Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 4: Sodom und Gomorrha - Marcel Proust - E-Book

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 4: Sodom und Gomorrha E-Book

Marcel Proust

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Beschreibung

In Band 4 der neuen Proust-Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erkennt der Erzähler endlich die Homosexualität des Baron de Charlus (die dem Leser nicht so neu sein dürfte) und die Doppelrolle der verfemten und zugleich etablierten "Invertierten"? die Marcel wie eine "Rasse" erscheinen, und zahlreicher als zuvor gedacht. Der Erzähler vergleicht sie mit den Juden; während die in Band 3 vieldiskutierte Dreyfus-Affäre nur mehr ein Thema der Salon-Konversation abgibt. Eine zweite Reise ins Seebad Balbec bringt Erinnerungen an die Großmutter, Liebesnächte mit Albertine, Einblicke in ein Homosexuellenbordell, die Aufnahme Marcels in den sich avantgardistisch gebärdenden Salon Verdurin in der Sommerfrische und - diesen Aussetzer des Herzschlags - die Ahnung von Albertines lesbischen Neigungen.

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Seitenzahl: 1351

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Marcel Proust

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Band 4 Sodom und Gomorrha

Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer

Reclam

2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960753-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010903-8

www.reclam.de

[5] Inhalt

Sodom und Gomorrha

Erster Teil

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Anhang

Zum vierten Band der Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

Inhaltsübersicht

Namenverzeichnis

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

[7]ERSTER TEIL

Erstes Erscheinen der Weibmänner, Abkömmlinge jener Einwohner Sodoms, die vom Feuer des Himmels verschont wurden.

Des Weibes wird Gomorrha und Sodom des Mannes sein.ALFRED DE VIGNY*.

Man wird sich erinnern, dass ich, bevor ich an jenem Tage (dem Tag, an dem die Soiree der Prinzessin von Guermantes stattfand) dem Herzog und der Herzogin von Guermantes den Besuch abstattete, von dem ich gerade erzählt habe, lange Zeit nach ihrer Rückkehr Ausschau gehalten und, während ich auf der Lauer lag, eine Entdeckung gemacht hatte, die ganz besonders Monsieur de Charlus betraf, aber auch für sich schon so bedeutend war, dass ich bis jetzt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich ihr den wünschenswerten Platz und Umfang geben kann, den Bericht darüber aufgeschoben habe. Ich hatte, wie schon gesagt, den wunderbaren, so bequem oben auf dem Haus eingerichteten Aussichtspunkt verlassen, von dem aus man die geschwungenen Hänge überblickt, auf denen man bis zum Hôtel de Bréquigny hinaufsteigt und die so heiter in italienischem Stil mit dem rosafarbenen Campanile geschmückt sind, der zur Remise des Marquis von Frécourt gehört. Als ich gemeint hatte, dass der Herzog und die Herzogin nun gleich zurückkehren würden, hatte ich es praktischer gefunden, mich auf der Treppe zu postieren. Ich trauerte ein wenig meinem hochgelegenen Platz nach. Doch zu dieser Stunde, kurz nach dem Mittagessen, gab es dazu weniger Anlass, denn ich hätte nicht, wie am Morgen, die winzigen Gemäldefiguren, zu denen aus der Ferne die Diener des Palais de Bréquigny et de Tresmes wurden, mit einem [8] Staubwedel in der Hand den langsamen Aufstieg entlang der steilen Höhe zwischen den großflächigen Tafeln durchscheinenden Glimmers vollführen sehen, die sich so gefällig von dem roten Massiv der Strebepfeiler abhoben. Mangels geologischen Anschauungsmaterials blieb mir wenigstens das aus der Botanik, und ich betrachtete durch die Fensterläden des Treppenhauses den kleinen Strauch der Herzogin und die kostbare Pflanze, die im Hof mit jener Beharrlichkeit ausgesetzt wurden, die man darauf verwendet, heiratsfähige junge Leute zum Ausgehen zu bewegen, und ich fragte mich, ob das schwerlich zu erwartende Insekt durch einen schicksalhaften Zufall doch noch den dargebotenen vernachlässigten Stempel besuchen würde. Die Neugier machte mich langsam, aber sicher kühner, ich ging bis zum Fenster im Erdgeschoss hinunter, das ebenfalls offen stand und dessen Läden nur halb geschlossen waren. Ich hörte deutlich Jupien, der sich zum Gehen fertig machte und mich hinter meiner Gardine nicht entdecken konnte, wo ich unbeweglich verharrte bis zu dem Augenblick, in dem ich mich jäh zur Seite warf aus Furcht, von Monsieur de Charlus gesehen zu werden, der auf dem Weg zu Madame de Villeparisis langsam den Hof überquerte, schmerbäuchig, leicht ergraut und im vollen Tageslicht sichtlich gealtert. Es hatte eines Unwohlseins der Madame de Villeparisis bedurft (eine Folgewirkung der Krankheit des Marquis de Fierbois, mit dem er selbst tödlich verfeindet war)*, damit Monsieur de Charlus zu dieser Stunde einen Besuch machte, womöglich das erste Mal in seinem Leben. Denn mit der Eigenwilligkeit der Guermantes, die, statt sich dem gesellschaftlichen Leben anzupassen, dieses ihren persönlichen Gewohnheiten entsprechend abwandelten (die sie für nichts Gesellschaftliches hielten und folglich für würdig, dass man vor ihnen jene wertlose Angelegenheit, das Gesellschaftliche, zurückstellte – so wie auch Madame de Marsantes nicht eigens einen Besuchstag hatte, sondern ihre [9] Freundinnen vormittags zwischen zehn und zwölf Uhr empfing), hatte der Baron diese Zeit für die Lektüre, das Stöbern nach Antiquitäten usw. reserviert und machte deshalb Besuche nur am Nachmittag zwischen vier und sechs Uhr. Um sechs Uhr ging er in den Jockey oder machte eine Spazierfahrt in den Bois. Kurz darauf wich ich noch einmal zurück, um nicht von Jupien gesehen zu werden; es war bald Zeit für ihn, ins Büro zu gehen, von wo er erst zum Abendessen heimkehrte, und das seit einer Woche auch nicht immer, denn seine Nichte war mit ihren Lehrlingen aufs Land zu einer Kundin gefahren, um dort ein Kleid fertigzustellen. Als mir dann klar wurde, dass niemand mich sehen konnte, beschloss ich, meinen Platz nicht mehr zu verlassen, aus Angst, das Wunder, falls es eintreten sollte, zu versäumen, nämlich die (über so viele Hindernisse, Entfernungen, Bedrohungen und Gefahren hinweg) nahezu unmögliche Ankunft des Insekts, das aus weiter Ferne als Botschafter zu der Jungfrau entsandt worden war, deren Erwartung sich schon so lange Zeit hinzog. Ich wusste, dass diese Erwartung nicht passiver war als die der männlichen Blüte, deren Staubgefäße sich spontan gedreht hatten, auf dass das Insekt den Pollen leichter empfangen könne; ähnlich würde die Blüten-Frau hier, falls das Insekt käme, kokett ihre »Griffel« beugen und ihm, um besser penetriert zu werden, unmerklich wie eine heuchlerische, aber entflammte Maid auf halbem Wege entgegenkommen. Die Gesetze der Welt der Pflanzen werden von immer noch höheren Gesetzen bestimmt. Wenn der Besuch durch ein Insekt, und das heißt die Einbringung des Pollens einer anderen Blüte, für gewöhnlich notwendig ist, um eine Blüte zu befruchten, so deshalb, weil die Autofekundation, also die Befruchtung der Blüte durch sich selbst, wie wiederholte Heiraten innerhalb der gleichen Familie zu Degeneration und Unfruchtbarkeit führen würde, während die Kreuzung, die durch die Insekten vorgenommen wird, den [10] nachfolgenden Generationen der gleichen Art eine ihren Ahnen noch unbekannte Lebenskraft verleiht. Jedoch, dieser Aufschwung kann überschießen, die Art sich außer Maßen entwickeln; doch so wie ein Gegengift vor der Erkrankung schützt, wie die Schilddrüse unseren Bauchansatz reguliert, wie die Niederlage den Hochmut büßen lässt, die Erschöpfung die Lust, und wie der Schlaf wiederum von der Erschöpfung erholt, ebenso steuert zur rechten Zeit ein ungewöhnlicher Akt der Autofekundation seine Drehung an der Schraube, seinen Tritt auf die Bremse bei und lässt die Pflanze zu der Norm zurückkehren, von der sie sich allzu weit entfernt hatte. Meine Überlegungen waren einer Richtung gefolgt, die ich später beschreiben werde, und ich hatte bereits aus der scheinbaren List der Pflanzen eine Folgerung über einen umfangreichen, unbewussten Teil des literarischen Werks gezogen, als ich Monsieur de Charlus sah, wie er bei der Marquise herauskam. Seit seinem Eintreten waren erst einige Minuten vergangen. Vielleicht hatte er von seiner alten Verwandten selbst oder auch nur durch einen Diener von der deutlichen Verbesserung oder gar vollständigen Heilung dessen erfahren, was bei Madame de Villeparisis nur ein Unwohlsein gewesen war. In diesem Augenblick, in dem er sich unbeobachtet wähnte und die Lider gegen die Sonne gesenkt hielt, hatte Monsieur de Charlus jene Spannung in seinem Gesicht gelöst, jene künstliche Vitalität gedämpft, die bei ihm die Belebung durch das Gespräch und die Willenskraft aufrechterhielten. Bleich wie eine Marmorstatue, hatte er eine kräftige Nase, seine feinen Züge erhielten nicht mehr durch einen absichtsvollen Blick eine andere Bedeutung, die die Schönheit ihrer Formgebung entstellte; nichts weiter mehr als ein Guermantes, schien er schon eine Skulptur, Palamède XV.*, in der Kapelle von Combray zu sein. Aber diese allgemeinen Züge einer ganzen Familie nahmen doch im Gesicht von Monsieur de Charlus eine vergeistigtere, vor allem aber sanftere Feinheit an. Es [11] tat mir leid für ihn, dass er für gewöhnlich mit all diesen Gewaltausbrüchen und unerquicklichen Absonderlichkeiten, mit Geschwätz, Härte, Überempfindlichkeit und Anmaßung die Liebenswürdigkeit und Güte, die sich in dem Augenblick, als er bei Madame de Villeparisis herauskam, so unbefangen auf seinem Gesicht ausbreitete, verfälschen, sie hinter einer aufgesetzten Brutalität verstecken sollte. So wie er in die Sonne blinzelte, schien er beinahe zu lächeln, und ich fand in seinem Gesicht, das ich nun entspannt und gleichsam in natürlichem Zustand erblickte, etwas so Liebevolles, so Wehrloses, dass ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, Monsieur de Charlus wäre sehr verärgert, wenn er wüsste, dass er beobachtet wurde; denn das, woran mich dieser Mann denken ließ, der so besessen war von Männlichkeit, der sich so viel darauf einbildete, dem alle Welt abscheulich effeminiert erschien, das also, woran er mich mit einem Mal denken ließ, war – so deutlich trug er vorübergehend deren Züge, Ausdruck und Lächeln – eine Frau!

