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In einer von Krisen gebeutelten Zeit wie der Unsrigen halten viele Menschen Ausschau nach Silberstreifen am Horizont. Dabei könnte es sogar mehrere davon geben. Der Verzicht von Industrie und Wirtschaft auf Unmengen von Treibhausgasen wäre einer davon. Der Verzicht der "satten Länder" auf Verschwendung und Luxus, sowie ihre Bereitschaft, mit den von Armut geplagten Ländern zu teilen, wäre ebenfalls einer. Der Verzicht auf aggressive und kriegerische Handlungen zugunsten von gegenseitiger Kompromissbereitschaft und Kooperation wäre ein besonders heller Silberstreifen. Was für die Weltgemeinschaft gilt, gilt erst recht für jeden Einzelnen. Der sinnvolle Verzicht im richtigen Moment reduziert persönliche Krisen, zwischenmenschliche Fehden und sogar seelische Anomalien. Zwei erfahrene Therapeutinnen haben überzeugende Fakten aus Theorie und Praxis zu diesem Thema zusammengetragen, um es den Leserinnen und Lesern zu erleichtern, über eine achtsame Auswahl dessen, was sie für sich beanspruchen und was sie generös loslassen können, an Zuversicht für die Zukunft und an Lebensqualität in der Gegenwart zu gewinnen.
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Lebendige Logotherapie
Veröffentlicht von
www.elisabeth-lukas-archiv.de
© 2024 Elisabeth-Lukas-Archiv gGmbH
Dr. Heidi Schönfeld
Nürnberger Straße 103a
D-96050 Bamberg
Elisabeth Lukas, Heidi Schönfeld
Sinnvoller Verzicht
Krisenmanagement neu gedacht
Umschlaggestaltung, Satz und Layout:
© Bernhard Keller, Köln
Lektorat: Dunja Braun, Bamberg
Druck und Vertrieb: tredition, Hamburg
ISBN 978 3 384 33473 2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Elisabeth-Lukas-Archivs und der Autorinnen unzulässig.
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Elisabeth Lukas – Heidi Schönfeld
SINNVOLLER VERZICHT
Krisenmanagement neu gedacht
Elisabeth Lukas – Heidi Schönfeld
SINNVOLLER VERZICHT
Krisenmanagement neu gedacht
LEBENDIGE LOGOTHERAPIE
Publikationsserie im Elisabeth-Lukas-Archiv
Cover
Urheberrechte
Halbe Titelseite
Titelblatt
Vorwort zur Buchreihe
Teil I: Warum viele Krisen nur mit Verzichten zu beheben sind
Verzicht macht keine Freude – aber Verzicht schafft Platz für Freude
Worauf können wir hoffen? Nicht darauf, dass alles gut ausgeht …
Mitgeteiltes Leid ist halbes Leid – ausgeteiltes Glück ist doppeltes Glück!
Das Problem mit dem Besser-Machen – und der Traum von einer heilen Welt
Ein Verzicht muss sinnvoll sein – oder man kann auf ihn verzichten!
Ein Verzicht ist sinnvoll, wenn ein echtes Promotiv hinter ihm steckt
Die uralte Weisheit von Delphi: Mēdén ágan – Nichts zu sehr!
Der Verzicht auf notorischen Ernst – und das Hohelied des Humors
Die Wahrheiten von heute sind die künftigen Irrtümer von gestern
Von der Klage zum Wertbewusstsein – ein dringend benötigtes Umdenken!
Das „Karussell der Lieblosigkeit“ – und der Verzicht auf Retourkutschen
Drei Möglichkeiten, mit Frustrationen umzugehen – und eine vierte!
Die Streiche des Mandelkerns und wie man sie austricksen kann
Kann man über seinen Willen, kann man über seine Zeit verfügen?
