Auf Null gesetzt - Sylvia Kaml - E-Book

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Sylvia Kaml

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Beschreibung

Eine junge Frau erwacht ohne Erinnerung in einer Frankfurter Privatpraxis. Ihr Name, die zu Besuch kommenden Eltern, ihr Verlobter: Nichts und niemand wirkt vertraut. Auf Nachfragen über ihre Identität und ihr vorheriges Leben verstricken sich alle Beteiligten in Widersprüche. Nach tagelanger Abschottung von der Außenwelt beschließt sie zu fliehen und irrt ziellos durch die Großstadt. Plötzlich taucht ihr angeblicher Verlobter auf und bietet seine Hilfe an. Gemeinsam kommen sie Machenschaften auf die Spur, bei denen die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn, Opfer und Täter verschwimmen.

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HYBRID VERLAG

Ebookausgabe

12/2018

 

 

 

 

 

 

 

© by Sylvia Kaml

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2018 by Creativ Work Design. Homburg

Lektorat: Michael Spitzer, Paul Lung

Autorenfoto: Andrea Rings

 

 

 

 

 

Coverbilder

›Predyl‹ und ›Die Verschwörung des Raben‹

© by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-946-82052-9

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Sylvia Kaml

 

Auf Null gesetzt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Psycho Thriller

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

Danksagung

 

 

 

 

 

 

To Zafar Ullah Khan (… Sept. 2018) whose wisdom opened my eyes in many ways.

©

And his family, you will always be part of mine.

 

 

1.

 

Das Erste, das ihr auffiel, war der Geruch. Ein scharfes, beißendes Aroma, das sich flau auf ihren Magen niederschlug und ihren Puls schneller schlagen ließ. Auch wenn ein Teil von ihr in diesem angenehmen Dämmerzustand bleiben wollte, zwangen Neugier und Irritation sie, die schweren Augenlider zu öffnen.

Aus den verschwommenen Schemen setzten sich nach mehrmaligem Blinzeln die Konturen eines großen Fensters zusammen. Die hellen Vorhänge waren geschlossen, aber dünn genug, um ausreichend Sonne hereinscheinen zu lassen.

Der Raum wirkte vollkommen fremd.

Ihr Blick wanderte die karge, gelb gestrichene Wand entlang und blieb an einem Infusionsständer neben dem Bett hängen. Der Schreck verscheuchte den Rest der Schläfrigkeit und sie hob vorsichtig beide Arme. In ihrer linken Ellenbogenbeuge steckte ein Venenzugang. Farblose Flüssigkeit tropfte aus dem Infusionsbeutel in den Schlauch. Sie lag in einem Krankenzimmer?

Ja, der Eindruck passt auch zum penetranten Geruch des Desinfektionsmittels, der den Raum erfüllte.

Was war passiert? Wo war sie?

Wer war sie?

Als sie die Stirn runzelte, zog ein stechender Schmerz durch ihren Kopf und sie entspannte die Gesichtsmuskeln wieder. Ihre Hände fuhren an die Schläfen. Sie fasste an glatte Haut. Ungläubig tastete sie weiter nach hinten und ein erneuter Schrecken durchfuhr ihren Körper. Der Kopf war kahl rasiert. Wegen einer Operation? Doch sie erfühlte keine Nähte oder Wunden. Ihr wurde heiß: Chemotherapie? War sie …

Sie hob ihre Hände und betrachtete sie genauer. Sie sahen nicht aus wie die einer alten Frau. Eher jung mit kurzen, rundgefeilten Fingernägeln. Nicht lackiert und die Nagelhaut wirkte abgekaut. Mit einem tiefen Atemzug ließ sie ihre Hände zurück auf das Laken sinken und versuchte, sich zu erinnern. Ihr genaues Alter, ihr Aussehen, ihr Leben. Doch in diesem Moment war da nur Schwärze.

Sie wusste – woher auch immer – dass sie weiblich war, was ein Blick unter die Decke bestätigte, und zumindest relativ jung und schlank.

Aber wie war ihr Name? Wo wohnte sie?

Das Herz schlug in ihrem Brustkorb, als wollte es ihn zum Zerbersten bringen.

Vielleicht lag es an Medikamenten oder einer Narkose, bemühte sie sich einzureden. Die Erinnerung würde jeden Moment wiederkommen. Man konnte schließlich nicht sein komplettes Leben nach dem Aufwachen vergessen wie einen Traum. Die Erschöpfung besiegte den Drang, wild abwehrend den Kopf zu schütteln.

Langsam, noch immer zittrig, versuchte sie sich aufzurichten. Doch ein Schwindel zwang ihren Kopf wieder auf das Kissen zurück. Ihre Schläfen begannen zu pochen und eine leichte Übelkeit stellte sich ein.

Die große Tür links von ihr öffnete sich geräuschlos. In den Raum trat ein älterer Mann in weißem Kittel, gefolgt von einer stämmigen Brünetten mit kurzen Haaren, die ein hellblaues Kittelhemd trug.

Die Frau kam so dicht an das Bett, dass ein leichter Geruch nach frischem Schweiß herüberwehte. »Sie sann wach?« Eine Antwort auf ihre Frage schien sie nicht zu erwarten, denn sie kontrollierte ohne aufzusehen den Dauertropf am Infusionsständer. Auf dem Namensschild an ihrer Brust stand E. Schmitz. Allerdings ohne Logo oder den Namen eines Krankenhauses.

Nun trat der Mann an das Kopfende. Sein fein gezeichnetes Gesicht wirkte mit der getönten Hautfarbe südländisch. An den Schläfen erschienen erste graue Haare, mit dunkelbraunen Augen betrachtete er sie eindringlich.

Der intensive Geruch eines scharfen Aftershaves drang in ihre Nase.

