühl hatte ihn vor dem Zugriff der Wächter gewarnt. Er war also nicht mehr so abgeneigt wie früher, Gefühlen einen gewissen Stellenwert einzuräumen, auch wenn ihn das anwiderte.
Zu der Gruppe vertrauenswürdiger Obscubitoren gehörte auch Marius Guthmann. Während des Kampfes im Walthard’schen Keller war er versucht gewesen, sich offiziell auf die Seite seiner Mitstreiter zu schlagen, aber mit Muriel war vereinbart, dass er seine Tarnung auch dann aufrechterhalten sollte, wenn irgendetwas schieflaufen würde und Ultimus weiter beschattet werden musste. So hatte er sich gezwungen, während der Kampfhandlungen im Hintergrund zu bleiben, was ihm recht schwergefallen war. Doch die Tatsache, dass seine wahren Mitstreiter die Truhe unter ihre Kontrolle gebracht hatten, machte es ihm leichter, seine Rolle als Vertrauter von Dr. Walthard weiterzuspielen. Wie gut war es nun im Nachhinein, dass er sich nicht als Wächter zu erkennen gegeben hatte, denn wer hatte ahnen können, dass der Rektor die Essenz des Dämons bereits wiederbelebt und den Embryo des Bösen in die andere Dimension gerettet hatte?
Mit der Flucht Dr. Walthards, der gelungenen Essenzverschmelzung, der Tatsache, dass sich Berahthraban in der Gewalt der Obscubitoren befand, und nicht zuletzt mit der neuen Situation, dass Lukas vom Fluchbrecher auserwählt worden war, drohten sich die Ereignisse zu überschlagen. Gerade deshalb war es jetzt wichtig, nicht den Kopf zu verlieren und überstürzt zu handeln, obwohl mehr denn je zügige Entscheidungen gefragt waren.
Die Wächter vertrödelten jedenfalls keine Zeit mit langem Warten. Sie begannen unverzüglich mit der Suche nach Spuren der Obscubitoren. Je weniger Zeit verstrich, desto wahrscheinlicher war die Möglichkeit, einen kleinen magischen Hauch, eine Unachtsamkeit bei der Flucht oder einen anderen Hinweis auf den Verbleib von Ultimus und seinen dunklen Gesellen zu finden. Den Wächtern war ohnehin klar, dass Ultimus’ Weg nicht gerade mit Brotkrumen gekennzeichnet sein würde, aber vielleicht war ihnen das Glück ja hold oder der Zufall gewogen. Zumindest wollten sie nichts unversucht lassen.
Moppel war kaum zu halten. Er wäre am liebsten mit den Wächtern losgezogen, während er sich gleichzeitig mit Lukas den Aufgaben des Fluchbrechers gestellt hätte. Lukas barst nicht weniger vor Tatendrang, doch Muriel bremste die beiden Jungs jäh aus. Nichts war jetzt wichtiger, als einen kühlen Kopf zu bewahren und besonnen zu handeln. Blinder Aktionismus, auch wenn er noch so gut gemeint war, half im Moment keinem. Dass die Wächter auch ohne ihn klarkamen, brauchte Moppel niemand zu erklären, doch ein wenig träumen war ja erlaubt, sagte er sich. Was ihm viel mehr zu schaffen machte, war die Sache mit dem Fluchbrecher. Lukas war derjenige, zu dem die Steintafel gesprochen hatte, nicht zu ihm. Wenn das nun bedeutete, dass er seinen Freund nicht begleiten konnte … Er wagte nicht, sich das weiter auszumalen. An dunklen Gedanken mangelte es ihm derzeit eh nicht. Leider waren die Versuche gescheitert, weitere Codes aus Dr. Walthards diabolischem Tagebuch zu entschlüsseln. In der Eile, die Seiten zu fotografieren, war nicht jede Aufnahme gelungen. Manche waren verwackelt und unscharf, worüber sich Moppel heute noch ärgerte. Aber wer würde ihm Vorwürfe machen, weil ihm bei der damaligen Aktion in Dr. Walthards Villa die Hände gezittert hatten? Es war ein mehr als mutiges Unterfangen gewesen und alle Beteiligten hatten viel riskiert, doch es hatte sich wahrlich gelohnt: Sie hatten das Drachenserum zurückerobern können und somit einen entscheidenden Beitrag zu Lukas’ Rettung geleistet.
Die Entschlüsselung einiger Codes durch Flo hatte sie zunächst hoffen lassen, doch viel weiter war er bis dato nicht gekommen. Selbst die Wächter und die Zauberer waren des Codes nicht mächtig, sehr zu Moppels Enttäuschung, denn auf deren Wissen hatte er gehofft. Wenigstens einer der weißen Zauberer hätte doch wissen müssen, wie man das Gekrakel vom ollen Walthard entzifferte. Die Worte von Muriels Vater waren dem Jungen noch gut im Gedächtnis: »Ultimus hatte schon immer eine Schwäche für Verschlüsselungen und geheime Zeichen. Auf diesen Texten liegt keinerlei Zauberei. Sie zu dechiffrieren ist für uns genauso möglich oder unmöglich wie für jeden anderen.« Dafür hatten sie das ganze Risiko auf sich genommen? Moppels Hoffnungen hatten jäh einen Dämpfer erhalten. Selbst jetzt nagte die Enttäuschung noch an ihm. Zum Glück riss ihn seine Fähigkeit, sich immer wieder schnell für Neues begeistern zu können, einmal mehr aus der negativen Abwärtsspirale.
Muriel schlug vor, sich die verlassene Villa des Rektors genauer anzusehen und sich dort nach eventuellen Spuren und Hinweisen umzuschauen. Außerdem wollte sie nach dem mysteriösen Buch oder Album suchen, von dem ihr Moppel berichtet hatte. Das war ganz nach Moppels Geschmack. Seine Sorgen und Bedenken fegte er mit einem Wisch weg und war bereits wieder Feuer und Flamme, das verlassene Nest in Form dieser Bruchbude von Villa der fiesen Ratte von Rektor zu durchwühlen.
