Auf der Spur des Marmors - Anne K. Malkomes - E-Book

Auf der Spur des Marmors E-Book

Anne K. Malkomes

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Beschreibung

Thássos: grüne Perle im blauen Meer, weißer Marmor, Ferienidylle. Hier verbringt die Reisejournalistin Lena den ersten gemeinsamen Urlaub mit ihrem Liebsten, dem Kommissar Sokrates. Doch das Paar gerät in jede Menge Turbulenzen. Nicht nur Sokrates' Eltern, sondern auch sein alter Freund Sotiris, heute Polizeichef der Insel, und dessen zwielichtiger Bekannter werfen seltsame Schatten auf ihr Wiedersehensglück. Bald schon blicken Sokrates und Lena zusammen mit ihren neuen Freunden, dem rasenden Reporter Marios und der Kaffeerösterin Marina, auf der Spur des Marmors in Abgründe dunkler Machenschaften.

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Inhaltsverzeichnis

KTEL Kavála

Keramotí

Fährfahrt

Gut geschlafen?

Ein Strand mit gewissen Vorzügen

Korso von Liménas

Auf Inselrundfahrt

Ist der frisch?

Badeverbot

Alikís Schönheiten

Unheilig

Bootstour

Flammendes Inferno

Das Kafeneíon der alten Herren

Nest am Berg

Am Spieß gebraten

Löwenherz

Zeter und Mordio

Strandtag

Palatáki

Das Kafekopteío auf der Ecke

Oktopus und Ouzo

Allmorgendliches Ritual

Markttag in Prínos

Poseidon versus Demeter

Kloster Panagoúda

Mariés

Imám Baildí

Einen Oúzo auf den Schreck

Notizen und düstere Gedanken

Freiluftkino

Kástro

Mitternacht

Drei heiße Kaffees

Hochdruck, Baby!

Heúreka!

Marios’ Artikel

Selbstgebrannter

Sitzengelassen

Der letzte Puzzlestein

Im Kleid

Anhang

Anmerkung zu griechischen Namen und Ausdrücken

Glossar verwendeter griechischer Begriffe und Redewendungen

Intertextualität: Verweise und Bezüge

Lenas liebste lukullische Köstlichkeiten

Lebensweisheiten von Lenas Giagiá & Papoú

Schauplätze auf der Insel Thássos

KTEL Kavála

Ungeduldig trommelte Lena auf das Dach ihres Minis. Wo er nur blieb? Ihr Blick wanderte zu der großen Uhr, die über dem Eingang der KTEL-Station hing. Schon zwanzig Minuten Verspätung. Ungewöhnlich, denn normalerweise waren die griechischen Überlandbusse erstaunlich pünktlich. Lange konnte sie hier nicht mehr stehen. Parken in dritter Reihe direkt vor einer KTEL-Busstation war ein Wagnis, denn die Polizei war in diesem Bereich nie zimperlich. Heiß war es außerdem – 36 Grad im Schatten, selbst jetzt noch am frühen Abend – und sie hundemüde. Wie zur Bestätigung gähnte Lena herzhaft. Die vergangenen Wochen waren anstrengend gewesen.

„Eine veritable Tour de Force“, dachte Lena und unterdrückte erneut ein Gähnen, „aber wahnsinnig interessant!“

Thrakien war ihr Reise- oder besser Rechercheziel gewesen, eine Region, die touristisch zumindest in Deutschland wenig bekannt war. Das wollte ihr Verlag ändern und hatte Lena dorthin geschickt. Als Reisejournalistin mit griechischen Wurzeln – ihre geliebten Großeltern waren als Gastarbeiter von der Peloponnes nach Deutschland gekommen – war sie prädestiniert für diesen anspruchsvollen Auftrag, zumal sie im letzten Jahr den Reisführer über Korfu bravourös auf Vordermann gebracht und damit allen gezeigt hatte, was sie konnte.

Lena lächelte versonnen. Was hatte sie für einen wunderbaren Beruf! Vor wenigen Wochen war sie losgefahren, über die Balkanroute nach Griechenland und ab Sérres immer weiter gen Osten bis zur Grenze mit der Türkei. Was hatte sie auf ihrem Weg alles gesehen: touristische Perlen entlang ihres Weges auf dem Balkan – besonders gut hatte ihr Zagreb gefallen –, dann Kavála, die Stadt, die wie das Tor zwischen Orient und Okzident wirkte, schließlich Thrakien selbst mit den mächtigen Rhodopen, einem Gebirgszug, der diese Region im Norden begrenzte, den fruchtbaren Ebenen zwischen den Flüssen Néstos und Évros, hier wurde intensiv Landwirtschaft betrieben, es gab Tabak, Obst und Gemüse, Städte mit ihren Relikten aus byzantinischer und osmanischer Zeit, der Mischung aus christlicher und muslimischer Kultur, die überall spürbar und sichtbar war, aber auch die Zeugnisse eines friedlichen Zusammenlebens der drei abrahamitischen Religionen, und natürlich das thrakische Meer.

„In der sehr knapp bemessenen Zeit habe ich wirklich viel gesehen und ausgekundschaftet“, lächelte Lena stolz, „und nun vollenden wir den Lauf auf der Insel Thássos, der grünen Perle mit dem weißen Herzen, sozusagen auf der Spur des Marmors!“

Lautes Hupen ließ sie zusammenfahren. Hinter ihrem Mini stand der erwartete Bus aus Thessaloniki, dessen dicklicher Fahrer ihr nun wütend Zeichen machte, sie solle endlich wegfahren, damit er rangieren könne. Eilig schwang Lena sich in ihren Mini und fuhr einige Meter nach vorn.

Ihr Herz pochte aufgeregt. Er war da! Gleich, gleich würde sie ihn wiedersehen! Seine große, schlanke Gestalt, sein dunkel welliges Haar, sein markant geschnittenes Gesicht mit den ausdrucksvollen Augen, die vor Freude wie schmelzendes Caramel aussehen würden. Gleich, ganz gleich würde er sie sanft in seine Arme ziehen und ihr ins Ohr flüstern, dass er sie vermisst hatte. Gleich, gleich würde sie seinen wunderbar herben Duft riechen. Freude, aber auch ein klein wenig Wiedersehensangst durchwallte sie wie Bläschen in einem guten Champagner.

Umständlich manövrierte der Bus vor und zurück und parkte schließlich in einer Lücke zwischen zwei anderen Bussen. Lenas Blick ging an der Reihe der verspiegelten Fenster entlang, aber natürlich konnte sie ihn nicht erspähen. Mit einem letzten Röcheln erstarb der Motor. Dann öffneten sich die Türen und sogleich quollen die Passagiere ins Freie. Zuletzt entstieg der Busfahrer.

