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England 1787 Kapitän Jack Farson und Effie Preston sind überglücklich, als Effie vermutet, dass sie schwanger ist, und Jacks Tochter Liliana ebenfalls ein Kind erwartet. Ihre Freude wird jedoch jäh unterbrochen, als Jack einen Drohbrief von einem mysteriösen Absender namens Morta erhält, den niemand zu kennen scheint. Die Situation eskaliert, als Effie entführt wird. Jack kämpft gegen mächtige Widersacher, um sie zu retten und seine Familie zu schützen. Wird Morta das idyllische Leben der Familie zerstören, oder wird es Jack gelingen, seine Feinde erneut zu besiegen und der Gefahr ein Ende zu setzen?
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WELTENBAUM VERLAG
Vollständige Taschenbuchausgabe
05/2023 1. Auflage
Das Salz des Meeres-Preston Saga
© by Sylvia Kaml
© by Weltenbaum Verlag
Egerten Straße 42
79400 Kandern
Umschlaggestaltung: © 2022 by Magicalcover
Lektorat: Julia Schoch-Daub Feder und Flamme Lektorat
Korrektorat: Hanna Seiler
Buchsatz: Giusy Amé
Autorenfoto: Privat
ISBN 978-3-949640-46-9
www.weltenbaumverlag.com
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Sylvia Kaml
Das Salz
des Meeres
Die Preston Saga 3
Historischer Roman
Kapitel 1
Effie
Auf der Nemesis
Mai 1787
Effie stand an der Reling der Nemesis und betrachtete die Schaumkronen auf dem tiefblauen Meer. Sie kamen und gingen, glitzerten dabei in der Sonne als wollten sie ihr zuzwinkern.
Der schwarz-weiß gestrichene Bug der schlanken Fregatte hob und senkte sich, während er mühelos durch die Wellen schnitt. Die hellen Segel blähten im Wind, der auch Effies kastanienbraune Locken umher wirbelte. Hinter ihr an Deck herrschte das gewohnte Treiben der Matrosen. Taue wurden gezurrt, Knoten gesetzt, die Rahen ausgerichtet und Segel eingeholt oder neu gehisst, je nach Windstärke und Kurs. Effie hielt ihr Gesicht in die Sonne und atmete die salzige Luft tief ein. Die Geräusche im Hintergrund, die einst so fremd und neu für sie waren, klangen nun vertraut, beinahe heimisch: Die Pfiffe des Bootsmanns, das Rufen der Matrosen, das Knarzen von Holz und Seilen und das Klatschen der Wellen gegen den Rumpf des Schiffes ... dazu der weite, nie enden wollende Horizont vor sich. Sie glaubte nun zu wissen, was Jack so sehr an diesem Leben auf See liebte.
In diesem Moment sprang etwas aus dem Wasser. Effie zuckte mit einem unterdrückten Schrei zurück. Ihr erstaunt geöffneter Mund wandelte sich in ein Lächeln. Delfine! Immer mehr Finnen ragten hervor und ein Delfin nach dem anderen hüpfte über die Wellen. Ihr ging das Herz auf bei dem Anblick der verspielten Wesen und sie hätte beinahe gejauchzt wie ein kleines Mädchen. Es war stets herrlich, wenn diese Tiere das Schiff begleiteten.
»Sind sie nicht wundervoll?«, hörte sie Graces Stimme neben sich. Effie hatte gar nicht bemerkt, dass die Köchin zu ihr getreten war. »Ich sehe ihnen immer gerne zu. Delfine wirken so fröhlich und frei.«
»Bringt es nicht Glück, wenn man sie sieht?«, fragte Effie hoffnungsvoll. Sie könnte dies mehr als dringend gebrauchen.
»Nicht zwingend Glück.« Die rauchige Stimme der alten Afrikanerin klang verschwörerisch. »Aber sie geben Zeichen und deuten neue Wege an.«
Ja, das mochte zutreffen. An einem Scheideweg befand sie sich. Nicht nur, weil sie überlegte, das Landgut aufzugeben und ganz bei Jack auf der Nemesis zu bleiben. Nein, etwas anderes lag ihr auf der Seele. Effie seufzte innerlich. Sie drehte sich zu der Köchin. »Grace?«
Die ältere Frau sah sie mit ihren dunklen Augen fragend an. Ein leichter Grauschleier lag auf ihren Pupillen und die große Narbe über dem Gesicht gab Effie noch immer eine Gänsehaut.