»Geht ihr ruhig. Ich muss dieses unheimliche Haus nicht noch mal von innen sehen«, sagte Silvi müde.
Muriel nickte Elli zu und die schaute zu Christoph.
»Wir bleiben bei ihr«, antwortete er.
Der Rest, bestehend aus Lukas, seinen Eltern, Moppel und Muriel machte sich auf den Weg zur Walthard’schen Villa.
»Seid vorsichtig. Das Haus könnte mit weiteren Schutzzaubern belegt sein. Sollte irgendjemandem etwas Verdächtiges auffallen, sagt mir sofort Bescheid«, warnte Muriel die anderen eindringlich. »Ich gehe vor. Ihr wartet hier.«
Muriel umrundete das Haus, sprühte und streute diverse Substanzen um die Villa und den Garten und sagte Zaubersprüche mit fremd anmutenden Wörtern auf. Dann verschaffte sie sich durch eines der kaputten Fenster Zutritt zum Inneren. Im Flur waren deutlich die Zeichen des Kampfes zu sehen. Scherben klebten zusammen mit getrocknetem Blut auf dem Boden, selbst die Wände waren blutig und die vergilbte Stofftapete hing in Fetzen herab. Das zerborstene Glas knirschte unter Muriels Füßen, als sie zur Haustür schritt, um die anderen einzulassen.
»Oh Mann, hier muss ja was los gewesen sein«, rief Moppel fast mit Begeisterung. Eifrig steuerte er auf das Arbeitszimmer zu, doch Muriel hielt ihn zurück: »Es sieht nicht nach Ultimus aus, sein Haus einfach so zurückzulassen. Fasst erst einmal nichts an.«
Vorsichtig ging Muriel zur offen stehenden Tür des Arbeitszimmers. Mit einer Handbewegung bedeutete sie den anderen, vor allem Moppel, ein Stück zurückzutreten. Auf der Kommode im Flur stand eine Messingvase, die Muriel in das Arbeitszimmer hineinwarf. Die Vase kam allerdings nicht weit: In dem Moment, als sie die Tür passierte, schoss ein glühendes Netz aus dem Türrahmen und hielt die Vase für einige Sekunden in der Schwebe, bis sie vor den Augen der erschrockenen Gruppe verglühte.
»Oh«, war der einzige Kommentar von Moppel, »das hätte ins Auge gehen können.«
»Wie kommen wir da jetzt rein?«, fragte Lukas.
»Ich habe auch meine Tricks.« Muriel zwinkerte ihm zu und kramte in ihrer Umhängetasche nach dem passenden Mittelchen.
Klemens Kramer schaute fasziniert zu, wie sie knapp vor dem Türrahmen ein hellblaues Pulver ausstreute und so eine Linie zog. Dabei murmelte sie ein Wort. Wenn er richtig verstanden hatte, dann war es »Conglacio«. Kaum, dass sie die letzte Silbe ausgesprochen hatte, fing das Pulver an, sich zu bewegen, und formierte sich zu einer regelrechten Armee von kleinen Spinnen, die den Türrahmen hochzuklettern begannen. Von ihrer Bewegung ausgelöst, schoss abermals das glühende Netz daraus hervor, doch die eisigen Spinnen krabbelten so schnell an den dünnen Fäden entlang, dass das Geflecht vor Kälte erstarrte. Ein leichter Schlag genügte und es fiel klirrend auf den Boden. Muriel öffnete das Pulverröhrchen erneut und die Spinnen krabbelten wie auf ein geheimes Kommando in das Röhrchen zurück, wo sie wieder zu hellblauem Pulver wurden. Zufrieden verschloss Muriel das Behältnis und stopfte es in ihre Tasche.
»Papa, du kannst den Mund jetzt wieder zumachen«, grinste Lukas, obwohl er zugeben musste, dass Muriels Zauber auch ihn mächtig beeindruckt hatte.
Klemens Kramer war sich darüber klar, dass er sich in Zukunft wohl an solche Sachen gewöhnen musste. Allerdings war es beruhigend zu wissen, Muriel auf ihrer Seite zu haben.
Vorsichtig traten sie ein, und das Erste, worauf Moppels Blick fiel, war der leere Tresor im Regal. Die Bücher lagen auf dem Schreibtisch gestapelt und die Tresortür stand sperrangelweit offen.
»Das Poesiealbum des Bösen ist weg!«, rief er aus.
Es fehlten auch noch andere Dinge, so viel war gewiss, denn in den staubigen Regalen konnten sie deutlich Spuren von Gegenständen entdecken, die dort gestanden haben mussten. Moppel griff beherzt nach einem fellbezogenen Buch. Muriels »Vorsicht!« kam zu spät. Eine rotbraune Wolke stob aus dem Buch, Moppel direkt ins Gesicht. Reflexartig ließ er das Buch fallen und sank nach Luft ringend zu Boden, wo er das Bewusstsein verlor. Muriel kramte erneut in ihrer Tasche. Dieses Mal förderte sie einen altmodischen Parfumzerstäuber zutage, der anstatt eines Parfums eine ihrer geheimnisvollen Flüssigkeiten enthielt.
»Zwei Sprühstöße dürften genügen«, sagte sie und zielte mit dem Zerstäuber direkt auf Moppels Mund und Nase. Hustend kam er wieder zu sich und nahm sich von nun an Muriels Warnung, Vorsicht walten zu lassen, zu Herzen.
»Wie können wir denn das Haus durchsuchen, wenn wir jederzeit in eine von Dr. Walthards Fallen tappen können?«, fragte Katharina Kramer.
»Lasst mich vorher den Raum auf weitere Schutzzauber überprüfen«, antwortete Muriel. Nur zu gerne ließen die anderen sie gewähren. Nachdem sie noch einige Zauber unschädlich gemacht hatte, mahnte sie trotzdem zu äußerster Aufmerksamkeit: »Das heißt nicht, dass ich alle Schutzformeln eliminiert habe. Es könnten durchaus noch versteckte Zauber da sein. Seid also weiterhin vorsichtig.«
»Könntest du ›vorsichtig‹ genauer definieren?«, bat Klemens Kramer.