Ich wollte gerade wieder meinen Platz verlassen, damit er mich nicht bemerken konnte; doch weder hatte ich dazu Zeit, noch war es notwendig. Was sah ich! Einander von Angesicht zu Angesicht in diesem Hof, wo sie sich mit Gewissheit noch niemals begegnet waren (da Monsieur de Charlus nur am Nachmittag in das Palais Guermantes kam, zu Uhrzeiten, in denen sich Jupien in seinem Büro befand), gegenüberstehend, schaute der Baron, der seine halbgeschlossenen Augen plötzlich weit geöffnet hatte, mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit den ehemaligen Westenschneider auf der Schwelle seiner Werkstatt an, während dieser, unversehens vor Monsieur de Charlus festgenagelt, angewurzelt wie eine Pflanze, mit verwunderter Miene den rundlichen Bauch des alternden Barons betrachtete. Aber noch erstaunlicher war, dass sich die Haltung von Jupien, nachdem Monsieur de Charlus die seine [12] verändert hatte, mit dieser wie nach den Gesetzen einer Geheimkunst in Einklang setzte. Der Baron, der nunmehr versuchte, den Eindruck, den er empfunden hatte, zu verbergen, sich aber trotz seiner vorgetäuschten Gleichgültigkeit nur ungern zu entfernen schien, ging, kam zurück, schaute ins Leere in einer Weise, von der er meinte, dass sie die Schönheit seiner Augen am besten zur Geltung bringe, und setzte eine blasierte, desinteressierte, lächerliche Miene auf. Jupien aber, der – in vollkommener Übereinstimmung mit dem Baron – sogleich den ergebenen und gutmütigen Ausdruck verlor, mit dem allein ich ihn kannte, hatte den Kopf zurückgeworfen, er gab seiner Gestalt eine vorteilhafte Haltung, stemmte mit grotesker Frechheit die Faust in die Hüfte, ließ sein Hinterteil hervortreten, nahm verschiedene Posen ein, und zwar mit einer Koketterie, wie sie auch die Orchidee für die durch unverhoffte Fügung eintreffende Hummel* hätte aufbieten können. Ich wusste gar nicht, dass er derart unsympathisch aussehen konnte. Aber ich wusste ebenso wenig, dass er in der Lage war, in dieser Art von Szene zwischen zwei Stummen auf Anhieb seinen Part zu spielen, der (obwohl er sich zum ersten Mal in der Gegenwart von Monsieur de Charlus befand) anscheinend seit langem einstudiert worden war; ohne Vorbereitung bringt man es zu einer solchen Perfektion nur, wenn man in der Fremde einen Landsmann trifft, mit dem sich dann die Übereinstimmung von ganz allein ergibt, selbst wenn man sich noch nie gesehen hat, da das Verständigungsmittel das gleiche ist.

Die Szene war im übrigen nicht eigentlich komisch, sie war von einer Fremdartigkeit oder, wenn man so will, Natürlichkeit durchdrungen, die allmählich an Schönheit gewann. Mochte Monsieur de Charlus auch eine geistesabwesende Miene aufsetzen und zerstreut die Lider senken, für Augenblicke hob er sie doch und warf auf Jupien einen erwartungsvollen Blick. Jedesmal jedoch (sicher weil er dachte, dass sich eine solche Szene an einem solchen Ort [13] nicht endlos in die Länge ziehen ließ, sei es aus Gründen, die man später verstehen wird, oder aber aus diesem Gefühl für die Kurzlebigkeit von allem heraus, das einen wünschen lässt, jedes Vorhaben möge sogleich gelingen, und welches das ganze Schauspiel einer jeden Liebe so anrührend macht), wenn Monsieur de Charlus Jupien betrachtete, bemühte er sich darum, seinem Blick einen Inhalt mitzugeben, was ihn unendlich unterschied von den Blicken, die für gewöhnlich auf eine Person gerichtet werden, die man kennt oder nicht kennt; er betrachtete Jupien mit der besonderen Eindringlichkeit von jemandem, der einem gleich sagen wird: »Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit, aber auf Ihrem Rücken hängt ein langer weißer Faden«, oder auch: »Ich müsste mich doch sehr täuschen, wenn Sie nicht auch aus Zürich sind, mir scheint, wir sind uns häufiger beim Antiquitätenhändler begegnet.«* In dieser Weise schien Monsieur de Charlus mit seinem Augenspiel alle paar Minuten eindringlich die gleiche Frage an Jupien zu richten, ähnlich diesen fragenden, in gleichbleibenden Abständen unendlich oft wiederholten Phrasen Beethovens, die – mit einem übertriebenen Luxus an Vorbereitung – dazu bestimmt sind, zu einem neuen Motiv, einem Wechsel der Tonart, einer »Reprise« überzuleiten. Doch die Schönheit der Blicke von Monsieur de Charlus und von Jupien rührte gerade daher, dass diese Blicke im Gegenteil, vorläufig zumindest, nicht den Zweck zu haben schienen, zu irgendetwas zu führen. Diese Schönheit – hier sah ich zum ersten Mal, wie der Baron und Jupien sie offenbarten. In den Augen des einen wie des anderen hatte sich der Himmel nicht von Zürich, sondern der irgendeiner orientalischen Stadt ausgespannt, deren Namen ich noch nicht erraten hatte. Was auch immer der Punkt sein mochte, der Monsieur de Charlus und den Westenmacher noch zurückhalten konnte, ihre Übereinkunft schien geschlossen und diese überflüssigen Blicke nur rituelle Vorspiele zu sein, [14] ähnlich den Festen, die man vor einer bereits abgemachten Hochzeit gibt. Noch naturnäher – und die Vielzahl dieser Vergleiche ist selbst nur umso natürlicher, als derselbe Mensch, wenn man ihn über einige Minuten hinweg beobachtet, nacheinander erst ein Mensch, dann ein Vogelmensch, dann ein Insektenmensch, und so weiter, zu sein scheint – könnte man auch von zwei Vögeln sprechen, einem Männchen und einem Weibchen, bei denen das Männchen sich anzunähern suchte, während das Weibchen – Jupien – mit keinem Zeichen mehr auf diese Tricks einging, sondern seinen neuen Freund ohne jegliches Erstaunen betrachtete, achtlos und unverwandt, und sich damit begnügte, sein Gefieder zu glätten, was es zweifellos von dem Augenblick an für betörender und einzig zweckmäßig hielt, in dem das Männchen seinen ersten Schritt getan hatte. Schließlich schien diese Gleichgültigkeit Jupien nicht mehr zu genügen; von der Gewissheit, erobert zu haben, ist es nur ein Schritt, sich verfolgen und begehren zu lassen, und Jupien ging zur Einfahrt hinaus, entschlossen, sich auf den Weg zu seiner Arbeit zu machen. Doch nicht ohne zuvor zwei- oder dreimal den Kopf gewendet zu haben, entschlüpfte er auf die Straße, auf die auch der Baron aus Angst, er könnte die Spur verlieren (wobei er mit wichtigtuerischer Miene leise vor sich hin pfiff und dem halb betrunkenen Concierge, der Gäste in seiner Kaffeeküche bewirtete und ihn nicht einmal hörte, ein »Auf Wiedersehen« zurief), schleunigst hinausstürzte, um ihn einzuholen. Im gleichen Augenblick, in dem Monsieur de Charlus pfeifend, wie eine dicke Hummel, durch das Tor verschwunden war, kam eine andere, eine richtige diesmal, in den Hof. Wer weiß, ob es nicht diejenige war, die von der Orchidee seit so langer Zeit erwartet wurde und die ihr den so raren Pollen bringen sollte, ohne den sie Jungfrau bleiben würde? Doch ich wurde davon abgelenkt, den Liebesspielen des Insekts zu folgen, denn nach einigen Minuten wurde meine Aufmerksamkeit [15] wieder von Jupien in Anspruch genommen; Jupien kam zurück (vielleicht um ein Paket zu holen, das er später mitnahm und das er infolge der Aufregung, in die er vom Erscheinen des Barons versetzt worden war, vergessen hatte, vielleicht auch einfach aus einem natürlicheren Grund), gefolgt vom Baron. Dieser war entschlossen, die Dinge voranzutreiben, und bat den Westenschneider um Feuer, bemerkte jedoch sogleich: »Da bitte ich Sie um Feuer, aber ich sehe, dass ich meine Zigarren vergessen habe.« Die Gesetze der Gastfreundschaft obsiegten über die Regeln der Koketterie. »Treten Sie ein, Sie werden alles bekommen, was Sie wünschen«, sagte der Westenmacher, auf dessen Gesicht die Verächtlichkeit der Freude wich. Die Tür der Werkstatt schloss sich hinter ihnen, und ich konnte nichts mehr verstehen. Ich hatte die Hummel aus den Augen verloren, ich wusste nicht, ob sie das Insekt war, das der Orchidee fehlte, aber ich zweifelte nicht mehr an der ans Wunderbare grenzenden Möglichkeit für ein sehr seltenes Insekt und eine in Gefangenschaft lebende Pflanze, sich zu vereinigen, jetzt, nachdem Monsieur de Charlus (als schlichter Vergleich für schicksalhafte Zufälle, ganz gleich welcher Art, und ohne den geringsten wissenschaftlichen Anspruch, gewisse Gesetze der Botanik mit dem in Beziehung zu setzen, was man meist sehr unzulänglich als Homosexualität bezeichnet*), der schon seit Jahren nur zu den Stunden in dieses Haus kam, in denen Jupien nicht da war, durch den Zufall eines Unwohlseins von Madame de Villeparisis dem Westenschneider und in ihm jenem Glück begegnet war, das Männern von der Art des Barons von einem jener Wesen vorbehalten wird, die sogar, wie man sehen wird, unendlich viel jünger und schöner als Jupien sein können, dem Mann, der dafür vorgesehen ist, dass auch sie ihr Teil an den Wonnen dieser Welt erhalten: dem Mann, der nur ältere Herren liebt.

