Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben - Elisabeth Lukas - E-Book

Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben E-Book

Elisabeth Lukas

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Egal, ob es um Zeitmanagement, Entscheidungen oder Konflikte geht, um Krankheitsentstehung oder Leidensbewältigung: Kein anderes Buch zeigt so konkret, wie vielfältig und alltagstauglich die Konzepte der Logotherapie sind. Wer sich an Werten und Sinn orientiert, findet sein Lebensglück – das belegt die bekannteste Frankl-Schülerin mit eindrucksvollen Beispielen aus ihrer therapeutischen Praxis.

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Seitenzahl: 449

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Wo ist jene therapeutisch interessierte Psychologie,welche die höheren Schichten menschlicher Existenzin ihren Aufriss einbeziehen würde und in diesemSinn – und im Gegensatz zum Worte von der Tiefen-psychologie – den Namen Höhenpsychologie verdienenwürde?

Viktor E. Frankl 1938 im »Zentralblatt für Psychotherapie«

Inhaltsverzeichnis

InschriftVorwort von Viktor E. Frankl zum ersten Buch der Autorin (1980)Ein psychiatrisches und ein psychotherapeutisches Credo - Logotherapeutische Gedanken zum MenschenbildDie Sehnsucht des Menschen nach einem erfüllten Dasein - Logotherapeutische Gedanken zur MotivationstheorieDie Bedeutung der Orientierung am »Sinn des Augenblicks« - Logotherapeutische Gedanken zum EntscheidungsproblemMehr Angst als Liebe – der Modus der neurotischen Existenz - Logotherapeutische Gedanken zur KrankheitsentstehungBefürchtungen lachend »den Wind aus den Segeln nehmen« - Logotherapeutische Gedanken zur KrankheitsbehebungWenn vernünftige Argumente an ihre Grenzen kommen - Logotherapeutische Gedanken zum ParadoxMan muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen - Logotherapeutische Gedanken zur ImpulskontrolleSexuelle und partnerschaftliche Harmonie sind unerzwingbar - Logotherapeutische Gedanken zum LuststrebenGenügt ein Leidensdruck als »Motor« im Genesungsprozess? - Logotherapeutische Gedanken zur SuchtbekämpfungWas nicht mit Antidepressiva zu heilen ist: das Wertevakuum - Logotherapeutische Gedanken zum »leeren Leben«Auch kein »Fall« für Psychopharmaka: die reaktive Depression - Logotherapeutische Gedanken zu WerteverlustenWo die Machbarkeit zu Ende ist – über das wahre Heldentum - Logotherapeutische Gedanken zur LeidbewältigungDie »Kraft zur Verwandlung«, und wie man sie mobilisiert - Logotherapeutische Gedanken zum lohnenden LebenDer Einsatz von Weisheitsgeschichten in der Psychotherapie - Logotherapeutische Gedanken zum LesevergnügenDas Wundermittel »finale Vorleistung« im Familienstreit - Logotherapeutische Gedanken zum FriedensschlussPathologische Anklagen und vorbelastete Dialoge – was tun? - Logotherapeutische Gedanken zur KommunikationDas Borderline-Syndrom in dimensionalontologischer Perspektive - Logotherapeutische Gedanken zur PsychoseWenn die geistige Person sich nach innen transzendiert - Logotherapeutische Gedanken zum »Unbewussten Gott«Mein Leben ist ein Denkmal, hat der Professor gesagt - Logotherapeutische Gedanken zum SterbenDas Zeitfluss-Modell, eines der genialsten Konzepte Frankls - Logotherapeutische Gedanken zur EwigkeitVerwendete LiteraturÜber die AutorinCopyright

Vorwort von Viktor E. Frankl zum ersten Buch der Autorin (1980)

»Schon wieder ein Psycho-Buch – haben wir noch zu wenig von diesem Zeug?« Solche Ausrufe müssen wir uns heutzutage vom Leser erwarten. Und gestehen wir es uns doch ein: Die Psychotherapie zerfällt auf der einen Seite immer mehr in Sekten, und auf der anderen Seite wächst sie sich immer mehr zu einer Art Industrie aus. Mit anderen Worten, sie wird immer mehr ideologisiert und kommerzialisiert.

Alsbald wird der Leser aber merken, wie erfreulich, wie erfrischend das Buch von Elisabeth Lukas absticht vom Gros dessen, was an einschlägiger Literatur heute auf den Markt geworfen wird: Welche Menschlichkeit strahlt doch dieses Buch aus! In welch einmaliger Weise versteht es Elisabeth Lukas doch, auch noch im desolatesten »Fall« Menschlichkeit zu entdecken – und zu erwecken! Was sie uns da in ihren Fallschilderungen und Behandlungsprotokollen vor Augen führt, ist rehumanisierte Psychotherapie im besten Wortsinn.

Für Elisabeth Lukas gibt es kein Menschenwesen, das nicht noch immer irgendeine Chance hätte, über sich selbst hinauszuwachsen; keine Lebenslage, in der sich nicht noch irgendein Funke von Sinn entdecken und entfachen ließe. Wie das geschieht und in welch dramatischer Weise es mitunter geschieht – davon wird der Leser immer wieder ergriffener Zeuge.