»Nähert euch allem langsam. Sensible Menschen spüren ein leichtes Kribbeln, wenn sie in die Nähe von Magie kommen.«
»Woher weiß ich, ob ich sensibel bin?«, fragte Katharina.
»Ja, genau, das ist eine gute Frage«, pflichtete ihr Moppel bei.
»Gut, kommt her.« Muriel bat Klemens um seinen Hausschlüssel. Dann belegte sie den Schlüsselbund mit einem harmlosen Schutzzauber. »Nähert eure Hände langsam den Schlüsseln und sagt mir, ab wann ihr etwas spürt.«
»Du hast recht, meine Handflächen fangen an zu kribbeln. Ich fühle es ganz deutlich«, sagte Klemens, überrascht darüber, dass er überhaupt fähig war, einen Zauber zu erspüren. Er war noch einen guten Meter vom Schlüsselbund entfernt, als er den Zauber bereits wahrnahm.
Lukas spürte das Kribbeln ebenfalls sehr schnell. Seine Mutter dagegen musste etwas näher an die Schlüssel heran, um etwas zu fühlen. Zu Moppels Enttäuschung hatte er selbst gar kein Talent dafür. Nicht einmal wenn er den Schlüsselbund fast berührte, empfand er auch nur das leiseste Kribbeln. Ernüchtert griff er sich den Bund gleich komplett. Das war dann allerdings doch zu forsch. Seine Hand fing blitzartig an zu jucken.
Muriel lachte: »Keine Panik, das lässt gleich wieder nach.«
»Ich hab keine Panik. Ich ärgere mich nur, dass ich Magie gegenüber so unsensibel bin«, beschwerte sich Moppel.
Zu seinem Verdruss riet ihm Muriel auch noch, besser erst gar nichts anzufassen, damit er nicht aus Versehen Opfer eines Schutzzaubers wurde. So hatte sich Moppel die Hausdurchsuchung beim ollen Ultimus nicht vorgestellt, aber nach den vorausgegangenen Erfahrungen wollte er sich sicherheitshalber daran halten. Wer wusste, welche magischen und gemeinen Schlösser der Alte noch angebracht hatte …
Mittlerweile befanden sie sich eine gute Viertelstunde in dem gruseligen Raum. Lukas wurde es etwas schwummrig, was er auf die unheimliche Atmosphäre zurückführte, aber er sagte nichts. Stattdessen schlug er vor, auch mal die anderen Räume zu durchforsten. Das war natürlich ganz nach Moppels Geschmack und Muriel wollte sich sowieso das Raum-Zeit-Portal genauer ansehen. So zerstört wie es war, konnten sie es zwar kaum nutzen, aber ein genauerer Blick darauf würde nicht schaden. Moppel hätte gerne oben in den privaten Gemächern des Rektors herumgeschnüffelt, aber Muriel meinte, sie sollten zusammenbleiben. Das war auch gut so, denn kurz darauf schaute Moppel seinem Freund in die Augen und sagte: »Was ist denn mit dir los?«
Allein die Frage ließ Muriel aufhorchen und sie sah die farblich veränderte Iris in Lukas’ Augen. Bei Klemens begann der Braunton seiner Augen ebenfalls zu verblassen.
»Schnell, raus hier!«, schrie Muriel. »Lebenssauger!«
Ohne auf eine Erklärung zu warten, was Lebenssauger überhaupt waren, rannten alle hinaus in den Walthard’schen Garten. In fieberhafter Eile kramte Muriel in ihrer Tasche und als sie nicht gleich fündig wurde, kippte sie den gesamten Inhalt auf die wilde Wiese, die früher einmal ein Rasen gewesen war. Da war das gesuchte Objekt. Schnell griff sie nach etwas, das einem Otoskop glich, jenem Ding, mit dem einem der Ohrenarzt in die Ohren schaut. Nur dass Muriels Gerät lediglich aus einem Trichter bestand, durch den sie eine dünne, an einem Ende mit einer Greifzange versehene Nadel hindurchführte.
»Das kann jetzt ein bisschen unangenehm werden«, sagte sie zu Lukas und an Moppels Adresse ging die Aufforderung, das dickbauchige Glas mit dem Schraubverschluss zu öffnen. Während Moppel Muriels Anweisung befolgte, zog sie eine hellgraue, zäh fließende Masse aus Lukas’ Ohren.
»Igitt, Schleim!«, rief Moppel aus, als Muriel die Substanz in das Glas füllte. Er fand das schon eklig, aber als Muriel das gleiche Spielchen bei Lukas’ Nasenlöchern wiederholte, war für ihn die Grenze des Unappetitlichen erreicht. Widerwillig und mit ekelverzogener Miene hielt er das Glas so weit von sich, wie es die Länge seiner Arme zuließ. Er war froh, als die Prozedur auch bei Klemens Kramer vorüber war und Muriel ihm das Glas abnahm.
»Was war das denn für ein Rotz?«, klagte er.
Anstatt ihm zu antworten, sagte Muriel nur, dass sie sich beeilen sollten, in Ellis Haus zu kommen, damit sie die beiden weiter behandeln könne. Das Schlimmste hätten sie wohl überstanden, aber Lukas und sein Vater bräuchten nun dringend ein Stärkungsmittel.
»Die Villa muss versiegelt werden, damit niemand hineingeht und sich aus Unwissenheit den gefährlichen Zaubern aussetzt. Ich werde mich sofort darum kümmern, sobald die beiden außer Gefahr sind«, sagte Muriel.
»Was ist denn passiert?«, wollte Elli sofort wissen, als Christoph dem aufgeregten Grüppchen die Tür geöffnet hatte. Dabei bemerkte sie gleich, dass Lukas und Klemens unnatürlich blasse Gesichter und einen stumpfen Blick hatten.
»Diabolischer Schleim«, bemerkte Moppel trocken.
»Sie wurden von Lebenssaugern befallen«, klärte Muriel sie auf.
»Was für Lebenssauger?«, fragte Silvi, die ebenfalls mit an die Tür gekommen war.