Lena reckte den Hals. Wo war er? Ihr Blick irrte über die Menge. Doch so gründlich sie diese auch musterte, sie konnte ihn nicht entdecken. Unruhig folgte sie mit den Augen dem Fahrer, der sich nun mit energischer Lässigkeit einen Weg durch die sich vor der Gepäckklappe drängelnden Fahrgäste bahnte. Nach einigen unfreundlichen Worten an die Umstehenden, die ihn behinderten, entriegelte er das Schloss, schob die Klappe nach oben und zog alsdann gemächlich ein Gepäckstück nach dem anderen heraus. Eine große rote Tasche ging an ein schmales Mädchen mit stumpf blondierten Haaren, das sich nun abplagte, durch das Gedränge zu seinem Freund zu kommen, der gelangweilt an einem Mofa lehnte und keinerlei Anstalten machte zu helfen. Ein dicker Mann mittleren Alters, dessen Hemd dicke Schweißflecke zierten, nahm seinen grünen Koffer entgegen. Zwei Backpacker ergriffen ihre Rucksäcke und schlenderten unternehmungslustig von dannen. Ein Pulk schwarz-gekleideter Omas umschnatterte den Busfahrer, der ihnen diverse vollgestopfte Plastiktaschen, mehrere Gemüsekörbe und schließlich noch drei dickbauchige Schnapsflaschen anreichte, die mit besonderer Vorsicht in Empfang genommen wurden, woraufhin sie sich – immer noch laut lärmend – gen Hafen entfernten.

Lena kniff die Augen zusammen. Stand er da nicht halb im Schatten der Gepäckklappe? Groß, schlank, mit dunklem, welligem Haar?

Das penetrante Hupen eines Autos, das direkt hinter ihr geparkt hatte, lenkte sie für einen winzigen Moment ab. Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter. Was machte dieser Dämel mit seinem protzigen, ekelgrünen Land Rover nur für einen Wind? Als sie wieder zum Gepäckfach schaute, war er verschwunden.

„Gamóto, verdammt“, schimpfte sie leise vor sich hin, „wo ist er denn nur hin?“

Wieder hupte es. Lena ignorierte es und starrte stattdessen weiterhin zum Bus. Irgendwo musste er doch sein! Er konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben.

Abermals erklang die Hupe. Dann jodelte in ihrem Rücken eine unangenehm hohe, spitze Stimme: „Geiá sou!“ Sekunden später, noch eine Spur spitzer und höher: „Geiá sou!“

„Panagía mou, hoffentlich erbarmt sich der Angesprochene bald! Das ist ja nervtötend …“

„Lenaki! Hier sind wir!“, drängte sich die Stimme aufdringlich in ihre Gedanken.

Lena erstarrte. Das konnte doch nicht sein. Ganz langsam drehte sie sich um.

„Lenaki!“ Neben dem Auto stand Sokrates’ Mutter und wedelte aufgekratzt mit beiden Armen. Schon spitzte sie die Lippen und schmatzte drei Küsschen in die Luft. „Lenaki, meine Liebe!“, rief sie klirrend. Ungläubig starrte Lena sie mit offenem Mund an. Da wurde abermals die Hupe betätigt und durch die Windschutzscheibe winkte freudestrahlend Lakis, der hinter dem Steuer saß und nochmals auf die Hupe drückte.

„Nun ist aber gut!“, tadelte ihn seine Frau sich ins Auto beugend und Lakis zog den Kopf zwischen die Schultern, „Immer musst du übertreiben. Nie …“

Lena hörte der Tirade nicht weiter zu. Ihr Blick glitt weiter ins Innere des Autos. Auf der Rückbank kauerte Sokrates. Schuldbewusst zog er den Kopf zwischen die Schultern. Entschuldigend hob er die Hände. Lena stand wie vor den Kopf geschlagen reglos da.

„Meropi“, hörte Lena Lakis entschieden zu seiner Frau sagen, „jetzt lass Sokrates doch einmal hinaus. Die beiden wollen sich bestimmt begrüßen!“

„Das hatte ich gerade vor“, schnappte Meropi, „ich bin ja nicht völlig stupide, auch wenn du das von mir glaubst!“ Energisch riss sie die Autotür auf, klappte den Beifahrersitz nach vorne und sagte zuckersüß zu ihrem Sohn: „Bitte, kardoúla mou, mein Augenstern!“

Keramotí

Schweigend saßen sie nebeneinander in Lenas mittlerweile brütend heißem Auto. Während Sokrates zerknirscht auf dem Sitz kauerte, kochte es in Lena. Entnervt schaltete sie die CD aus; Lady Gagas „Pokerface“ passte gerade überhaupt nicht.

„Verdammt noch mal“, fluchte sie laut und schlug auf das Lenkrad. Erschrocken zuckte Sokrates zusammen.

„Lena, agápi mou, Liebste“, murmelte er und streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus.

„Wag es nicht“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, sodass Sokrates erschrocken zurückzuckte. Weniger scharf fügte sie an: „Jetzt nicht!“

Die Stille tropfte durch die Minuten.

„Ich kann es einfach nicht glauben, dass … dass … Also echt!“ Wieder knallte ihre Hand aufs Lenkrad. Wie konnte ein gestandener Mann, zumal ein Kommissar, der auf Korfu hohes Ansehen genoss, nur auf die Idee kommen, zu einem Urlaub mit seiner Freundin, die er lange nicht gesehen hatte, da sie zwischen Korfu und Deutschland pendelnd eine Fernbeziehung führten, seine Eltern mitzubringen? Dafür gab es keinen triftigen Grund! Mit aller Macht drängte sie die aus ihr herausquellenden Worte, die stürmisch in ihr tobten, zurück. Sokrates war schnell beleidigt.

„Lena, es tut mir unendlich leid!“, sagte Sokrates und schaute sie direkt an. Lenas Blick bohrte sich in seinen. Wutblitze funkten.

„Mir auch“, knurrte Lena.

Wieder zerrannen die Minuten.

„Vielleicht fahren wir lieber mal los, nicht dass …“

„Echt jetzt“, blaffte Lena und fixierte Sokrates böse, „du meinst, ich muss auch schön darauf hören, was deine Mami sagt? So wie du?“ Lena war immer lauter geworden und sie wusste, dass sie ihn mit dem gerade Gesagten verletzte. Aber sie hatte es nicht zurückhalten können.

Sokrates’ Augen verfärbten sich in ein dunkles Maronenbraun, was, wie Lena wusste, ein untrügliches Zeichen dafür war, dass er nun wütend und gekränkt war.

„Lass uns fahren“, sagte er in kühlem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„Du hast mir gar nichts zu sagen“, wollte sie erwidern, doch dann sah sie die Polizeistreife, die Sokrates anscheinend schon vorher entdeckt hatte, ließ den Mini an und fuhr los.