»Ich benötige deinen Rat.« Sie blickte sich aus den Augenwinkeln um, aus Sorge, belauscht zu werden, doch jeder an Bord ging regsam seiner Beschäftigung nach. Jack legte sehr viel Wert auf Disziplin auf seinem Schiff.
Grace schien ihre Unsicherheit zu bemerken. »Komm, lass uns in meine Kammer gehen.« Sie lächelte ihr aufmunternd zu. »Dort sind wir unter uns.«
Effie nickte dankbar und folgte ihrer Freundin unter Deck. Noch immer musste sie sich aufgrund der Schräglage an der knarzenden Bretterwand abstützen, als sie die hölzernen Stufen nach unten gingen, dabei sollte sie langsam Seebeine entwickelt haben.
Sie glaubte, die alte Frau würde sie zu ihrer Kabine führen, stattdessen ging sie zielstrebig zur Kombüse. Im größeren Vorraum stand der Hilfskoch Rinaldo am Herd, während zwei Schiffjungen Kartoffeln schälten. Grace grüßte die drei mit einem Nicken und führte Effie durch die Kombüse an den Regalen und dem Tisch vorbei in die kleine Kammer dahinter. Effie zögerte. Dieser Raum war Graces Heiligtum, niemand außer ihr selbst oder der Katze Auma durfte ihn betreten. Einige Matrosen munkelten, die Afrikanerin braute dort Zaubertränke oder hielt Voodoo-Rituale ab.
Die alte Frau lächelte beruhigend. »Dort drinnen sind wir unter uns. Die Wände schützen jeden, der den Raum betritt.« Ihre Stimme klang leise, beinahe beschwörend, und erinnerten Effie nur mehr an Hexenzauber. »Du kannst mir an diesem Ort jedes Geheimnis und jede Sorge anvertrauen, nichts wird ihn ohne Einverständnis verlassen.«
Effie nickte und folgte ihr mit klopfendem Herzen, jedoch nicht ohne Neugier durch die kleine Tür. Statt einer muffigen Kammer drang ein betörender Duft von Kräutern und Ölen in ihre Nase. Grace entzündete einige Kerzen, um den fensterlosen Raum zu erhellen. Effie blickte sich verwundert um. Keine Knochen, Giftpfeile oder Voodoo-Puppen standen in dem seitlichen Regal, wie sie es erwartet hätte. Lediglich Bücher und Gläser mit Gewürzen füllten es. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen befand sich hier, sowie ein Kruzifix an der Wand, unter dem die Frau nun eine weitere Kerze entzündete. Das flackernde Licht gab zusammen mit den Schatten die Illusion, dem Erlöser am Kreuz Leben einzuhauchen.
Effies Blick blieb daran hängen.
»Was überrascht dich?«, fragte Grace schmunzelnd.
»Ich ... ich hätte hier kein christliches Symbol erwartet.« Nicht auf Jacks Schiff und erst recht nicht in der Kabine einer als Heidin verschrienen Afrikanerin.
»Ich wurde auf einer Zuckerplantage geboren und von meinen Herren im Glauben an Jesus Christus, unserem Gebieter, erzogen. Ich vertraue fest auf ihn und folge seinen Geboten. Setz dich.«
Effie nickte, noch immer zu irritiert, um weiter darauf einzugehen, aber auch mit einem Schuldgefühl im Magen. Sie wusste nicht, ob es davon kam, dass sie den Gerüchten geglaubt und dieser Frau, die sie schon lange als Freundin sah, schwarze Magie unterstellt hatte, oder der Tatsache, dass Ihresgleichen sie versklavten und die eigene Religion aufzwangen. Sie nahm auf dem Stuhl Platz und Grace setzte sich gegenüber.
Ihre dunklen Augen sahen sie auffordernd an. »Was bedrückt dich?«
Effie atmete tief durch. »Es ist etwas, worüber ich nur mit einer Frau reden kann und ich bitte dich, niemandem etwas zu sagen.« Sie blickte Grace flehend in die Augen und die alte Frau nickte.