»Das sind gemeine Viecher, die kaum zu entdecken sind, auch nicht beim Aufspüren von Schutzzaubern«, erklärte ihr Christoph. »Du nimmst sie mit der Atemluft auf oder sie dringen durch die Ohren ein, und dann formieren sie sich in deinem Inneren zu einem hellgrauen Schleim und ziehen dir deine Lebensenergie ab. Das Heimtückische daran ist, dass du es anfangs gar nicht merkst. Du fühlst dich lediglich ein wenig schwummrig oder schlapp. Das kann für ein oder zwei Stunden so bleiben oder auch nur für wenige Minuten, doch dann fällst du von jetzt auf nachher in Ohnmacht und am Ende hörst du einfach auf zu atmen.«
»Warum haben wir anderen nichts abbekommen?«, fragte Moppel.
»Das ist wie mit einer Grippe. Den einen trifft’s eher als den anderen, weil sein Immunsystem gerade nicht so fit ist oder die Umstände für die Erreger günstig sind.«
»Wie habt ihr überhaupt erkannt, dass Papa und Lukas von dem Zeug befallen waren?«
»Die Lebenssauger verraten sich nur dadurch, dass die Farbe der Iris des befallenen Lebewesens verblasst. Wenn dir nicht zufällig jemand rechtzeitig in die Augen schaut, dann bleiben sie unbemerkt.«
Inzwischen war Muriel damit beschäftigt, das Stärkungsmittel für Lukas und seinen Vater zuzubereiten. Zum Glück hatte Elli den Koffer mit den zahlreichen Fläschchen, Pülverchen, Phiolen und Döschen noch im Keller stehen. Obwohl sich Lukas und sein Vater schon wieder besser fühlten, bestand Muriel darauf, dass sie sich für die nächsten drei Stunden exakt an ihre Anweisungen hielten, und sorgte dafür, dass sie das Stärkungsmittel in genauester Dosierung und den richtigen Zeitabständen einnahmen.
Nun bot sich endlich die Gelegenheit, über ihre kurze Exkursion in die Villa des Rektors zu berichten. Moppel schilderte gerade blumig und ausführlich sein Erlebnis mit dem Buch, als das Telefon klingelte. Es war Lucy. Ganz aufgeregt wollte sie Lukas und den anderen etwas zeigen, das sie gefunden hatte. Um die Spannung noch zu erhöhen, wollte sie nicht am Telefon darüber sprechen, sondern persönlich vorbeikommen. Seit Lucy an ihrem Geheimnis teilhatte, war sie Feuer und Flamme für die Sache und wollte dem Kampf für das Gute unbedingt dienlich sein. Natürlich hätten Lukas und die anderen – vor allem Moppel – gerne gleich gewusst, um was es sich handelte, aber Lucy blieb standhaft. Da sie gleich kommen wollte, würde die Spannung wohl auszuhalten sein. Doch aus einer knappen halben Stunde wurden gute zwei.
»Wo bleibt sie denn nur? Das dauert doch nicht länger als fünfzehn, maximal zwanzig Minuten, bis sie hier ist.« Moppel konnte seine Neugierde kaum zügeln.
»Ob ihr etwas passiert ist?«, fragte Elli zaghaft.
»Ich radle ihr mal entgegen«, schlug Moppel vor und war kurz darauf auch schon unterwegs. Es gab nur eine sinnvolle Route zu Ellis Haus, darum war das Risiko, Lucy zu verpassen, recht gering. Trotzdem war weit und breit keine Lucy zu sehen. Moppel fuhr daher bis zu ihrem Haus. Als er klingelte, öffnete zu seiner Verwunderung eine fremde Frau die Tür. Es war die Nachbarin, wie sich gleich darauf herausstellte.
»Ist Lucy da?«, erkundigte sich Moppel und bemerkte, dass die einfache Frage der Frau die Tränen in die Augen trieb.
»Ach Gott, Lucy! Das arme Mädel!«, schluchzte sie los.
»Was ist denn passiert?«, fragte Moppel erschrocken.
»Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht.«
»Warum denn? Hatte sie einen Unfall?«
»Nein: Atemstillstand! Sie hörte einfach auf zu atmen!«
Moppel schossen sogleich zwei Dinge durch den Kopf und er kombinierte. Bei dem Wort »Atemstillstand« fiel ihm sofort Christophs Erklärung zur Wirkungsweise dieser widerwärtigen Lebenssauger ein – und Lucys aufregender Fund. Wenn sie die Walthard’sche Villa besucht hatte? Aber sie wäre ja wegen der ganzen Schutzzauber gar nicht hineingelangt. Oder etwa doch? Hoffentlich täuschte er sich.
»Wissen Sie, wie es ihr geht?«, hakte Moppel nach.
»Ich habe noch nichts von ihrer Mutter gehört. Oh Gott, das arme Kind«, schluchzte die Nachbarin erneut.
»In welches Krankenhaus wurde Lucy denn gebracht?«, wollte Moppel wissen. Als er den Namen hörte, war es ihm nur allzu bekannt. Es war dasselbe, in dem auch Lukas und seine Mutter gewesen waren. Moppel verabschiedete sich höflich, aber schnell, denn er wollte keine Zeit vergeuden.
Berahthraban war dieses Mal nicht an schwere Eisenketten gefesselt. Es war viel schlimmer. Die dünnen Drähte sahen auf den ersten Blick recht harmlos aus, fast, als könnte man sie zerreißen, doch bei genauerem Hinschauen konnte man die scharf gezackten Kanten erkennen, die dünner als ein Laubsägeblatt waren und bei der kleinsten Bewegung schneller und tiefer in das Fleisch schnitten, als der Schmerz einen davor warnen konnte. Dementsprechend sahen Berahthrabans Hand- und Fußgelenke aus. Blutverkrustet und entzündet schmerzten ihn die Wunden. Was hätte er von Ultimus auch anderes erwarten können? Den hatte über die Jahrhunderte auch das letzte menschliche Fühlen verlassen. Oder vielleicht doch nicht ganz, denn so etwas wie Schadenfreude, Hass oder Gier kannte er noch gut, genau wie eine seelenlose Freude über seine grausamen Taten oder die bevorstehende Wiederkehr des Dämons.