„Denn die Freiheit ist nicht nur abgeschüttelter Zwang“ (R. Messner)
Vielseitig desinteressiert? Das Gebräu von Not und Langeweile
Vom „Mir geht es gut“ zum „Ich bin für etwas gut“
Mit einem „tragischen Optimismus“ wider die Schwarzseherei
Plötzlich arbeitslos – und die Kunst, trotzdem nicht abzurutschen
Und wenn man zu viel Zeit hat, weil man alt, einsam und allein ist?
Ein niedriges Selbstwertgefühl und seine kommunikativen Folgen
Neid, Missgunst, Eifersucht – wie erwehrt man sich derlei Qualen?
Abspecken im Individuellen – abspecken im Kollektiven?
Vergänglichkeitsbewältigung – Bangemachen gilt nicht!
Teil II: Falldokumentationen aus der logotherapeutischen Praxis
Ihr sollt euch Sorgen um mich machen!
Hilfe, ich kann nicht mehr aufhören!
Wenn ich doch bloß ein Kind hätte!
Viel essen und trotzdem schlank bleiben?
Der Feind neben mir – Szenen einer Ehe
Der Feind in mir – Lockruf des Sterbens
Synopsis
Über die Autorinnen
Cover
Urheberrechte
Titelblatt
Verzicht macht keine Freude – aber Verzicht schafft Platz für Freude
Über die Autorinnen
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Vorwort zur Buchreihe
(Heidi Schönfeld)
Der zeitgenössische Mensch hat in der Regel genug, wovon er leben kann. Was ihm aber oft fehlt, ist das Wissen um ein Wozu seines Lebens.
Mit dieser Diagnose fasste der Wiener Psychiater, Neurologe und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, ein Kernproblem zusammen, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Die vom Elisabeth-Lukas-Archiv in Bamberg herausgegebene Buchreihe „Lebendige Logotherapie“ will Frankls Ideen zu konstruktiven Problemlösungen für die Gegenwart aufgreifen. An erster Stelle geschieht das durch die Schriften von Elisabeth Lukas. Sie gilt weltweit als Frankls bedeutendste Schülerin. In vielen Publikationen veranschaulicht sie, wie Logotherapie bei psychischen Krankheiten hilft, wie sie den Alltag Gesunder bereichert und uns alle dazu inspiriert, ein sinnvolles, gelingendes Leben zu führen. Ihre Bücher entfalten, wie menschenfreundlich, lebensnah und hochaktuell Logotherapie ist, eben eine „lebendige Logotherapie“. Deswegen ist diese Buchreihe vor allem ihren Darlegungen gewidmet. Aufgenommen werden aber auch andere Texte, die Viktor E. Frankls Logotherapie originalgetreu und anschaulich weiterführen.
„Sinnvoller Verzicht“ ist ein drittes Gemeinschaftsprojekt, das erneut logotherapeutische Theorie (Lukas) mit der Praxis individueller Fallbeispiele (Schönfeld) zusammenbindet. Selbstverständlich sind diese Fallbeispiele in einer Weise anonymisiert worden, die die darin vorkommenden Personen unkenntlich macht, ohne jedoch ihre Probleme zu verfälschen.
Möge dieses Buch den gleichen erstaunlichen Erfolg haben wie die ersten beiden Gemeinschaftsprojekte von Lukas und Schönfeld, nämlich wie „Sinnzentrierte Psychotherapie“ und „Psychotherapie in Würde“. Beide Bücher sind schon in mehrere Sprachen1 übersetzt und finden in vielen Ländern ihre Leser und Leserinnen. Geschätzt wird an ihnen die lebendige Verbindung der Logotherapie mit unserer Gegenwart, die zeigt, wie relevant Viktor E. Frankls Gedanken heute sind.
Die aufwändige Arbeit der Formatierung und des Layouts ist Bernhard Keller zu verdanken, der mit seiner Expertise für die schöne äußere Form der Bücher sorgt.