»Ich ...« Ihre Kehle, drohte, sich zusammenzuziehen. »Ich blute nicht mehr.« Nun war es raus. Sie hoffte, Grace entging in dem schwachen Kerzenschein die Rötung ihrer Wangen. »Es sind erst vier Wochen, aber ich war stets regelmäßig in dieser Sache, solange ich mich erinnere. Ich glaubte erst, es sei das zunehmende Alter, welches diese Veränderung bewirkt, aber nun kommen mir Zweifel.«
Grace nickte mit ernster Miene. »Hast du es Jack berichtet?«
Effie schluckte, ein erneutes Zuziehen, als spanne sich ein enges Band um ihren Hals. »Ich weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll. Wir achteten darauf, uns nicht zu den besonderen Zeiten zu lieben.« Sie schluchzte. »Ich wollte früher so gerne ein Kind. Aber da ich ledig blieb, kam es nie dazu. Später brachte meine Schwester mir ihre Tochter zum Großziehen, da sie ihr lästig war. Durch Liliana hatte ich nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben, sie ist wie eine eigene Tochter für mich.« Sie atmete tief durch, ein letzter Versuch, die Tränen zurückzuhalten. »Ich bin vierundvierzig, Grace! Ganze zwei Jahre älter als Jack. Viel zu alt für ein erstes Kind. Ich fürchte, auch er würde das nicht mehr wollen.« Nun liefen ihre Augen doch über. Effie vergrub das Gesicht in den Händen und schimpfte sich im Stillen dafür. »Vielleicht ist es doch das Alter und nicht, was ich fürchte?«, schluchzte sie. »Ab wann hören Frauen auf zu bluten?«
Grace legte sanft den Arm auf ihre Schulter. »Spürst du ein Ziehen im Unterleib oder ein Spannen in der Brust? Hast du Übelkeit morgens oder nimmst du manche Aromen anders wahr?«
Effie senkte ihre Hände und atmete tief durch. Grace reichte ihr ein Taschentuch und sie schniefte. »Ich dachte, die Übelkeit käme vom Seegang. Ein Ziehen spüre ich, ja.«
»Du musst es Jack sagen.«
»Ich habe solche Angst davor.«
Grace nahm ihre Hand und drückte sie. »Das musst du nicht. Jack lehrt vielleicht seinen Feinden oftmals das Fürchten, doch die, die er liebt, beschützt er wie eine Löwin ihre Jungen. Er würde sein Leben für dich geben.«
»Ich weiß. Es ist auch keine Furcht vor ihm oder seiner Reaktion, die mich zurückhält. Es ist vielmehr ...«, sie rang nach Worten, »ein derartiges Gespräch würde es ... endgültig machen. Dabei weiß ich noch gar nicht sicher, ob es nicht doch etwas anderes ist.«
Grace lächelte verstehend. »Du willst den Gedanken nicht an dich heranlassen? Du denkst, wenn du es ignorierst, wird es vielleicht verschwinden?«
Effie senkte den Blick. Ihre Wangen brannten. Sie fühlte sich ertappt bei diesen Worten. »Ich fürchte, ich mache ihm unnötig Sorgen damit. Ein Kind wäre für mich und auch für ihn eine große Belastung. Er würde sich vielleicht genötigt fühlen, Pläne aufzugeben, sein Leben umzustellen ... oder es gar bereuen, mit mir ...« Sie konnte den Satz nicht beenden und schluckte.
Grace sah sie lange an, ihre Hände drückten sanft die ihren. »Jack ist der letzte Mensch, der sich aus einer Verantwortung stehlen würde, Effie, du kennst ihn. Er würde auch niemals dir die Schuld geben, wenn, dann sich selbst. Ja, es kann möglich sein, dass er Pläne umwerfen muss, doch das ist er gewohnt als Kapitän. Ein Leben auf dem Meer, dem Wind und Wetter ausgeliefert, verläuft selten vorhergesehen.« Sie lächelte ihr zu. »Sprich mit ihm! Ob es nun eine Schwangerschaft ist oder etwas anderes, tut nichts zur Sache. Du darfst ihn bei solch einem Verdacht nicht außen vor lassen und musst dies auch nicht alleine durchstehen oder entscheiden. Ihm wurde schon einmal ein Kind entzogen. Er verdient Ehrlichkeit.«
Effie nickte. »Du hast recht. Danke, dass ich es dir anvertrauen durfte.« Sie sah auf und in die warmen Augen der alten Frau.
Grace lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich würde mich sehr für euch freuen, wenn es so sein sollte.«
Effie ging zurück an Deck. Eine gewohnte Brise wehte ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht und Salz auf ihre Lippen. Sie atmete tief durch. Ja, an dieses Leben könnte sie sich gewöhnen.