Berahthraban überlegte: Wenn Ultimus noch eine Art Freude empfinden konnte, wenn auch eine verabscheuungswürdige, vielleicht war doch noch ein Rest Menschlichkeit in ihm vorhanden? Hoffte er es? Oder war es eher ein frommer Wunsch, weil er nicht glauben konnte, dass sein ehemaliger Freund zu einem vollkommen überzeugten Handlanger des Bösen mutiert war? Was war der Auslöser gewesen, dass er sich damals so gewandelt hatte? Den Verrat an ihm, seine Gefangennahme und seinen wahrscheinlich nicht allzu fernen Tod hätte er sich vielleicht noch irgendwie erklären können, aber für das Monster, zu dem Ultimus geworden war, gab es keine Erklärung, und je mehr Berahthraban über seinen ehemaligen Freund erfuhr, desto mehr war für ihn alles unverzeihlich.
Marius Guthmann befand sich mittlerweile in Ultimus’ Festung. Ebenso wie ihm damit die Stätte, an welcher der Dämon auf seine Wiederkehr vorbereitet wurde, bekannt war, wusste er nun von Berahthrabans Aufenthaltsort. Mehrfach schon hatte er versucht, sich dem Gefangenen zu nähern, aber bisher war es ihm noch nicht einmal gelungen, an der ersten Wache vorbeizukommen, und das, obwohl er den Obscubitor gut kannte und sich entgegen üblicher Obscubitorenmanier mit ihm »angefreundet« hatte.
Für Marius gab es so viel zu tun, aber ihm waren die Hände gebunden. Ultimus wich allen Fragen zu Berahthrabans Zukunft aus und Marius konnte nicht weiter nachhaken, ohne Verdacht zu erregen. Eine Vermutung hatte er allerdings und die verhieß nichts Gutes. Er war sicher, dass Ultimus plante, sein Werk an Berahthraban zu vollenden und sich die Kraft und das Leben des Mannes, der an der berüchtigten Wand der Verdammnis Qualen litt, einzuverleiben. Ultimus würde damit gleich drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen würde er seine Rachegelüste befriedigen, zum anderen würde er Muriel und die Wächter empfindlich treffen. Aber der wichtigste Grund wäre, dass Berahthrabans außergewöhnliche Lebenskraft auf ihn übergehen würde. Davon versprach er sich bestimmt einen wahren Jungbrunnen, vielleicht sogar ewiges Leben, ohne dass er dafür die Zauber penibel aufrechterhalten musste, die ihn für den Tod unsichtbar machten. Die waren sehr kompliziert und mussten in regelmäßigen Abständen erneuert werden.
Marius musste unbedingt Kontakt zu Muriel oder einem seiner Kameraden herstellen, damit er den Aufenthaltsort des Dämons weitergeben konnte, und zwar schnell. Wenn es ihnen gelänge, die Entwicklung des Dämons in diesem frühen Stadium zu stören, stünden ihre Chancen auf eine endgültige Vernichtung gut.
Der Wächter überlegte hin und her. Konnte er einen Weg durch Raum und Zeit finden? Nein, entschied er. Ultimus hatte seiner Gefolgschaft den Rückweg verwehrt, und das so nachhaltig, dass Marius sich nur eine sehr geringe bis gar keine Chance ausrechnete, sich davonzuschleichen.
Wenigstens hatte er hier die Möglichkeit, Berahthraban zu helfen. Er wollte ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen und beschloss, an diesem Abend noch einmal zu versuchen, zu ihm zu gelangen. Der Dämon brauchte eine gewisse Zeit, bis er für seine Wiedergeburt bereit war, aber wie lange Ultimus Berahthraban am Leben lassen würde, war ungewiss. Der Wächter fragte sich, warum Ultimus zögerte, seine schreckliche Tat auszuführen, wenn er doch so erpicht darauf war, dass Berahthrabans Kräfte auf ihn übergingen.
Den Weg in die Kerker schaffte Marius mit relativ geringem Aufwand: Das obere Tor zu den Kerkergewölben bewachte Arian der Hüne. Woher der fast zwei Meter große, muskelbepackte Mann seinen Namen hatte, war selbsterklärend. An ihm kam keiner so leicht vorbei. Eigentlich pflegten die beiden Männer einen freundschaftlichen Umgang, aber jetzt machte Arian Marius unmissverständlich klar, dass er hier nichts zu suchen habe und dass niemand ohne Dr. Walthards ausdrückliche Genehmigung in die Kerker eingelassen werden dürfe. Doch darauf war Marius vorbereitet. Als der Hüne das Piksen am Arm verspürte, half ihm weder seine Größe noch seine Stärke. Es war zu spät. Marius hatte ihn »eingefroren«, was bedeutete, dass sich Arian für eine gute Viertelstunde nicht rühren würde, und auch seine Fähigkeit zu Denken sowie seine Wahrnehmung lagen auf Eis. Mit dem abrupten Nachlassen der Wirkung würde er einfach nur weiterleben, als sei nichts gewesen, er würde sich an nichts erinnern können, noch nicht einmal daran, dass er überhaupt weggetreten war. Die knappe Zeitspanne musste Marius genügen, um zu Berahthraban zu gelangen.
Die Kapuze weit über das Gesicht gezogen, ging er an den verschiedenen Zellen vorbei. Die Gänge waren kaum beleuchtet, nur hie und da trauten sich die Flammen von einzelnen Fackeln, ihr Licht in die Umgebung zu werfen. Fast schien es, als wäre es ihnen selbst zu ungeheuerlich, was sie erhellten. Dies war ein verlassener Ort. Einst vegetierten hier unten Hunderte Gefangene. Das Feuer des Kerkermeisters, der seine Folterinstrumente bereit machte, die Schreie der Menschen, das Blut, der Schweiß, die stinkenden Wunden und Fäkalien, all das war schon lange her, aber Marius war es, als könne er die Schreie noch hören, die Gerüche noch wahrnehmen.