Auf der Fahrt durch Kavála, vorbei am Hafen, unter dem Aquädukt hindurch und die breite Ausfallstraße entlang schwieg Sokrates beharrlich. Auch Lena war jegliche Lust vergangen. Sie hatte es sich so schön ausgemalt: die überschäumende Freude bei ihrem Wiedersehen, wenn sie sich wieder in den Armen halten und im Kuss des anderen versinken konnten. Endlich, endlich ihn wieder spüren, spüren, dass sie zusammengehörten. Natürlich hatte sie auch ihre Entdeckungen, die sie in den vergangenen beiden Tagen in und um Kavála gemacht hatte, mit ihm teilen wollen: die faszinierende Stadt Kavála, die als Kolonie der Insel Thássos, wohin sie jetzt unterwegs waren, erbaut worden war und erst einige Jahrhunderte später Eigenständigkeit gewann, deren Sehenswürdigkeiten – das von Suleiman im 16. Jahrhundert erbaute Aquädukt, das sich heutzutage unvermittelt aus den Straßenzügen erhob, die byzantinische Festung, die auf der Kuppe der felsigen Halbinsel, an deren Hängen sich die Häuser und Gassen der Altstadt schmiegten, thronte und in der heute allerlei Freiluft-Veranstaltungen stattfanden, die schön angelegte Hafenpromenade –, das nur wenige Kilometer von Kavála entfernte antike Phílippi mit seiner wechselvollen Geschichte aus Berühmtheit und Bedeutungslosigkeit – zunächst wegen seiner Silber- und Goldminen zu Geltung und Reichtum gekommen, dann in Vergessenheit geraten, darauf eine zweite Blüte als Octavians römische Kolonie, schließlich gründete Paulus hier eine seiner Gemeinden (siehe Philipper-Brief im Neuen Testament) –, das fruchtbare Néstos-Delta, das sie gleich auf ihrem Weg zur Fähre durchqueren würden, mit seiner bizarren ökologischen Geschichte, sie hatte ihn aufmerksam machen wollen auf die vielen Störche, die sogar auf Kirchtürmen nisteten, auf die Bäckereien, die sich an der Hauptstraße von Néa Karváli aufreihten und sich auf die Herstellung von Kourabiédes verlegt hatten und von denen Lena eine sogar besichtigt und das leckere Gebäck ausgiebig getestet hatte, das wunderbare kleine Café im Schatten einer mächtigen Platane dort, spezialisiert auf Bougátsa, die, egal ob süß oder herzhaft, ein Gedicht war.

Tränen drückten in ihren Augen, aber Sokrates saß wie versteinert auf dem Beifahrersitz und schwieg eisern. Erst als sie sich Néa Karváli näherten, räusperte er sich.

„Lena, es tut mir wirklich leid! Das kannst du mir glauben. Ich konnte nicht … es war irgendwie vertrackt. Und dann hatte Mutter schon alles organisiert und gebucht und …“

„Und da sind wir nun“, vollendete Lena Sokrates’ Rede.

Sokrates zuckte hilflos mit den Schultern. „Da sind wir nun“, bestätigte er.

„Wieso hast du mir nicht wenigstens etwas gesagt? Mich vorgewarnt?“, stieß Lena mühsam ein Zittern ihrer Stimme unterdrückend hervor.

„Wollte ich, aber dann dachte ich, dass … dass du bestimmt so sauer sein würdest, dass du … dass du …“, stotterte er und stieß dann hervor, „ich hatte einfach Angst, dass du abreisen würdest!“

Lena schaute ihn sprachlos an. Abreisen? Ihn nicht sehen? Das wäre ganz sicher keine Option gewesen, oder?

„Ich hatte Angst, dass du einfach abreisen würdest“, wiederholt er mit leiser Stimme.

„Und jetzt?“, fragte sie bedrückt, „Unser Wiedersehen hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt, weißt du!“

„Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm“, meinte Sokrates hoffnungsvoll, woraufhin Lena am liebsten lauthals gelacht hätte. Dass es nicht schlimm würde, konnte auch nur Sokrates glauben. Nicht schlimm! Es würde schlimmer als schlimm werden – die Hölle! Alleine, was Meropi beim Einsteigen in ihr Auto gesagt hatte, war für Lena ausreichend, um sich keinerlei Illusionen bezüglich eines harmonischen Miteinanders hinzugeben. „Wir fahren schon mal los“, hatte Meropi angeordnet, „wir sehen uns dann gleich in Keramotí zum Sardéles-Essen. Gegrillte Sardinen sind die dortige Spezialität.“ An Lena gewandt hatte sie noch maliziös hinzugefügt: „Das wusstest du sicherlich nicht.“

„So eine Frechheit!“, dachte Lena, „Was wäre ich denn für eine Reisejournalistin, wenn ich nicht recherchieren …“

„Sie bleiben auch nur vier Tage“, unterbrach Sokrates ihre Gedanken.

Lena schluckte. „So?“, sagte sie betont ruhig, „Nur vier Tage. Na dann.“ Sie gab Gas.

„Paidiá“, hörten sie Meropi, kaum dass sie ganz aus dem Auto waren. „Paidiá, hierher!“ Meropi thronte im ersten Restaurant am Platze. Um sie wieselten drei Kellner, die sich eifrig um ihr Wohlbefinden kümmerten: einer schob ihr ein weiteres Sitzkissen unter, der nächste brachte den Ventilator in die richtige Position und der dritte servierte die Getränke. Lena schüttelte den Kopf. Das war typisch für diese Frau: In einer gerammelt vollen Taverne trotzdem exklusiv wie eine Königin bedient zu werden. Wie schaffte sie das nur?

Lakis war in der Zwischenzeit aufgesprungen, er hatte sowieso eher deplatziert neben seiner Frau gesessen, und war ihnen entgegengekommen.

„Lena“, sagte er, ergriff erst sanft ihre Hand, zog sie dann aber in seine Arme und küsste sie herzlich auf die Wangen. „Es tut mir leid“, flüsterte er ihr ins Ohr, „aber dennoch schön, dich zu sehen.“ Er schob sie von sich und sah sie entschuldigend an.

Lena konnte nur nicken. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals. „Ach Lakis“, dachte sie, „dich mag ich ja auch richtig gern.“

„Eláte, eláte! Kommt her!“, ließ sich Meropi vernehmen.

„Wir lassen sie besser nicht warten“, flüsterte Lakis, zwinkerte ihr verschwörerisch zu und zog sie dann mit sich zum Tisch.

„Bestellt ist schon. Natürlich die Spezialität!“, stellte Meropi fest, als sie saßen. Ihr Blick heftete sich auf Lena: „Du weißt schon. Sardéles!“ Lena lag bereits eine patzige Antwort auf der Zunge, doch Meropi sprach schon weiter: „Ist es nicht herrlich hier? Die Sardinen sollen ein wahres Gedicht sein. Sophias Eltern haben sehr gut von diesem Lokal gesprochen …“

„Sophia“, dröhnte es in Lenas Ohren. Sophia, diese Zimtzicke, und Meropi, ihre Verbündete. An der Wiege hatten die Mütter ihre Kinder Sophia und Sokrates nach alter, hinterwäldlerischer Tradition einander versprochen. Wie eine Hyäne hatte Meropi deshalb jedes Mal nach Lena geschnappt, sobald diese ihren Plänen in die Quere gekommen war. Nicht Lena sollte ihre Schwiegertochter werden, sondern Sophia! Welche Chance hatte Lena gegen diese unheilige Allianz? Die Welt um sie begann zu schwanken. Meropis Giftspitze hatte zielsicher getroffen. Da spürte Lena Sokrates’ kühle Hand, die sich auf die ihre legte, so als wolle er sagen: „Dich liebe ich!“ Ihre Welt beruhigte sich wieder.

