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Den eigenen "Lebenskarren" voranbringen, das ist nicht immer leicht. Vielfältig sind die Herausforderungen im "Glücksspiel des Lebens", vielleicht auch die Blockaden in einem selbst. Elisabeth Lukas weiß aus ihrer Lebens- und Therapieerfahrung, wie wichtig es ist, "den Karren an einen Stern zu binden" (Leonardo da Vinci): Wer weiß, was sinnvoll ist, wer ein Ziel hat, der kommt weiter! Viele konkrete Beispiele machen Mut - an welchem Punkt man auch steht. Aus dem Inhalt: Wenn Pläne zerbrechen - Thema Schuld und Schuldgefühle - Ängste und Vertrauenskrisen - Die Kraft des Geistigen - Gute Freunde der Seele.
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Seitenzahl: 128
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Elisabeth Lukas
Binde deinen Karren an einen Stern
Elisabeth Lukas
Was uns im Leben weiterbringt
Aus der Reihe: LebensWert
2011, 1. Auflage
© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von
Manuela Neukirch
Gestaltung und Satz: Neue-Stadt-Grafik
ISBN 978-3-87996-416-1
Binde deinen Karren an einen Stern!“ Dieses Wort von Leonardo da Vinci enthält eine Symbolik, die zur sinnorientierten Lebensberatung nach Viktor E. Frankl in besonderem Maße passt. Denn diese Psychotherapierichtung – allgemein als Logotherapie bekannt – versteht sich nicht als eine Hilfe, den im Schlamm seelischer Fehlentwicklungen stecken gebliebenen „Lebenskarren“ eines Menschen aus dem Morast zu ziehen. Sie wühlt nicht im Schutt vergangener Tage, zwischen dem sich die Räder seines Gefährts verklemmt haben mögen. Ihr Anliegen entspricht eher einer Ausrichtung seines „Lebenskarrens“ auf jenen Sinn- und Wertehorizont hin, der ihn durch Schutt und Morast noch heil durchzutragen vermag.
Ohne Anbindung an sinnstiftende Kraftquellen und zutiefst erfüllende Weltbezüge würde nämlich selbst der wieder flott gemachte „Lebenskarren“ allzu leicht in den nächsten Sumpf einlaufen. Das Freisein der Räder bedeutet nicht zwingend, dass sie sich in die richtige Richtung bewegen. Psychotherapie, will sie der Würde des Menschen entsprechen, muss das Suchen und Sehnen des Menschen ernst nehmen, der wissen will, wohin und wozu sein Wagen rollt, welchen Hoffnungen entgegen.
Freilich, Psychotherapie – auch Logotherapie – kann keine Orientierung vorgeben, sie kann keine Sterne erzeugen. Aber sie kann mithelfen, an die Sterne anzubinden, die uns leuchten …
Nach diesem Motto ist der vorliegende kleine Ratgeber entstanden. Er enthält Miniaturen von Erfahrungsweisheiten aus einer jahrzehntelangen Praxis, die die Leser und Leserinnen ermuntern sollen, ihren „Karren“ weise durch die Turbulenzen unserer Zeit zu lenken, im Vertrauen darauf, dass auch in der schwärzesten Nacht noch irgendwo ein kleiner Stern existiert, der genau dem eigenen „Karren“ zugedacht ist, von Anfang an und ohne Ende.
Prolog
WAS UNS DAS SCHICKSAL ZUSPIELT
Ein wohlwollendes Schicksal
Das fehlende Ziel
Leidvolle Lebenssituationen und die Kraft eines „zuliebe“
HERAUSFORDERUNGEN ERGREIFEN
Expansion im Alter
Wenn Pläne zerbrechen oder: Vom wandelbaren Sinn
Thema „Schuld“
Was tun bei Verfehlungen?
Missbrauch und Befreiung
Eine Weihnachtsgeschichte für alle Jahreszeiten
Inszeniertes Drama: die Hysterie
Ist Belohnung effizient?
Der gesunde Widerstand
VERTRAUEN GEWINNEN
Irrationale Schuldgefühle
Irrationale Ängste und Vertrauenskrisen
Ursprung des Urvertrauens
Verschiedene Interpretationskonzepte
Wie gravierend ist ein Trauma?