Dieses Aufleuchten-Lassen von Sinnmöglichkeiten gehört zur großen Kunst von Elisabeth Lukas. Da steht sie ganz in der Tradition der Logotherapie, die sich als »sinnzentrierte Psychotherapie« versteht und als solche dem Menschen Hilfestellung geben will in seinem Ringen um Sinn, wohl dem menschlichsten aller menschlichen Anliegen. So muss die Logotherapie denn auch den Kampf ansagen jenem Sinnlosigkeitsgefühl, das sich heute in weltweitem Maßstab nachgerade zu einer Massenneurose auswächst. An dieser Aktualität knüpft das vorliegende Buch an; Elisabeth Lukas schöpft darin aus der reichen, jahrelangen zeit- und lebensnahen Erfahrung in ihrer logotherapeutischen Praxis und als Leiterin eines großen psychologischen Beratungszentrums in München, in dessen Rahmen ihr Tag für Tag Menschen gegenübersitzen, die sich mit den typischen Problemen und Krisen des Lebens in unserer Welt, in unserer Zeit und in der, wie die Amerikaner sagen: anbrechenden »Post-Petroleum-Gesellschaft« auseinanderzusetzen haben.

Was ihr bei alledem noch zugute kommt, ist die wissenschaftliche Fundiertheit ihrer Aussagen. Auf Schritt und Tritt merkt man ihr die empirische Kinderstube an; begann sie doch ihre Laufbahn mit experimenteller Forschung und statistischen Untersuchungen. Sie ist es auch, der wir den ersten deutschsprachigen logotherapeutischen Test, den »Logo-Test«, verdanken, den sie am Wiener Universitätsinstitut für experimentelle Psychologie entwickelt hat. So erscheinen denn bei Elisabeth Lukas praktische Erfahrung und empirische Forschung in einem produktiven Rückkoppelungsprozess miteinander vernetzt.

Ihre Beiträge zur Logotherapie beschränken sich aber nicht auf die Grundlagenforschung, sondern auf diesem soliden Fundament aufbauend hat sie bezüglich der logotherapeutischen Technik erfinderisch und schöpferisch gewirkt. Ich erwähne nur die von ihr selbstständig entwickelte »Sinnzentrierte Familientherapie« oder ihren eigenständigen Beitrag zur Weiterentwicklung der logotherapeutischen Methode der Dereflexion. Wenn man ihre einschlägigen Fallschilderungen verfolgt, wird einem das Erlebnis zuteil, in ihrer Begleitung einen Schritt in die Zukunft der Logotherapie mitzuvollziehen.

Vielleicht am meisten wird der Leser ihr danken, dass sie ihm in so instruktiver und illustrativer Weise Einblick gewährt in die Werkstatt des Logotherapeuten. Verdeutlicht sie doch alles anhand konkreter Fallbeispiele, ja, mit Ausschnitten aus Dialogen, wie sie sich wirklich abgespielt haben. Damit kommt Elisabeth Lukas einem ganz modernen Trend entgegen, nämlich Möglichkeiten für eine psychotherapeutische Selbsthilfe zu schaffen. Tatsächlich gibt sie dem Leser immer wieder eine Handhabe, logotherapeutisches Gedankengut auch auf sich selbst anzuwenden, und es ist kaum zu glauben, welche Erfolge sich auf diesem Wege erzielen lassen.

Dass sich die Logotherapie für die Verwendung zum Zwecke solcher Selbsthilfe in besonderem Maße eignet und anbietet, ist jedoch auf einen besonderen Umstand zurückzuführen, auf die Tatsache nämlich, dass die Standardwerke über Logotherapie gar nicht so sehr an den Psychotherapeuten adressiert sind, um ihm diese oder jene Technik beizubringen, als vielmehr an den Patienten selbst – und auch an den (noch) gar nicht neurotischen Leser: Beide können, was die Logotherapie ihnen zu sagen hat, direkt den Büchern entnehmen und auf sich anwenden, sodass unter Umständen der Umweg über den professionellen Therapeuten sich erübrigen mag. Mit einem Wort: Ein Buch über Logotherapie ist Logotherapie.

Als ich vor Jahren einmal in Freiburg im Breisgau einen Vortrag von Elisabeth Lukas hörte und von der für sie so charakteristischen Legierung von Menschlichkeit und Wissenschaftlichkeit tief beeindruckt war, meinte ich in einem anschließenden Gespräch mit ihr: Irgendwie kann ich jetzt leichter sterben – wissend, dass mein Vermächtnis in solchen Händen ruht. Als ich Jahre später ihr Manuskript zu diesem Buch in meinen Händen hielt, wiederholte und vertiefte sich dieses gute Gefühl; denn ich hatte das Manuskript auf dem Krankenbett gelesen, in Krankenhäusern zwischen München und Wien, vorübergehend sogar auf Intensivstationen liegend, und ich legte das Manuskript aus der Hand mit Stolz auf eine Schülerin, in Hinblick auf die ich zu hoffen wage: non frustra vixi.

Boston, an meinem 75. Geburtstag

Viktor E. Frankl

Die Sehnsucht des Menschen nach einem erfüllten Dasein

Logotherapeutische Gedanken zur Motivationstheorie

Wonach strebt der Mensch?

Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg hat Viktor E. Frankl im »Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie«, Band III (Urban & Schwarzenberg, München, 1959), sein Motivationskonzept vom »Willen zum Sinn« der Fachwelt vorgestellt. Dabei schrieb er unter Bezugnahme auf die damaligen und weit in unsere Gegenwart hineinwirkenden egozentrischen Motivationskonzepte der Psychologie, die von einem grundlegenden Streben des Menschen nach Lust, Wohlbehagen, Eigenvorteilen, Machtpositionen etc. ausgingen:

... aber noch viel tiefer verwurzelt ist im Menschen, was wir als den Willen zum Sinn bezeichnen: sein Ringen um möglichste Sinnerfüllung seines Daseins.

