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Nicht immer steigen wir die Stufen unseres Lebens geradlinig empor. So manche Stolperstufe befindet sich darunter, die uns in die Knie zwingt und um Etagen zurückwirft. Andere Stufen erweisen sich als brüchig, tragen uns nicht und müssen übersprungen werden. Dennoch lohnt es sich, den Prozess des „Höhersteigens“ niemals aufzugeben, um letztendlich zu einem sinnerfüllten Dasein zu gelangen.
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Seitenzahl: 186
Elisabeth Lukas
AUF DEN STUFEN DES LEBENS
Aus dem Erfahrungsschatz einer Psychologin
Nicht immer steigen wir die Stufen unseres Lebens geradlinig empor. So manche Stolperstufe befindet sich darunter, die uns in die Knie zwingt und um Etagen zurückwirft. Andere Stufen erweisen sich als brüchig, tragen uns nicht und müssen übersprungen werden. Dennoch lohnt es sich, den Prozess des „Höhersteigens“ niemals aufzugeben, um letztendlich zu einem sinnerfüllten Dasein zu gelangen.
Zu einem wichtigen Teilgebiet der Psychologie zählt die Charakterforschung. Es hat sich seit langem die Auffassung durchgesetzt, dass der Charakter eines Menschen, vereinfacht ausgedrückt, das Ergebnis seiner Veranlagung und seiner Erziehung ist. Dabei wurde im 19. Jahrhundert dem Veranlagungsfaktor ein überstarkes Gewicht beigemessen. Die Abstammung einer Person, der Leumund ihrer Herkunftsfamilie spielte bei bedeutsamen Entscheidungen wie Eheversprechen oder Personalauslese eine große Rolle. Uneheliche Kinder hatten es beispielsweise schwerer als eheliche, weil der damals als „Fehltritt“ ihrer Eltern deklarierte Zeugungsakt, dem sie entsprungen waren, an ihnen hängen blieb in Form des Verdachts, sie könnten, erwachsen geworden, ebenfalls zu Fehltritten neigen. „Der Apfel fällt nicht weit vom Baum“, hieß es im Volksmund.
Dank der tiefenpsychologischen Aufklärungsarbeit kam es im 20. Jahrhundert zu einer Verschiebung des Charakterverständnisses in Richtung Erziehungsfaktor. Der Wandel in der Sichtweise vollzog sich ziemlich radikal: plötzlich wurde der neugeborene Mensch als „tabula rasa“, als unbeschriebenes Blatt gesehen, auf dem das Erziehungsmilieu (und nach späteren Auffassungen auch das Gesellschaftsmilieu) unabdingbar und nachhaltig seine Spuren eingravieren würde. Die Idee vom formbaren Menschen, dessen seelische Ausformung nichts anderes als der getreue Widerschein von Heil oder Elend seines Elternhauses ist, machte sich breit. Die Lernpsychologie förderte diesen Denkansatz auf ihre eigene Art. Beispielsweise setzte sie der tiefenpsychologischen These: „Wer keine Liebe erfahren hat, kann keine Liebe geben“ den lerntheoretischen Kernsatz zur Seite: „Wer nie zu lieben gelernt hat, weiß nicht zu lieben“.
Obwohl also in der Charakterforschung das Pendel von der Mächtigkeit des Erbes zur Mächtigkeit der Umwelt umgeschwenkt war, gab es dennoch zwei Aspekte, die konstant geblieben waren. Zum einen standen nach wie vor die Eltern als Alleinverursacher der Charakterdefekte ihrer Kinder da, wenn auch der Verursachungsweg nicht mehr vorrangig über ihre Chromosomenspende, sondern jetzt über ihr pädagogisches Geschick oder Ungeschick verlief. Zum anderen trugen die erwachsen gewordenen Kinder immer noch an einer sie stigmatisierenden Bürde; zwar nicht mehr an der ihrer leiblichen Herkunft, dafür aber an der ihrer erlittenen seelischen Traumen aus der Kleinkind- und Jugendzeit.