Unwirksamkeit und Selbstwirksamkeit
Die Entscheidung zum Glauben
LEIB, SEELE, GEIST
… doch der Geist sagt „Nein!“ Der „noo-psychische Antagonismus“
Psychotherapie und Seelsorge
Die Kraft des Geistigen
Gott und das Leid
Der Mensch und das Leid
Die Zurückweisung der eigenen Person
Die Vergänglichkeit des Lebens
Das Mädchen und die Blumen
Bitt- und Dankgebete
GUTE FREUNDE DER SEELE
Ein gutes Buch: Von der Heilkraft des Lesens
Einander Freund sein
Tipp 1: Aktiv zuhören
Tipp 2: Gezielt Zeichen der Zustimmung geben
Tipp 3: Man nehme eine Prise Heiterkeit!
Tipp 4: Mittragen – ohne große Worte
Tipp 5: Die Fremdheit des anderen bejahen
Über die Autorin
Weitere Bücher der Autorin
Das Schicksal stellt uns mitten in leidvolle oder freudvolle Situationen hinein. Das alles ist „Material“, das noch gestaltet werden will. Es liegt ein gewisser Trost darin, dass wir in jedweder Situation noch irgendwie mitspielen können, aber gleichzeitig mischt sich auch eine ethische Komponente ins „Spiel“, insofern, als die Art und Weise der Gestaltung eines vorliegenden Materials nicht mehr dem Schicksal allein aufgebürdet werden kann, sondern hauptsächlich „unseres“ ist.
In allem, was uns das Schicksal zuspielt, stellt sich uns auch die Frage:
Und nun?
Was kann ich, was soll ich, was will ich tun?
Im Folgenden möchte ich zunächst die freudvollen Situationen herausgreifen und der Frage ihrer potentiellen Gestaltung nachgehen. Gibt es eine Richtschnur, welche Haltungen angesichts von Glück und Erfolg optimal sind? Wahrscheinlich stellt sich kaum jemand jemals diese Frage, aber würde sie ihm gestellt werden, würde er sie vermutlich mit dem Hinweis aufs „Genießen“, auf Freude und Dankbarkeit beantworten. Er hätte recht. Und doch wäre damit die ethische Komponente, die im „Glücksspiel“ des Lebens mitschwingt, nicht ausgeschöpft. Betrachten wir ein hypothetisches Beispiel:
Zwei Autofahrer fahren hintereinander auf einer Straße. Zu diesem Zeitpunkt ist ihre Fahrsituation vergleichbar. Plötzlich aber kommt der erste Autofahrer von der Straße ab und rutscht über den Hang einer Böschung in einen Graben hinunter. Er steigt zwar einigermaßen unversehrt aus dem Wagen, aber sein Auto ist kaputt. Mit einem Schlag ist die Situation der beiden Autofahrer zu einer unterschiedlichen geworden. Der erste hat sein Auto verloren, während der zweite ungehindert weiterfahren kann. Der erste befindet sich in einer reichlich misslichen Situation, während der zweite wohlbehalten in einem intakten Fahrzeug sitzt und vergnüglich seine Reise fortsetzen kann. Aber so einfach ist die Sache nun doch nicht. Denn der zweite Autofahrer ist Zeuge der leidvollen Situation des ersten und müsste sich schon sehr in der Kunst des Wegschauens üben, wenn er davon nicht berührt werden wollte.