Und – mit Blick auf die in einem Brief an Marie Bonaparte (Briefe 1873 – 1939, Frankfurt/M.) aufgestellte Behauptung Sigmund Freuds, dass jeder, der nach Sinn und Wert des Lebens frage, krank sei:

Das Zweifeln am bzw. das Ringen um einen Daseinssinn, die Sorge um möglichste Sinnerfüllung menschlichen Daseins ist nichts Krankhaftes, sondern etwas schlechthin Menschliches, ja das Allermenschlichste, das man sich vorstellen kann, und es hieße dem Pathologismus verfallen, wollte man dieses Allermenschlichste zu einem nur allzu Menschlichen denaturieren und degradieren, nämlich zu einer Schwäche, zu einer Krankheit, zu einer Neurose, zu einem Komplex. Im Gegenteil: So wenig handelt es sich beim Willen zum Sinn um eine Krankheit, dass wir ihn sogar gegen seelische Krankheit mobilisieren können ...

Danach erläuterte er, dass es sich die von ihm begründete Logotherapie zur Aufgabe gestellt habe, ebendiesen Willen zum Sinn im Menschen anzuregen und im Verschüttungsfalle wiederzubeleben, um mit seiner Hilfe und durch seine Stärkung seelische Entgleisungen zu regulieren:

... Wenn Darwin nur den Kampf ums Dasein gesehen hat und Kropotkin darüber hinaus die gegenseitige Hilfe, so sieht die Logotherapie das Ringen um einen Sinn des Daseins und versteht sich selbst als Beistand in der Sinnfindung.

In der Zeit, die seither vergangen ist, ist das Motivationskonzept Frankls in zahlreichen Forschungsarbeiten bestätigt worden, unter anderem von Reinhard Tausch, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Hamburg, der nach Abschluss einer Forschungsreihe (publiziert in der Protokolldienstserie der Evangelischen Akademie Bad Boll, Heft 16, 1994) zu dem Ergebnis gelangt ist:

Geringe Lebenssinnempfindung – also unerfüllter »Wille zum Sinn« (Frankl) – korreliert mit Selbst- und Fremdablehnung (Lebensunzufriedenheit), mit Neurose und Aggression. Hohe Lebenssinnempfindung hingegen – also erfüllter »Wille zum Sinn« – korreliert mit ausgeprägter Lebenszufriedenheit und mit emotionaler Stabilität.

Derselben Forschungsreihe entstammen zwei weitere Ergebnisse, die nähere Beachtung verdienen, weil sie das Konzept der prinzipiellen Sinnverwiesenheit des Menschen noch detaillierter aufschlüsseln. Sie besagen, dass der Wille zum Sinn insbesondere dann keine Erfüllung findet, also frustriert wird, a) wenn Menschen etwas nicht verstehen können, und b) wenn Menschen sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlen.

Warum gerade dann? Nun, der Mensch sucht unablässig nach Erklärungen. Er möchte Zusammenhänge verstehen, aber nicht nur, um zu wissen, sondern auch, um zu verändern, zu steuern, zu gestalten. Er ist »per Auftrag« der Mitgestalter seiner Verhältnisse, auch wenn ihm dies nicht immer zum Segen gereicht und er mitunter haarsträubenden Widersinn produziert. Dennoch ist die Suche nach Sinn eine Suche nach Ordnungen, Strukturen, Ganzheiten, nach dem, was »die Welt in ihrem Innersten zusammenhält«. Und ein Fündigwerden bei dieser Suche nach Sinn ist dementsprechend ein Auffinden von Gestaltungsmomenten, die der eigenen Handlung offenstehen, ja, ihrer sogar bedürfen, weil sie ohne des Menschen Zutun vergehen würden. Mithin ruht der Wille zum Sinn auf den zwei Säulen »Verstehen/Begreifen« und »Gestalten/Eingreifen« auf und kann mit beiden einstürzen.

Dies bereitet Tragödien ihren Weg. Wobei sich gezeigt hat, dass ein Nicht-verstehen-Können vorwiegend interpersonalen Tragödien Vorschub leistet, und zwar durch ungerechtfertigte gegenseitige Schuldzuweisungen; und ein Sich-ohnmächtig-Fühlen intrapersonalen Tragödien den Weg bahnt, und zwar durch irrtümliche einseitige Leidbetonungen. Übermächtige Schuld- und Leidgefühle aber untergraben den Willen zum Sinn und zum Leben. Im Folgenden seien beiden Problemkreisen einige Gedanken gewidmet.

Das Problem der Laienätiologie

Laien spüren im Allgemeinen sehr gut, was Sache ist. So wie ein Volk eine gewisse »Volksweisheit« besitzt, die sich in seinen Mythen, Sagen und sonstigen tradierten Kulturgütern niederschlägt, so besitzt auch der Durchschnittsbürger einen »gesunden Hausverstand«, aus dem er mehr oder weniger reflektierte Einsichten schöpft. Dazu kommt, dass Kinder und Kranke, die je nach Alter und Behinderung weniger auf ihren Verstand bauen können, just über extrem feine »Antennen« verfügen, mit denen sie Signale aus ihrer Um- und Innenwelt empfangen. So ahnen zum Beispiel Kinder lange bevor ihre Eltern sich scheiden lassen, dass ihr Zuhause brüchig geworden ist. Oder es wissen Schwerkranke oft früher als ihre Angehörigen, dass ihre Todesstunde naht, obwohl sich ihre Angehörigen laufend mit den Ärzten besprechen und über den Zustand des Patienten informieren.

Es gibt allerdings Situationen im Leben, da stößt das Begreifen an seine Grenzen. Vielleicht hat der Fachmann noch Antworten parat, doch der Laie nicht mehr. Auch sind die »Fachantworten« selten wirkliche Antworten auf die »Laienfragen« der Betroffenen. Wenn ein Geologe etwa erklären kann, aufgrund welcher Kontinentalverschiebungen in der Erdkruste ein bestimmtes Erdbeben ausgelöst worden ist, hat er damit noch nicht die Frage einer verzweifelten Mutter beantwortet, warum ihre beiden Söhne beim Erdbeben haben umkommen müssen.