Was ich hier gerade gesagt habe, ist übrigens etwas, was ich erst [16] einige Minuten später verstehen sollte, so eng ist mit der Wirklichkeit diese Eigentümlichkeit verbunden, unsichtbar zu sein, bis irgendein Umstand sie davon befreit hat. Jedenfalls war ich einstweilen sehr ärgerlich darüber, dass ich die Unterhaltung zwischen dem ehemaligen Westenschneider und dem Baron nicht mehr hörte. Da fiel mein Blick auf die zu vermietende Werkstatt, die von der Jupiens nur durch eine äußerst dünne Zwischenwand getrennt war. Um dorthin zu gelangen, brauchte ich nur in unsere Wohnung hinaufzugehen, die Küche zu durchqueren, die Dienstbotentreppe bis in den Keller hinunterzugehen, ihm über die ganze Breite des Hofes zu folgen bis zu jenem Raum, in dem der Möbeltischler noch vor einigen Monaten seine Hölzer gestapelt hatte und in dem Jupien seine Kohlen unterbringen wollte, und die paar Stufen hinaufzusteigen, die in das Innere der Werkstatt führten. So würde ich die ganze Strecke in sicherer Deckung zurücklegen, niemand würde mich sehen. Dieses war der ratsamste Weg. Dennoch schlug ich ihn nicht ein, sondern umrundete im Freien, dicht an der Wand entlang, den Hof und bemühte mich dabei, nicht gesehen zu werden. Falls ich es tatsächlich nicht wurde, so verdanke ich das wohl eher dem Zufall als meiner Klugheit. Und für die Tatsache, dass ich eine derart unvorsichtige Entscheidung getroffen habe, wo doch die Strecke durch den Keller so sicher war, sehe ich drei mögliche Beweggründe, gesetzt den Fall, dass es überhaupt einen gab. Zuerst einmal meine Ungeduld. Dann vielleicht auch eine undeutliche Rückerinnerung an die Szene in Montjouvain, versteckt vor dem Fenster von Mademoiselle Vinteuil. Tatsächlich hatten die Dinge dieser Art, denen ich beiwohnte, in ihrem Verlauf immer einen höchst unvorsichtigen und unwahrscheinlichen Charakter, als ob solche Enthüllungen nur die Belohnung für eine, wenn auch zum Teil heimliche, Tat voller Risiken sein dürften. Und schließlich wage ich kaum, wegen seines kindischen Charakters, den dritten [17] Grund zu nennen, der, wie ich mir ziemlich sicher bin, unbewusst den Ausschlag gegeben hat. Seitdem ich, um den militärischen Prinzipien Saint-Loups zu folgen – und sie widerlegt zu finden –, den Burenkrieg* mit großer Genauigkeit verfolgt hatte, war ich auch dazu gelangt, alte Expeditions- und Reiseberichte wiederzulesen. Diese Berichte hatten mich begeistert, und ich wendete sie auf das tägliche Leben an, um mir mehr Mut zu machen. Wenn Anfälle mich mehrere Tage und mehrere Nächte hintereinander nicht nur gehindert hatten, zu schlafen, sondern auch mich hinzulegen, zu essen und zu trinken, dann dachte ich in dem Augenblick, in dem die Erschöpfung und das Leiden so schlimm geworden waren, dass ich meinte, ihnen niemals mehr zu entrinnen, an diesen oder jenen Reisenden, der auf den Strand geworfen worden war, den, von unverträglichen Kräutern vergiftet, in seinen vom Meerwasser durchtränkten Kleidern Fieberschauer schüttelten und der sich doch nach zwei Tagen wieder besser fühlte und auf gut Glück seinen Weg wieder aufnahm, auf der Suche nach irgendwelchen Bewohnern, die sich womöglich als Menschenfresser herausstellen würden. Ihr Beispiel gab mir Kraft, gab mir die Hoffnung zurück, und ich schämte mich, einen Augenblick lang entmutigt gewesen zu sein. An die Buren denkend, die sich den englischen Armeen gegenüber sahen und doch nicht fürchteten, ihre Deckung in dem Augenblick zu verlassen, in dem sie offenes Gelände überqueren mussten, bevor sie wieder ein Dickicht erreichten, sagte ich mir: »Es wäre ja noch schöner, wenn ich ängstlicher wäre, wo doch der Kriegsschauplatz nur unser eigener Hof ist, auf dem ich, der sich wegen der Dreyfus-Affäre mehrfach furchtlos duelliert* hat, einzig den Beschuss durch die Blicke unserer Nachbarn zu befürchten hätte, die aber anderes zu tun haben, als in den Hof zu schauen.«

Doch als ich in der Werkstatt war und mich bemühte, auch nur das geringste Knacken der Dielen zu vermeiden, denn ich hatte [18] bemerkt, dass noch das leiseste Geräusch in Jupiens Werkstatt auch in meiner zu hören war, dachte ich darüber nach, wie unvorsichtig Jupien und Monsieur de Charlus gewesen waren und wie ihnen ein glücklicher Zufall zu Hilfe gekommen war.

Ich wagte nicht, mich zu rühren. Der Stallbursche der Guermantes hatte sich offenbar deren Abwesenheit zunutze gemacht, um in der Werkstatt, in der ich mich befand, eine Leiter unterzubringen, die sonst im Schuppen stand. Und wenn ich sie hinaufgestiegen wäre, so hätte ich das Oberlicht öffnen und so gut hören können, wie wenn ich in Jupiens Werkstatt selbst gewesen wäre. Aber ich fürchtete, ein Geräusch zu machen. Außerdem war es unnötig. Ich brauchte nicht einmal zu bedauern, erst nach einigen Minuten in meiner Werkstatt angekommen zu sein. Denn aufgrund dessen, was ich zu Anfang in der von Jupien hörte und das nur in unartikulierten Lauten bestand, vermute ich, dass wenig Worte gewechselt wurden. Tatsächlich waren diese Laute so gewaltdurchdrungen, dass ich, wären sie nicht immer wieder eine Oktave höher von einer parallel verlaufenden Klage aufgegriffen worden, hätte glauben können, neben mir erwürge ein Mensch einen anderen, und dass dann der Mörder und sein wieder zum Leben erwecktes Opfer ein Bad nähmen, um die Spuren des Verbrechens auszulöschen. Später schloss ich daraus, dass es etwas ebenso Geräuschvolles wie den Schmerz gibt, nämlich die Lust, vor allem, wenn sich ihr – wo die Furcht nicht mitspielt, Kinder zu bekommen, was hier trotz des wenig beweiskräftigen Beispiels in der Legenda aurea* nicht der Fall sein konnte – Bemühungen um Reinlichkeit unmittelbar anschließen.* Nach ungefähr einer halben Stunde endlich (in deren Verlauf ich auf Samtpfoten* meine Leiter erklommen hatte, um durch das Oberlicht zu schauen, das ich jedoch nicht öffnete) entspann sich eine Unterhaltung. Jupien wies mit Nachdruck das Geld zurück, das Monsieur de Charlus ihm geben wollte.