»Können Sie sich an irgendetwas erinnern? An Ihren Namen oder Familie? Erkennen Sie mich?«, fragte er mit tiefer und ungeduldig klingender Stimme. Ein deutlicher Akzent schwang mit. Arabisch oder indisch? Sie kannte diese Länder. Doch an einen vertrauten Menschen erinnerte sie sich nicht. Sie starrte ihn nur fragend an. Ein Namensschild suchte sie vergeblich auf dem Kittel. »Das muss alles sehr irritierend auf Sie wirken«, fuhr er sachlich fort. »Doch wir mussten damit rechnen, dass der Unfall eine Amnesie zur Folge haben wird. Was wissen Sie über sich selbst? Es ist von großer Bedeutung, dass Sie meine Frage ganz ausführlich beantworten.«

»Ich weiß gar nichts über mich.« Ihre Stimme klang ebenfalls ungewohnt und fremdartig. Die aufsteigenden Tränen waren mehr Frustration als Angst. »Nur, dass ich weiblich bin … und deutsch spreche. Nicht, wie alt ich bin oder wie ich heiße … Gar nichts.« Sie brach ab, bevor ihre Stimme zu sehr beben würde. Ihre ausgetrocknete Kehle schmerzte bei jedem Laut.

Der Mann musterte sie schweigend. Sein Blick verriet, dass er mit dem Gesehenen und Gehörten nicht zufrieden war. Mit einer routinierten Bewegung holte er einen Kugelschreiber aus seiner Kitteltasche, doch anstatt Notizen zu machen, klickte er ihn nur auf und zu. Die Schwester ging derweil um das Bett herum und öffnete die Vorhänge hinter dem Mann. Das Sonnenlicht strahlte herein und ließ einen Schatten auf sein Gesicht fallen. Vom Bett aus gesehen wirkte er so leicht bedrohlich.

Sie schluckte den Kloß in der Kehle herunter und räusperte sich. »Ähem. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wer ich bin? Und wer Sie sind?«

Er zögerte einen Moment. »Sie sind Mana«, sagte er schließlich wie in Gedanken. Dann richtete er sich auf und straffte die Schultern. Seine Stimme wurde fester. »Frau Mana Graf. Sie hatten einen schweren Autounfall. Ich bin Dr. Al’Sadi, ich habe Sie operiert.«

Frau Mana Graf? Dieser Name sagte ihr gar nichts. Mana war für sie nicht einmal ein richtiger Vorname. Lag es vielleicht an dem Akzent und er hatte Manuela oder Maria sagen wollen? Ganz gleich, es klang alles so falsch. Sie musste erneut schlucken, um antworten zu können. »Wird mein Gedächtnis wiederkommen?«

»Das kann man nicht mit Gewissheit sagen. Meistens kehren Erinnerungen von vor der Zeit des Traumas zurück, gerade bei jüngeren Menschen. Doch es gibt auch Fälle, in denen der Betroffene ein völlig neues Leben aufbauen muss.«

»Wie alt bin ich?« Das Klicken des Kugelschreibers machte sie noch nervöser als der starre Blick des Arztes.

»Nach meiner Krankenakte zweiundzwanzig Jahre.« Dr. Al’Sadi steckte den Kugelschreiber zurück in die Kitteltasche. »Ihre Mutter ist verständigt und wird bald hier sein. Vielleicht wird es helfen, wenn Sie sie sehen.«

Die junge Frau atmete tief durch. Ihre Mutter? Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals eine Kindheit gehabt zu haben, geschweige denn Eltern. Aber sie zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Ihre Erinnerung würde gewiss wiederkommen.

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«, sagte sie leise und der Doktor hob fragend die Brauen. »Könnte ich vielleicht einen Spiegel bekommen?«

2.

 

Sie war wieder alleine und umklammerte mit leicht zitternden Händen den dunkelgrünen Plastikgriff des Handspiegels. Stumm starrte ihr eine fremde junge Frau entgegen. Ihre Augen strahlten in einer Mischung aus Blau und Grün unter braunen Augenbrauen. Das Gesicht war von heller Hautfarbe und zierlich, vielleicht mit einer etwas zu großen Nase. Ihre Lippen wirkten trocken, blass und schmal. Ein runder, erhabener Leberfleck saß oben rechts an ihrer Schläfe, der sicher bald bedeckt sein würde. Der Kopf war kahl rasiert, aber soweit sie sehen konnte, gab es keine Verletzungen oder Narben. Hatte der Arzt nicht etwas von einer Operation gesagt? Warum hatte sie sonst eine Glatze? Vielleicht war eine Naht am Hinterkopf?

Sie strich vorsichtig mit der Hand über den rasierten Schädel. Obwohl sie sich nicht bewusst an einen anderen Eindruck erinnern konnte, empfand sie es als seltsam, dort die nackte Haut zu spüren. Aber es schmerzte nichts und sie ertastete keinerlei Wunde oder Unebenheit.

Sie legte den Handspiegel neben sich auf das Laken und schob dieses zur Seite. Noch einmal untersuchte sie ihren Körper, diesmal genauer. Er war frei von Prellungen und Verletzungen, auch wenn sie sich noch sehr schwach und zittrig fühlte. War das möglich, nach einem schweren Autounfall nicht einmal einen blauen Fleck mehr zu haben? Hatte sie eine ganze Weile im Koma gelegen, sodass alles bereits verheilen konnte? Aber warum sind die Haare dann nicht schon länger? War das eine Reaktion auf Medikamente wie bei einer Chemotherapie? Aber sie hatte Augenbrauen und fühlte kleine Stoppel auf ihrer Kopfhaut, es wuchs also etwas. Trug sie aus reiner Mode eine Glatze?

Mana nahm den Spiegel erneut zur Hand und schaute hinein. Ja, mit Haaren auf dem Kopf würde sie sich zweifelsohne besser fühlen.

Wie sie wohl aussehen werden? Derselbe Farbton wie ihre Augenbrauen? Glatt oder lockig? Dick oder dünn? Sie zwang sich zu einem Lächeln und es hob tatsächlich etwas ihre Stimmung. Dennoch wirkte die Person, die sie aus dem Spiegel anlächelte, noch immer fremd.

Sobald sie die Gesichtsmuskeln wieder entspannte, kam die dunkle Wolke zurück.