Für das Elisabeth-Lukas-Archiv Dr. phil. Heidi Schönfeld
1 Die jeweils aktuellen Informationen dazu finden Sie auf elisabeth-lukas-archiv.de
Teil I: Warum viele Krisen nur mit Verzichten zu beheben sind
(Elisabeth Lukas)
Verzicht macht keine Freude – aber Verzicht schafft Platz für Freude
Niemand hört gerne etwas davon, verzichten zu sollen. Viele Menschen sind auf das Wort „Verzicht“ geradezu allergisch. Sie vermuten sofort, man wolle ihnen etwas Schönes, Begehrtes oder ihnen Zustehendes vorenthalten. Man wolle ihnen sozusagen eine Freude verderben. Eine Aufforderung zum Verzicht kann natürlich in solch negativen Zusammenhängen geschehen, aber es gibt noch eine ganz andere Seite des Verzicht-Themas, die ich im Folgenden beleuchten möchte. Ein Verzicht kann nämlich auch Platz schaffen für die Rückkehr von verlorener Freude, und das wäre – wenn wir einen Blick auf das psychische Stimmungsbarometer unserer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen werfen – eine wahre Revolution! In unserer von Krisen geschüttelten Welt sind Mut, Zuversicht und vor allem die Fähigkeit, sich zu freuen, vielfach untergegangen, und dies keineswegs nur in Gegenden der Armut und des Terrors. Auch in begünstigten Regionen hat sich ein Klima der Trostlosigkeit eingeschlichen. Dass laut jüngster Statistik ein Sechstel aller Jugendlichen im immer noch wohlhabenden Europa bereits einmal mit Suizidgedanken gespielt hat und massiv an Ängsten und Depressionen leidet, „schreit zum Himmel“, um es drastisch auszudrücken. Würde man jenen Jugendlichen vor Augen halten, dass sie – im Unterschied zu Millionen Kommilitoninnen und Kommilitonen in anderen Erdteilen – genug zum Essen, ungehinderten Zugang zur Bildung, reichlich Arbeitsmöglichkeiten, die Erlaubnis zur freien Meinungsäußerung oder eine prima ärztliche Versorgung haben, würde dies auch nichts nützen. Sie würden es mit einem Achselzucken als bloße Beschwichtigungsstrategie abtun und auf die dräuenden Gräuel einer unsicheren Zukunft verweisen.
Und es stimmt: Unsere Zukunft sieht unsicherer aus denn je. Aber auch diesbezüglich hätte eine neue Bescheidenheit bzw. eine Zeitenwende im Lebensstil Lösungspotential. Doch bleiben wir vorerst bei der Frage, wie verloren gegangene Freude zurückzugewinnen ist. Mit der Freude hat es nämlich eine eigenartige Bewandtnis. Die Freude lässt sich nicht haschen, nicht herbeizwingen, nicht künstlich hochpuschen. Sie stellt sich wenn, dann von selbst ein, und zwar bevorzugt nach einer Entbehrung. Das heißt, sie verleiht seltenen Werten einen Glorienschein. Sie hebt das Besondere, das nicht Alltägliche, das lang Ersehnte auf das Podium der Aufmerksamkeit und des Genusses. Man hat sich im Lernen geplagt und hält endlich das angestrebte Zeugnis in Händen. Man hat (freiwillig oder erzwungen) gefastet und kann sich jetzt zu einem köstlichen Mahl niedersetzen. Man hat jahrelang gespart und kann sich nunmehr ein hübsches Auto leisten. Man wird überraschend zu einem Fest oder Konzertbesuch eingeladen. Man war einsam und isoliert und gelangt plötzlich zu einer liebevollen Partnerschaft. In all diesen Fällen ist die Freude umso größer, als das empfangene Geschenk eben nicht selbstverständlich war und sich keineswegs oft präsentiert hat.
Wer sich beliebiges Vergnügen jederzeit erwerben kann, den verlässt das Vergnügen. Wer an Erfolge, Festmähler, Konzertbesuche, sich anbiedernde Freunde u.dgl. gewöhnt ist, dem kann auch höchster Luxus nur noch ein müdes Lächeln abgewinnen. Das ist der Grund, warum reiche oder berühmte Personen oft innerlich so kläglich darben. Die Freude fehlt, und ausgerechnet sie kann man mit Geld nicht kaufen.