[19] Dann trat Monsieur de Charlus einen Schritt vor die Werkstatt. »Warum haben Sie Ihr Kinn so glatt rasiert«, sagte er in zärtlichem Ton zum Baron. »So ein schöner Bart sieht doch gut aus!« – »Pfui!, abstoßend«, antwortete der Baron. Indessen verweilte er noch auf der Türschwelle und bat Jupien um Auskünfte über das Viertel. »Sie wissen nicht zufällig etwas über den Maronenverkäufer* an der Ecke, nicht der linke, das ist ein Scheusal, der auf der geraden Seite, ein großer, ganz schwarzer Kerl*? Und der Apotheker gegenüber hat einen sehr netten Fahrradboten, der seine Arzneien ausfährt.« Diese Fragen kränkten Jupien offenbar, denn mit dem Unmut einer alternden, betrogenen Schönen antwortete er: »Ich sehe schon, Sie haben ein Herz wie eine Artischocke*.« Dieser in einem schmerzlichen, kühlen und affektierten Ton geäußerte Vorwurf traf Monsieur de Charlus zweifellos, der, um den schlechten Eindruck auszulöschen, den seine Neugier gemacht hatte, an Jupien, freilich zu leise, als dass ich die Worte genau hätte verstehen können, eine Bitte richtete, die es offenbar für die beiden notwendig machte, ihren Aufenthalt in der Werkstatt noch zu verlängern, und die den Westenmacher hinreichend rührte, um seinen Schmerz auszulöschen, denn er ließ seinen Blick auf dem fetten und unter den grauen Haaren rot angelaufenen Gesicht des Barons mit der glückseligen Miene von jemandem ruhen, dessen Eigenliebe gerade zutiefst geschmeichelt worden war, und entschlossen, Monsieur de Charlus zu gewähren, worum dieser ihn gebeten hatte, sagte Jupien, nach einigen wenig vornehmen Bemerkungen wie »Sie haben aber einen fetten Hintern!«, mit lächelnder, bewegter, überlegener und dankbarer Miene: »Ja, gut, Sie schlimmer Junge!«

»Wenn ich auf die Frage nach dem Trambahnschaffner zurückkomme*«, fuhr Charlus hartnäckig fort, »dann vor allem, weil es von Interesse für die Rückfahrt sein könnte. Tatsächlich passiert es mir zuweilen, dass ich mich, wie der Kalif, der durch Bagdad lief und [20] für einen einfachen Händler gehalten wurde*, dazu herablasse, irgendeiner bemerkenswerten kleinen Person zu folgen, deren Gestalt mir gefallen hat.« Ich machte hier die gleiche Feststellung, die ich schon bezüglich Bergottes gemacht hatte. Wenn er sich jemals vor einem Tribunal zu verantworten hätte, so würde er nicht die Sätze gebrauchen, die geeignet wären, die Richter zu überzeugen, sondern diese bergottschen Sätze, die sein besonderes literarisches Temperament ihm ganz selbstverständlich eingab und die zu verwenden ihm Freude bereitete. Ähnlich bediente sich Monsieur de Charlus gegenüber dem Westenschneider der gleichen Sprache wie gegenüber den Leuten von Welt aus seinen Kreisen und übertrieb sogar seine Marotten, sei es, dass ihn die Verlegenheit, gegen die er anzukämpfen suchte, zu einem übertriebenen Hochmut anstachelte, sei es, dass sie ihn, indem sie ihn hinderte, sich in die Gewalt zu bekommen (denn man ist unsicherer gegenüber jemandem, der nicht zum eigenen Milieu gehört), dazu zwang, sein Wesen, das nun in der Tat hochfahrend und, wie Madame de Guermantes sagte, etwas verrückt war, zu enthüllen und bloßzustellen. »Um ihre Spur nicht zu verlieren«, fuhr er fort, »springe ich wie ein kleiner Lehrer, wie ein junger, schöner Arzt in die gleiche Trambahn wie die kleine Person, von der wir nur im Femininum reden, um der Regel zu genügen (wie man auch sagt, wenn man von einem Prinzen spricht: ›Geht es der Hoheit gut?‹). Wenn sie die Trambahn wechselt, nehme ich, nebst Pestbakterien vermutlich, diese unglaubliche Angelegenheit, die man ›Korrespondenz-Billet‹ nennt, eine Nummer, und nicht einmal immer die Nr. 1, obwohl man sie doch mir aushändigt! So wechsle ich bis zu drei- oder viermal den ›Wagen‹. Manchmal strande ich um elf Uhr abends in der Gare d’Orléans* und muss wieder zurück! Wenn es doch nur von der Gare d’Orléans wäre! Aber einmal zum Beispiel habe ich ein Gespräch nicht früher anknüpfen können und bin bis Orléans [21] selbst gefahren, in einem dieser schrecklichen Waggons, in denen man zwischen dreieckigen, sogenannten ›Filet‹-Vorhängen eine Fotografie der wichtigsten architektonischen Meisterwerke im Streckennetz als Aussicht hat. Es war nur noch ein Platz frei, mir gegenüber hatte ich als historisches Monument eine ›Ansicht‹ der Kathedrale von Orléans*, die die hässlichste in ganz Frankreich ist und deren ungewollter Anblick ebenso ermüdend ist, wie wenn man mich gezwungen hätte, ihre Türme durch die Glaskugel dieser optischen Federhalter anzustarren, von denen man eine Augenentzündung bekommt. Ich stieg in Les Aubrais* aus, zugleich mit meiner jungen Person, die jedoch, o Ungemach, von ihrer Familie (alle Laster hatte ich bei ihr vermutet, außer dem, eine Familie zu haben) auf dem Bahnsteig erwartet wurde! Als Trost hatte ich lediglich, während ich auf den Zug wartete, der mich nach Paris zurückbringen würde, das Haus der Diana von Poitiers*. Sie mag ja einen meiner königlichen Ahnen bezaubert haben, aber ich hätte eine lebendigere Schönheit vorgezogen. Deswegen, um die Trübsal dieser einsamen Heimfahrten zu lindern, würde ich gern einen Schlafwagenkellner kennenlernen, oder einen Omnibusschaffner. Außerdem, seien Sie nicht schockiert«, schloss der Baron, »das ist alles eine Frage des Genres. Bei den jungen Leuten der Gesellschaft zum Beispiel begehre ich keinerlei körperlichen Besitz, aber ich finde keine Ruhe, bevor ich sie nicht einmal berührt habe, ich will nicht sagen physisch, sondern ihre empfängliche Saite berührt habe. Wenn erst einmal ein junger Mann, statt meine Briefe unbeantwortet zu lassen, nicht mehr aufhört, mir zu schreiben, wenn er zu meiner seelischen Verfügung steht, dann bin ich beruhigt, oder wäre es zumindest, wenn ich nicht bald schon von dem Bemühen um einen anderen in Anspruch genommen wäre. Ziemlich merkwürdig, nicht wahr? A propos junge Leute der Gesellschaft, unter denen, die hierherkommen, kennen Sie [22] wohl keine?« – »Nein, mein Schatz. Ah!, doch, einen Braunhaarigen, ziemlich groß, mit Monokel, der immer lacht und sich umdreht.« – »Ich weiß nicht, wen Sie meinen.« Jupien vollendete das Porträt, doch Monsieur de Charlus konnte nicht herausfinden, um wen es sich handelte, denn er wusste nicht, dass der Westenmacher zu jenen Leuten gehörte, von denen es mehr gibt, als man glaubt, die sich nicht an die Haarfarbe von jemandem erinnern können, den sie nur flüchtig kennen. Doch für mich, der ich diese Schwäche Jupiens kannte und braun durch blond ersetzte, schien das Porträt sehr genau den Herzog von Châtellerault wiederzugeben. »Um auf die jungen Leute zurückzukommen, die nicht aus dem Volk stammen«, fuhr der Baron fort, »so hat mir ein seltsamer junger Bursche gerade den Kopf verdreht, ein intelligenter kleiner Bürgerlicher, der mir eine außerordentliche Respektlosigkeit bezeigt. Er hat keine Vorstellung davon, was für eine außergewöhnliche Persönlichkeit ich bin und was für einen winzigen Bazillus er selbst darstellt. Aber was soll es, dieser kleine Esel mag so viel I-ah schreien wie er will vor meiner erhabenen Bischofsrobe.« – »Bischof!« rief Jupien aus, der von den letzten Sätzen Monsieur de Charlus’ zwar nichts verstanden hatte, den jedoch das Wort »Bischof« verblüffte. »Aber das verträgt sich nicht gut mit der Religion«, sagte er. – »Ich habe drei Päpste* in meiner Familie«, antwortete Monsieur de Charlus, »und das Recht auf rotes Tuch, denn die Nichte meines Großonkels, des Kardinals, hat meinem Großvater den Anspruch auf den Kardinalstitel eingebracht, der dann durch den Herzogstitel ersetzt wurde. Aber ich sehe schon, dass Sie taub für Metaphern sind und die Geschichte Frankreichs Sie kaltlässt. Übrigens«, fügte er, womöglich weniger als Fazit denn als Hinweis, noch hinzu, »diese Anziehung, die junge Personen auf mich ausüben, die mich meiden, die mich aus Furcht meiden, wohlverstanden, denn nur der Respekt verschließt ihnen den Mund, der [23] mir sonst zurufen würde, dass sie mich lieben, sie setzt voraus, dass sie eine herausragende gesellschaftliche Stellung einnehmen. Aber auch dann kann ihre vorgetäuschte Gleichgültigkeit die gegenteilige Wirkung haben. Dümmlich in die Länge gezogen, widert sie mich an. Um Ihnen ein Beispiel aus einem Bereich zu geben, der Ihnen vertrauter sein dürfte: Als mein Hôtel instand gesetzt wurde, verbrachte ich, um keine Eifersucht unter den Herzoginnen aufkommen zu lassen, die um die Ehre wetteiferten, von sich sagen zu können, dass sie mich beherbergt hätten, einige Tage im ›Hotel‹, wie man so sagt. Ich kannte einen der Etagenkellner und machte ihn auf einen bemerkenswerten kleinen ›Pagen‹ aufmerksam, der die Türen schloss und unzugänglich für meine Angebote blieb. Als schließlich meine Geduld erschöpft war, ließ ich ihm, um ihm die Lauterkeit meiner Absichten zu beweisen, eine lächerlich überhöhte Summe allein dafür anbieten, dass er für fünf Minuten in mein Zimmer hinaufkäme und sich mit mir unterhielte. Ich wartete vergebens. Daraufhin erfasste mich ein solcher Abscheu wider ihn, dass ich durch den Dienstboteneingang hinausging, um nicht das Frätzchen dieses albernen kleinen Lümmels sehen zu müssen. Inzwischen habe ich erfahren, dass er nicht einen meiner Briefe erhalten hat, dass sie abgefangen wurden, der erste vom Etagenkellner, weil er neidisch war, der zweite vom Tagesportier, weil er tugendhaft war, der dritte vom Nachtportier, der den jungen Pagen liebte und mit ihm ins Bett ging, wenn Diana* sich erhob. Aber mein Abscheu blieb dennoch unvermindert bestehen, und selbst wenn man mir den Pagen wie ein Wildpret auf silberner Platte servierte, würde ich ihn von mir weisen und erbrechen. Aber da haben wir das Unglück, wir haben uns über ernsthafte Dinge unterhalten, und nun ist es vorbei zwischen uns für das, was ich erhoffte. Aber Sie könnten mir große Dienste erweisen, Sie könnten vermitteln; doch dann wieder bringt mich [24] nichts so in Stimmung wie dieser Gedanke, und ich spüre, dass noch nichts vorbei ist.«