 

Auch wenn sie sich weigerte, zu bewusst über ihre Situation nachzudenken, konnte sie aber das Grübeln in dieser Einsamkeit nicht vermeiden.

Wer war ihre Mutter? Was war mit dem Vater? Besaß sie eine Berufsausbildung und einen Job? Welche Schule hatte sie besucht? Gab es beste Freundinnen? Geschwister? Einen Freund? Einen Mann? Oder eine Partnerin sogar? Hatte sie je … Nein! Sie presste die Augen zu, darüber wollte sie gar nicht zu genau nachdenken.

Es klopfte zweimal und die Tür öffnete sich. Eine Frau in Begleitung eines Mannes betrat das Krankenzimmer. War das ihre Mutter? Wer war der andere? Ihr Vater? Ein Freund?

Sie betrachtete beide skeptisch. Der große Mann mit den relativ breiten Schultern hatte ebenfalls eine rasierte Glatze, aber eher grünbraune Augen. Das kantige Gesicht mit kurzem Oberlippenbart und vorstehendem Kinn wirkte energisch. Seine Kleidung machte einen teuren, aber rustikalen Eindruck. Eine dunkelbraune Stoffhose, ein hellbeiges Poloshirt und eine khakigrüne, dünne Sommerjacke.

Die Frau war ebenfalls groß, aber sehr schlank, beinahe hager. Sie trug eine etwas altmodisch geblümte Bluse, ein farblich dazu abgestimmtes Halstuch und einen cremefarbenen Rock. Die Haare schienen blond gefärbt mit dunklem Ansatz und das schmale Gesicht war mit einer wirklich markanten Nase bestückt. Ihre Augen strahlten in einem hellen Blau, wurden jedoch von deutlichen Ringen unterlegt, welche die ältere Frau nur halbherzig mit Make-up überdeckt hatte.

Sie lächelte dünn und sichtlich unsicher. »Mana, mein Schatz. Wie geht es dir?«

Der Mann trat neben sie. Er roch nach Zigarrenqualm. »Dr. Al’Sadi hat uns von deiner Amnesie erzählt.« Seine Stimme klang gezwungen. Die steife Haltung machte den Eindruck, als wäre er lieber woanders. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit Krankenhäusern?

Sie legte den Spiegel zur Seite und sah die beiden Gäste skeptisch an. Die blonde Frau trat dicht ans Bett und ergriff ihre Hand, doch Mana zog sie hastig weg.

»Tut mir leid«, sagte sie leise, als sie den enttäuschten Blick der Besucherin sah. »Aber ich kenne Sie beide nicht.«

Die Frau schluchzte urplötzlich und hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte sie hineinbeißen, um ihren Schmerz zu verdeutlichen. In ihren Augen stieg das Wasser auf.

Der Mann trat hinter sie und legte seine große Pranke auf ihre Schulter. »Nimm es nicht persönlich, sie kann sich nicht erinnern.«

Wieder diese emotionslose Stimme, gepaart mit ausdruckloser Mimik.

»Erkennst du uns denn gar nicht?«, fragte die Besucherin.

»Nein. Wer sind Sie?« Ihre Stimme klang schriller als beabsichtigt.

Die blonde Frau schnappte nach Luft und verdeckte nun mit allen zehn Fingern den Mund. Dann ließ sie die Hände an ihren Hals sinken und von dort zur Brust, die sich deutlich hob und senkte. »Mein armer Engel. Das muss so schrecklich für dich sein. Es ist schon fürchterlich für mich. Meine eigene Tochter kennt mich nicht mehr.« Sie atmete tief durch und fasste sich wieder. »Ich heiße Melinda, das ist dein Vater Bernd.« Sie ergriff die große Hand, die noch immer auf ihrer Schulter ruhte.

Also doch ein Vater, warum hatte Dr. Al’Sadi ihn nicht erwähnt? Dann hatte sie die Glatze wohl von ihm geerbt, dachte Mana zynisch.

»Sie wird sich gewiss wieder erinnern, gib ihr etwas Zeit«, sagte der Mann – Bernd. »Wir können froh sein, dass sie lebt.«

Ihr fiel auf, dass er dabei nur zu der Frau redete und seine Tochter gar nicht beachtete. Eine leichte Empörung machte sich in Mana darüber breit, von diesem Mann nur in der dritten Person angeredet zu werden.

Was ihm an Emotionen fehlte, hatte seine Frau eindeutig zu viel. Melinda holte ein Stofftaschentuch hervor und tupfte sich die mascaraverschmierten Augen trocken.

Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und umfasste Manas Hand. Diesmal ließ sie es geschehen. »Keine Sorge, Engelchen, wir sind bei dir. Wir werden dich nicht unter Druck setzen. Wir zeigen dir dein Zuhause, Fotos und Filme, es wird wiederkommen.«

»Ist Mana mein richtiger Vorname? Er klingt ungewöhnlich.«

Melindas Mundwinkel zuckten. Sie ließ die Hand los und fingerte an ihrer Perlenkette. »Dein Vater und ich fanden ihn schön und außergewöhnlich. Bisher hattest du dich nie darüber beschwert, im Gegenteil.«

»Woher stammt dieser Name?«

»Wir … entdeckten ihn in einem Namensbuch.«

»Aha, und was bedeutet er?«

Melinda zögerte, doch als sie gerade zum Antworten ansetzte, unterbrach ihr Mann sie: »Das ist doch jetzt völlig nebensächlich.«

»Dein Vater hat recht.« Die Frau ergriff wieder die Hand ihrer Tochter. Die klammen, kalten Finger um ihre zu spüren, ließ Mana eine Gänsehaut über die Arme laufen. »David wird auch bald da sein, wir haben ihn benachrichtigt. Er hat sein Projekt in Asien abgebrochen und wird so schnell wie möglich anreisen.«

»David?«

»Dein … Freund«, antwortete Melinda langsam. »Ihr seid seit zwei Monaten verlobt.« Sie seufzte. »Du hast keine Ahnung, von wem ich rede, nicht wahr?«

»Nein.«

 

Nachdem sie das Krankenzimmer wieder für sich alleine hatte, klingelte Mana nach der Krankenschwester.