Statt Meropi, die vor sich hinplapperte, weiter zuzuhören, ließ Lena ihren Blick schweifen, Sokrates’ Hand angenehm auf der ihren. Wie pittoresk und gleichzeitig hektisch dieses Örtchen war. Dominiert wurde Keramotí eindeutig von Schiffen. Unweit ihres Tisches ragte rechterhand der Kai, an dem kleine und nicht wenige große Fischerboote festgemacht hatten, ins Wasser. Auf einigen Booten wurden Vorbereitungen zum Auslaufen getroffen; andere Fischer saßen dekorativ im Abendlicht auf der Mole und flickten Netze. Linkerhand war der solide Landungsplatz für den Fährbetrieb mit der Insel Thássos. Die großen und zugleich filigran wirkenden Fähren legten unermüdlich an und ab. Gerade landete wieder eine an. Die örtliche Polizei hatte wie in solchen Fällen üblich ihren Auftritt: lautstark mit ihren Pfeifen trillernd agierte man fieberhaft, allerdings täppisch wirkungslos. Die vom Schiff drängenden Autos verkeilten sich ineinander, weil jeder schneller als der andere vom Schiff sein wollte, und so dauerte es eine Weile, bis das Knäuel sich entwirrte und der Verkehr endlich in halbwegs geordneten Bahnen, freilich laut hupend durch den Ort abfloss. Gleichzeitig staute sich vor den winzigen Ticketschaltern die Autos, die zur Insel wollten, in den Ort hinein und sorgten für zusätzliches Chaos, das man ebenfalls mit viel Getriller und Gehupe zu lösen versuchte.

Lena beobachtete gerade, wie ein schwerer Laster mit einem einzigen imposanten Marmorblock auf der Ladefläche von der Fähre rumpelte, als Meropi einen spitzen Schrei ausstieß.

„Gamóto! Diese verdammten Mücken!“, fluchte sie gar nicht fein und schimpfte: „Dieses Lokal sollte doch dringend etwas gegen diese Plagegeister unternehmen!

Nicht wahr, Laki!“ Auffordernd blickte sie ihren Mann an. Doch der zuckte nur mit den Achseln. „Natürlich“, geiferte sie, „die Herren sind wieder einmal nicht betroffen. Also muss ich mich wieder selbst darum kümmern. Wo ist nur dieser Kellner, wenn man ihn mal braucht?“ Hektisch sah sie sich um, wedelte mit den Armen und rief: „Bedienung!“ Als aber niemand sofort angesprungen kam, wandte sie sich an Lena: „Wenn die Weiblichkeit einen Nachteil hat, dann ist wieder keiner zuständig! Wir beide, nicht wahr Lena, wir beide müssen wieder leiden!“ Meropi warf Lena einen um Zustimmung heischenden Blick zu. Doch Lena reagierte nicht.

„Lena, Lena“, schnappte Meropis Stimme nach ihrer Aufmerksamkeit, „hörst du mir zu?“ Doch sie ließ Lena gar nicht zu Wort kommen und setzte unmittelbar fort: „Weißt du, Lenaki, unter den gegebenen Umständen hielten Lakis und ich es für geboten, dich besser kennenzulernen. Schließlich …“

„Mutter!“, fuhr Sokrates dazwischen. Er hatte sich hoch aufgerichtet und funkelte seine Mutter zornig an.

Meropi verstummte, allerdings nur kurz. „Ich meine ja nur! Lena soll doch wissen, dass wir nicht völlig grundlos …“

„Mutter“, sagte Sokrates warnend und dann: „Bitte!“

Meropi schluckte, dann sagte sie: „Laki, erzähl doch Sokrates, wie es um die Einnahmen unserer Kumquat-Plantagen bestellt ist.“ Sie nahm ihr Weinglas, lehnte sich zurück und richtete den Blick aufs Wasser.

„Mein Sohn, was soll ich sagen“, stotterte Lakis und machte sich dann doch, wie von seiner Frau angeordnet, an die Ausführung.

Lena hörte ihm nicht zu, denn sie rätselte, was das bedeuten sollte. Was hatte Meropi gemeint mit den gegebenen Umständen und besser Kennenlernen? Und wieso hatte das Sokrates so aufgeregt, dass er seiner Mutter fast den Mund verboten hatte? Das war ganz und gar untypisch für ihn, das brave Muttersöhnchen.

Fährfahrt

Auf einer der letzten Fähren nach Thássos hatten sie sich eingeschifft. Nun standen Sokrates und sie an der Reling und beobachteten das Ablegen. Meropi war lieber unter Deck gegangen, um einen Kaffee zu trinken, und Lakis ließ sie rücksichtsvoll, wie er war, allein und spazierte stattdessen über das hintere Deck. Wahrscheinlich genoss er einfach die Ruhe.

Lena musste schmunzeln. „Lakis ist schon ein besonderer Mensch“, dachte sie, „ich weiß zwar nicht, warum er sich gerade Meropi als Frau ausgesucht hat … Aber sonst gäbe es keinen Sokrates.“ Sie seufzte tief.

„Was gibt’s, agápi mou?“, raunte Sokrates und zog sie fester in seine Arme.

„Das weißt du“, sagte Lena resigniert.

„Ja, ich weiß.“

Sie schwiegen, jedoch war dies nicht unangenehm wie vorhin im Auto.

„Die Sardinen waren wirklich hervorragend. Das muss man zugeben.“

Sie sahen sich an und ein einmütiges Lächeln stahl sich auf ihre Münder und in ihre Augen.

Unter ihren Füßen erbebte das Schiff.

„Es geht los!“, rief Lena und wie immer, wenn sie auf dem Wasser unterwegs war, spürte sie ein angenehmes Prickeln. „Auf zu neuen Ufern!“

Langsam schob sich der massige Schiffskörper aus dem Hafen und ließ Keramotí mit seinen weißen Häusern, der kleinen Kirche, den Cafés und Lokalen, die sich an der Uferstraße aufreihten, hinter sich. Linkerhand schob sich die unverbaute, mit Kiefern bestandene Landzunge ins Wasser. An deren Rändern zog sich ein breiter Sandstrand, an dem die Bugwellen der Fähre ruhig ausliefen. Vereinzelt konnten sie Zelte zwischen den Bäumen und eine Party weiter den Strand hinunter ausmachen, ansonsten war der Strand leer.