Nun beherbergte dieser schaurige Ort nur einen einzigen Gefangenen, und diesen wollte Marius finden. Er schüttelte die schrecklichen Sinneseindrücke längst vergangener Ereignisse ab, doch seine Nase sagte ihm, dass nicht alles vom Hauch der Vergangenheit herrührte. Etwas traf auf seine Geruchsrezeptoren, das ihn in Alarmbereitschaft versetzte. Es roch verbrannt, nach kalter Asche mit einer leichten Schwefelnote. Marius wusste, was das war: Höllenhunde – eine Mischung von Mensch und Wolfartigen, aber nicht zu verwechseln mit Werwölfen, die gegen die Höllenhunde nur wie Schoßhündchen wirkten! Gleich vier von diesen Bestien bewachten Berahthraban. Sie waren dem Bösen direkt unterstellt, weder bestechlich noch des Mitleids fähig. In ihnen hatte der Rektor die perfekten Gefängniswärter, und in Marius reifte die bittere Erkenntnis, dass er an den grausamen Geschöpfen des Bösen nicht vorbeikommen würde, zumindest nicht ohne Unterstützung. Wenigstens wusste er, dass Berahthraban noch lebte. Enttäuscht darüber, vorerst nichts ausrichten zu können, trat er den Rückzug an. Keinen Moment zu früh schloss er die obere Kerkertür und gerade, als er den Schlüssel wieder an den Gürtel des hünenhaften Obscubitors hängte, kam dieser zu sich.
»Ich bin nur hier, um dich fragen, ob wir mal wieder etwas zusammen trinken und Karten spielen wollen«, sagte Marius. »Die anderen sind einfach keine Herausforderung.«
Der Obscubitor, dem die letzten fünfzehn Minuten komplett fehlten, fiel auf die Schmeichelei herein.
»In zwei Stunden ist Schichtwechsel. Aber jetzt mach, dass du hier wegkommst, wenn dich Ultimus sieht, hab ich den Ärger am Hals.«
»Bin schon weg«, lachte Marius. »Also dann bis später.«
Viel hatte er nicht ausrichten können. Missmutig gesellte er sich wieder zu den anderen. Möglich, dass die Kerkerwache nach ein paar Bechern Bier gesprächiger wurde und er mehr erfahren konnte, aber er machte sich wenig Hoffnung. Walthards Männer waren zu diszipliniert, um sich zu einem Trinkgelage verleiten zu lassen.
Marius war noch nicht lange bei den anderen, als Dr. Walthard nach ihm schickte. Nun saß er Ultimus gegenüber und bekam neue Instruktionen. Er sollte an die Schule zurückkehren, um dort nach dem Rechten zu sehen und sich auf die Auferstehung des Dämons vorzubereiten. Was auch immer das heißen sollte, denn bisher hatte sich der Oberobscubitor darüber ausgeschwiegen. Womöglich erfuhr er jetzt mehr über Ultimus’ Pläne. Zumindest war es die ersehnte Chance auf eine Rückkehr zu Muriel und den anderen, die ihm noch vor Kurzem unmöglich erschienen war.
Seine Erwartungen wurden jäh enttäuscht. Der Rektor traute selbst seinen engsten Vertrauten nur so weit, wie es unbedingt nötig war. Er gab keine weiteren Informationen preis, im Gegenteil, Marius sollte sogar das selektive Vergessensritual über sich ergehen lassen, was es ihm unmöglich machen würde, die Lage von Dr. Walthards Festung zu verraten. Das Vergessensritual bezog sich nur auf die Reise und auf das genaue Wissen um den Aufenthaltsort des Dämons, nicht auf die gesamte Mission, daher auch der Name »selektives Vergessensritual«. Schließlich sollte Marius für Ultimus Walthard noch tätig werden, und ein totaler Blackout seines Vertrauten wäre für den Rektor wenig hilfreich gewesen. Darauf war Marius nicht gefasst gewesen. Fieberhaft überlegte er, wie er das Ritual umgehen konnte. Hatte er sich dem erst einmal unterzogen, gab es keine Chance, das Vergessene wieder abzurufen. Doch sosehr er auch überlegte, er fand keinen Ausweg; er würde sich auf das Ritual einlassen müssen, sonst würde seine Tarnung auffliegen, und das wäre sein sicherer Tod. Dann bliebe nur die einzige Frage, wie lange sie ihn vorher foltern würden, um Informationen aus ihm herauszupressen. Er musste sich dem Rektor fügen und das Beste daraus machen.
Dr. Walthard fand, es sei an der Zeit, seinen Vertrauten an den Ort zu schicken, an dem der Dämon in die Welt zurückkehren würde. Den Dämon an der Brutstätte des Bösen heranwachsen zu lassen, war eine Sache, das Tor für seine Wiedergeburt zu öffnen, eine andere. Niemand wusste von der Pforte. Die Gegenseite mochte vielleicht Vermutungen darüber anstellen, aber auf keinen Fall kannte sie die genaue Lage. Das war Dr. Ultimus Walthards Geheimnis. Nicht einmal Cedric oder Marius hatte er eingeweiht. Durch diese Pforte war damals der Dämon in die Welt gekommen, und durch sie würde er wiedergeboren werden.
Ultimus war zufrieden mit sich. Seine Umsicht und Vorsorge hatten sich wieder einmal ausgezahlt. Niemand hätte geglaubt, dass der Dämon eines Tages in einem steinernen Korsett gefangen wäre, geschweige denn, dass er in seine Essenz zerfallen würde. Ultimus erinnerte sich noch gut daran, wie er damals vor so langer Zeit belächelt worden war, als er der Pforte so viel Beachtung geschenkt hatte. »Einmal durch die Pforte geschritten, wird er sie nie wieder brauchen. Was kümmert sie dich also?«, hatte er nicht nur einmal zu hören bekommen, und über die Jahrhunderte war sie in Vergessenheit geraten. Aber Ultimus hatte recht behalten. Nun wurde die Pforte wieder gebraucht. Gerne hätte er die verblüfften Gesichter seiner Kritiker gesehen, doch er hatte sie längst eliminiert und ihre Kräfte in sich aufgesogen. »Ich habe euch nicht umsonst übertrumpft«, sagte er mit selbstzufriedener Miene.