Es trat dieselbe Frau ein, die zuvor mit Dr. Al’Sadi aufgetaucht war. Frau E. Schmitz. Sie stellte sich noch immer nicht vor, das sah sie wohl durch das Namensschild erledigt, sondern blickte ihre Patientin nur mit erhobenen Brauen und verzogenem Mund an.

»Ähem. Ich müsste mal ins Badezimmer«, erklärte Mana heiser und deutete auf den Infusionsschlauch, der noch immer an ihrer Hand hing.

Frau Schmitz nickte, doch ihr rundliches Gesicht zeigte keine emotionale Regung. Sie ging zu ihr, entfernte den Venenzugang und klebte ein Pflaster auf die Injektionsstelle am Arm. »Do Sie jetzt bei Bewusstsein sann, brauche Sie ko Infusion mehr. Des Badezimmer is hinner de Dür do. Gähts mid Uffstäjn odda soll isch helfe?«

»Danke, nein, ich schaffe es schon.« Mana richtete sich langsam im Bett auf. Ihre Muskeln waren schwach und zitterten, doch sie wollte sich keine Blöße geben.

»Basse Sie uff, gell?«, sagte Frau Schmitz. In ihrer Stimme schwang nun doch etwas Besorgnis mit. »Isch werd Ehne glei ebbes zu Esse bringe.«

»Danke«, antwortete Mana, ohne sich sicher zu sein, die Frau richtig verstanden zu haben. Sie machte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Ihre Beine fühlten sich taub an, der Boden schwankte.

Langsam und konzentriert überwand sie den Weg zum Badezimmer. Der aufkommende Schwindel und das flaue Hungergefühl im Magen ließen den Raum noch surrealer erscheinen, als er ihr bereits vorkam. Konnte man im Koma liegen und träumen, man wäre erwacht? Nein, der kalte Vinylboden unter den nackten Füßen war zu wirklich.

 

Als Mana aus dem Bad kam, hatte die Schwester das Krankenzimmer wieder verlassen. Ihr Blick blieb an der großen Tür hängen. Was befand sich da draußen? War sie in einem Krankenhaus? Gab es weitere Patienten? Bis auf das leise Säuseln der Klimaanlage drangen keine anderen Laute heran. Weder Stimmen auf dem Gang, noch dumpfen Geräusche, von denen man auf Personen in Nebenzimmern schließen könnte. Die beinahe beängstigende Stille ließ sie den Desinfektionsgeruch noch intensiver wahrnehmen. Oder lag es am Hunger?

Auch wenn sie nur einen Slip und ein am Rücken offenes Klinikhemd trug, wollte sie einen Blick in den Flur wagen. Sie betätigte die schwere Klinke.

Die Tür öffnete sich nicht. Sie stemmte sich mit der Schulter gegen das gelbe Metall. Nichts.

Hitze stieg in ihr auf. War sie eingeschlossen? Oder einfach nur zu schwach? Aber wenn eine so zerbrechlich wirkende Frau wie ihre Mutter die Tür hatte öffnen können, warum nicht sie? Mit einem mulmigen Gefühl im Magen und bis zum Hals klopfendem Herzen schlich sie zurück ins Bett.

Vom Gang ins Badezimmer völlig erschöpft empfing sie die Matratze mit ihrer warmen Weichheit. Noch immer lauschte Mana angestrengt nach Geräuschen auf dem Flur oder in Nebenräumen. Sie verzog zynisch den Mund. Eine Patientin eines Krankenhauses, die sich nach Lärm sehnte, gab es gewiss nicht oft.

Nach kurzer Zeit, in der sie vergeblich nach Lauten horchte und auf das Essen wartete, fielen ihr die Augen zu.

3.

 

»Darf ich das Zimmer einmal verlassen?«, fragte Mana am nächsten Morgen. Frau Schmitz stellte das Frühstück auf den kleinen Tisch vor sie. Ein weißes Brötchen mit einem Päckchen Butter, Marmelade und einen Becher mit angenehm duftendem Kaffee, der den Geruch von Sterilium verdrängte. »Ich würde so gerne an die frische Luft.«

»Sie werrn ohnehin bald entlasse werrn«, sagte die Schwester tonlos und begann, die Laken zu wechseln. »Doch bis dohie müsse Sie do drinne bleiwe. Aus Versischerungsgründe.«

Mana runzelte die Stirn. »Seit wann ist es denn in einem Krankenhaus untersagt, sich frei zu bewegen?«

»Des do is e private Praxis, kan öffentlisches Krangehaus. Do is die Haftung e annere«, erklärte Frau Schmitz.

»Wo ist diese Praxis? In welcher Stadt sind wir?« Mana gefiel das alles gar nicht. Sie wollte endlich mehr erfahren. Das Fenster zeigte nur einen kleinen Innenhof mit leeren Bänken und einer Eiche in der Mitte. Dahinter stand ein grauer Betonblock.

Die Krankenschwester sah sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Mer sinn do in Weschdend. Frangfort Weschdend. Frangfort am Main. Hesse.« Es hörte sich an, als wollte sie sicherheitshalber noch Deutschland, Europa, Planet Erde sagen.

»Aha. Wohne ich auch hier in Frankfurt?«

»Woher soll isch des wisse?«, erwiderte Frau Schmitz patzig.

»Äh, vielleicht aus meiner Kartei?«

»Sie sann Privatpatiendin, um Ihre Kartei kümmert sisch der Dogda persönlisch, do habbisch ko Einsischt.« Damit verließ sie den Raum. Mana blieb verdutzt zurück. Das Abschließen des Türschlosses ertönte dieses Mal unüberhörbar klackernd. Keineswegs eines der ersehnten Geräusche.