Exakt in solchen Gegensätzen bewegt sich unser Dasein. Entweder es geht uns selber gerade nicht gut, dann steht unser eigener Kummer im Vordergrund unseres Fühlens und Denkens, oder es geht uns selber gerade gut, dann steht der fremde Kummer, der immer irgendwo um uns herum aufspürbar ist, im Hintergrund unseres Fühlen und Denkens. Und auch, wenn der fremde Kummer „nur“ einen leisen Hintergrundschatten wirft, so fällt er dennoch just auf unsere helle Freude. Es sei denn …
Kehren wir zurück zum zweiten Autofahrer. Er kann fröhlich und dankbar aufs Gas treten. Was soll ihn daran hindern? Oder er kann die Tatsache, dass sein Auto in Ordnung ist, nützen, um den verunglückten Fahrer aufzunehmen und zur nächsten Polizeistation bzw. sicherheitshalber ins Krankenhaus zu bringen. Er kann die Tatsache, dass er selber in ungetrübter Verfassung ist, nützen, um dem unter Schock stehenden Autofahrer beizustehen und beruhigenden Zuspruch zu geben. Die anskizzierten Alternativen muten uns sympathisch an. Warum? Ja, weil Glück, Gesundheit, Bildung, Erfolg, Reichtum usw. nicht zu ihrer Sinnfülle gelangen, wenn sie bloß zufrieden (und manchmal nicht einmal dies!) konsumiert werden, sondern eben jenen ethischen Auftrag in sich bergen, geteilt und ausgeteilt zu werden. Analog zur optimalen Haltung gegenüber einem unabänderlichen Leid, die im tapferen Ertragen, in einer Art „Heroismus“ gipfelt, gibt es auch eine optimale Haltung gegenüber dem Freudensfall, die sich neben dem Genuss zu einer „Humanität“ verdichtet, aus der heraus mit Hilfe des eigenen Glücks fremdem Leid die Stirn geboten wird. Würde der erste Autofahrer aus unserem Beispiel verzweifeln und sich vielleicht sogar das Leben nehmen wollen, weil sein Auto einen Totalschaden erlitten hat, den finanziell auszugleichen er nicht in der Lage ist, dann ließe seine Haltung am nötigen Mut und an Gelassenheit vermissen. Würde wiederum der zweite Autofahrer ungeachtet des Unfalls vor ihm und gleichgültig gegenüber dem darin verwickelten Pechvogel seine Route fortsetzen, würde es ihm an der nötigen Menschlichkeit und Verantwortlichkeit fehlen.
Was erleichtert es uns, optimale Haltungen gegenüber Schicksalsfügungen zu entwickeln? Manchmal empfiehlt sich ein Blick in den Konjunktiv. Für den Autofahrer Nr. 1 mag darin geschrieben stehen: „Du hättest jetzt tot sein können!“ Für den Autofahrer Nr. 2 mag darin geschrieben stehen: „Das hätte auch dir passieren können!“ Manchmal empfiehlt sich ein Blick in die Zukunft. Für den Autofahrer Nr. 1 mag darin geschrieben stehen: „Das wird dir eine Lehre sein. Ab jetzt wirst du in engen Kurven besser aufpassen!“ Für den Autofahrer Nr. 2 mag darin geschrieben stehen: „Wenn du einmal eine Panne hast, wird auch dir jemand zu Hilfe kommen!“ Manchmal empfiehlt sich ein Blick gen Himmel. Der Autofahrer Nr. 1 könnte flüstern: „Gott sei Dank, dass meine Kinder nicht mit mir im Auto waren!“ Der Autofahrer Nr. 2 könnte seufzen: „Herr, wenn du mich brauchst, will ich gerne dein Werkzeug sein!“
Freudvolle Situationen sind etwas Herrliches, und sie sind nicht so selten, wie wir meinen. Der ganz normale Alltag, in dem wir auf den Straßen unseres Lebens fröhlich unseres Weges dahinfahren, von keiner Katastrophe gebremst, von keinem Gebrechen geplagt, von keinen Schmerzen gelähmt, von keiner Pleite gestoppt – ist schon der Freude wert. Vergessen wir nicht, sie wertzuschätzen und sie zu teilen. Es ist einfach so, dass der Nicht-Hilfsbedürftige in besonderem Maße zum Helfersein gerufen ist. Der Reiche kann dem Armen etwas spenden. Der Gebildete kann den Ungebildeten informieren. Der Gesunde kann den Kranken pflegen. Der Starke kann den Schwachen mittragen. Der Tüchtige kann den Versager stützen. Wer sein Glück und seine Privilegien nicht austeilt an andere, dem wird sich das Bewusstsein, in seinem Leben einen Sinn zu erfüllen, verwehren. Und im Sinnvakuum erlischt die Freude.