In solchen Situationen, in denen das menschliche Begreifen an seine Grenzen stößt, tritt wiederholt ein Phänomen auf, das verheerende Wirkungen zeitigt: das Phänomen der sogenannten Laienätiologie. Das heißt, Menschen basteln sich »laienhafte« Erklärungen über jene Ereignisse zusammen, die sie eben verstehen möchten, aber nicht verstehen können. Erklärungen, die vielfach gänzlich falsch sind, weil sie nicht dem intuitiven innersten Gespür der Seele entspringen wie die Volksweisheit oder der gesunde Hausverstand, sondern dem krampfhaften Versuch einer kognitiven Sinndeutung dessen, was absolut sinnlos erscheint. Das Problematische daran ist, dass Verursachungshypothesen entstehen, an die geglaubt wird. Ein an den Ereignissen »Schuldiger« wird gefunden (besser »erfunden«), auf den sich die dem Schmerz entquellende Wut dann konzentriert.

Dazu einige Beispiele aus der Psychotherapie, in der das Phänomen der Laienätiologie erstmals aufgefallen ist.

Beispiel 1

Wenn sich jemand schlecht fühlt, sieht er alles durch eine schwarz eingefärbte Brille. Innere Negativismen werden nach außen projiziert. Keinesfalls aber sind alle inneren Negativismen ihrerseits Echo und Reaktion auf äußere negative Gegebenheiten. Speziell bei den Neurosen (Angststörungen) brauchen sie es nicht zu sein. Denn Neurosen haben weniger mit einer traurigen Vergangenheit des Kranken zu tun, als man aufgrund populär-tiefenpsychologischer Literatur vermeinen könnte. Neurosen haben eher mit bedenklichen, Schwierigkeiten tunlichst vermeidenden Lebensweisen zu tun, die sich der Kranke selbst angeeignet hat, eventuell noch in Verbindung mit einer konstitutionellen vegetativen Dystonie. Bei den Neurosen dürfen irrationale Ängste das Leben dominieren, weil diesen Ängsten kein Widerstand geleistet wird. Und darüber ist der Kranke traurig – über seine eigene Schwäche, über das von ihm nicht sinnvoll Gelebte.

Seine Traurigkeit färbt, wie gesagt, seine Brille zur Welt ein. Die Welt ist schlecht, böse, gefährlich ... sie liebt ihn nicht. Sie hat noch nie etwas für ihn getan. Sie hat ihn stets enttäuscht. Da die Welt zu groß und zu abstrakt ist, als dass sich der Kranke mit ihr auseinandersetzen könnte, schrumpft sie zur Gestalt der Mutter, des Vaters, der Schwester oder des Kollegen zusammen. Die Mutter hat ihn nicht gemocht, der Vater hat keine Zeit für ihn gehabt, die Schwester ist ihm stets vorgezogen worden und der Kollege nützt ihn bloß aus.

Es hat sich bei entsprechenden Studien eindeutig gezeigt, dass neurotisch kranke Menschen, die ihre Kindheit sehr negativ beurteilen, in dem Moment, da sie sich (durch irgendeine glückliche Fügung in ihrem Leben) besser fühlen, dieselbe Kindheit überraschend positiv einschätzen und ihren Eltern zum Teil durchaus dankbar sind. Was nichts anderes bedeutet, als dass sie bei ihren früheren Vorwürfen gegen Angehörige oder Kollegen einer Laienätiologie zum Opfer gefallen sind. Auf die Frage: »Warum bin ich so ängstlich und deprimiert, warum bin ich nicht frei und beschwingt wie die anderen?« haben sie sich eine Antwort zurechtgezimmert. »Weil meine Eltern ...« usw., eine Antwort, die – durch die Normalbrille besehen – den Tatsachen oft nicht standhält. Womit natürlich nicht geleugnet sein soll, dass es traurige Kindheiten gibt. Es soll nur festgehalten werden, dass die subjektive Beurteilung des Erfahrungsschatzes der eigenen Lebensgeschichte von der jeweils gegenwärtigen Stimmungslage einer Person abhängig ist. Je düsterer die Stimmung, desto mehr Schuld daran bekommt das in der Vergangenheit Erfahrene »aufgebrummt«. Was nicht leicht ist für diejenigen, die am Erfahrungsschatz eines Kranken mitbeteiligt gewesen sind.

Beispiel 2

Auch das Umgekehrte geschieht. Dass sich zum Beispiel Eltern, deren Kind keine gesunde Entwicklung nimmt, mit der Frage herumquälen, was sie bei der Erziehung falsch gemacht haben. Selbstverständlich finden sie viele Antworten darauf, denn keine Erziehung verläuft »ohne Fehl und Tadel«. Die letzte Frage allerdings bleibt ungeklärt, nämlich, ob sich das Kind in einem anderen Erziehungsmilieu wirklich besser entwickelt hätte. Das kann niemand sagen.

Noch um etliche Grade schwieriger ist es für Angehörige oder auch für das Pflegepersonal von dementen und (stirn) hirngeschädigten Menschen, also von Menschen, die an einem organischen Psychosyndrom leiden. Fühlen sich solche Kranken übel – und dazu genügt ein Wetterumschwung! –, verwandelt sich ihr Unwohlsein in ungerichtete Aggressivität. »Ungerichtet« bedeutet, dass ihre Aggressivität lediglich Ausdruck des eigenen Unbehagens ist und keineswegs Ärger über jemand Bestimmten. Sie hat mit dem Gegenüber, das sie trifft, überhaupt nichts zu tun. So kann es geschehen, dass eine Ehefrau das Zimmer ihres kranken Mannes betritt und ihr ein Blumentopf entgegengeschleudert wird. Nicht, weil der Mann etwas gegen sie hätte. Nein, weil er vom langen Liegen verdrießlich gelaunt ist.