„Schau mal“, sagte Sokrates und deutete auf den Horizont vor ihnen. Die fast schon im Meer versunkene Sonne färbte den Himmel in flammenden Farben. Gold funkelte und Rosa glühte. Dazwischen Möwen, die das Schiff umschossen. In einiger Entfernung lag Thássos als dunkler Umriss, in dem hie und da blinkende Lichter hüpften.

Gut geschlafen?

Obwohl Lena nicht sehr lange geschlafen hatte, war sie früh munter. Leise schlüpfte sie aus dem Bett und in ihre Klamotten, griff nach ihrer Kamera und verließ das Zimmer. An der Tür warf sie einen Blick zurück auf den leise vor sich hinschnarchenden Sokrates. Ein leises Lächeln glitt über ihr Gesicht. Die Nacht war dann doch noch schön und harmonisch gewesen. „Einklang der Körper“, dachte Lena versonnen, dann schloss sie vorsichtig die Tür.

Draußen auf dem schummrigen Gang blieb sie stehen, fummelte das Handy aus ihrer Tasche. Das blaue Bildschirmlicht warf gespenstisch Schatten, als sie ihre Nachrichten öffnete.

„Meine liebe Niki“, dachte Lena ärgerlich, „so leicht kommst du mir nicht davon. Keine einzige Warnung mir zukommen zu lassen! Schöne beste Freundin!“ Hastig tippte sie: „Wo war deine Warnung?!?! Lena“

Sie zögerte. Das sah ihrer Freundin gar nicht ähnlich. Sie kannten sich seit ewigen Zeiten und nie hatte Niki sie im Stich gelassen – trotz Tausender Kilometer zwischen ihnen. Zwar hatten sie sich nur im Sommer, wenn Lenas Großeltern das Auto und ihre Enkeltochter gepackt hatten und in ihre alte Heimat, dem kleinen Dorf auf der Peloponnes, zurückgekehrt waren, gesehen, aber ihrer innigen Vertrautheit hatte das von Kindesbeinen an keinen Abbruch getan. Angeblich, so behauptete jedenfalls Lenas Giagiá, hatten sie, als sie noch klein gewesen waren, einfach da weitergespielt, wo sie vor einem Sommer aufgehört hatten. Später dann waren unzählige Briefe hin- und hergegangen und ab und zu hatten sie sogar telefoniert, sodass sie stets alle Geheimnisse gekannt und jeden Kummer, jegliche Sorge und alle Freuden miteinander geteilt hatten. Gerne hatte Lenas Papoú lachend von ihren Streichen erzählt, die sie sogar über die Entfernung ausgeheckt hatten. Noch später waren sie zusammen aufgebrochen, Griechenland zu entdecken. Dabei hatte Niki den stolzen Korfioten Vassilis kennengelernt und schließlich geheiratet. Seitdem lebte Niki auf Korfu und arbeitete mit Mann und Schwiegereltern in deren bezauberndem Hotel. Vor anderthalb Jahren war Anna geboren worden und Niki hatte keine Sekunde gezögert, Lena zu deren Nouná, Patentante, zu machen – eine große Ehre.

„Obwohl ich mich damals so rar gemacht habe!“, überlegte Lena, „Wegen Sokrates, der auf Nikis Hochzeit mein Herz im Sturm erobert und dann gebrochen hat.“

Nie mehr, hatte sie sich daraufhin geschworen, hatte sie dieses vermaledeite Eiland betreten wollen, aber als Annas Nouná hatte sie wohl oder übel diesen Schwur brechen müssen.

„Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass Sokrates der Nounós werden sollte, dann …“ Lena kicherte glucksend. Gut, dass sie damals gefahren und Nouná geworden war, denn seitdem waren Sokrates und sie ein sehr, sehr verliebtes Liebespaar – trotz Fernbeziehung und Meropi!

Der Handybildschirm wurde schwarz und Lena stand plötzlich wieder im düstern Dämmerlicht des Flurs.

„Gamóto“, seufzte sie und entriegelte ihr Smart-phone. Der Text ihrer Nachricht pulsierte. Nikis Schweigen war ganz und gar untypisch. Ob etwas passiert war? Mit einem grimmigen Achselzucken schob Lena das diffus-dumpfe Angstgefühl beiseite und drückte entschlossen auf SENDEN.

Wenige Minuten später stand sie vor dem Hotel. Vor ihr bereitete sich ein Hafenbecken aus, welches im Halbrund wie die Bühne eines Amphitheaters von Häusern umsäumt wurde. Wie die Ränge erhob sich am gegenüberliegenden Ufer ein Hügel, auf dessen Spitze ein Kran emporragte. Durch das dicht wuchernde Buschwerk blitzten auf halber Höhe die Steine eines Theaters.

„Wenn mich nicht alles täuscht“ sinnierte Lena, „dann muss das dort drüben die alte Akropolis sein und dies hier der alte Hafen von Liménas. Alt nicht nur im Gegensatz zu dem neuen Fährhafen, wo wir gestern angekommen sind, sondern im Sinne von antik.“ Doch auf Anhieb konnte Lena keine antiken Fundamente im Wasser entdecken. „Irgendwo gibt es sie, jedenfalls habe ich davon gelesen. Der Großteil ist aber anscheinend überbaut mit des Griechen liebstem Baustoff: dem Beton.“ Missbilligend betrachtete sie die um das Hafenbecken laufende Kaimauer.

Auf dem klaren Wasser schaukelten verträumt Fischerbötchen. Kleine Fisch jagten durch das in der Morgensonne glitzernde Nass und manchmal durchbrachen sie die Oberfläche und hielten ihre Bäuche in die warmen Strahlen. Lena sog tief die Luft ein: sie war würzig und sommerlich und atmete eine friedvolle Ruhe. Eine Möwe segelte vorüber und ließ sich auf einer der beiden Signalleuchten am Hafeneingang nieder. Von hier aus ging der Blick hinüber bis zum Festland, wo im zarten Dunst des Morgens die Uferlinie von Keramotí zu erkennen war. Auf halber Strecke reckte sich das karg bewachsene Inselchen Thassopoúla aus dem Meer.

„Páme, los geht’s“, drängte sie sich schließlich selbst, „wenn ich vor dem Frühstück noch etwas sehen will!“ Doch zunächst schoss sie einige Bilder des malerischen Hafenensembles.