 

Melinda Graf besuchte ihre Tochter erst am Nachmittag. Sie brachte einige alte Fotos mit und zeigte neuere Bilder auf ihrem Smartphone. Doch für Mana wirkte alles noch immer fremd. Auch war diese Person ihr unheimlich. Melindas Blick klebte regelrecht an ihr. Sie ergriff bei jeder Gelegenheit ihre Hand oder strich ihr über den Kopf. Vielleicht war ein solches Verhalten normal für eine Mutter, deren Tochter beinahe gestorben wäre, aber Mana war es mehr als unangenehm. Melinda roch außerdem so stark nach blumigem Parfum, dass sie erneut Kopfschmerzen bekam.

Ihre Mutter wirkte schwach und ausgezehrt, als hätte sie eine chronische Erkrankung. Doch das anzusprechen, brachte Mana nicht über sich.

»Warum seid ihr nie mit auf den Kinderfotos?«, fragte sie stattdessen.

»Das waren alle Fotos, die ich auf die Schnelle gefunden hatte.« Melinda blätterte mit ihren hageren Fingern durch die Bilder. »Von mir gibt es kaum welche, weil ich die Aufnahmen meist gemacht habe. Ich bin auch nicht besonders fotogen und verabscheue Fotos von mir. Und Bernd war oft auf Einsätzen.«

»Ihr scheint nicht sehr glücklich zu sein, ihr beide.« Mana biss sich innerlich auf die Zunge. Sie wunderte sich selbst über ihre Direktheit und wusste gar nicht genau, warum ihr das über die Lippen kam. Es ging sie schließlich nichts an, oder doch? Sie wollte schon gerne wissen, was für Menschen ihre Eltern waren.

Melindas sonst so ausdrucksstarkes Gesicht versteinerte kurz, sie wirkte überrumpelt und zögerte mit der Antwort. »Du hast recht, wir haben uns etwas auseinandergelebt in letzter Zeit. Aber wir wollten dich damit nicht belasten, gerade in deiner jetzigen Situation. Es gibt kein böses Blut zwischen uns, wir sind eben nicht mehr jung und frisch verliebt.« Ihr Lächeln erreichte nicht die Augen, als sie die Hand ihrer Tochter ergriff. »Aber dein Vater war genauso geschockt über den Unfall wie ich. Er liebt dich und ist sehr besorgt. Er kann es nur nicht zeigen.«

»Was seid ihr von Beruf?«

»Bernd ist Soldat. Hauptmann. Er diente hier in Frankfurt beim Amt für Flugsicherung der Bundeswehr. Nach dessen Auflösung hat er bis zu seiner Rente einen Bürojob in der Kaserne bekommen. Ich hingegen war immer Hausfrau und Mutter.« Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Ich mache dazu viele ehrenamtliche Dinge. So lange, bis die Enkelkinder kommen.« Ihr Auge zuckte, als versuchte sie ein Zwinkern.

»Habe ich Geschwister?«

»Nein.« Melindas Blick wurde trüb. »Ich wollte gerne mehr Kinder, aber es hat nicht sollen sein.«

»Bitte erzähl mir von meinem Leben.«

Wieder eine Veränderung im Gesicht, teils traurig, teils mitleidig gehobene Brauen und ein Schmunzeln. »Du warst immer ein sehr aufgewecktes und dickköpfiges Mädchen. Oft war es gar nicht so einfach, deine Mutter zu sein. Deine Oma Layla hatte dich zu sehr verwöhnt. Gott hab sie selig!« Melinda lächelte dünn, doch es wirkte verkrampft. »Im letzten Monat hast du den Abschluss in Betriebswirtschaft auf der Universität in Düsseldorf gemacht.«

Mana stutzte. »In Düsseldorf? Wohne ich auch da?«

»Ja. Aber Bernd und ich leben hier in Frankfurt, wo du auch geboren bist. Du hast mir erzählt, dass du dabei warst, Bewerbungen an hiesige Firmen zu schreiben. Ich weiß aber nicht, ob du sie schon abgeschickt hast. Aber wenn ihr beide, also du und David, eine Familie gründen wollt, ist dies ohnehin nicht nötig. David ist Architekt und betreut bereits große Projekte von internationalen Firmen.«

»Ich habe nicht vor, mit einem wildfremden Mann so bald eine Familie zu gründen.« Die Worte platzten förmlich aus Mana heraus. »Tut mir leid«, fügte sie hastig hinzu, als sie Melindas erschrockenes Gesicht sah. Diese Frau sah gesundheitlich sehr angeschlagen aus. Mana nahm sich vor, in Zukunft rücksichtsvoller zu sein.

Ihre Mutter atmete tief durch. »Du wirst dein Gedächtnis wieder erlangen, Mana«, sagte sie, doch sah ihr nicht direkt in die Augen. »Alles wird gut, dafür beten wir. Alles hat einen Sinn! Gott hat sich etwas dabei gedacht.«

»Welcher Gott?«

»Was?«

»Welcher Gott? Zu welchem Gott beten wir?«

»Äh … wir sind …«, stotterte Melinda und sah mit ihren hellblauen Augen kurz, beinahe gehetzt, zur Tür. Da war niemand. »Eigentlich Christen. Aber du hast dich auch sehr für den Islam interessiert«, fügte sie wie zur Entschuldigung hinzu und fingerte an ihrer Perlenkette.

Mana öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Sie entschied sich, das Thema zu wechseln. »Was ist mit meinen Freunden? Habe ich keine Freunde, die mich besuchen, anrufen oder Karten schreiben?«

»Du hast so viele Freunde, Engelchen.« Melindas Blick wurde sanft. »So viele beten für dich und denken an dich. Aber Ha… äh Dr. Al’Sadi meinte, dass es dich nur überwältigen würde, zu viele Menschen zu sehen. Es dürften nur einige ganz wenige kommen, die dir nahestehen, sonst wäre das eine zu große Belastung.«

»Was ist mit meinem Handy? Ich habe doch sicher ein Telefon, oder?«

»Das ist bei dem Unfall zerstört worden. Dein Auto war völlig zertrümmert und das Wrack vom Regen durchnässt. Es ist ein Wunder, dass du überlebt hast. Wir besorgen dir ein neues Handy, aber zuerst musst du einmal gesund werden.« Melinda strich ihr leicht über den Arm, als streichele sie das Fell eines scheuen Tieres.