Viele Ratsuchende kommen in eine psychotherapeutische Praxis, weil sie mit einem Leid nicht fertig werden. Aber auch die andere Version: das „Nichtfertig-Werden mit Glück“ ist uns Therapeuten vertraut. Hier ein illustratives Beispiel:
Eine 30-jährige Frau hatte sich vom Arzt gründlich untersuchen lassen. Als er ihr eröffnete, dass sie vollkommen gesund sei, brach sie in Tränen aus und sagte, in diesem Falle könne ihr niemand helfen, denn sie fühle sich trotz ihrer Gesundheit elend und traurig. Der Arzt erschrak und riet ihr dringend, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Als die Frau zu mir kam, war sie in ihrer negativen Lebenseinstellung verfestigt und konnte keine Angaben über ihren Kummer machen. „Es geht mir gut“, sagte sie abweisend zu mir, „aber das Leben freut mich nicht.“ „Ist es Ihnen immer gut gegangen?“, fragte ich sie. Sie überlegte und erzählte schließlich, dass sie als Kind, von der Scheidung ihrer Eltern gebeutelt, das Gymnasium habe abbrechen müssen und dann eine Handelsschule besucht habe. Sie war jedoch ehrgeizig gewesen und hatte später, als sie bereits im Staatsdienst angestellt war, das Abitur in Abendkursen nachgeholt. Das sei recht hart gewesen. Später habe sie die Beamtenlaufbahn angestrebt und sich in ihren Studien und in ihrer Arbeit intensiv eingesetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Vor einem halben Jahr sei sie nun, als eine der Jüngsten, verbeamtet worden und habe damit die höchste für sie mögliche berufliche Stufe erklommen.
„Hat Ihr Verlust an Lebensfreude vielleicht danach begonnen?“, fragte ich sie. Wieder dachte sie sorgfältig nach. „Das könnte sein“, gab sie zu. „Dann glaube ich zu ahnen, was Ihnen fehlt“, wagte ich mich vor. „Ihnen fehlt ein Ziel. Sie sind ehrgeizig, wissensdurstig und immer bestrebt gewesen, etwas zu erreichen. Aber jetzt stehen sie an Ihrem einstigen Ziel, und fürs ‚einfach Dastehen‘ haben Sie zu viel Energie, die gefordert und eingesetzt werden will. Gutgehen allein reicht nicht zum Glücklichsein, und Stehenbleiben entspricht nicht der menschlichen Natur.“
Während ich gesprochen hatte, war mit der Frau eine Veränderung vor sich gegangen. Sie wirkte lebhafter und interessierter als zu Anfang unseres Gesprächs. „Was mir fehlt, ist ein Ziel …“, wiederholte sie meine Worte. „Jetzt, da Sie es sagen, merke ich es auch! Und ich habe geglaubt, Sie werden meine Kindheit analysieren und mir aus der Scheidung meiner Eltern einen psychologischen Strick drehen …“ Wir lachten beide.
Es galt also, ein neues, attraktives Ziel zu finden. Aber gerade das Wissen, als Beamtin unkündbar zu sein, wie gut oder schlecht sie ihre Arbeit verrichtete, bremste ihre tägliche Motivation. Da dachte ich an den besonderen ethischen Sinnanruf positiver Lebenssituationen und vermittelte ihn ihr im Gewand eines Gleichnisses.
„Sie stehen am Gipfel eines Berges und blicken ins Tal“, begann ich, „aber der Blick ins Tal deprimiert Sie, denn Sie waren immer gewohnt, nach oben zu schauen. Andere Menschen hingegen tasten sich am Fuße des Berges entlang und finden den Aufstieg nicht. Wären Sie bereit, nochmals zu denen hinunterzusteigen und ihnen den Weg zu weisen? Das Bewusstsein, für andere Menschen eine wichtige Hilfe zu sein, würde Sie selbst mit Freude erfüllen, und Ihr Blick wäre auch wieder – nach oben gerichtet.“
Die Frau verstand mich sofort. „Sie wollen mir nahelegen, dass ich mich die ganze Zeit nur um meine Karriere gekümmert habe. Richtig, und jetzt hocke ich abgehetzt und ausgebrannt am Gipfel und bin innerlich wie leer. Was meinen Sie? Anderen den Weg weisen? Das klingt reizvoll.“ Sie stand auf. „Ich komme wieder“, versprach sie. „Und Sie werden mit mir zufrieden sein.“
Sie kam wieder, mit frischer Miene und voller Pläne. In dem Ministerium, in dem sie arbeitete, hatte sie eine kostenlose Einführung in ihr Sachgebiet für Anfänger sowie einen Vorbereitungskurs für deren Staatsprüfungen ausgeschrieben und eine derart starke Resonanz erfahren, dass sie kaum wusste, wie sie zeitlich zurande kommen sollte. „Ein Glück, dass ich verbeamtet bin“, schmunzelte sie, „sonst müsste ich geradezu Sorge tragen, vor lauter Nebenbeschäftigungen den Dienst zu vernachlässigen und gekündigt zu werden.“ „Na, die Sache mit der Dienstvernachlässigung war nicht mein therapeutischer Rat“, protestierte ich, aber sie hatte bloß gescherzt. Ernst wurde sie zum Abschied: „Ich habe gelernt, dass andere Menschen ins Ziel miteinbezogen werden müssen, wenn die Freude am eigenen Schaffen erhalten bleiben soll. Dafür danke ich Ihnen.“
Eine kluge Frau, die ich beruhigt aus der Sprechstunde entlassen konnte. Kein „Gipfelerlebnis“ würde ihr in Zukunft die seelische Balance mehr zu rauben vermögen.