Jack unterhielt sich mit seinem Steuermann Ove an der Reling. Effie kam nicht umhin, innezuhalten und den Mann, der nun an ihrer Seite war, zu betrachten. Wie attraktiv er aussah im Schein der Sonne. Wie so oft trug er nur das weiße Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln über den schwarzen Kniehosen und verzichtete auf Kapitänsrock und Dreispitz. An seiner Autorität ging dadurch nichts verloren, die spiegelte sich in der aufrechten Haltung und dem strengen Blick wider. Auf diesem Schiff würde ihn seine Mannschaft auch in Lumpen als Kapitän ansehen ... selbst gänzlich unbekleidet. Effie schmunzelte bei dem Gedanken. Sie fand Jack noch attraktiver, wenn der Wind das Hemd seinen Oberkörper umwehen ließ wie eine Fahne, und ihm halblange, schwarze Haarsträhnen aus dem Zopf wirbelten. Seine Augen leuchteten unter der gebräunten Haut so blau wie das Meer selbst. Mit einem seiner muskulösen Arme umfasste er das Tau, das an der Reling festgezurrt war. Auf See gewöhnte man es sich an, immer eine Hand am Schiff zu haben, wenn möglich. Sie seufzte still. Stundenlang könnte sie hier stehen und ihn betrachten, wie ein heranwachsendes Mädchen die erste große Liebe.
Sie atmete tief durch und ging zu den beiden Männern. Mit der rechten Hand hob sie ihren langen Rock leicht an, während die linke Halt an der salzverkrusteten Reling suchte. Noch immer fürchtete sie, bei dem Wellengang auf den feuchten Planken auszurutschen.
Ove nickte ihr freundlich zu. Jack sah sie und sein sanftes Lächeln traf Effie mitten ins Herz. Sie liebte diesen Mann so sehr!
»Habt ihr den Kurs besprochen?« Sie bemühte sich, einen neutralen Ton zu wahren.
Jack nickte. »In gut zwei Wochen werden wir wieder in Bristol anlegen.« Er trat neben ihr an die Reling, stützte seine Handflächen auf dem Geländer ab und blinzelte in die Sonne. »Dann ist es gewiss vorbei mit dem schönen Wetter.«
Effie schluckte. Im wahrsten Sinne des Wortes! Bereits bei dem Gedanken legte sich eine dunkle Wolke über ihr Gemüt. Sollte sie tatsächlich ein Kind erwarten mit Jack, würde sie sich entscheiden müssen. Ein Leben mit ihm auf See oder alleine mit Kind auf dem Landgut. Letzteres hatte sie bereits mit Liliana erleben müssen, auch wenn ihre Nichte erst mit acht Jahren zu ihr gekommen war. Effie wollte nicht mehr alleine sein, aber Jack würde sein Schiff gewiss niemals aufgeben, immerhin hängte auch seine Existenz von den Handelsfahrten ab. Vielleicht aber zeitweise für ein Kind? Sie musste es ihm sagen. Irgendwie. Später.
Jack drehte sich zu ihr und legte seinen Arm um ihre Taille. »Was bedrückt dich?« Seinem geübten Blick entging nichts. Als Kapitän eines solch großen Schiffes musste er die Augen überall haben und auch Stimmungsschwankungen der Mannschaft rechtzeitig erkennen, ansonsten könnte es fatale Folgen haben.
Effie sah ihm in die blauen Augen, die für sie warme Geborgenheit ausstrahlten. Eine sichere Zuflucht. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zögerte aber.
»Baumstamm Steuerbord voraus!«, rief Jonas vom Ausguck. Effie sah, wie Jacks Mimik sich von einem Moment zum anderen wandelte. Vom besorgten Partner zum Kapitän. Er sah mit abschätzend gerunzelter Stirn hinaus aufs Meer. Ein dunkler Schatten schwamm auf den Wellen. Kam dieses Treibholz von der Küste Afrikas, an der sie entlang segelten?
»Brian!«, rief Jack seinem Bootsmann zu. »Baumstamm! Lass die Männer anluven, ich würde den ungern rammen.«
Der Lockenkopf nickte und legte die Pfeife an die Lippen. Das Fußgetrappel mehrerer an Deck stürmender Matrosen ertönte, die sofort auf die Pfiffe und Handzeichen reagierten und die Segel zu trimmen begannen. Alles geschah gewohnt geübt in einem eingespielten Team.
Jack nahm das nickend zur Kenntnis und drehte sich wieder zu Effie. »Entschuldige, was wolltest du sagen?«.