Mana versuchte, das unangenehme Kitzeln zu ignorieren, und zog den Arm nicht weg. »Erzähle mir bitte von dem Unfall.«

Melinda hob beide Hände vor den rotgeschminkten Mund und atmete leise schluchzend ein. »Du wurdest am Straßenrand gefunden. Erst Stunden später. Kein anderes Auto weit und breit. Du musst dich überschlagen haben. Wohl mal wieder selbst überschätzt. Ein Spaziergänger fand das Wrack am nächsten Morgen.« Ihre Stimme brach ab.

»Stand davon was in der Zeitung oder in den Nachrichten?«

»Natürlich war ein Artikel darüber im örtlichen Tagesblatt, aber so etwas schaue ich mir nicht an.«

»Warum befragt mich keine Polizei dazu?«

Melinda lächelte nachgiebig und drückte Manas Hand. »Du hast eine Amnesie, Engelchen!«

Als ihr Besuch gegangen war, blieb Mana mit einem unbefriedigten Gefühl im Bauch zurück. Warum schien ihre eigene Mutter sie kaum zu kennen? Hatte sie sich ihr gegenüber verstellt oder veränderte eine Amnesie den Charakter? Sie wusste tief in ihrem Herzen, dass sie nicht der religiöse Hausmütterchen-Typ war. Hatte sie diese Seite immer vor ihren Eltern verheimlicht? Eine Erwartungshaltung erfüllt? Aber Melinda nannte sie doch auch dickköpfig und verzogen, das passte nicht zusammen. Sie wurde immer neugieriger auf ihren sogenannten Verlobten. Er kannte sie sicher besser als ihre Eltern. Mana staunte darüber, wie selektiv ihre Amnesie war. So viele Dinge fielen ihr noch ein. Sie kannte ihr Land mit seiner Sprache und Kultur. Sie konnte die Staaten der Welt aufzählen und wusste über die verschiedenen Religionen Bescheid, ohne jedoch einen persönlichen Bezug zu irgendeiner zu empfinden. Womöglich war das bei bestimmten Arten von Gedächtnisverlusten normal, aber es beängstigte sie sehr. Es schien, als hätte sie nur programmiertes Buchwissen, doch Emotionen und eigene Erfahrungen fehlten völlig. Das Wichtigste im Leben. Alles andere könnte man lernen, doch Persönliches nicht. Die Fotos und Erzählungen wirkten wie ein Theaterstück auf sie, in dem ein Doppelgänger mitgespielt haben musste, aber nicht sie selbst. Sie fühlte sich wie ein Beobachter der Welt, ohne eigenes Leben, ohne Wurzel oder Bindung. Dieser Gedanke ließ eine tiefe Traurigkeit in ihr aufkommen. Was, wenn der Gedächtnisverlust von Dauer war? Würde sie eine Frau ohne Kindheit bleiben? Ohne Andenken an sorglose Augenblicke, fröhliche Momente und fürsorgliche Eltern? Besaß sie auch ohne bewusste Erinnerung eine Prägung?

4.

 

Manas Bitte nach einem Gerät mit Internetzugang blieb erfolglos. Das Einzige, das ihr die endlose Langeweile in diesem Krankenzimmer vertrieb, war der Fernseher. Bücher befanden sich angeblich auch keine in der Praxis. Abgesehen von einer Übersetzung des Korans in der Nachttischschublade, doch daran hatte sie kein Interesse.

 

Am nächsten Tag kam Melinda mit einem jungen Mann ins Zimmer. Mana saß im Schneidersitz auf dem Bett und war froh, mittlerweile einen von ihrer Mutter geborgten Jogginganzug zu tragen, der allerdings etwas knapp saß. Melinda wollte ihr heute Abend eigene Kleider aus der Wohnung in Düsseldorf bringen.

Mana schaltete den Nachrichtensender aus und musterte den Besucher mit erhobenen Brauen. Er war vielleicht Mitte zwanzig, hatte kurze, dunkelbraune Haare und hellbraune Augen. Eine randlose Brille ließ das Gesicht sehr intelligent wirken. Die beigefarbene Hose und der gelbe Pullover sahen teuer aus.

»Hallo Mana, das ist David«, stellte Melinda den jungen Mann vor.

Ihr angeblicher Verlobter lächelte leicht unsicher. Er wirkte ebenfalls ein wenig südländisch.

War er vielleicht Muslim? Hatte sie sich daher mit dem Islam beschäftigt? Aber David war nicht wirklich ein muslimischer Name.

»Mana«, rief er. »Ich bin so froh, dass du lebst! Als ich von dem Unfall hörte, habe ich mich sofort um Urlaub und den nächsten Flug hierher gekümmert. Aber das ist in China leider nicht so einfach.« Er versuchte sich in einem entschuldigenden Lächeln und machte Anstalten, sie zu küssen, schrak aber vor ihrem abweisenden Gesichtsausdruck zurück. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?«

»Du heißt David, hat man mir gesagt. Mehr weiß ich nicht über dich.« Ihre schmalen Augen fixierten ihn auf der beinahe zwanghaften Suche nach Erkennung. Doch keinerlei emotionaler Bezug stellte sich bei seinem Anblick ein. Müsste sie sich nicht unbewusst an seinen Körpergeruch erinnern, wenn sie doch in ihn verliebt gewesen war? Sollten nicht ihre unterschwelligen Instinkte reagieren? Doch da war nichts, gar nichts.

Sie lächelte gequält.