Seit dem Beginn dieser Szene hatte sich in meinen Augen, von denen die Schuppen gefallen waren, an Monsieur de Charlus eine ebenso vollständige, ebenso plötzliche Wandlung vollzogen, als sei er von einem Zauberstab berührt worden. Bis dahin hatte ich nicht gesehen, weil ich nicht verstanden hatte. Das Laster (wie man aus sprachlicher Bequemlichkeit sagt), das Laster eines jeden begleitet ihn nach der Weise jenes Genius, der für die Menschen unsichtbar blieb, solange sie nichts von seiner Gegenwart wussten. Güte und schurkische Gesinnung, Name und gesellschaftliche Verbindungen sind nicht zu entdecken, und man führt sie im Verborgenen mit. Selbst Odysseus erkannte anfangs Athene nicht.* Doch für Götter sind Götter auf der Stelle erkennbar, der Gleiche nicht minder schnell für den Gleichen, wie es auch Monsieur de Charlus für Jupien gewesen war. Bis dahin hatte ich mich gegenüber Monsieur de Charlus in der Position eines geistesabwesenden Mannes befunden, der eine Frau in anderen Umständen, deren vergrößerten Leibesumfang er nicht bemerkt hat und die immer wieder lächelnd zu ihm sagt: »Ich fühle mich im Augenblick ein wenig matt«, hartnäckig und indiskret fragt: »Aber was haben Sie denn?« Doch sobald ihm jemand sagt: »Sie ist schwanger«, sieht er plötzlich den Bauch und nur noch diesen. Der Verstand öffnet die Augen; ein beseitigter Irrtum schenkt uns ein erweitertes Wahrnehmungsvermögen.

Diejenigen, die als Beispiel für dieses Gesetz nicht die Herren de Charlus aus ihrem Bekanntenkreis heranziehen möchten, die sie lange Zeit hindurch nicht in Verdacht hatten, bis eines Tages auf der ebenmäßigen Oberfläche des den anderen so ähnlichen Individuums die in einer bis dahin unsichtbaren Tinte geschriebenen Buchstaben erschienen sind, die das den alten Griechen so teure [25] Wort ausmachen, brauchen sich nur, um sich zu überzeugen, dass ihnen die Welt, die sie umgibt, anfangs kahl und leer erschien, bar des mannigfaltigen Zierats, den sie Eingeweihteren bietet, daran zu erinnern, wie oft es ihnen im Leben schon widerfahren ist, dass sie nahe daran waren, eine Taktlosigkeit zu begehen. Nichts im unbeschriebenen Gesicht dieses oder jenes Mannes konnte sie ahnen lassen, dass er ausgerechnet der Bruder oder der Verlobte, oder auch der Liebhaber eben jener Frau war, von der sie gerade hatten sagen wollen: »Was für ein Trampeltier!« Doch dann hält zum Glück ein Wort, das ein Nachbar uns zuflüstert, den verhängnisvollen Ausdruck auf unseren Lippen zurück. Sogleich erscheinen, wie ein Mene tekel upharsin*, diese Worte: Er ist der Verlobte, oder der Bruder, oder der Liebhaber der Frau, die man unmöglich vor seinen Ohren als »Trampeltier« bezeichnen kann. Und diese eine neue Kenntnis wird eine völlige Neuordnung, die Hintan- oder Voranstellung der bruchstückhaften, nun aber vervollständigten Kenntnisse bewirken, die man vom Rest dieser Familie besaß. Mochte sich in Monsieur de Charlus wie das Pferd im Kentauren auch ein anderes Wesen eingekreuzt haben, das ihn von anderen Männern unterschied, mochte dieses Wesen auch einen Körper mit dem Baron gebildet haben: Ich hatte es niemals wahrgenommen. Doch jetzt, wo das Abstrakte Gestalt angenommen hatte, hatte das nun endlich erkannte Wesen auch sogleich seine Fähigkeit verloren, unsichtbar zu bleiben, und die Verwandlung Monsieur de Charlus’ in eine neue Person war so vollständig, dass nicht nur die Kontraste in seinem Gesicht und seiner Stimme, sondern rückblickend sogar die Höhen und Tiefen in seiner Beziehung zu mir, all das, was bis dahin meinem Geist als zusammenhanglos erschienen war, verständlich wurde, sich als einleuchtend erwies wie ein Satz, der keinerlei Sinn ergibt, solange er in zufällig verstreute Lettern zerlegt ist, doch dann, wenn die Buchstaben in die [26] gehörige Ordnung gebracht sind*, einen Gedanken ausdrückt, den man nicht mehr vergessen kann.

Außerdem begriff ich jetzt, weshalb ich vorhin, als ich ihn bei Madame de Villeparisis herauskommen sah, hatte meinen können, Monsieur de Charlus sehe aus wie eine Frau: Er war eine! Er gehörte zur Rasse jener Wesen, die weniger widersprüchlich sind, als man den Eindruck hat, deren Ideal männlich ist, gerade weil ihr Temperament feminin ist, und die im täglichen Leben, jedoch nur dem Anschein nach, anderen Männern gleichen; da, wo jedermann in jene Augen, durch die er alle Dinge auf der Welt betrachtet, eine Silhouette eingeschrieben, in die Iris eingeschnitten trägt, handelt es sich bei ihnen nicht um die einer Nymphe, sondern die eines Epheben. Eine Rasse, auf der ein Fluch liegt und die in Lüge und Meineid leben muss, weil sie weiß, dass das, was für jedes Geschöpf die größte Süße des Lebens ausmacht, ihr Verlangen, für strafbar und schändlich, für uneingestehbar gilt; die ihren Gott verleugnen muss, denn selbst wenn sie Christen sind, bleibt ihnen, sobald sie als Angeklagte vor den Schranken des Gerichts erscheinen, nichts anderes übrig, als sich vor Christus und in seinem Namen dessen, was ihr ganzes Leben erfüllt, als einer Verleumdung zu erwehren; Söhne ohne Mutter, die sie noch in der Stunde, da sie ihr die Augen schließen, belügen müssen; Freunde ohne Freundschaften, trotz all derer, die ihr häufig anerkannter Charme erweckt und die ihr oft gutes Herz empfinden würde; doch kann man solche Beziehungen Freundschaften nennen, die nur dank einer Lüge kümmerlich dahinleben und aus denen sie beim ersten Aufwallen von Vertrauen und Ehrlichkeit, zu denen sie versucht sein mögen, mit Abscheu verstoßen würden, zumindest wenn sie es nicht mit einem unvoreingenommenen, sprich verständnisvollen Geist zu tun haben, der jedoch, in ihrer Hinsicht von einer konventionellen Psychologie geblendet, aus dem eingestandenen Laster auf [27] ebenjene Zuneigung schließen wird, die ihm am allerfernsten liegt, so wie manche Richter bei Invertierten eine Mordtat leichter unterstellen und entschuldigen, oder Verrat bei Juden, aus Gründen, die sie aus der Erbsünde beziehen und dem Schicksal der Rasse? Endlich auch – zumindest jener ersten Theorie zufolge, die ich damals entwarf, die sich, wie man sehen wird, später änderte und an der vor allem dies sie aufs äußerste geärgert hätte, wäre dieser Widerspruch nicht ihren Augen durch eben die Illusion verborgen worden, die sie sehen und leben ließ – Liebende, denen die Möglichkeit jener Liebe, deren Erwartung ihnen die Kraft gibt, so viel Gefahr und Einsamkeit zu ertragen, fast gänzlich verschlossen ist, denn sie verlieben sich gerade in einen solchen Mann, der nichts von einer Frau hat, in einen Mann, der nicht invertiert ist und sie folglich nicht lieben kann; so dass ihr Verlangen für immer unstillbar bliebe, wenn nicht das Geld ihnen richtige Männer verschaffte und wenn es die Vorstellungskraft nicht schließlich fertigbrächte, richtige Männer in den Invertierten zu sehen, denen sie sich prostituiert haben. Ohne mehr als eine zerbrechliche Ehre, ohne mehr als eine vorläufige Freiheit bis zur Aufdeckung des Verbrechens; ohne mehr als eine unbeständige Stellung, wie die des gestern noch in allen Salons gefeierten, in allen Theatern Londons* mit Beifall überschütteten, am nächsten Tage schon aus jeder Unterkunft verjagten Dichters, der kein Kissen mehr finden konnte, um sein Haupt zu betten, der den Mühlstein wälzte wie Samson* und sagte wie dieser:

Die beiden Geschlechter werden ein jedes auf seiner Seite sterben;*

ausgeschlossen sogar, mit Ausnahme von Tagen schwerer Schicksalsschläge, an denen sich die meisten um das Opfer scharen wie [28] die Juden um Dreyfus, vom Mitgefühl – manchmal auch der Gesellschaft – ihresgleichen, die sie zu ihrem Abscheu sehen lassen, was sie selber sind, in einen Spiegel eingezeichnet, der ihnen nicht mehr schmeichelt, sondern all die Makel hervortreten lässt, die sie bei sich selbst nicht mehr hatten wahrnehmen wollen, und der ihnen begreiflich macht, dass das, was sie ihre Liebe nannten (und dem sie, mit dem Wort spielend, aus sozialem Empfinden alles einverleibt hatten, was Dichtung, Malerei, Musik, Rittertum oder Askese zur Liebe haben hinzufügen können), nicht einem Schönheitsideal entspringt, das sie selbst gewählt haben, sondern einer unheilbaren Krankheit; wie auch die Juden (mit Ausnahme einiger, die nur mit Leuten ihrer eigenen Rasse Umgang pflegen wollen und stets die rituellen Worte und die gängigen Scherze im Munde führen) einander meidend, bemüht um jene, die ihnen am gegensätzlichsten sind, die nichts mit ihnen zu tun haben wollen, ihnen ihre Zurückweisung verzeihend, berauscht von ihrem Entgegenkommen; doch auch mit ihresgleichen durch die Ächtung vereint, die sie trifft, die Schande, der sie anheimgefallen sind, haben sie schließlich, aufgrund einer Verfolgung, die der Israels gleicht, die körperlichen und seelischen, manchmal schönen, oft abstoßenden Merkmale einer Rasse angenommen, finden sie (trotz all des Spottes, mit dem der, der sich mit der entgegengesetzten Rasse mehr vermischt, sich ihr besser angepasst hat und dem Anschein nach der verhältnismäßig weniger Invertierte ist, denjenigen überschüttet, der in höherem Maße den Eindruck erweckt) Entspannung im Umgang mit ihresgleichen und sogar eine Stütze in ihrem Dasein, so dass sie, während sie zugleich leugnen, eine Rasse zu sein (deren Name die größte Beleidigung ist), diejenigen, denen es gelungen ist zu verbergen, dass sie dazugehören, aus eigenem Antrieb demaskieren, weniger um ihnen Schaden zuzufügen, wovor sie freilich nicht zurückschrecken, als um sich selbst reinzuwaschen, und [29] wie ein Mediziner die Blinddarmentzündung, so verfolgen sie die Inversion noch bis in die Geschichte, erinnern mit Befriedigung daran, dass Sokrates einer der Ihren gewesen sei, so wie die Israeliten sagen, dass Jesus Jude war, ohne dabei zu bedenken, dass Homosexualität nichts Anormales an sich hatte, als sie die Norm war, dass es vor Christus keine Christenfeinde gab, dass die Schande allein schon das Verbrechen ausmacht, denn sie hat nur diejenigen übriggelassen, die unzugänglich waren für alle Predigten, jegliches Beispiel, jede Züchtigung, dank einer angeborenen, derart speziellen Veranlagung, dass sie andere Männer noch mehr abstößt (auch wenn sie mit hohen moralischen Qualitäten einhergehen kann) als bestimmte Laster, die damit unvereinbar sind, wie Diebstahl, Grausamkeit, Betrug, die aber besser verstanden und also vom Gros der Männer eher entschuldigt werden; ein viel weiter verbreitetes, wirksameres und weniger verdachterregendes Freimaurertum bildend als das der Logen, eines, das auf der Übereinstimmung der Neigungen, der Bedürfnisse, Gewohnheiten, Gefährdungen, der Erfahrungen und des Wissens, des Umgangs und des Vokabulars beruht und in dem sich selbst die Mitglieder, denen es lieber ist, einander nicht zu kennen, sofort an natürlichen oder gebräuchlichen, unbewussten oder bewussten Zeichen erkennen, die dem Bettler den großen Herrn, dem er den Wagenschlag schließt, als einen der Seinigen bezeichnen, dem Vater den Verlobten seiner Tochter, dem Heilung, Beichte oder Verteidigung Suchenden den Arzt, Pfarrer oder Advokaten, den er aufgesucht hat; alle sind sie gezwungen, ihr Geheimnis zu wahren, haben sie doch Anteil am Geheimnis der anderen, von dem der Rest der Menschheit nichts ahnt und das bewirkt, dass ihnen noch die unwahrscheinlichsten Abenteuerromane als wahrhaftig erscheinen; denn in diesem romanhaften, anachronistischen Leben ist der Botschafter der Freund des Sträflings; geht der Prinz, mit jener ungezwungenen Haltung, [30] die die aristokratische Erziehung vermittelt und die ein zitternder Kleinbürger nicht haben würde, nach einem Besuch bei der Herzogin zu einem Ganoven, um sich mit ihm zu besprechen; ein geächteter Teil der menschlichen Gemeinschaft, aber ein wichtiger Teil, dort vermutet, wo er nicht ist, verbreitet, frech und ungestraft dort, wo man ihn nicht ahnt; mit Anhängern überall, im Volk, in der Armee, im Tempel, im Zuchthaus, auf dem Thron; eine große Anzahl zumindest, in schmeichelhafter und gefährlicher Vertraulichkeit mit den Männern der anderen Rasse lebend, sie provozierend und mit ihnen spielend, indem sie von ihrem Laster sprechen, als ob es nicht das ihrige wäre, ein Spiel, das durch die Blindheit oder Falschheit der anderen leichtgemacht wird, ein Spiel, das jahrelang gutgehen kann bis zum Tag des Skandals, an dem diese Dompteure zerfleischt werden; bis dahin sind sie gezwungen, ihr Leben zu verbergen, ihren Blick von dem abzuwenden, worauf sie ihn gern ruhen lassen würden, ihn auf dem ruhen zu lassen, wovon sie sich gern abwenden würden, das grammatische Geschlecht vieler Adjektive in ihrem Vokabular zu wechseln, ein nur geringer gesellschaftlicher Druck im Vergleich zu dem inneren, den ihnen ihr Laster, oder was man unzutreffenderweise so nennt, nicht so sehr in Hinblick auf andere, sondern auf sie selbst auferlegt, und zwar so, dass es ihnen selbst nicht als ein Laster erscheint.* Doch manche, praktischer Eingestellte, die es eiliger haben, die nicht die Zeit haben, sich auf dem Markt umzusehen und auf die Vereinfachung des Lebens und den Zeitgewinn zu verzichten, der sich aus Kooperation ergeben kann, haben sich zwei Gesellschaften geschaffen, deren zweite ausschließlich aus Wesen wie sie besteht.