Die Freude ist also ein Kind der Entbehrung. Hat man drei Kleider im Schrank, freut man sich über das vierte. Hat man hundert Kleider im Schrank, freut man sich über das hunderterste nicht mehr. Wie gelangt man in den Modus der Freude zurück? Man könnte von den hundert Kleidern siebenundneunzig verschenken, dann würde man sich über ein viertes Kleid wieder freuen. Das ist die simple Mathematik des sinnvollen Verzichts: Er schafft Platz für die Rückkehr verlorener Freude. Wenn er wirklich sinnvoll ist, schafft er dabei noch wesentlich mehr: Die verschenkten siebenundneunzig Kleider könnten im besten Fall siebenundneunzig bedürftigen Personen zugutekommen! Das wäre doch etwas! Was da so primitiv und plakativ klingt, ist ein grandioses Prinzip zur Reduktion der ständig auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich, ist ein Gegenmittel zur Wegwerfgesellschaft und ihrer Hybris, und ist ein Maßstab für eine gerechtere Verteilung der begrenzten Güter auf Erden. Der Knackpunkt ist nur: Wer trennt sich von den Inhalten seiner überfüllten Schränke?
Nun ja, wenn es als sinnvoll wahrgenommen wird, könnte es schon ein paar kluge Köpfe geben, die sich zunehmend dem „Anruf des Sinns“ beugen. An dieser Stelle kommt ein Pionier der Sinnfrage ins Spiel: Viktor E. Frankl. Da ich das Glück hatte, diesem Pionier zu begegnen und von seiner Lehre profitieren zu dürfen, möchte ich hier einige seiner überragenden Erkenntnisse darlegen.
Worauf können wir hoffen? Nicht darauf, dass alles gut ausgeht …
In Frankls sinnzentrierter Psychotherapie, der sogenannten Logotherapie, geht es um eine sukzessive Stärkung der geistigen Person angesichts des körperlich-psychischen Geschehens im Menschen. Es geht um die Frage, mit der wir ein Leben lang ringen, nämlich, was uns körperlich und psychosozial beschieden ist, und was wir daraus zu machen imstande sind. Schließlich geht es nicht gerecht auf Erden zu; und selbst wenn alle Menschen gerecht wären – welch abstrus idealistische Vorstellung! – gäbe es dennoch Ungerechtigkeiten in der Welt.
Das Schicksal wirft uns von Anfang an in irgendeine „Schublade“ hinein, und da stecken wir erst einmal drinnen. Vielleicht werden wir zur Pestzeit geboren, in einer Kriegszeit, in einer Wohlstandepoche … wie es der Zufall so will. Frankl zum Beispiel wurde als Sohn jüdischer Eltern mitten in eine judenfeindliche Gesellschaft hinein geboren. Nur 100 Jahre später wäre es völlig gleichgültig gewesen, ob seine Eltern jüdischen, christlichen oder muslimischen Glaubens waren, doch zu seiner Zeit war es die reinste Katastrophe, die ihn dem Holocaust auslieferte. Wir werden in eine intakte oder zerstrittene, wohlhabende oder bettelarme Familie hineingeboren, in irgendeinen Winkel der Erde, in eine Luxus-Wiege, in eine Flüchtlingsunterkunft oder in eine Krippe im Stall. Wir kommen als gesundes Baby zur Welt oder mit Behinderungen behaftet, mit überquellenden oder jämmerlichen Entwicklungschancen. Und dies alles ist bloß der Anfang, dem eine lange Periode erheblicher Milieu-Abhängigkeit folgt.