Sie winkte ab. »Es eilt nicht, wir können ein anderes Mal sprechen.«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, sein sanfter Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. »In Ruhe lässt sich alles besser regeln. Es läuft nichts weg hier an Bord.« Er nickte ihr zu und lief dann flott zu seinem Rudergänger.
Effie sah ihm nach und blinzelte in die Sonne, die ihre Wangen mit Wärme liebkosten. Im Stillen dankte sie Jonas für die Unterbrechung. Es wäre ohnehin nicht der richtige Zeitpunkt und Ort für ein derart pikantes Thema gewesen.
Am Abend nahm sie das Essen gemeinsam mit Jack in seiner Kajüte ein. Als Kapitän hatte er das Privileg, einen recht geräumigen Raum zur Verfügung zu haben, wo sie auch zu zweit genug Platz hatten. Rinaldo servierte ihnen den Eintopf, den Grace persönlich zubereitet hatte. Es schmeckte sehr gut, dennoch schob Effie die Gemüse- und Fleischstücke mehr auf dem Teller herum, als dass sie aß.
»Unsere Vorräte gehen bereits zur Neige«, sagte Jack wie zur Entschuldigung. »Zurück in England werden wir wieder ausgewogener speisen können.«
Sie sah auf und runzelte die Stirn, bis ihr gewahr wurde, dass er ihren verminderten Appetit falsch deutete. »Graces Essen ist wie immer vorzüglich, ich verspüre heute nur weniger Hunger. Ehrlich gesagt klingt Eintopf jeden Tag beinahe besser als der Gedanke, die Küste zu erreichen.«
Jack legte den Löffel zur Seite und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Machst du dir Sorgen wegen des Landguts?«
Effie sah weiter auf den Teller vor sich. Sie schob die Kartoffelstücke nach unten und die Möhren hoch. »Nein, nun wo Eliza zur Vernunft gekommen ist, muss ich es nicht mehr aufgeben.« Oder doch? Irgendwann würde eine Entscheidung im Raum stehen.
Jack schwieg. Effie hätte gerne sein Gesicht gesehen, doch ihr Blick klebte weiter an dem Rest des Eintopfes. Zwei Fleischstücke in der Mitte wirkten wie Augen mit den Kartoffeln als Mund. Die Möhren oben wie rote Haare. Sie schob noch ein paar rote Stückchen über die gelben, sodass sei einen Schnurrbart bildeten. Effie musste wider Willen kichern. Sie sah auf und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, als sie Jacks gerunzelte Stirn erkannte.
»Entschuldige, ich benehme mich kindisch, aber der Eintopf sieht aus wie mein Schwager Richard.«
Sein Blick wanderte zum Teller und wieder zu ihr. »Mach aus dem Schnurrbart einen offenen Mund und es könnte auch deine gehässige Schwester sein«, ergänzte er trocken.
»Sei nicht so nachtragend!« Trotz des Tadels folgte sie seinem Rat. Die Karotten bildeten nun einen offenen Mund mit gelben Kartoffelstücken als Zähne und ähnelte Eliza tatsächlich etwas, wenn diese in Rage war. Ein Glucksen entfuhr Effie, sie konnte es nicht zurückhalten. »Ich fürchte, ich verliere den Verstand.«
Jack sah erneut auf das Kunstwerk. Seine sonst so kontrollierten Gesichtszüge entgleisten und er prustete lachend los. »Kein Wunder, dass dir der Appetit vergeht.« Ihn so herzhaft aus dem Bauch heraus lachen zu hören, löste die letzten Spannungen in ihr. Sie lockerte die inneren Zügel und fiel laut und hell in sein tiefes Lachen ein. Es tat unheimlich gut, die Emotionen derart herauszulassen. Sie fühlte sich befreit wie ein Schmetterling, der nach langer Zeit im Kokon endlich seine Flüge ausbreiten konnte.
Irgendwann konnte sie nur noch erschöpft nach Luft ringen, das gefühlte Band um den Magen war gänzlich verschwunden.