Dies fällt bei denen ins Auge, die arm sind und aus der Provinz stammen, die keine Verwandten oder Bekannten haben und nichts als den Ehrgeiz, eines Tages ein berühmter Arzt oder Anwalt zu sein, die einen von Meinungen noch freien Geist haben, einen von [31] Ziererei noch ledigen Körper, den sie aber geschwind zu schmücken gedenken, so wie sie für ihr kleines Zimmer im Quartier Latin Möbel nach dem Vorbild dessen kaufen werden, was sie bei denen bemerken und nachahmen, die in dem nutzbringenden und ehrenwerten Beruf, den sie anstreben und in dem sie berühmt werden möchten, bereits »angekommen« sind; bei diesen ist ihre besondere Neigung, die sie ohne ihr Zutun wie eine Veranlagung zum Zeichnen, zur Musik oder zur Erblindung ererbt haben, vielleicht die einzige ausdauernde, die übermächtige Besonderheit – und die sie an manchen Abenden zwingt, diese oder jene für ihre Karriere nützliche Zusammenkunft mit Leuten zu versäumen, von denen sie im übrigen jedoch die Art zu sprechen, zu denken, sich zu kleiden und zu frisieren übernehmen. In ihrem Viertel, wo sie ansonsten nur mit Mitstudenten, Lehrern oder ein paar erfolgreichen Landsleuten verkehren, von denen sie gefördert werden, haben sie bald andere junge Leute entdeckt, deren gleiche besondere Neigung sie ihnen näherbringt, so wie in einer Kleinstadt der Studienrat und der Notar zueinanderfinden, wenn beide Kammermusik lieben oder mittelalterliche Elfenbeinschnitzereien; indem sie auf den Gegenstand ihrer Zerstreuung den gleichen Nützlichkeitssinn, den gleichen professionellen Geist anwenden, der sie in ihrer Karriere leitet, finden sie sich bei Sitzungen zusammen, zu denen ein Außenstehender ebenso wenig zugelassen ist wie bei jenen, die Liebhaber alter Tabaksdosen, japanischer Drucke oder seltener Blumen zusammenführen, und wo, aufgrund des Vergnügens an der Aneignung von Wissen, der Nützlichkeit des Tausches und der Furcht vor Konkurrenten, zugleich, wie auf einer Briefmarkenbörse, die enge Gemeinschaft von Spezialisten und die grimmige Rivalität von Sammlern herrschen. Im übrigen weiß niemand in dem Café, wo sie ihren Tisch haben, um was für eine Zusammenkunft es sich handelt, ob um einen Anglerverein, um [32] Redaktionssekretäre oder um die Landsmannschaft des Départements Indre, so untadelig ist ihr Auftreten, so zurückhaltend und abweisend ihre Miene, und so wenig, verstohlen nur, wagen sie es, die modischen jungen Leute, die jungen »Löwen« anzusehen, die einige Meter weiter mit ihren Mätressen prahlen, und unter denen diejenigen, die sie bewundern, ohne zu wagen, die Augen zu erheben, erst zwanzig Jahre später, wenn die einen schon an der Schwelle einer Akademie stehen und die anderen alte Klubgänger geworden sind, erfahren werden, dass der Verführerischste, jetzt ein dicker, ergrauender Charlus, in Wirklichkeit war wie sie, aber anderswo, in einer anderen Welt, unter anderen äußeren Symbolen, mit fremdartigen Zeichen, deren Unterschiedlichkeit sie irregeführt hat. Doch die Gruppierungen sind mehr oder weniger fortschrittlich; und so wie sich die »Union des Gauches« von der »Fédération socialiste« unterscheidet und irgendeine Mendelssohn-Gesellschaft von der Schola cantorum*, so gibt es an manchen Abenden an einem anderen Tisch auch Extremisten, bei denen ein Armband unter ihrer Manschette sichtbar wird, manchmal auch eine Halskette in ihrer Kragenöffnung, die mit ihren zudringlichen Blicken, ihrem Gegacker, ihrem Lachen, ihren Zärtlichkeiten untereinander einen Trupp Schüler in panische Flucht schlagen und die mit einer Höflichkeit, unter der sich Indignation abzeichnet, von einem Kellner bedient werden, der nur zu gerne, wie an den Abenden, an denen er die Dreyfus-Anhänger bedient, die Polizei rufen würde, wenn es nicht vorteilhafter für ihn wäre, die Trinkgelder einzustreichen.