Für jemanden, der die genaue Position der Pforte nicht kannte, war es nahezu unmöglich, sie zu finden. Lediglich ein kleiner Haarriss, der die Umgebungsenergie nur minimal veränderte, zeugte von ihr. Erst, wenn der Eintritt des Bösen in die Welt unmittelbar bevorstand, würde Ultimus einen Vertrauten einweihen und die Öffnung der Pforte veranlassen.
Moppel hatte zutreffend kombiniert: Lucy war in des Rektors Villa gewesen. Wie der Zufall es wollte, war sie, kurz nachdem Muriel, Moppel, Lukas und dessen Eltern die Villa verlassen hatten, an dem Haus des Rektors vorbeigeradelt, um für ihre Mutter ein paar Besorgungen zu machen. Sie hatte die anderen nur ganz knapp verpasst.
Schon von Weitem sah sie das hässliche Gebäude in der sonst so adretten Straße herausragen. Alles sah verlassen aus. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und entschied, dass für einen kurzen Besuch auf dem Walthard’schen Anwesen noch genügend Zeit war. Ihr Fahrrad lehnte sie einfach an den verrosteten Gartenzaun und probierte ihr Glück direkt an der Eingangstür. Die war allerdings wieder ins Schloss gefallen und ein Hineinkommen durch den Vordereingang somit unmöglich. Lucy umrundete das alte Gemäuer und fand das zerbrochene Fenster, durch das auch Muriel nur kurze Zeit vorher eingedrungen war. Ihren ganzen Mut zusammennehmend, kletterte sie durch die Öffnung und gelangte so ins Haus.
Mulmig zumute war ihr schon, so alleine in der verlassenen, unheimlichen Villa mit den mysteriösen Gegenständen und der gruseligen Atmosphäre. Nichtsdestotrotz bahnte sie sich langsam und sicher den Weg zum Arbeitszimmer, vorbei an den Kampfspuren, die sie die Heftigkeit der Auseinandersetzung erahnen ließen. Sie schauderte. Wie viel Glück sie hatte, dass Muriel bereits vor ihr in der Villa gewesen war und einen Großteil der Schutzzauber entschärft hatte, konnte sie in diesem Moment nicht ahnen. So betrat sie unbeschadet die heiligen Hallen des Rektors.
Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Plötzlich löste sich einer der großen alten Vorhänge und fiel geräuschvoll zu Boden. Über die Jahre hatte er so viel Staub an sich gebunden, dass er den kompletten Raum in eine dicke Staubwolke hüllte. Mit Lucys Mut war es vorbei. Bis ins Mark erschrocken, wollte sie bloß noch fluchtartig das Haus verlassen. Auf ihrem Weg zur Eingangstür stolperte sie ausgerechnet vor dem Kellerabgang über eine Teppichfalte. Sie verfehlte den Handlauf nur um Haaresbreite und fiel die gesamte Kellertreppe hinab. In ihrer Angst achtete sie nicht auf die Schmerzen. »Nur raus hier! Nichts wie weg!«, war das Einzige, was sie in diesem Moment denken konnte. Sie rappelte sich auf und wollte den Weg zurück nach oben antreten, als ihr Blick auf ein kleines Amulett fiel. Hatte nicht dieser Mann – Berahthraban – so ein Schmuckstück getragen? Lucy war eine sehr genaue Beobachterin. Zwar hatte sie Berahthraban nur einmal gesehen, aber ihr war das Amulett gleich aufgefallen, als es kurz unter seinem Hemd hervorblitzte. Schnell hob sie es auf und rannte aus dem Haus.
Am Gartenzaun schnappte sie sich ihr Fahrrad und radelte mit zitternden Knien erst einmal ein paar Straßen weiter. Als sie abstieg, merkte sie, dass sich ihre Beine wie Pudding anfühlten und ihr sämtliche Knochen wehtaten. Zum Glück hatte sie sich nichts gebrochen. Dafür würden die blauen Flecke zahlreich werden und nicht minder schmerzhaft.
Sie setzte sich auf den Boden und versuchte sich zu beruhigen, das Amulett in ihrer Hand nicht aus den Augen lassend. Plötzlich merkte sie, dass sich innerhalb des Amuletts – dort war eine gläserne Linse eingelassen – etwas bewegte. Der Ausschnitt war so winzig, dass sie nicht genau erkennen konnte, was es war. Die Schmerzen waren vergessen. Sie schwang sich erneut auf ihr Rad und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Ihrer Mutter gab sie keine Gelegenheit, etwas zu fragen, sondern schleuderte ihr gleich ein »Ich hab keine Zeit!« an den Kopf und rannte in ihr Zimmer. Dort wühlte sie eine Lupe aus ihrem Schreibtisch heraus und betrachtete das Amulett genauer. In der kleinen Linse spielte sich eine Art Filmsequenz ab. Immer wieder sah sie abwechselnd den Rektor und Berahthraban, die miteinander verschmolzen und zu einem pochenden Herz wurden.
Mit dem Gefühl, einen außerordentlichen Fund gemacht zu haben, griff sie zum Telefon und informierte Lukas darüber, dass sie Neuigkeiten hatte. Nachdem sie aufgelegt hatte, fühlte sie sich ein wenig schwummrig und führte das auf ihren Treppensturz und den Schreck zurück. Als Lucys Mutter sich nach ihren Besorgungen und Lucys seltsamem Verhalten erkundigen wollte, lag ihre Tochter bereits ohnmächtig am Boden. Der herbeigerufene Notarzt diagnostizierte Atemstillstand und leitete sofort die nötigen Maßnahmen ein. Lucy wurde künstlich beatmet und ins Krankenhaus gebracht. Dort hatten die Ärzte Sorge, dass ihr Kreislauf komplett zusammenbrechen könnte. Sie waren am Ende ihrer Kunst.