Wenig später stand sie an dem schmiedeeisernen Gitter, das ihr Ziel, die Ausgrabungsstätte, umzäunte. Das Areal war nicht sonderlich groß, stellte sie durch die Stäbe spähend fest. Im dichten, hohen Gras wuchsen Marmorsäulen und glänzten steinerne Bruchstücke. Hohe Bäume ließen ihre Kronen im seichten Wind rauschen. „Etwas verwildert“, dachte sie missmutig. Immer wieder ärgerte sie sich, wenn sie sah, mit welcher Nonchalance man Gebäude oder kulturelle Stätten in Griechenland brach liegen ließ. Der alten Substanz abträglich war außerdem, dass jeder Besucher ungehindert in den Ruinen herumklettern konnte. Zugegeben, es war natürlich phantastisch, so auf Tuchfühlung mit der Antike zu gehen. Aber wenn selbst die Aufseher keinen Respekt zeigten und sich auf den Steinen fläzten, um ihre Brotzeit einzunehmen, dann stand es schlimm um diese Relikte. Oder – wie oft auch bei privaten Bauten in Griechenland zu beobachten – man setzte für viel Geld z.B. ein neues Empfangsgebäude vor das archäologische Gelände und, anstatt es in Stand zu halten, ließ man es mit der Zeit vergammeln. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie fassungslos sie in dem verrottenden Eingangsbereich des Dion-Heiligtums gestanden hatte. An der heruntergekommenen Kasse hatte es einem schlecht gelaunt entgegengeknurrt, in den staubigen Regalen des Museumsshops waren wenige, dafür aber kitschige Souvenirs feilgeboten worden, die rein gar nichts mit diesem Ort, also Zeus als hier verehrter Gottheit oder Alexander dem Großen als prominentestem Bittsteller, zu tun hatten. Daneben das unvermeidliche Café, schmutzig, die Stühle und Tische auf der Terrasse halb kaputt und der penetrante Fréddo-Geruch hatte alles unheilig eingehüllt. Was für ein Schandfleck für dieses ansonsten bezaubernde archäologische Areal zu Füßen des Olymps! Andererseits war ihr nur zu bewusst, wie viel Geld eine solche archäologische Zone verschlang und dass Griechenland zurzeit andere Sorgen hatte. „Dennoch“, dachte sie trotzig, „das sind Schätze, die es zu bewahren gilt!“ Entschlossen wandte sie sich dem Eingang zu.

Nach über einer Stunde kehrte sie wieder dorthin zurück und erklomm ziemlich erhitzt die Steinstufen. Oben angekommen stand plötzlich Lakis vor ihr.

„Lena“, sagte er munter, „ich war mir nicht ganz sicher, ob du es wirklich bist!“ Herzlich küsste er sie auf die Wangen.

„Kaliméra, Laki“, sagte Lena verdutzt.

„So früh schon auf?“

„So wie du!“, lächelte Lena. Da Lakis sie weiterhin auffordernd ansah, fuhr sie fort: „Ich wollte in Ruhe hierherkommen, mich umsehen und Fotos machen.“

Lakis nickte zustimmend. Dermaßen ermuntert sprudelte es nun aus Lena heraus: „Es ist zwar eine Schande, wie verwildert diese Stätte ist, aber sie ist interessant! Es handelt sich hierbei um die antike Agorá, das ehemalige Zentrum der Stadt. Im gesamten Stadtgebiet von Liménas kannst du übrigens weitere archäologische Funde entdecken – z.B. das bedeutende Zeus-Hera-Tor, ein wichtiger Zugang zur Stadt, oder das Poseidon-Heiligtum. Hier“, Lena deutete auf die Ausgrabungsstätte, „in der Agorá, fanden religiöse Kulte statt, aber es war auch ein Platz, um Handel zu treiben oder zu diskutieren. Siehst du hier vorne gleich links die Säulen? Die bildeten den Tempel, Zeus gewidmet. Direkt geradeaus verläuft eine der Straßen. Schau nur, wie wundervoll die Steine verlegt wurden und immer noch ihren Zweck erfüllen! Ringsum das fast quadratische Areal verliefen Säulenhallen, die Stoá. Schade, dass die bis auf ein paar Säulen ganz verfallen sind. Weiter hinten im Gelände – man kann das von hieraus nicht sehen – befinden sich einige Altäre und alte Lagerhallen, Werkstätten und Handelshäuser. Das muss damals aufregend gewesen sein!“

„Aber auch beschwerlich“, bemerkte Lakis trocken, „ich lebe lieber heute und genieße die Bequemlichkeiten eines schönen Hotelfrühstücks.“ Verschmitzt zwinkerte Lakis Lena zu. „Páme? Gehen wir?“

Angeregt über das antike Thássos plaudernd betraten Lakis und Lena den Frühstücksbereich des Hotels, wo sie auf eine sauertöpfisch blickende Meropi trafen. Sie hatte trotz des Andrangs einen der besten Plätze gekapert und sich hinter einem überbordend gefüllten Frühstücksteller verschanzt.

„Fast wäre ich vor Hunger gestorben!“, rief sie theatralisch, sodass einige andere Frühstücksgäste überrascht zu ihnen herübersahen, „Was müsst ihr euch auch immer herumtreiben!“

„Dir auch einen schönen guten Morgen“, erwiderte Lakis und setzte sich.

„Kaliméra“, grüßte auch Lena, blieb aber unschlüssig stehen.

Ohne den Gruß zu erwidern, befahl sie: „Kátze, Lena! Setz dich! Sokrates wird wohl auch gleich erscheinen! Ich weiß gar nicht, was ihn so erschöpft hat, dass er bis in den späten Morgen schlafen muss!“ Ein missbilligender Blick traf Lena, die zutiefst errötete.

Zum Glück betrat in diesem Moment Sokrates die Szene. Sogleich sprang Meropi auf und flatterte auf ihn zu, herzte ihn ausgiebig und schob ihn dann wie einen kleinen Jungen zum Tisch. Abschätzig verfolgten weitere Gäste das Schauspiel.

„Kardoúla mou, mein Augenstern, hast du gut geschlafen? Das Frühstück ist ganz hervorragend!“, flötete sie. „Schau mal, ich habe dir hier schon alles zusammengestellt.“ Damit drückte sie Sokrates auf den letzten freien Platz am Tisch und schob ihm den randvollen Teller zu. „Gerettet habe ich das für dich, denn die anderen Gäste sind immer so gierig. Die besten Bissen sind ja immer sofort weg!“ Euphorisch klatschte sie in die Hände, was von einer Vielzahl der Frühstücksbesucher mit einem verächtlichen Grinsen quittiert wurde. Auch die Angestellten des Hotels, die mit mürrischen Gesichtern und keinem freundlichen Wort die Gäste bedienten, runzelten spöttisch die Augenbrauen.

„Kaliméra, Mama! Kaliméra, Papa!“, begrüßte Sokrates trocken seine Eltern. Dann beugte er sich zu Lena und flüsterte ihr zärtlich etwas ins Ohr, worauf Lena rot wie eine Tomate anlief.

„Sokrati“, hauchte sie empört und wurde noch eine Spur röter.

Nach dem hervorragenden Frühstück mit allerlei lokalen Leckereien, wie Bougátsa, Oliven und Honig, saßen sie mit Blick auf den alten Hafen vor dem Hotel auf der Terrasse im Schatten. Meropi hatte darauf bestanden, noch einen Kaffee zu trinken, was Lena sehr entgegenkam, da sie Kaffee liebte. Ihre Giagiá hatte immer gesagt: „O kafés xalarónei ta névra; Kaffee beruhigt die Nerven.“ Heute konnte Lena das schwarze Gebräu auch gut wegen dessen vitalisierender Wirkung gebrauchen. Eine zu kurze Nacht und nun zudem ein behaglich voller Bauch machten sie schläfrig.