Der junge Mann wollte ihr über die Wange streichen, doch Mana wich zurück und hob die Arme. »Bitte berühre mich nicht. Es tut mir wirklich leid. Nimm das nicht persönlich, aber ich kenne dich nicht.«

David presste die Lippen aufeinander, doch dann lächelte er. »In Ordnung. Entschuldige. Ich verstehe. Lass uns von vorne anfangen, ich habe schon einmal dein Herz erobert, da wird es mir nicht schwerfallen, es ein weiteres Mal zu tun. Vielleicht hat das auch etwas Gutes, da kann ich diesmal alles richtig machen.« Sein breites Lächeln zeigte weiße Zähne und wirkte charmant und aufrichtig. Besonders die Augen unter den dunklen Brauen gefielen Mana. Sie strahlten sanft und unaufdringlich. Sie zog dennoch die Nase kraus.

»Wohnen wir zusammen?«

»Noch nicht. Ich arbeite zurzeit für eine Firma, die Projekte in aller Welt betreut. Aber wir hatten geplant, uns gemeinsam eine Wohnung zu nehmen, sobald wir wissen, wo du einen Job haben wirst.«

Mana atmete innerlich auf. »Kann ich zurück in meine eigenen Vier Wände?«

Melinda antwortete, bevor David etwas sagen konnte. »Dr. Al’Sadi meinte, das wäre noch nicht gut. Du musst weiter stationär und unter medizinischer Beobachtung bleiben.«

»Aber ich dachte, ich komme morgen hier heraus?«

»Wir haben die perfekte Lösung gefunden.« Melinda drückte Daumen und Zeigefinger ihrer erhobenen Hand aufeinander und ihre schmalen Lippen deuteten ein Lächeln an. »Dr. Al’Sadi hat in Sachsenhausen ein großes Anwesen, aus dem er eine Art Therapiezentrum für Burn-out Patienten machen wollte. Es ist demnach alles vorhanden. Das Haus gehörte einmal uns, wir haben es ihm vor einigen Jahren verkauft. Du hast es immer so geliebt damals. Eine vertraute Umgebung und dennoch medizinisch versorgt. Ein idealer Glücksfall.« Sie schlug ihre Handflächen aneinander, doch das wirkte eher skurril als erfreut.

Mana legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. »Ich wohne da dann alleine mit diesem Arzt?«

Ihre Mutter winkte mit der Hand, als wolle sie den Einwand als lächerlich abtun. »David wird natürlich bei dir bleiben. Es sind genügend Zimmer vorhanden. Ich kann leider nur zu Besuch kommen und dein Vater schafft es gar nicht, er ist beruflich zu sehr eingespannt. Ich würde auch dort wohnen, wenn ich könnte. Aber ohne mich läuft nichts bei der Spendenaktion und das wäre zum Leidwesen der Kinder. Das willst du doch auch nicht, oder?« Melinda plapperte.

Mana hatte kein Verlangen, diese Frau um sich zu haben. Doch der Gedanke, ganz alleine mit fremden Männern zu sein, gefiel ihr auch nicht sonderlich.

»Wäre es nicht besser, ich komme zurück in meine gewohnte letzte Umgebung? Wie soll ein Haus aus der Kindheit mir helfen, mich an das Jetzt zu erinnern?«

Ihre Mutter hob belehrend den Zeigefinger. »Die ersten Lebensjahre prägen einen am stärksten. Gerade, was Emotionen betrifft. Ich bin nicht der Spezialist hier, mein Engel, Dr. Al’Sadi ist es. Ich denke, wir sollten auf ihn hören.« Ihr Lächeln wirkte nachgiebig, wie zu einem Kleinkind, doch Mana wollte sich noch nicht geschlagen geben.

»Vielleicht könnte man hierzu eine zweite Meinung einholen?«

»Dr. Al’Sadi ist der beste Neurologe im ganzen Land, er bildet andere Ärzte aus. Nicht nur in Deutschland, er ist einer der bekanntesten Spezialisten der Welt. Wir haben nur den Fähigsten an dir operieren lassen. Eine zweite Meinung würde unsinnig sein.« Sie lachte spöttisch auf.

Mana presste unbefriedigt die Lippen zusammen. Melindas aufdringliches Parfüm zog wie eine beißende Nebelschwade gefühlt bis in ihr Gehirn. Eines wusste Mana inzwischen sicher: Sie war nicht der Typ, der sein Leben gern in die Hände anderer legte.

»Was wurde überhaupt operiert? Ich habe gar keine Narbe.«

»Es war ein minimalinvasiver Eingriff mittels Endoskop, der nur einen winzigen Schnitt am Hinterkopf benötigte. Alles ist bereits verheilt.« Melinda schulterte ihre Handtasche. »Ich werde nun mit David nach Düsseldorf fahren und deine Kleider holen.« Bei diesen Worten legte sie dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. Mana hatte den Eindruck, als zog der leicht den Kopf ein bei der Berührung, doch wenn, ließ er sich nichts anmerken und nickte lächelnd. Sie schloss kurz die Augen. Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet. Ganz egal, diese seltsame Erklärung stank doch zum Himmel.

Wenn sie keine Wunde mehr fühlen konnte, warum waren ihre Haare in der Zeit dann nicht schon stärker nachgewachsen?

5.

 

Ihre Sachen bekam sie erst am nächsten Morgen. Frau Schmitz stellte eine große Sporttasche ins Zimmer und sagte in ihrem hessischen Dialekt, dass Herr und Frau Graf vor der Tür warteten, bis sie umgezogen wäre.

Mana verharrte einen Augenblick und starrte die dunkelblaue Tasche an. Sie hatte sich die ganzen letzten Tage wie eingesperrt gefühlt und nun, da die Tür endlich unverschlossen war, kam es ihr vor, als warteten dahinter Wachen vor einem Gefangenentransporter. Doch diese ewige Skepsis könnte genauso gut eine Folge der Amnesie sein.

Wie sollte sie auch ein Vertrauen aufbauen, wenn alle Menschen ihr fremd waren? Sie hatte keine Erinnerungen an Erfahrungen in ihrem Leben.