Die Ärzte konnten natürlich nicht wissen, dass Lucy von Lebenssaugern befallen war. Und selbst wenn sie es gewusst hätten, verfügten sie nicht über die Mittel und Möglichkeiten, gegen magische Dämonen zu kämpfen. Muriel hingegen kannte sich damit aus. Doch wenn sie Lucy helfen wollte, war Eile geboten, sonst hatte auch der mächtigste Zauber keine Chance, das Mädchen ins Leben zurückzuholen. Unverzüglich packte Muriel alles Nötige in ihre Tasche und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus. Katharina fuhr den Wagen und Silvi kam ebenfalls mit. Lukas, der nur zu gerne dabei gewesen wäre, musste in der Obhut von Elli und Christoph bleiben, genauso wie sein Vater. Muriel wollte, was die Genesung der beiden anbetraf, kein Risiko eingehen. Das Krankenhaus war schnell erreicht und zur Überraschung der drei Ankommenden wartete Moppel bereits am Haupteingang. Wild mit den Armen fuchtelnd kam er ihnen entgegengelaufen.
»Sie ist noch in der Notaufnahme!«, rief er aufgeregt.
Dahin zu gelangen, war nicht das Problem; hineinzukommen und unbemerkt die Behandlung durchzuführen, das war die große Hürde.
»Wir können nicht warten, bis es sich zufällig ergibt, dass wir zu ihr können. Ich werde Lucy mitnehmen«, sagte Muriel zu den anderen und zog dabei einen flötenartigen Gegenstand unter ihrer Jacke hervor, den Silvi und Moppel sofort erkannten. Es war der Zeitwandler.
»Du willst Lucy mitnehmen?«, fragte Silvi. »Wie willst du das machen? Du kannst sie doch nicht einfach so vor den Augen der Ärzte entführen.«
»Deswegen brauche ich ein Ablenkungsmanöver«, antwortete Muriel. »Wartet hier.« Katharina, Moppel und Silvi taten, wie ihnen befohlen. Als sie endlich zurückkam, trug Muriel einen Arztkittel und sah darin sehr souverän aus. »Ich werde jetzt da reingehen und sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe, löst ihr den Feueralarm aus. Ich hoffe, die Ablenkung sorgt für die nötige Zeit, mit Lucy zu verschwinden. Zwei, drei Sekunden genügen mir. Ich werde nur gut drei Stunden mit Lucy in der anderen Dimension verbringen, dabei wird unsere Rückkehr hier unbemerkt bleiben.«
Moppel erinnerte sich lebhaft an die Abenteuer, die er mit Lukas in anderen Dimensionen erlebt hatte. Während sie dort Tage und Wochen unterwegs gewesen waren, war im Hier und Jetzt fast keine Zeit verstrichen. Dann besann er sich wieder auf Muriels Plan und fragte mit leuchtenden Augen: »Darf ich den Feuermelder einschlagen? Das wollte ich schon immer mal machen.«
»Um dann Ärger mit der Polizei zu kriegen oder was?«, fragte Silvi ironisch.
»Das müssen wir riskieren«, sagte Katharina bestimmt. »Aber ich mach das.«
Silvi schaute sie überrascht an. Mit der ungewohnten Entschlossenheit und dem nicht gekannten Wagemut ihrer Mutter musste sie erst noch vertraut werden.
»Verlasst ihr schon mal das Krankenhaus«, forderte Katharina Moppel und Silvi auf.
Enttäuscht trollte sich Moppel und folgte Silvi nach draußen. Kaum hatten sie das Krankenhaus verlassen, hörten sie schon den Feueralarm. Silvi drückte fest die Daumen. Vielleicht half es ja.
Der Alarm tat seine gewünschte Wirkung und verschaffte Muriel die Schrecksekunden, die sie benötigte. Den Zeitwandler hatte sie vorbereitet und musste ihn nur noch drehen. Einen Augenblick später war sie mit Lucy bei den weißen Zauberern. Sie prüfte die Farbe von Lucys Iris. Ihre eigentlich grünen Augen waren schon fast weiß. Es war allerhöchste Zeit, dass ihr geholfen wurde.
Wie bei Lukas und seinem Vater zog Muriel die Lebenssauger aus Lucys Nasenlöchern und Ohren. Wenige Minuten später erlangte das Mädchen das Bewusstsein wieder und Muriel verabreichte ihr für die nächsten drei Stunden das Stärkungsmittel. Je stabiler Lucys Zustand wurde, desto neugieriger wurde sie.
Als sie erfuhr, was geschehen war, und vor allem als sie bemerkte, wo man sie hingebracht hatte, wurde sie ganz aufgeregt. Die stolzen Raubkatzen, die ihre Kreise um die weißen Zauberer zogen, verfehlten nicht ihre Wirkung. Lucy war hin und weg von dem Anblick, aber der Höhepunkt war das Zusammentreffen mit Muriels Vater, der begleitet von einer der Raubkatzen zu Muriel und dem Mädchen kam. Lucy glaubte, vor Aufregung in Ohnmacht fallen zu müssen. Der groß gewachsene Mann mit seinem langen weißen Haar und dem ebenfalls weißen wallenden Bart stand in seiner schönen Robe so majestätisch vor ihr, dass sie vor Ehrfurcht erstarrte. Seine ruhige und freundliche Art und sein liebevoller Blick machten allerdings schnell einem Alles-ist-gut-Gefühl Platz. Der Zauberer stellte ihr einige Fragen, die sie eifrig beantwortete. Leider musste sie ihm ausgerechnet die Antwort darauf, was sie in der Villa gemacht hatte, schuldig bleiben. Lucy war den Lebenssaugern ziemlich lange ausgesetzt gewesen, so dass ihre Erinnerungen mit dem Abstellen ihres Fahrrads und dem Durchschreiten des Gartentors endeten. Lucys Herz hüpfte vor Freude über diese Begegnung und die drei Stunden vergingen für sie viel zu rasch.
In einer Mischung aus Dankbarkeit, von Muriel gerettet worden zu sein, und Enttäuschung darüber, sich nicht mehr vollständig erinnern zu können, trat Lucy mit Muriel die Heimreise an. Nichtsdestotrotz war sie von der Reise in eine andere Dimension und von der Begegnung mit dem großen weißen Zauberer ergriffen; und sie wusste nur zu gut, dass sie kein Sterbenswörtchen über ihre wahre Heilung verlieren durfte, wenn sie gleich in der Notaufnahme landen würde. Aber auf Lucy war Verlass. Sie würde dichthalten.