Erfolg um seiner selbst willen ist kein Erfolg, und Glück um seiner selbst willen ist kein Glück.
Erfolg und Glück
müssen mit anderen geteilt werden,
wenn sie zur psychischen Gesundheit
des Menschen beitragen sollen.
Wo immer sich in einer Gesellschaft ein „existenzielles Vakuum“ ausbreitet, wie Frankl jenes prekäre Überdruss- und Sinnlosigkeitsgefühl genannt hat, das nicht selten am Zahn des Wohlstandes nagt und zu Exzessen aller Art verleitet, dort sind Lieblosigkeit und Egozentrierung in großem Ausmaß zu beobachten. Die Umkehrung gilt ebenfalls: Wo die Nächstenliebe wieder einkehrt, kehrt die Lebenslust zurück.
In welch entscheidenden Momenten versucht werden kann, die Liebe zu Mitmenschen gegen die scheinbare Sinnlosigkeit des eigenen Daseins in die Waagschale zu werfen, zeigt die folgende Krankengeschichte, mit der wir zu den leidvollen Lebenssituationen hinüberwechseln.
Eine Frau mittleren Alters hatte schon mehrere Selbstmordversuche hinter sich, die im Zusammenhang mit einem zyklisch wiederkehrenden Krankheitsprozess standen. Und zwar hatte sie von Zeit zu Zeit (endogen bedingte) Depressionsphasen, die ihre Stimmung derart niederdrückten, dass sie trotz guter medikamentöser Versorgung alsbald keine Chance mehr für sich sah und deswegen versuchte, mit Hilfe einer Überdosis Schlafmittel für immer einzuschlafen.
Da ihr Mann sehr besorgt um sie war und sie kaum aus den Augen ließ, war sie stets rechtzeitig gerettet und zeitweise auch in Kliniken eingeliefert worden. Sobald dann ihre depressive Phase wieder abklang, schöpfte sie jedes Mal neuen Mut und wandte sich mit Elan ihren täglichen Verrichtungen zu. Allerdings blieb zunehmend ein Rest an Resignation in ihrem Gemüt „hängen“, denn es verdichtete sich in ihr das Gefühl, dass ihr weiteres Leben sinnlos sei, weil sie den genannten Krankheitsprozess in keiner Weise aufhalten konnte.
Auf Umwegen gelangte sie zu mir, und zwar während einer „gesunden Phase“. Leider konnten wir ihrem Schicksal wenig Änderung abtrotzen: Es war durchaus zu befürchten, dass sich die dunkle Depressionswolke in Abständen wieder auf sie niedersenken würde. Doch um eines wollte ich kämpfen, nämlich um eine Reduzierung ihrer Suizidgefährdung. Hier ein Ausschnitt aus unseren Gesprächen:
Frau X: „Warum lässt man mich nicht sterben? Das ist doch kein Leben, immer wieder in bodenlose tiefe Traurigkeit zu fallen und keinen Ausweg mehr zu sehen …“
Ich: „Frau X, angenommen, es fiele Ihnen plötzlich ein, dass Sie lieber in Hamburg wohnen würden als in München. Das bunte Treiben in der Hafenstadt fasziniere Sie. Würden Sie dann Ihre Koffer packen und sogleich nach Hamburg ziehen, um dort zu leben?“
Frau X (erstaunt): „Aber nein, mein Sohn geht doch hier zur Schule, mein Mann arbeitet hier – ich bin ja nicht allein auf der Welt!“