„Für uns alle ist es besser, wenn wir heute einen Strandtag einlegen!“, bemerkte Meropi, „Es war doch gestern alles sehr anstrengend! Die lange Fahrt und die Hitze!“

Niemand protestierte.

„Ein schöner Strand soll hier ganz in der Nähe sein, habe ich gelesen“, sagte Lena.

Abwartendes Kopfwackeln allerseits.

„Der sogenannte Marble Beach, der Marmor-Strand, über eine Piste von Makrýammos aus zu erreichen“, fügte Lena hinzu, „ein wundervoller Auftakt für einen Besuch auf der Marmor-Insel Thássos. Weißer Marmorsand und türkisblaues Meer und ringsum grüne Kiefern.“

„Interessant, interessant“, erwiderte Meropi und wiegte ihren Kopf nachdenklich. Sokrates und Lakis nickten zustimmend.

Geräuschvoll schlürfte Meropi den Rest ihres Kaffees, erhob sich und konstatierte: „Fahren wir zum Strand Agía Iríni!“ Dann rauschte sie davon.

Ein Strand mit gewissen Vorzügen

„Ich glaube kaum, dass mir dieser Strand gefällt!“, schimpfte Lena.

„Schauen wir ihn uns doch erst einmal an“, begütigte Sokrates und griff nach ihrer Hand, die sie ihm sofort entzog. „Wir können außerdem jederzeit wegfahren“, schob er werbend hinterher.

„Drei gegen eine – als ob wir nicht einfach …“

„Du weißt genau, dass das nicht so einfach ist“, entgegnete Sokrates ernst.

„Ja, ja“, nuschelte Lena bewusst undeutlich, „wenn Vater und Sohn unter dem Pantoffel stehen …“

„Das habe ich gehört“, sagte Sokrates streng, „das ist nicht gerecht. Und gemein erst recht!“

Lena drehte sich von ihm weg und sah schmollend aus dem Beifahrerfenster. Es fiel ihr aber schwer, ihren Groll aufrecht zu erhalten, denn die Inselhauptstraße kurvte durch eine bestechend schöne Natur. Immer wieder blinkte das blaue Meer, grüne Kiefern sprenkelten die goldenen Lichtstrahlen schattig, manchmal konnte der Blick bis zum Festland schweifen, auf dem Meer zogen die Fähren ihre Bahn, rückwärts leuchtete Liménas im Sonnenschein.

„Schau einmal“, lenkte Sokrates ein und wies aus dem Fenster, „das müssen die Marmorbrüche sein. Wie weiß die im Grün der Kiefern funkeln.“

„Das sieht eher wie eine tiefe Wunde im Fleisch der Insel aus“, sagte Lena trotzig.

„So kann man das natürlich auch sehen“, erwiderte Sokrates resigniert.

Dann schwiegen sie, bis sie ankamen.

Sokrates war im Begriff auszusteigen, nachdem es ihm gelungen war, eine enge Parklücke zu ergattern und den Wagen unbeschadet hineinzumanövrieren, doch Lena hielt ihn am Arm zurück.

„Sokrati“, sagte sie und sah ihn entschuldigend an, „es ist mir einfach alles ein bisschen viel.“

„Ich weiß“, lenkte Sokrates ein, beugte sich zu ihr und gab ihr einen herzhaften Kuss.

„Sie ist schon reingegangen“, beantwortete Lakis die fragenden Blicke von Lena und Sokrates, „ich dachte, ich warte hier in Ruhe auf euch.“ Vielsagend hob er die Augenbrauen, ließ aber offen, ob er sich auf Meropi oder auf diese Örtlichkeit bezog.

„Vermutlich beides“, dachte Lena bei sich und musterte missmutig, was sich ihr präsentierte. Strand und Meer waren nicht zu sehen, weil sie abgeschirmt hinter Mauern und Zäunen sowie verschiedenen Aufbauten, deren Hässlichkeit aus Beton nur unzureichend von künstlichem Grün überdeckt wurde, lagen. Ein schmaler, dunkler Zugang, was vermutlich geheimnisvoll wirken sollte, führte auf das Areal. Vor dem Eingang drängte sich ein Pulk hipper, flirtbereiter Leute. Ihre knappen Shorts und Oberteile enthüllten muskelgestählte Körper, die ölig in der Sonne glänzten. Lena hasste solche Plätze, deren prollige Dekadenz, das Schwüle.

„So schlimm wird es schon nicht sein“, raunte Sokrates in ihr Ohr.

Lena schluckte schwer. „Schlimmer“, dachte sie, „oh Sokrates, viel schlimmer!“

„Dann wollen wir mal“, sagte Lakis ergeben und marschierte auf den Einlass zu.

Auf dem Gelände war es noch schlimmer als erwartet. Man hatte alles getan, um die einstmals hübsche Bucht in eine unnatürlich-künstliche Oase des schlechten Geschmacks zu verwandeln. Wege aus Beton und aus Holz steuerten die Besucherströme hin zu den Bars, in denen der Alkohol reichlich floss und kleine Speisen für reichlich Geld über den Tresen gingen. Liegen waren unter Sonnenschirmen aus Palmwedeln geklemmt, Sitzsäcke stapelten sich und die gerade modernen Himmelbetten standen in Reih und Glied. Mehrere Pools glitzerten chemisch in der Sonne, obwohl das Meer türkisblau lockte. Dazwischen Menschen über Menschen, von denen die Frauen sich für Strandnixen hielten und die Männer von sich glaubten, sexy wie Poseidon zu sein. Über allem schwebten aufgekratzte Stimmen, gurrendes Gelächter und das chillige Wummern sogenannter „cosy“ Musik – nervtötendes Geklimpere, mal jazzig, mal eher poppig. Immerhin waren die Palmen echt, die man zwischen Liegen und Wege gezwängt hatte, wenngleich sie keine typische Baumart für Thássos waren.

„Sokrati“, sagte Lena und blieb mitten auf dem Weg stehen, sodass hinter ihnen ein kleiner Stau entstand.

„Lena“, versuchte Sokrates sie weiterzuziehen, doch Lena bewegte sich keinen Millimeter weiter. Ungehalten drängelte man an ihnen vorbei und Lakis, der vor ihnen gegangen war, war mittlerweile von der Menge verschluckt worden.

„Ich kann und will hier nicht bleiben!“

„Endáxi, in Ordnung“, gab Sokrates schließlich nach, suchte in seinen Taschen nach dem Autoschlüssel, drückt ihn ihr in die Hand, „ich sag meinen Eltern Bescheid. Dann fahren wir woanders hin.“

„Du musst zugeben, Sokrati, dass das hier“, Lena lüpfte ihren Arm aus dem Wasser und wies auf das sie umgebende Smaragd aus Wasser und Wald, „unvergleichlich viel besser ist, oder?“

Doch Sokrates trieb auf dem Rücken im Wasser und hörte nichts.