Das wiederum ist für die Ehefrau kaum zu begreifen. Also wird sie sich überlegen, was mit ihrem Mann los sein könnte, wer ihn aufgeregt, worin sie selbst ihn provoziert haben könnte, ob er sie vielleicht schon immer gehasst habe und Ähnliches. Doch wird sie sich umsonst abplagen, denn eine ungerichtete Aggressivität ist allerhöchstens medikamentös eindämmbar, von der Mitwelt aber weder erzeugbar noch verhinderbar. Hypothesen darüber sind nichts als Laienätiologie.

Beispiel 3

Dank einer verbreiteten Skepsis gegenüber der Schulmedizin wird heutzutage vielfach Koinzidenzen von Vorfällen im Zusammenhang mit Krankheitsausbrüchen mehr getraut als ärztlichen Diagnosen. Ein eher amüsantes Beispiel dazu. Ein hochgeschossener junger Mann läuft bei schlechtem Wetter den Gehsteig entlang und direkt in eine Reklametafel hinein, die er übersehen hat. Dabei holt er sich eine Platzwunde an der Stirne, die ein wenig blutet. Am nächsten Tag verspürt er Kopfschmerzen, die er auf den Unfall zurückführt. Er lässt sich den Kopf röntgen, was aber keinerlei Krankheitsbefund erbringt. Seine Kopfschmerzen hören jedoch auch an den nächsten Tagen nicht auf, weshalb der junge Mann felsenfest davon überzeugt ist, durch seinen Zusammenprall mit der Tafel eine innere Verwundung davongetragen zu haben. Am fünften Tag schließlich setzen starke Halsschmerzen und Fieber bei ihm ein, die der herbeigerufene Arzt als Mandelentzündung diagnostiziert. Eine Entzündung, die sich eben mit Kopfschmerzen angekündigt hat, in völliger Unabhängigkeit von der Sache mit der Reklametafel ...

In diesem Fall hat sich die wahre Krankheitsätiologie aufgeklärt, doch wie oft prallt jemand – nicht mit einer Reklametafel, sondern – mit einer anderen Person zusammen und gibt seiner Auseinandersetzung mit dem anderen rückblickend die Schuld, wenn er kurz darauf erkrankt. Gerade bei Psychosen (z.B. endogenen Depressionen), die bekanntlich einen schubartigen Verlauf nehmen, kommt es immer wieder zu gegenseitigen Anklagen, wenn kurz vor Ausbruch eines neuen Schubs bei einem Kranken Differenzen zwischen ihm und jemand anderem im Raum gestanden sind. Differenzen, die für den Krankheitsverlauf in Wahrheit genauso irrelevant sind, wie es die Reklametafel für die eitrigen Mandeln des jungen Mannes gewesen ist.

Beispiel 4

Leo Montada, Professor für Psychologie an der Universität Trier, hat den sogenannten »Rückschaueffekt«, der nachträglich spekulative Begründungen für etwas Unfassbares aufkommen lässt, an Personen untersucht, die gravierende Verluste an Geld, Kraft, Arbeitsmöglichkeiten usw. erlitten hatten. Dabei gelangte er im Wesentlichen zu den folgenden Erkenntnissen (aus: »Report Psychologie«, Jg. 20/2, Bonn, 1995):

Die Ansicht, dass ein erlittener Verlust ungerecht gewesen sei, verbunden mit einer entsprechenden Empörung über den (vermeintlich?) Schuldigen, der die Pflicht gehabt hätte, diesen Verlust zu verhindern, ist ein ausgesprochenes Bewältigungserschwernis. So hat u. a. eine Untersuchung an querschnittgelähmten Unfallopfern mit vergleichbaren Schäden ergeben, dass diejenigen, die anderen Personen gegenüber Schuldvorwürfe erhoben, die größten Schwierigkeiten hatten, ihre Situation zu meistern. Der als ungerecht erlebte Verlust erzeugt nämlich starke Emotionen der Feindseligkeit, die auf den Betreffenden zurückwirken. Aber nicht nur dies. Er erzeugt auch eine verminderte Bereitschaft, die selbst erstellte Schuldhypothese zu überprüfen. Wer sich empört, »weiß«, dass sein Anspruch verletzt wurde, dass ein anderer verantwortlich ist und zur Rechenschaft gezogen werden sollte, und fragt nicht vorsichtig, ob das so sei.

Des Weiteren fand Montada heraus, dass es keinen Verlust gibt, für den man nicht theoretisch auch andere verantwortlich machen könnte. Das gilt auch für den fehlgeschlagenen Suizid, der in einer schweren Verletzung endet, für den Absturz aus der Felswand, in die man alleine gegangen ist, für die Sucht mit allen ihren verlustreichen Folgen: Es ist immer möglich, anderen wegen eines Verursachungsbeitrages oder wegen fehlender Prävention einen Vorwurf zu machen ... Was im Klartext heißt, dass aus einer eigenen Verbitterung heraus immer auch eine ungerechtfertigte Anklage gegen die Mitwelt erwachsen kann, die, umso heftiger sie ist, umso weniger infrage gestellt wird. Hinter »blindem Hass« verbirgt sich nicht selten eine Form von Laienätiologie.