Diesen professionellen Organisationen stellt der Geist die Neigung der Einzelgänger gegenüber, und das einerseits zwar ohne allzu große Künstlichkeit, denn er tut dabei nichts anderes, als die Einzelgänger selbst nachzuahmen, die glauben, dass sich nichts so sehr vom organisierten Laster unterscheide wie das, was ihnen [33] als eine unverstandene Liebe erscheint, aber mit einer gewissen Künstlichkeit dennoch, denn diese unterschiedlichen Klassen entsprechen ebenso wie verschiedenen physiologischen Typen auch den sukzessiven Stadien einer krankhaften oder auch nur gesellschaftlichen Entwicklung. Und es kommt tatsächlich sehr selten vor, dass die Einzelgänger nicht eines Tages in einer dieser Organisationen aufgehen, zuweilen aus bloßer Ermattung, aus Bequemlichkeit (so wie diejenigen, die am heftigsten dagegen waren, schließlich doch Telefon bei sich legen lassen, die Iénas empfangen, bei Potin einkaufen). Dort sind sie übrigens im allgemeinen nicht besonders willkommen, denn in ihrem relativ reinen Leben haben der Mangel an Erfahrung, die Befriedigung durch Träumereien, auf die sie angewiesen waren, an ihnen jene besonderen Merkmale der Effeminiertheit deutlich hervortreten lassen, die die Professionellen zu tilgen versucht haben. Und man muss schon sagen, dass bei manchen dieser neu Hinzugekommenen die Frau nicht nur innerlich mit dem Mann vereint ist, sondern in abscheulicher Weise sichtbar, wie sie von hysterischen Anfällen geschüttelt werden, von einem schrillen Lachen, das ihnen Knie und Hände verrenkt, und zum durchschnittlichen Mann keine größere Ähnlichkeit aufweisen als jene Affen mit Greiffüßen und melancholisch umschatteten Augen, die einen Smoking anhaben und eine schwarze Krawatte tragen; so dass der Umgang mit diesen Neulingen, von weniger Keuschen zudem, für kompromittierend erachtet wird, und ihre Aufnahme für schwierig; man lässt sie dennoch zu, und sie profitieren fortan von jenen Erleichterungen, mit denen der Handel und die großen Unternehmen das Leben der Einzelnen verändert haben, ihnen Waren zugänglich machten, die bis dahin zu teuer im Erwerb oder überhaupt schwierig zu finden waren, und die sie nun mit der Fülle dessen überschütten, was sie allein auch in der größten Menschenmenge nicht hätten entdecken können. Doch [34] selbst mit diesen unzähligen Ventilen ist der gesellschaftliche Druck für manche zu hoch, darunter vor allem für die, bei denen sich der seelische Druck nicht ausgewirkt hat und die noch immer ihre Art der Liebe für seltener halten, als sie ist. Lassen wir für den Moment diejenigen beiseite, die aufgrund des Ausnahmecharakters ihrer Vorliebe glauben, sie seien den Frauen überlegen, und sie deshalb verachten, die aus der Homosexualität ein Privileg großer Geister und ruhmreicher Epochen machen und die, wenn sie sich bemühen, andere für ihre Neigung zu gewinnen, es weniger bei denen versuchen, die ihnen dafür geeignet erscheinen, wie etwa der Morphinist mit dem Morphium, als vielmehr bei denen, die ihnen würdig erscheinen, aus dem gleichen Missionseifer heraus, mit dem andere den Zionismus predigen oder die Militärdienstverweigerung, den Saint-Simonismus*, das Vegetariertum oder die Anarchie. Bei einigen kommt, wenn man sie morgens noch im Bett überrascht, ein bewundernswerter Frauenkopf zum Vorschein, so allgemein ist der Ausdruck, der das ganze Geschlecht symbolisiert; schon die Haare bestätigen es; ihre Locken sind so weiblich, aufgelöst fallen sie so natürlich in Strähnen auf die Wange, dass man darüber staunt, dass die junge Frau, das junge Mädchen, dass Galatea*, im Unterbewusstsein dieses männlichen Körpers, in den sie eingeschlossen ist, noch kaum erwacht, es so einfallsreich, von sich aus, ohne es von jemandem gelernt zu haben, verstanden hatte, sich den kleinsten Ausgang aus ihrem Gefängnis zunutze zu machen, zu finden, was für ihr Leben notwendig war. Sicherlich sagt der junge Mann mit diesem entzückenden Kopf nicht: »Ich bin eine Frau.« Selbst wenn er – aus allen möglichen Gründen – mit einer Frau zusammenlebt, kann er ihr gegenüber leugnen, selbst eine zu sein, ihr schwören, niemals Beziehungen mit Männern gehabt zu haben. Sie braucht ihn nur zu betrachten, wie wir ihn gerade gezeigt haben, im Bett liegend, im Pyjama, mit nackten Armen, mit [35] nacktem Hals unter den schwarzen Haaren. Der Pyjama ist zum Négligé geworden, der Kopf zu dem einer hübschen Spanierin. Die Geliebte entsetzt sich ob dieses Bekenntnisses vor ihren Augen, das aufrichtiger ist, als Worte es sein könnten, als sogar Taten, und das im übrigen die Taten, falls sie nicht schon ausgeführt wurden, nur bestätigen könnten, denn jedes Wesen folgt seiner Lust*; und wenn dieses Wesen nicht allzu lasterhaft ist, sucht es sie in einem Geschlecht, das seinem entgegengesetzt ist. Nun, für den Invertierten beginnt das Laster nicht dann, wenn er Beziehungen mit Frauen anknüpft (denn viele Gründe können sie erforderlich machen), sondern wenn er seine Lust bei ihnen stillt. Der junge Mann, den wir gerade zu schildern versucht haben, war so offenkundig eine Frau, dass den Frauen, die ihn voller Verlangen betrachteten, die gleiche Enttäuschung (außer bei einer besonderen Neigung) beschieden war wie denjenigen, die in einer Shakespeareschen Komödie von einem verkleideten jungen Mädchen genarrt werden, das sich als Jüngling ausgibt.* Die Täuschung ist die gleiche, der Invertierte selbst weiß es, er erahnt die Desillusionierung, die die Frau, ist die Verkleidung abgelegt, erfahren wird, und er spürt, was für ein Quell unterhaltsamer Poesie diese Täuschung über das Geschlecht doch ist. Im übrigen mag er getrost seiner anspruchsvollen Geliebten (falls sie nicht eine Gomorrhanerin ist) das Geständnis »ich bin eine Frau« verweigern – mit welchen Listen, welcher Gewandtheit, welcher Unbeirrbarkeit sucht dennoch wie eine Schlingpflanze die unbewusste, sichtbare Frau in ihm nach dem männlichen Organ! Man braucht nur diese lockige Haarpracht auf dem weißen Kopfkissen zu betrachten, um zu erkennen, dass dieser junge Mann am Abend nicht den Händen seiner Eltern gegen deren Willen und gegen seinen Willen entschlüpft, um sich mit Frauen zu treffen. Seine Geliebte mag ihn züchtigen und einschließen, am nächsten Tag wird der Weib-Mann dennoch einen Weg [36] gefunden haben, sich einem Mann anzuschließen, so wie die Winde ihre Ranken dorthin treibt, wo sich eine Harke oder ein Rechen befindet.* Wenn wir im Gesicht dieses Mannes eine Zartheit bewundern, die uns rührt, eine Natürlichkeit im Liebreiz, wie sie Männer ganz und gar nicht besitzen, warum sollten wir dann tiefbetrübt sein, wenn wir erfahren, dass dieser junge Mann nach Boxern Ausschau hält? Das sind unterschiedliche Aspekte der gleichen Wirklichkeit. Und der, der uns abstößt, ist sogar der anrührendste, rührender als all die Zartheit, denn er stellt eine bewundernswerte unbewusste Anstrengung der Natur dar: die Anerkennung des Geschlechts durch sich selbst; über die Gaukeleien des Geschlechts hinweg zeigt sich der uneingestandene Versuch, zu dem hinzuflüchten, was ein grundlegender Irrtum der Gesellschaft ihm so weit entrückt hat. Die einen, zweifellos jene, die in der Kindheit besonders zaghaft waren, interessieren sich kaum für die materielle Art der Lust, die sie empfangen, solange sie sie jedenfalls mit einem männlichen Gesicht in Verbindung bringen können. Während andere, zweifellos jene mit heftigeren Sinnen, ihrer materiellen Lust unabdingbare Lokalisationen zuweisen. Diese würden vielleicht mit ihrem Geständnis den Großteil der Menschen schockieren. Sie leben womöglich weniger ausschließlich unter dem Trabanten des Saturn*, denn für sie sind Frauen nicht so gänzlich ausgeschlossen wie für die zuerst Genannten, für die sie ohne Gespräch, Koketterie und platonische Liebe gar nicht existieren würden. Doch die zweiten suchen jene Frauen, die Frauen lieben, diese können ihnen einen jungen Mann verschaffen und das Vergnügen daran, mit ihm zusammenzusein, noch steigern; obendrein können sie, in gleicher Weise, mit ihnen die gleiche Lust erleben wie mit einem Mann. Daher kommt es auch, dass Eifersucht bei denen, die die ersteren lieben, nur durch die Lust erregt wird, die sie bei einem Mann genießen könnten und die allein ihnen als [37] ein Betrug erscheinen würde, denn sie haben an der Frauenliebe keinen Anteil, haben sie gewissermaßen nur der Gepflogenheit wegen praktiziert und um sich die Möglichkeit einer Ehe offenzuhalten, und sie können sich die Lust, die sie bereitet, so wenig vorstellen, dass sie auch nicht darunter leiden können, dass derjenige, den sie lieben, sie genießt; während die zweiten oft Eifersucht durch ihre Liebesaffären mit Frauen hervorrufen. Denn in den Beziehungen, die sie mit ihnen haben, spielen sie für die Frau, die Frauen liebt, die Rolle einer anderen Frau, und die Frau bietet ihnen zugleich in etwa das, was sie beim Mann finden, so dass der eifersüchtige Freund darunter leidet, denjenigen, den er liebt, an jene gefesselt zu sehen, die für ihn fast ein Mann ist, und zugleich zu spüren, wie er ihm fast entgleitet, denn für diese Frauen ist er etwas, was er nicht kennt, eine Art von Frau. Sprechen wir genauso wenig über diese jungen Narren, die aus einer Art kindlichem Übermut, um ihre Freunde aufzuziehen oder ihre Eltern zu schockieren, eine Art Versessenheit darein legen, Kleidung zu wählen, die Frauenkleidern ähnelt, sich die Lippen rot und die Augen schwarz zu malen; lassen wir diese beiseite, denn sie sind jene, die, nachdem sie die allzu grausame Strafe für ihre Zurschaustellung hingenommen haben, ihr ganzes Leben vergeblich damit hinbringen werden, durch eine ernste, puritanische Haltung den Schaden wieder gutzumachen, den sie sich zugefügt haben, als sie vom gleichen Teufel geritten wurden, der die jungen Frauen des Faubourg Saint-Germain dazu verleitet, ein skandalöses Leben zu führen, mit allen Gepflogenheiten zu brechen, ihre Familie zum Gespött zu machen, bis zu dem Tage, an dem sie sich mit Beharrlichkeit und ohne Erfolg daranmachen, den Abhang wieder zu erklimmen, den hinunterzurutschen sie so amüsant gefunden hatten oder vielmehr sich nicht hatten enthalten können. Lassen wir schließlich jene für später, die einen Pakt mit Gomorrha geschlossen haben. Wir [38] werden von ihnen sprechen, wenn Monsieur de Charlus sie kennenlernt. Lassen wir hier alle von der einen oder der anderen Varietät, die zu gegebener Zeit auftreten werden, beiseite und sagen wir, um diese erste Skizze zu beenden, nur noch ein Wort über die, von denen wir bereits zu sprechen begonnen hatten, die Einzelgänger*. Da sie ihr Laster für ungewöhnlicher halten, als es ist, haben sie von dem Tage an begonnen, allein zu leben, an dem sie es entdeckten, nachdem sie es lange getragen hatten, ohne es zu erkennen, länger jedenfalls als andere. Denn niemand weiß von Anfang an, dass er ein Invertierter oder ein Poet, ein Snob oder ein Bösewicht ist. Der Schüler, der Liebesgedichte auswendig lernte oder obszöne Bilder betrachtete und sich dabei an einen Kameraden drängte, bildete sich ein, mit diesem nur im selben Verlangen nach der Frau vereint zu sein. Wie sollte er denn glauben, dass er nicht wie alle sei, wenn er die Substanz dessen, was er empfindet, bei der Lektüre von Madame de Lafayette, Racine, Baudelaire, Walter Scott wiedererkennt und noch zu wenig in der Lage ist, sich selbst zu beobachten, um sich über das, was er an Eigenem hinzufügt, Rechenschaft abzulegen, und dass, wenn auch das Gefühl das gleiche, der Gegenstand ein anderer ist, dass das, was er begehrt, Rob Roy* ist und nicht Diana Vernon? Bei vielen verschwinden, aufgrund einer defensiven Vorsicht des Instinkts, die dem klareren Blick der Intelligenz vorausgeht, der Spiegel und die Wände ihres Zimmers unter farbigen Bildern von Schauspielerinnen; sie machen Gedichte wie:

Keine lieb ich wie Chloë,Mir springt das Herz, wenn ich sie seh,Ach wär ich doch in ihrer Näh.*

Muss man deswegen schon am Beginn dieser Lebenswege eine Neigung annehmen, die man später gar nicht mehr in ihnen [39] wiederfinden wird, wie jene blonden Kinderlocken, die dann ganz und gar erdunkeln? Wer weiß, ob diese Fotografien von Frauen nicht schon ein Beginn von Heuchelei sind und auch ein Beginn des Grauens vor den anderen Invertierten? Doch die Einzelgänger sind gerade jene, denen die Heuchelei schmerzlich ist. Vielleicht ist das Beispiel der Juden, einer ganz anderen Kolonie, nicht einmal hinreichend deutlich, um zu erklären, wie gering der Einfluss der Erziehung auf sie ist und mit welcher Kunstfertigkeit sie es fertigbringen, immer wieder vielleicht nicht gerade auf etwas so schlechthin Entsetzliches wie den Selbstmord zurückzukommen (den die Verrückten, welche Vorsichtsmaßnahme man auch trifft, immer wieder versuchen, so dass sie sich, kaum aus dem Fluss gerettet, in den sie sich gestürzt haben, vergiften, einen Revolver beschaffen, usw.), aber auf ein Leben, dessen zwangsläufig vorhandene Vergnügungen die Männer der anderen Rasse nicht nur nicht verstehen, sich nicht vorstellen und hassen, sondern dessen häufige Gefährdung und ständige Schmach ihnen Grauen einflößen würde. Vielleicht sollte man, um sie zu beschreiben, wenn nicht an Tiere denken, die sich nicht domestizieren lassen, an junge Löwen, die angeblich gezähmt sind und doch Löwen bleiben, so doch zumindest an die Schwarzen, die das gemütliche Dasein der Weißen zur Verzweiflung bringt und die den Gefahren eines Lebens in der Wildnis und seinen unbegreiflichen Freuden den Vorzug geben. Wenn der Tag gekommen ist, an dem sie von sich feststellen, dass sie außerstande sind, zugleich die anderen zu belügen und zu sich selbst zu lügen, ziehen sie sich aufs Land zurück, meiden ihresgleichen (die sie für wenig zahlreich halten) aus Grauen vor dem Ungeheuerlichen oder aus Furcht vor der Versuchung, und den Rest der Menschheit aus Scham. Nie bis zu wirklicher Reife gelangt, immer wieder in Schwermut versinkend, machen sie an einem mondlosen Sonntag einen Spaziergang bis zu einer Kreuzung auf ihrem Weg, [40] an der sie, ohne dass es einer Verabredung bedurft hätte, einer ihrer Kindheitsfreunde erwartet, der in einem nahe gelegenen Schloss wohnt.*