Dann aber regt sich der menschliche Geist und hebt das Geschehen in eine übergeordnete Dimension. Die Person erwacht zum aktiven „Baumeister“ ihres Lebens – wie Frankl sagen würde – und beginnt aus dem ihr zugewiesenen „Baumaterial“ Ureigenes zu bauen. Freilich kann sie nur aus vorhandenen Ressourcen schöpfen, kann sie im Prozess des Bauens nur ihr Gewährtes verwenden, doch was sie daraus gestaltet, verdichtet sich zum Ausdruck ihres persönlichen Entscheidungsspielraums. Was hat doch Helen Keller aus ihrem eingeschränkten physischen Startkapital gemacht! Wie hat Viktor E. Frankl sein KZ-Martyrium in eine glanzvolle Nachkriegsleistung verwandelt! Und wie sehr hat der Knabe aus der Krippe bis auf den heutigen Tag die Welt verändert! Ja, der „Baumeister“ kann aus dem kostbarsten „Marmor“ ein bedrückendes Gefängnis bauen, aber ebenso kann er aus primitiven „Holzblöcken“ eine gemütliche Heimstatt oder gar eine kleine Kapelle errichten, deren Spitze gegen Himmel weist.
Worauf können wir also hoffen? Gewiss nicht darauf, dass alles gut ausgeht, weder in unserem Individualleben noch als Kollektiv einer Erdbevölkerung. Nichts rüttelt daran, dass wir vergängliche Geschöpfe sind. Nein, die Hoffnung, die sich uns kontinuierlich anbietet, bezieht sich darauf, dass wir in der uns verbleibenden Zeit noch etwas Sinnvolles bewirken können. Seien es 30 Jahre oder 3 Jahre oder 3 Tage, die jemand noch vor sich hat – solange er bei klarem Bewusstsein ist, kann er an seinem „Lebensgebäude“ weiterbauen, kann er ein liebes Wort spenden, ein wichtiges Vorbild hinterlassen, einen Konflikt zum Guten wenden …, was es auch sei. Diese Hoffnung besteht zu Recht, und sie gilt analog für unsere Spezies. Dass diese eines fernen Tages im planetarischen Wechselspiel von Entstehen und Vergehen verlöschen wird (oder sich verfrüht selbst auslöscht), ist nicht zu bezweifeln. Aber auch nicht, dass sie etwas Einmaliges und Einzigartiges im riesigen Universum darstellt und sich dieser ihrer Sonderstellung würdig erweisen sollte. So ist denn zu hoffen, dass auch die Menschheit durch viele Krisen geläutert noch in sinnvoller Weise expandieren wird in der ihr verbleibenden Zeit, seien es Jahrmillionen oder seien es Jahrzehnte. Wird sie ihre destruktiven und aggressiven Impulse allmählich zu bändigen vermögen und in die Empathie und praktizierte Nächstenliebe hineinwachsen? Vielleicht. Jeder kann dazu beitragen – aus jeder „Schublade“ heraus, in der er steckt. Vielleicht wäre genau dies die Botschaft, mit der man die Jugendlichen der Gegenwart, die sich mit ihren düsteren Schaubildern und demonstrativen Bekundungen von Selbstmitleid im Internet gegenseitig mit Ängsten und Depressionen infizieren, konfrontieren müsste: „Verzichtet auf den illusionären Anspruch, dass alles für euch gut ausgehen möge! Hofft stattdessen darauf, in euch selbst die Fähigkeit zu finden, die Geschicke eurer Generation bestmöglich zu lenken – und würdig und anständig hinzunehmen, wie immer es ausgehen wird!“
Mitgeteiltes Leid ist halbes Leid – ausgeteiltes Glück ist doppeltes Glück!