Beispiel 5

Wir haben die Laienätiologie im Konnex mit Neurosen, hirnorganischen Schäden, Psychosen und Verlusten kennengelernt. Ein letzter Punkt soll genannt sein, der nicht zur allgemeinen Psychopathologie, sondern eher zu einer »Pathologie des Zeitgeistes« (Frankl) zählt. Untersuchungen von Heiner Barz, Professor am Institut für Philosophie und Erziehungswissenschaften der Universität Freiburg, haben ergeben, dass vor allem die jüngere Generation in der westlichen Welt die Verbindlichkeit ethischer Grundsätze relativiert. Der Einzelne erlebt sich nur noch vor seiner eigenen Vernunft und angesichts seines eigenen Glücksanspruchs zur Verantwortung gezogen. Heiner Barz beschrieb die Konsequenzen in einer Dokumentation über Freiheit und Verbindlichkeit in Gesellschaft und Kirche (Auer, Donauwörth, 1994) folgendermaßen:

Diese Anforderung heute an den Einzelnen, ungeschützt und ungestützt durch Tradition schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, führt dazu, dass der Einzelne bestrebt ist, sich von dieser Verantwortung zu entlasten. Das führt zu einer starken Betonung dessen, dass die Verhältnisse schuld sind, dass gar nicht er selbst Entscheidungen trifft, sondern dass z.B. der Staat mit den schlechten Bedingungen für alleinerziehende Mütter, mit den schlechten Sozialleistungen, dass die kinderfeindliche Gesellschaft an einer Abtreibung schuld sind, usw. Das heißt, es werden jede Menge Gründe gesucht, die die eigene Verantwortung wieder relativieren und ein Stück Verantwortung an die Umwelt delegieren ...

Hier ist die Laienätiologie mehr als ein Irrtum, hier hat sie eine illegitime Entlastungsfunktion. Der Mensch, der als sein eigener Maßstab auf sich selbst zurückgeworfen ist, hält das kaum aus und wirft etwas zurück: ein Stück Verantwortung. Aber da es zum Wesen der Verantwortung gehört, dass sie nicht delegierbar ist, bleibt bei solchen Exkulpationen ein diffuses Schuldgefühl zurück, das den Entlastungswunsch und damit die Tendenz, Verantwortung abzuschieben, zusätzlich verstärkt. Ein »Circulus vitiosus« pendelt sich ein.

Nehmen wir uns aus alledem zu Herzen, dass bei Beurteilungen und Verurteilungen unserer Nächsten höchste Zurückhaltung geboten ist. Jedem Kummer haftet grundsätzlich ein unerklärlicher Rest an, der sich nicht mehr rational aufhellen lässt. Es ist deswegen der Konzentration auf jenen Rest sämtliche geistig-seelische Energie zu entziehen, die woanders dringend gebraucht wird, nämlich bei der Konzentration auf die Bewerkstelligung würdigen Lebens in bedrängender Situation. Wer sich solchermaßen zur Spekulationsabstinenz aufrafft, dessen »Wille zum Sinn« regeneriert sich und ortet früher oder später die persönlichen Sinnpotenziale, die im Hier und Jetzt des Augenblicks schlummern und immer wieder ganz frisch sind, zart und unwirklich, es sei denn, wir greifen sie »in Zärtlichkeit« auf und bringen sie zur Realisation.

Das Problem der Ohnmachtsgefühle

Der Zustand der Ohnmacht ist ein kritischer, und zwar nicht nur in physischer Hinsicht, sondern genauso in psychischer. Menschen, die sich einer gegebenen Tatsache gegenüber ausgeliefert und ohnmächtig fühlen, verzweifeln leicht. Wobei das Gegenteil, das Machthaben ohne gewisse Einschränkungen ebenfalls kritisch sein kann, wie allgemein bekannt. Menschen, die sich mächtig fühlen, benützen ihre Überlegenheit nicht selten für unlautere Zwecke.

Es existiert jedoch ein »Korrektiv«, das ein Ausufern sowohl von Ohnmacht als auch von Mächtigkeit verhindert, und das ist der Sinn. Man kann einer Tatsache gegenüber noch so ohnmächtig sein, trotzdem finden sich sinnvolle Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Man kann auch über ein noch so hohes Machtpotenzial verfügen und trotzdem gibt es einen triftigen Sinngrund, auf manche Ausübungsmöglichkeit zu verzichten. Der Sinn ist das Argument wider die Verzweiflung, wie er es ist für die Selbstbescheidung.

Zur Problematik des Ohnmachtsgefühls – das über die Brücke der Verzweiflung und einseitigen Leidbetonung jedwede Bereitschaft, des Lebens Form und Farbe aktiv mitzugestalten, innerhalb kürzester Zeit erlahmen lässt – folgen nun einige Hinweise aus der logotherapeutischen Forschung.

Das Streben nach Utilität

Ohnmachtsgefühle entspringen letztlich einem Utilitätsstreben. Dies wurde aus unzähligen Aussagen seelisch kranker und leidgeprüfter Menschen ermittelt, die ihre Situation mit den Worten zu charakterisieren pflegen: »Egal, was ich tue, es nützt alles nichts.« Auch ausführlichere Beschreibungen des Ohnmachtsgefühls kreisen um diesen Nützlichkeitsstandpunkt: »Was soll ich mich bemühen, meine Bemühungen fruchten doch nichts. Ich kann machen, was ich will, ich komme da nicht heraus. Meine bisherigen Versuche, etwas zu ändern, sind allesamt gescheitert. Jede neue Initiative, zu der ich mich aufgerafft habe, hat sich als Sackgasse erwiesen. Warum soll ich irgendeinen anstrengenden Versuch starten, wenn er doch sicherlich nichts einbringt?«