Es ist nicht ohne Pointe, dass sich im 21. Jahrhundert der Pendelschlag wieder zurückbewegt. Die fortgeschrittene Gentechnologie hat die „tabula rasa“-Idee vom psychologischen Tisch gewischt. Mit der zunehmenden Entschlüsselung der menschlichen Gene hat sich offenbart, wie viele seelische Merkmale und Potentiale von Anfang an in uns angelegt sind. Vieles deutet sogar darauf hin, dass die angeborenen Elemente unseres Charakters den erworbenen überlegen sind, und sich kein reines 50%-50%-Verhältnis ausgeht. Wie dem auch sei, eines hat sich heute gebessert: Seriöse Wissenschaftler glauben nicht mehr daran, dass der Mensch seinem Erbgut und seiner Umwelt total ausgeliefert ist, bzw. dass er total formbar sei durch welche Einflüsse auch immer. Die Hochachtung vor dem menschlichen „Geist“ ist gestiegen, und dies verdanken wir zu keinem geringen Teil dem Verdienst Frankls.
Es hat sich mehr und mehr herauskristallisiert, dass es neben Veranlagung und Erziehung ein Drittes gibt, das für die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen sogar noch wesentlicher ist als die Prägungsfaktoren seines Charakters, und das ist der Charakterinhaberselbst, der spätestens ab den Pubertätsjahren diesen seinen Charakter „eigenmächtig“ mitgestaltet, also buchstäblich in eigene Mächtigkeit übernimmt. So sehr unser Charakter vorgefundenes und vorgeformtes Material ist, so sehr ist er gleichzeitig die Gestaltungsbasis für die Persönlichkeitsbildung, die mit zunehmender geistiger Reife und Mündigkeit einsetzt und jeden von uns über das, was ihm einst in die Wiege gelegt worden ist, und über das, was ihm die Kinderstube zu bieten gehabt hat, hinausführt in ein neues und gänzlich unvorhersehbares, weil eigenständiges Abenteuer des Menschseins. Einen Charakter hat man, aber zu einer Persönlichkeit wird man, wie Frankl zu sagen pflegte, und man nähert sich umso mehr jener Persönlichkeit, die man werden möchte, an, als man Einfluss zu nehmen imstande ist auf den Charakter, den man besitzt.
Inzwischen gilt als gesichert, dass nichts Menschliches über den Kopf des Menschen hinweg zu produzieren und zu manipulieren ist, weder im Positiven noch im Negativen. Nicht jedes Kind mit einem ererbten Talent zum Zeichnen wird ein berühmter Grafiker, und ebenso wenig wird dies jedes Kind, das von klein auf im Zeichnen gefördert worden ist. Zugegeben, die beste Chance einer künstlerischen Laufbahn haben diejenigen Kinder, die sowohl begabt sind, als auch entsprechende Anregungen erhalten haben; dennoch bedarf es zusätzlich ihrer persönlichen Einwilligung und ihrer Bereitschaft, sich die ihnen offen stehende künstlerische Laufbahn Schritt für Schritt zu erarbeiten. Auch das Umgekehrte kennen wir. Wir wissen von zahlreichen Künstlern, die keinerlei Unterstützung ihrer künstlerischen Ambitionen erfahren haben, ja, deren Begabung sogar fraglich schien oder erst spät durchbrach, und die sich trotzdem mit all ihren Kräften erfolgreich der Kunst gewidmet haben. Der eigene Anteil ist der entscheidende, der dem Lebenslauf eines Menschen die Richtung weist.
Diese Einsicht ist u. a. für die Berufsgruppen der Berater und der Lehrer von essentieller Bedeutung. Die Berater müssen sich zu Herzen nehmen, dass ihre Vorschläge, egal, wie geschickt sie verpackt sind, immer auf die innere Zustimmung und den Umsetzungswillen der Beratenen treffen müssen, um wirksam zu werden. Analoges ist von der Schar der Lehrer zu beherzigen. Das von ihnen Gelehrte bedarf des Interesses und der inneren Annahme seitens der Belehrten, um fruchtbar werden zu können. Insofern kann der Berater eigentlich nur eines leisten, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe, und der Lehrer nur eines in Gang setzen, nämlich eine Erziehung zur Selbsterziehung.
Auf der Basis dieser modernen Erkenntnisse lässt sich die Frage, wie man eine reife Persönlichkeit wird, einfach beantworten: indem man sich selbst dazu verhilft, sich selbst dazu erzieht. Nur leider ist das nicht so einfach, wie es sich anhört. Doch kann man einige Aspekte aufzeigen, die es zumindest eine Spur einfacher machen. Im Folgenden möchte ich einige solche Aspekte darlegen.
Eine Zielvorstellung