Wiederholt ist bisher der Ausdruck „sinnvoll“ gefallen, gleichsam als Einschränkung und „Markensicherung“ des Gesagten. Der Mensch ist nämlich durchaus imstande und leider auch häufig willens, sinnwidrig zu handeln bzw. das ihm anvertraute „Baumaterial“ zum Schaden von Mitwelt und Umwelt zu gebrauchen. Er baut leidenschaftlich an seinen Egoismen und kümmert sich nicht darum, auf wessen Kosten sie wuchern. Das bringt ihn unablässig in schwierige Phasen, in denen er sich verheddert und verstrickt. Die Gefahr solcher Phasen ist, dass er dadurch auf sich selbst fixiert ist, sich im Kreis um sein Elend und seine Ärgernisse dreht und wie in einem Strudel immer tiefer in negative Stimmungen hineingezogen wird. Der Notausgang daraus heißt: „Blick über den Tellerrand“. Wer mehr sieht als sein eigenes Ungemach, gewinnt an Weitblick. Und im Weitblick taucht allerlei auf, manchmal sogar eine Lösungschance für ein Problem oder eine Kehrtwende aus einer gedanklichen Sackgasse. Vor allem aber tauchen andere Personen auf, und siehe da, auch sie haben ihre Sorgen. Das ist schon einmal tröstlich – man steht nicht mutterseelenallein da mit seinem Schmerz. Man fühlt sich sozusagen einer Solidargemeinschaft leidender Menschen verbunden. Das hilft, sich zu öffnen, von seinem Kummer zu erzählen statt ihn hinunterzuschlucken; und die Erfahrung lehrt, dass nicht nur „geteiltes“ Leid, sondern auch „mitgeteiltes“ Leid schon halbes Leid ist.
Je weiter der Blick über sich selbst hinaus reicht, desto transparenter wird zudem, was andere benötigen, sowie das Ausmaß, in dem man ihnen trotz der eigenen Schwierigkeiten beistehen könnte. Das lenkt den Fokus auf verbliebene Kräfte, die kreativ nutzbar sind. Dabei ist ein Motiv interessant, das ich hervorheben möchte, weil es wenig geläufig ist, nämlich den zart aufkeimenden Wunsch, es jenen anderen, die ebenfalls unter ihren Belastungen stöhnen, nicht nochschwerer zu machen, als es bereits für sie ist. Bei genauer Betrachtung ist dies ein außerordentlich nobles und Kraft stiftendes Motiv, auch sich selbst aufzurappeln und nicht im Dauerlamento zu verharren. Wären Familienmitglieder zumindest geringfügig bereit, einander das Leben nicht noch schwerer zu machen, als es sowieso ist, erbrächte dies eine beachtliche Erleichterung für alle.
Als leuchtendes Beispiel seien die „Young Carer“ erwähnt, eine Selbsthilfeorganisation der Spitzenklasse. Es handelt sich um Jugendliche und teilweise sogar noch um Kinder, deren Eltern nicht fähig sind, ein förderliches Zuhause zustande zu bringen. Einer oder beide der Eltern sind suchtkrank oder psychotisch oder schwer behindert oder drohen aus anderen Gründen zu verwahrlosen. Töchter und Söhne von ihnen springen im frühesten Alter ein, pflegen ihre Eltern, bemühen sich um Geschwister und Haushalt, kaufen ein, kochen, waschen, putzen … alles neben dem Schulbesuch, während sich ihre Gleichaltrigen unbeschwert vergnügen. Es sind junge Menschen, die erhebliche Schwierigkeiten haben, aber trotzdem über ihren „Tellerrand“ hinausschauen und sich solcherart aufschwingen, Leistungen an der Grenze des Menschenmöglichen zu erbringen. Sie schließen sich zu einer stützenden Gemeinschaft zusammen, sie wachsen vielfach zu kooperativen, reifen Persönlichkeiten heran, und die allermeisten von ihnen entrinnen später einem posttraumatischen Stress, wie Untersuchungen beweisen. Wir sollten ihrer und ähnlich tapferer Personen voller Hochachtung gedenken.