Nun, Utilität ist nicht der Maßstab, an dem sich sinnvolles Handeln bemisst. Das Gute erweist sich selten als direkt nützlich. Das Gute will gewählt werden um des Guten willen und ohne Hinschielen auf Erfolge und Vorteile, auf etwas, »das es einbringt«. Positive Bemühungen, mutige Initiativen und kreative Versuche sind auf einer Ebene wirksam, die die Kategorie des »Angenehmen« transzendiert in die Ebene des »Heilenden« hinein. Wer unbeirrt tut, was Sinn hat, bedarf keines sichtbaren Effektes, weil sich seine Seele von selbst regeneriert. Er wird weise, heiter und zufrieden wie der Dalai Lama, dessen Friedfertigkeit auch völlig nutzlos ist angesichts der Besetzung seines Landes – und die dennoch in ihrer Modellwirkung langfristig ein neues Zeitalter einläuten könnte. Wer die Fixierung auf Nützlichkeit aufgibt, ist wieder »mächtig« genug, die sinnvollste Möglichkeit seines Daseins zu wählen – sie, die nichts einbringen muss, die rein äußerlich unfruchtbar sein darf! – und dadurch von seiner Verzweiflung zu genesen.

Zukunftsvorstellungen

Die Psychotherapie beschäftigt sich vorwiegend mit Lebensläufen. Erstaunlicherweise gestattet jedoch die Erkundung der Vorstellungen von Patienten über ihre Zukunft mehr diagnostische Einblicke als die Erkundung ihrer Erinnerungen an die Vergangenheit.

Bei der Rückschau in die Vergangenheit tritt unweigerlich auch Schmerz zutage – bei seelisch stabilen wie labilen Menschen, bei den Gesündesten und Kränkesten. Menschliche Lebensgeschichten sind Passionsgeschichten, obgleich selbstverständlich nicht nur. Im Unterschied dazu verrät die Schau in die Zukunft etwas sehr Persönliches über einen Menschen, nämlich den Grad seines Vertrauens. Und zwar nicht eines kindlichen Vertrauens der Art, dass sich alle seine Wünsche erfüllen werden, sondern eines reifen Vorwissens um die geheimnisvolle Parallelität von Schicksalsschlägen und Kraftzuflüssen. Damit ist Folgendes gemeint:

Geistig-seelische Kraft haben wir nicht auf Vorrat. Wir erhalten sie im Augenblick ihrer Benötigung. Insofern kommt ein Schicksalsschlag nie allein auf uns zu, sondern stets in Gefolgschaft derjenigen Kraft, die uns instand setzt, zu verbessern, was verbesserbar ist, und zu tragen, was zu tragen ist. Dies bestätigen beispielsweise Mütter, die todgeweihte Kinder begleitet haben, wenn sie sagen: »Anfangs dachte ich, es würde meine Kräfte übersteigen. Aber je weiter die Krankheit meines Kindes fortschritt, desto mehr wuchs ich in unseren Abschied hinein, und am Ende konnte ich mein Kind loslassen.«

Wer daher in der Zukunft ängstlich Katastrophen und Leiderfahrungen erwartet, muss sich – im Abgleich mit seinen gegenwärtig vorhandenen Kräften – zwangsläufig ohnmächtig fühlen. Wer hingegen der Kraft in sich vertraut, die noch gar nicht da ist, die aber im Notfall (aus demselben Walten heraus, aus dem das Schicksal waltet) zuerteilt werden wird, der kann gelassen in die Zukunft blicken. Ihm dräut Verzweiflung nicht.

Prioritäten setzen

Es ist uns aufgegeben, unsere Zeit einzuteilen. Diese Aufgabe enthält eine ethische Komponente, derer sich viele Menschen nicht klar bewusst sind. Denn Zeit ist ein kostbares Gut, das zu verschwenden nur gerechtfertigt ist an andere kostbare Güter. Zeit »totzuschlagen«, etwa im Konsum- und Genussrausch – was nicht identisch ist mit Erholungs- und Erlebniswerten! –, kommt wegen des dadurch hervorgerufenen »Schwunds an Leben« fast einer Versündigung gegen das fünfte Gebot gleich.

In unserer industrialisierten Welt haben wir aber häufig ein anderes Problem mit der Zeiteinteilung: nicht das Totschlagproblem, sondern das Überfrachtungsproblem. Hier die Schilderung einer meiner Studentinnen:

»Ich beobachte sowohl bei mir als auch bei meinen Freundinnen sehr ungesunde Tendenzen aufgrund unserer Anspannungssituation. Die eine hat daheim eine krebskranke Mutter, ihr Freund zieht gerade aus beruflichen Gründen nach Hamburg, sie schreibt ihre Diplomarbeit und muss wie wir alle für ihre Prüfungen lernen. Die andere arbeitet nebenbei, um die Deutschkurse ihres bengalischen Mannes zu finanzieren. Wieder andere haben zwei bis drei Kleinkinder, eine davon eine pflegebedürftige Großmutter daheim. Und auch meine Zeit ist mit Studium, Diplomarbeit, den langen Fahrzeiten, einem Halbtagsjob und Haushalt so vollgestopft, dass ich mein Engagement im Naturkostladen zurückstellen musste ... Wir alle wissen, dass das, was wir tun, einen Sinn hat. Wir tun es für unsere zukünftige Berufstätigkeit, für unsere Familie, für Ideen, hinter denen wir stehen. Aber dennoch ... Wir haben Kopfweh und sind anfällig für Infektionen, wir streiten über Kleinigkeiten mit unseren Partnern und sind gereizt den ganzen Tag über. Wir haben Angst, nicht alles gleichzeitig zu schaffen, und fühlen uns unfähig, den an uns gestellten Anforderungen zu genügen. Der Stress zehrt an unseren Nerven ...«

Auszehrender Stress fördert Unfähigkeits- und Ohnmachtsgefühle, wie sie unter dem Stichwort »Burn-out-Syndrome« beschrieben worden sind. Aber was ist seine eigentliche Botschaft? DieWarnung vor überdecktem, »unethischem« Handeln. Es wird scheinbar eine Menge Sinn erfüllt, doch da die Sinnerfüllung ununterbrochen auf Kosten anderer Sinne und Werte geht, wird sie fragil, bröckelt sie hinweg. Baut sie ab statt auf. Der Mensch lebt gegen sich selbst, wird krank.