 

Nach dem Duschen betrachtete Mana ihr Spiegelbild. Körperlich fühlte sie sich schon wieder bei Kräften. Ihre anfangs so fahle Gesichtsfarbe sah durch die vom warmen Wasser nun leicht geröteten Wangen gesund und munter aus, lediglich der rasierte Kopf störte sie noch sehr. Natürlich konnte sie froh sein, am Leben zu sein, und Haare wachsen wieder nach. Dennoch fühlte sie sich mit diesem Stoppelschnitt unwohl. Oben in der Sporttasche lag ein geblümter Schal aus dünnem Stoff, den sie sich um den Kopf wickeln konnte. Eine einfache Mütze wäre ihr lieber gewesen.

In ein Handtuch gewickelt sah sie durch die restlichen Kleider. Das hatte sie also getragen?

Alles neutral und einfarbig gehalten. Sie sah sich nicht als der unscheinbare Typ.

Mana holte eine dunkle Jeans und ein petrolfarbenes Langarmshirt heraus. Nichts von den Sachen weckte ein vertrautes Gefühl in ihr. Auch nicht die Unterwäsche. Sie gefiel ihr nicht einmal besonders.

Als sie mit gerunzelter Stirn den gestreiften Baumwollslip in ihrer Hand drehte, bemerkte sie einen hinter das Etikett geschrieben Namen. Das Blut schoss ihr in den Kopf, als sie las, was da in winziger Handschrift stand: Jessia G..

Sie schluckte. Hatten ihre Eltern nicht gesagt, die Kleidung käme aus ihrem eigenen Schrank? Gab es eine gute Freundin namens Jessia? So gut, dass sie sogar Slips tauschten? War sie doch nicht so wohlhabend wie Melinda behauptete und hatte secondhand Klamotten, inklusive Unterwäsche? Sie ertappte sich dabei, vorsichtig zu schnüffeln, ob der Slip auch gewaschen und nicht etwa benutzt war, doch man roch nur Waschmittelduft. Die Kleider passten ihr genau.

Das war alles zu seltsam.

Mana befeuchtete ihr erhitztes Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Waschbecken und versuchte, sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen, als sie angezogen und mit der Tasche über der Schulter aus dem Zimmer trat. Ihre Eltern standen dort mit Dr. Al’Sadi und erwarteten sie.

Auf dem Weg durch den vereinsamten Flur fragte Mana ihre Mutter wie nebenbei, wie denn ihre besten Freundinnen hießen. Melinda zählte einige auf, doch eine Jessia war nicht darunter.

Dabei kam Mana gerade dieses Wort bekannt vor. Obwohl ungewöhnlich, war es einer der wenigen Namen seit ihrem Erwachen aus dem Koma, der nicht völlig fremd und absurd klang.

»Habe ich eigentlich einen zweiten Vornamen?«, fragte sie. Das G für den Nachnamen würde ja stimmen. Jessia Graf.

»Warum willst du das denn wissen?« Eine Gegenfrage von Melinda.

»Ich dachte, vielleicht hilft es mir, mich zu erinnern. Keine der Namen, die ich bisher hörte, wirken vertraut.«

»Nein, du hast keinen weiteren Vornamen«, warf Bernd ein. Der Tonfall war hart und knapp, als wolle er das Gespräch mit diesem Satz beenden. Es gelang, Manas Mund klappte wieder zu.

Dr. Al’Sadi schritt schweigend, aber energisch voran. Ihn hatte Mana seit ihrem Aufwachen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und nun sollte sie mit diesem Mann in seinem privaten Wohnhaus leben? Zusammen mit einem dubiosen Verlobten?

Warum wurde sie von ihrer vertrauten Umgebung und Freunden abgeschnitten, nur mit Erinnerungen aus der Kindheit konfrontiert? Das ergab doch vorne und hinten keinen Sinn.

Sie spürte eine Panik in sich aufsteigen, als sie dem Arzt durch den Gang folgte. Rechts und links eingegrenzt von ihren sogenannten Eltern. Sie war eine erwachsene Frau, körperlich und geistig zurechnungsfähig. War es überhaupt rechtens, sie gegen ihren Willen von ihrer eigenen Wohnung fernzuhalten?

Eine Glastür führte zu dem Innenhof, den sie von ihrem Fenster aus gesehen hatte. Ein weißer Mercedes stand davor. Sie stoppte abrupt.

»Ich möchte in meine eigene Wohnung«, erklärte sie mit bebender Stimme.

Lieber noch wollte sie zur Polizei.

»Dort ist alles, was du brauchst.« Bernd wies auf die Reisetasche. »Wenn noch etwas fehlt, sag einfach Bescheid, David kann es dann mitbringen.«

»Das meinte ich nicht. Ich möchte nicht in dieses Haus! Wie kann ich euch überhaupt erreichen? Ich habe kein Handy, keine Telefonnummer, nicht einmal eine Adresse.« Die Panik verstärkte sich, ihr gesamter Körper war angespannt und auf Flucht eingestellt. »Wie lautet meine Adresse? Wie lautet eure Adresse und Telefonnummer?«

»Schatz, beruhige dich.« Melinda umklammerte mit ihren hageren Fingern Manas Oberarm. Die Nägel waren frisch manikürt. Französisch dezent, ohne Kitsch. »Wir bleiben doch ganz in der Nähe. Ich verstehe, dass dies alles bedrohlich wirken muss, aber du kannst uns vertrauen. Es ist nur zu deinem Schutz. Ein paar Tage zur Beobachtung in einer dir altvertrauten Umgebung. Damit es keinen Schock gibt. Dann holen wir dich ab. Dr. Al’Sadi ist ein alter Freund der Familie, auch er hat nur dein Wohlergehen im Sinn.«

Mana schluckte, sie war zu verunsichert.

Bernd schob sie durch die Glastür zu Dr. Al’Sadi, der am Auto wartete. Sollte sie versuchen, abzuhauen? Aber wohin? Ohne Erinnerungen, Papiere oder Geld? Ihr blieb in der jetzigen Situation nichts anderes übrig, als diesen Menschen zu gehorchen. Wenn dieser Arzt ihr etwas würde antun wollen, hätte er die ganze Zeit schon Gelegenheit dazu gehabt. Er schien ohnehin nicht besonders interessiert an ihrer Person zu sein.

---ENDE DER LESEPROBE---