Gewiss, in unseren Landen sind wir vorwiegend Privilegierte. Die Zeichen mehren sich, dass sich diese Ära ihrem Ende naht. Jetzt aber ist es noch so, und das bedeutet: Was für die körperlich oder seelisch Geplagten ein Notausgang ist, das ist für die Privilegierten eine Verpflichtung. Im Status des Wohlergehens ändert sich die Formel: Nicht „mitgeteiltes“, sondern „ausgeteiltes“ Glück ist doppeltes Glück! Frankl hat das in einem Aufsatz unter dem Motto „Wir geben Brot – sie geben uns Sinn“ auf den Punkt gebracht. Gemeint hat er: Wenn wir, die reichen Industrienationen, den armutsgefährdeten Völkern eine Lebensgrundlage spenden, dann sind keinesfalls bloß sie die Gewinner, sondern wir sind es ebenso. Wir entwinden uns dem Übersättigungsfrust und den Neurosen einer Überflussgesellschaft und gewinnen an konstruktiven Projekten und Sinnperspektiven, die uns seelisch bereichern und zufriedenstellen. Sie geben uns wahrlich viel zurück, jene Unterprivilegierten, sobald wir unsere Privilegien nützen, um ihren Hunger und ihren Mangel zu mindern. Tauschen wir „Brot“ gegen „Sinn“ … kein schlechter Tausch!
Das Problem mit dem Besser-Machen – und der Traum von einer heilen Welt
Viele junge Leute lehnen sich heutzutage gegen das „Welterbe“ auf, das die ältere Generation ihnen hinterlassen hat. Sie werfen ihren Eltern und Ahnen vor, ein Desaster angerichtet zu haben, das sie, die Jungen, nunmehr ausbaden müssen. Ist es überhaupt noch verantwortbar, Kinder in die Welt zu setzen, fragen sie angesichts von Überbevölkerung, Klimakatastrophe, atomarem Säbelrasseln, Gesundheitsbedrohung und Wirtschaftsflaute. Sie haben nicht unrecht, die Jungen, und dennoch ist anklagen leichter als besser machen. In Wahrheit ist Besser-Machen verflixt schwer. Immer wieder tappen erwachsen werdende Kinder in dieselben Fallen, in die ihre Vorfahren gestolpert sind, was diese Kinder ihnen zuvor heftig angekreidet haben. Das kommt daher, weil Vorbilder von starker Wirkung sind. Wie froh darf derjenige sein, der gute Vorbilder erleben durfte; sie werden ihn lange schützend begleiten. Bedauerlicherweise haben auch üble Vorbilder ihre Sog-Kraft, und so sehr man sie auch anprangern mag, muss man sich dennoch vehement gegen ihre Sog-Kraft stemmen. Dazu kommt, dass man ihre Alternative nicht kennt.
Bei schlechten Vorbildern muss „das Bessere“ zum Besser-Machen erst erfunden werden, und das ist mühsam. Nicht, dass es nicht gelingen könnte. Der menschliche Geist ist mit enormen Innovationskompetenzen ausgestattet. Aber mühsam bleibt es trotzdem. Deshalb sind edle Vorbilder von immensem Wert, was die Medien, die sich vorrangig auf Verrücktheiten und Dramen stürzen, wesentlich mehr beachten sollten. Wenn sie zum Beispiel in den Unterhaltungsfilmen zu 85% desolate Familienverhältnisse präsentieren, darf man sich nicht wundern, wenn die echten Familienverhältnisse allmählich nachziehen, was natürlich niemand will.
Freilich, der Traum von einer heilen Welt ist unerfüllbar. Jede junge Generation hat ihn in Variationen geträumt. Zu schön ist auch die Vorstellung, alle Menschen könnten friedlich miteinander leben, in gegenseitigem Respekt, einander Freiheit und Wohlwollen gewährend, sich in Rücksicht und Nachsicht einübend, und bereit zum Verzicht auf Vorurteile und Vorverurteilungen. Wie schön wäre es, würde sich nach Jahrtausenden zum Ein-Gott-Glauben auch noch der Glaube an die eine Menschheit dazugesellen, wie Frankl es einst formuliert hat. Nun, obwohl dieses Ziel in unendlicher Ferne blinkt, möge sich die junge Generation kraftvoll dafür einsetzen. Sie ist idealistisch und elastisch genug, um Novitäten einzuleiten. Seit Hermann Hesse wissen wir, dass jedem neuen Anfang ein Zauber innewohnt, und die jungen Leute sollen ihren Zauber haben! Die harte Realität wird sie früh genug entzaubern.