„Na, warte, du Schuft“, sagte Lena, schwamm auf ihn zu und tauchte ihn unter.

Prustend kam Sokrates wieder an die Oberfläche und blickte in Lenas lachendes Gesicht.

„Du kleines, mieses Biest“, japste er und stürzte sich auf sie.

Später saßen sie auf dem Steg und ließen ihre Beine ins Wasser baumeln und die Sonne sie trocken. Bis auf eine Familie mit drei kleinen Kindern, die am Ufer spielten, war der Strand von Papalimáni leer. Hinter ihnen am Ufer lag verlassen ein Gebäude, was einstmals wohl Restaurant und Bar beherbergt hatte.

„Warum man wohl die Bewirtschaftung dieses Strandes aufgegeben hat?“, fragte Lena, „So idyllisch wie es hier ist?“

Wie zur Bestätigung sprang ein Fisch vor ihnen aus dem Wasser und schnappte nach einer Libelle, die über die sanften Wellen taumelte.

„Die Krise“, meinte Sokrates lakonisch.

„Furchtbar“, berichtigte Lena.

Sie schwiegen. Die Krise hatte Griechenland schwer zugesetzt. Jede Familie war von den harten staatlichen Sparmaßnahmen betroffen gewesen. Lena hatte sich oft gefragt, wie man quasi von einem Tag auf den anderen mit nur noch 60 Prozent des Lohns auskommen sollte, und sie hatte ihre Freunde und Bekannten in Griechenland bewundert, wie sie mit der Situation trotz allen Protests und aller Klage zurechtkamen. Froh konnte man sein, wenn man eine Wohnung oder ein Haus sein Eigen nennen konnte; da fiel wenigstens die Miete weg. Aber andere Lebenshaltungskosten blieben. Auch Besitz im Dorf war aufs Neue angesehen und wer einen Garten hatte, wurde wieder zum Selbstversorger. Lena schien es so, dass vor allem die Familien abermals enger zusammengerückt waren – notgedrungen. Die hohe Arbeitslosenquote gerade bei den jungen Erwachsenen hatte beispielsweise dazu geführt, dass sie länger bei den Eltern wohnten oder schlicht neuerlich bei ihnen unterkrochen. Keine angenehme Vorstellung, fand Lena, sich mit Mitte 20 wieder oder immer noch mit den Eltern arrangieren zu müssen.

Sicherlich, Griechenland hatte jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt. Staat und Menschen hatten Geld ausgegeben, was sie nicht hatten. Man hatte auf Pump gelebt. Ein Kredit da, ein Kreditchen hier, für ein neues Auto, einen Fernseher, das neuste Kinitó, Handy, oder staatlicherseits für ein überdimensioniertes, wie ein Kropf aufgeblähtes Staatswesen. Dass gefühlt jeder Beamter war – angefangen von den Lehrern über Verwaltungsleute bis hin zu Bus- und Benzinfahrern – war so ein Beispiel. Mit offenen Augen waren EU und Griechenland in die Krise geschlittert.

Leid taten Lena jedoch die Menschen, auch wenn sie manches Mal empört die Nase rümpfte, wenn sich Griechen lautstark beschwerten und keine Einsicht da zu sein schien, dass man über die eigenen Verhältnisse gelebt hatte, oder sich keinerlei nationale Solidarität und Zusammenhalt zeigte und jeder weiterhin nur an sich dachte. Dennoch: lebhaft erinnert Lena die langen Schlangen vor den Geldautomaten, an denen die Menschen bekümmert anstanden und hofften, Geld abheben zu können. Die gedrückte Stimmung vor und nach dem unseligen Referendum zum Verbleib in der EU, was der damalige griechische Premier Tsipras zwar initiiert, dann aber kurzerhand einfach ignoriert hatte. Schlimm waren für Lena auch manch hämischen Kommentare ihrer deutschen Freunde gewesen. Sie schienen sich daran ergötzen zu können, die Griechen pauschal als Faulenzer zu beschimpfen, ihnen vorzuhalten, mal ordentlich zu arbeiten, statt immer nur Siesta zu machen usw. Das stimmte so pauschal einfach nicht. Viele arbeiteten fleißig und bemühten sich, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Lena seufzte tief und erntete von Sokrates ein schiefes Grinsen.

„Krise, Krise, Krise“, feixte er, „von welcher sprechen wir überhaupt? Nach der Krise ist vor der Krise. Gemessen am Kaffeekonsum und den gut besuchten Cafés gibt es sowieso keine!“

Sokrates stupste sie aufmunternd in die Seite, doch Lena schaute immer noch ziemlich bedröppelt drein. Also wies Sokrates mit großer Geste auf die Bucht und rief enthusiastisch: „Diese düsteren Gedanken passen gar nicht in dieses herrliche Fleckchen Erde!“

Sokrates Gebaren wirkte so überzogen, dass Lena lauthals lachen musste. Ihre Erstarrung löste sich. Sokrates hatte recht. Keine düsteren Gedanken! Dieses Fleckchen Erde war zu bezaubernd: Die Bucht war nicht sonderlich groß, lediglich ein Einschnitt in die Küste mit einem schmalen Streifen Sand. Die Kiefern reichten bis fast ans Wasser und verströmten jetzt, am späten Nachmittag ihren würzigen Duft. Das Meer fiel sanft ab und glitzerte smaragdgrün. Der Blick ging bis zum gegenüberliegenden Festland. Auf dem Meer kreuzte ab und zu ein weißes Segelboot und die Fähren pendelten unermüdlich in weiter Ferne.

„Was geht es uns gut!“, rief Lena und warf die Arme in die Luft. Dann ließ sie sich vom Steg ins Wasser gleiten, ergriff Sokrates Beine und zog ihn ebenfalls ins kühle Nass.

Im Badezimmer rauschte das Wasser.

„Das dauert sicher ein bisschen. Da habe ich etwas Zeit, um …“, murmelte Lena und kramte in ihrer Tasche nach dem Laptop. Dann setzte sie sich im Schneidersitz aufs Bett, klappt ihn auf.

„Was muss ich notieren?“, überlegte sie, während sie darauf wartete, dass das Gerät startbereit war, „Zur Überfahrt etwas, das kann ich später machen. Aber meine Eindrücke von den Stränden an der Nordküste, die sollte ich festhalten. Jetzt sind sie noch frisch! Wir haben heute doch noch ganz schön was geschafft – und auch Schönes gesehen! Trotz Agiá Iríni!“

Bademöglichkeiten in und um Liménas

Stadtstrände:

Stadtstrand, gleich hinter dem alten Hafen: (noch nicht gesehen, ergänzen!)