Wie sieht die Alternative aus? Sie hat das Antlitz einer Zeiteinteilung, die Prioritäten setzt, Unzeitgemäßes aussortiert und Stille einkalkuliert. Vielleicht ist eine Familiengründung während eines Studiums eben zu viel. Oder ein Studium ist zu viel, solange Kleinkinder und andere Familienmitglieder der Pflege bedürfen. Vielleicht kommt eine Partnerschaft zu früh, wenn die gemeinsame Basis noch nicht gelegt ist. Oder es sind Nebentätigkeiten zu unterbrechen, wenn andere Einsätze wie Umzüge zu leisten sind. In kleinen Pausen der Stille zwischendurch zeichnet sich der Sinn klarer ab als im Alltagsgetriebe, der eine Sinn, den es in der einen, der jeweiligen Zeit zu erfüllen gilt, mit ganzem Herzen und ohne schlechtes Gewissen in Bezug auf zweite, dritte und vierte Sinnmöglichkeiten, die gerade nicht an der Zeit sind.

Wer der Stimme lauscht, die aus der Stille zu ihm spricht, wird seine Zeit behutsam einteilen – austeilen an den Sinn, der in ihr schwingt; an nicht mehr und nicht weniger. Er ist der »Mächtige«, der sogar die Macht hat, verlockende Offerten des Lebens abzulehnen, wenn sie in seine Zeit nicht hineingehören.

Vom Zuschauen-Müssen

Wir haben Ohnmachsgefühle kennengelernt im Zusammenhang mit Utilitätsstreben, Erwartungsängsten und auszehrendem Stress. Das Schwierige dabei ist überall ein gewisses Zuschauen-Müssen. Manchmal muss man zuschauen, wie sinnvolles Handeln bei allem guten Willen wenig einbringt. Manchmal muss man zuschauen, wie etwas Schweres aus der Zukunft unverhinderbar auf einen zukommt. Und manchmal muss man zuschauen, wie wertvolle Lebenschancen vorübergleiten, weil sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ethisch vertretbar nicht aufzugreifen sind.

Das schlimmste Zuschauen-Müssen aber betrifft die Entscheidungen eines anderen Menschen, der einem nahesteht und der sich in irgendeiner Weise sukzessive ruiniert. Hier ist Ohnmacht nicht nur ein Gefühl, sondern ein Faktum. Jemand, den man liebt, verfügt über Intelligenz und mehrfache Talente und ist zu faul zum Lernen und Üben für Schulabschlüsse. Jemand, den man liebt, ist jung und sportlich und verstrickt sich in Kriminalität und Drogenabhängigkeit. Jemand, den man liebt, ist alt und gebildet, betätigt sich jedoch weder körperlich noch geistig mehr und »versumpft«. Jemand, den man liebt, erhält Unterstützung von vielen Seiten und ist niemals zufrieden. Die Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen. Die Trauer und auch Wut des Ohnmächtig-zuschauen-Müssenden ist ungeheuerlich.

Hier gilt die Faustregel, dass jeder, der etwas nicht ändern kann, sich selbst zu ändern hat. Anthony de Mello ließ in seinem Weisheitsbuch »Zeiten des Glücks« (Herder, Freiburg, 1988) den Meister sagen:

»Das Glück ist ein Schmetterling. Jag ihm nach und er entwischt dir. Setz dich hin und er lässt sich auf deiner Schulter nieder.« »Was soll ich also tun, um das Glück zu erlangen?«, fragt der Schüler, der noch nicht verstanden hat. »Hör auf, hinter ihm her zu sein.« Der Schüler insistiert: »Aber gibt es nichts, was ich tun kann?« Da bringt der Meister die Faustregel auf den Punkt: »Du könntest versuchen, dich ruhig hinzusetzen, wenn du es wagst.«

Wagen wir das? Statt hilflos-zähneknirschend zuzuschauen, uns ruhig hinzusetzen und unsere Nahestehenden anzunehmen, wie sie sind, ohne – durchaus wohlwollend – zu belehren, zu kritisieren, zu drohen oder sie gar zu ihrem Besten zwingen zu wollen? Einfach für sie da zu sein, freilich Grenzen ziehend, und dennoch mit Respekt vor ihrem ureigenen Suchen und Irren, Fallen und Aufstehen oder – Liegenbleiben. Möglicherweise strecken sie einmal die Hand aus und bitten um unsere Hilfe, die wir natürlich gerne gewähren. Ja, vielleicht erholen sie sich ohne unsere Hilfe und retten ihr Leben, weil einer da gewesen ist, der Geduld mit ihnen gehabt und trotz allem an sie geglaubt hat. Wenn nicht, sind wir zumindest in der Liebe geblieben und sie haben es noch im Liegen-geblieben-Sein gespürt.

Nehmen wir uns zu Herzen, dass Ohnmachtsgefühle im seelischen Bereich Indikatoren für Veränderungsanstöße sind. Wir sollen uns verändern, und nicht die Welt soll sich für uns verändern. Wir sollen Vertrauen aufstocken, und nicht die anderen oder das Schicksal haben Vertrauensbeweise zu liefern. Wir müssen Stille zulassen, uns »hinsetzen« und neu orientieren, denn alles Haben-Wollen, Machen-Wollen und Zwingen-Wollen verjagt die Schmetterlinge des Glücks aus unserer Reichweite. Nicht nur Spekulationsabstinenz, auch Utilitätsabstinenz tut not.