Eines allerdings mögen sie bei ihrem Unterfangen bedenken, nämlich dass es nicht nur das selbstgestrickte, vermeidbare und änderbare Leid gibt, gegen das sie so wild revoltieren. Es passt nicht zum Sturm und Drang der Jugend, und auch nicht zur Macher-Illusion der modernen Generation, verstehen zu müssen, dass es auch den nicht zu verhindernden Schmerz in der Welt gibt, bei dem kein Besser-Machen mehr möglich ist, sondern bloß noch ein demütiges oder aufschreiendes Aushalten. Da erkrankt eine Mutter von drei Kleinkindern an Krebs und muss bald sterben. Dort begräbt ein Erdbeben ganze Stadtteile unter Trümmern. Wir dürfen nicht einmal „warum?“ fragen, weil uns (außer nackten fachwissenschaftlichen Erklärungen, die niemanden trösten) keine Antwort zuteilwird. Es ist eher umgekehrt: Unsere Reaktion darauf ist unsere eigene Antwort. Wir können mit dem Schicksal hadern, toben, unsere Verzweiflung in ungezügelter Wut an unseren Nächsten oder Unschuldigen auslassen, aber das ändert nichts am Sachverhalt. Es macht ihn bloß noch trauriger. Trotzdem gibt es auch in diesem Falle – zwar kein Besser-Machen, aber – eine beste Reaktion, die wir uns abringen können im heroischen Hinnehmen und Annehmen des uns Aufgebürdeten ohne aggressiven Rundumschlag oder autoaggressive Panik. Das Beispiel des heroischen und geduldigen Ertragens eines unabwendbaren Leides ist eine der kostbarsten Lehren für unsere unheilvolle und ungeduldige Welt. Es demonstriert höchste Tüchtigkeit und zugleich die sinnvollste „Antwort“, die wir unter den Hammerschlägen des Schicksals noch zu geben vermögen.
Deshalb gilt: Auch wenn viele unserer Träume unerfüllt bleiben, können wir doch Sinn erfüllen in jeder Lage, in der wir uns befinden – sei sie verbesserbar, oder sei sie aussichtslos.
Ein Verzicht muss sinnvoll sein – oder man kann auf ihn verzichten!
Fassen wir die Aspekte sinnvollen Verzichts zusammen, die wir bislang eingesammelt haben.
Da war 1. der Aspekt gerechter Chancengleichheit, die zu schön ist, um wahr zu sein. Wir können uns im gesellschaftlichen Miteinander redlich darum bemühen, aber die Zufälle des Lebens würfeln anders, und mit dieser Tatsache zu hadern ist sinnlos. Verzichten wir darauf.
Da war 2. der Aspekt des gedanklichen und emotionalen Kreisens um eigene Kümmernisse und Sorgen, das uns nur noch tiefer in den Malstrom der Verzweiflung hinunterzieht. Verzichten wir ebenfalls darauf.
Da war ferner 3. der Aspekt des Anklagens von fremden Fehlern, welches ein Besser-Machen einfordert, das wir selber leider viel zu oft schuldig bleiben. Klagen und Anklagen sind so viel leichter, als die heilere Variante in eigener Regie voranzutreiben. Man könnte gegen fast jedermann Vorwürfe ohne Ende erheben, denn das Schuldig-Werden gehört zum menschlichen Leben dazu – und dies bedauerlicherweise auch zum eigenen. Wenn man also auf das Hadern, Jammern und Anklagen verzichtet, ist schon eine Menge seelischer Ballast entrümpelt, den man gewöhnlich mit sich herumschleppt.