Jack erhob sich, trat um den Tisch zu ihr und reichte ihr die Hand. »Lass uns gemeinsam den Verstand ablegen und alle Sorgen für einen Moment vergessen.«
Effie versank in den Tiefen seiner meerblauen Augen. Sie wusste genau, was er andeutete und alleine die Berührung seiner Hand auf ihrer ließ eine Welle der Erregung durch ihren Körper fahren. Sie erhob sich lächelnd. »Mit Vergnügen.«
Später lagen sie zusammen in dem in der Wand eingelassenen Bett. Mit der aufkommenden Erschöpfung nach dem gemeinsamen Höhenflug, kamen die Sorgen zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keine Gelegenheit gefunden, doch das Unausgesprochene nagte an ihr wie eine Ratte am Tau. Länger konnte und wollte sie es nicht mit sich herumtragen. Grace behielt mal wieder recht: es zerfraß sie innerlich, jede Stunde ein Stück mehr.
Jack lag hinter ihr und sie spürte seinen Körper an ihrem Rücken. Effie genoss es, in seinen Armen zu liegen. Gewogen im gleichmäßigen Seegang der Wellen. Sie fühlte eine Zufriedenheit in sich wie lange nicht mehr. So viele Jahre war sie alleine zu Bett gegangen, ohne das Gefühl, das etwas fehlte. Nun, in seinen Armen, wollte sie dieses warme Glücksgefühl im Herzen und die Geborgenheit nie wieder missen.
»Jack?« Sie hoffte, er würde noch nicht schlafen.
»Ja?«
»Ich muss dir etwas sagen.« Die Dunkelheit des Raumes löste ihre Hemmungen, dennoch spürte sie, wie sich ihr Köper anspannte. Sie schwieg einige Sekunden.
Als bemerkte er ihre Angst, verstärkte sich seine Umarmung. Er küsste sie sanft auf die nackte Schulter, was ein angenehmes Prickeln verursachte. »Sprich!«
»Es ... es ist schwer.«
»Du kannst mir alles anvertrauen.«
»Das weiß ich ...« Verflucht, sonst war sie nie derart feige. Im Gegenteil, sie hatte schon als kleines Mädchen den Ruf gehabt, nicht gerade mundfaul zu sein. Nicht zuletzt war dies einer der Gründe gewesen, dass sie so lange alleine blieb. Die wenigen Männer, die dennoch um ihre Hand anhielten, hätte Effie lediglich aus reiner Verzweiflung genommen. Doch so tief wollte sie nicht sinken.
Sie schloss die Augen. War es wirklich nur die Angst, es auszusprechen würde diese Sache auf seltsame Art wahrmachen?
»Vielleicht bedeutet es nichts, aber ... meine letzte Blutung ist überfällig.« Nun war es heraus. Erneut stiegen die Tränen in ihre Augen und sie atmete schneller, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Ihr Herz klopfte heftiger.
Jack schwieg. Gerne hätte sie sein Gesicht gesehen, doch sie traute sich nicht, sich umzudrehen. Zu sehr fürchtete sie Schrecken oder gar Missmut darin zu lesen. Stattdessen starrte sie vor sich auf die kleine Öllampe. Seine Finger strichen leicht ihre Arme entlang. Sie spürte seine Lippen sanft an ihrem Hals.
»Wenn dies ein Zeichen dafür ist, dass ein neues Leben entsteht, wäre das schlimm für dich?«, flüsterte er in ihr Ohr.
Wie schön er dies formulierte! Sie liebte diesen Mann so sehr. »Ich weiß nicht. Was denkst du darüber?«
»Ich würde mich sehr freuen.«
»Sind wir nicht schon viel zu alt dafür? Wie soll das funktionieren auf einem Schiff?«
»Wir sind beide gesund und fit. Ich habe zudem vor, noch einige Jahre zu leben und scheue neue Herausforderungen nicht. Solange es keine gesundheitliche Gefahr für dich darstellt.«
Nun drehte sie sich um und versank durch einen Tränenschleier in seinen blauen Augen, die sie so liebte. »Noch ist es viel zu früh und lange nicht sicher. Aber ich musste es ansprechen.«
Jack lächelte und küsste sie auf die Lippen. »Ganz gleich, was geschieht, ich bin und bleibe bei dir. Das verspreche ich.«
»Danke. Es tut sehr gut, das zu hören.«
Kapitel 2
Jack
Bristol, England
Mai 1787
Während Ove am Ruder stand und die Nemesis sicher in den Kanal von Bristol lenkte, betrachtete Jack die Küste seines Heimatlandes. In dieser Stadt war damals seine Tochter Liliana geboren worden. Im März vor einundzwanzig Jahren. Sollte es nun ein weiteres Kind in seinem Leben geben? Das Gespräch mit Effie ließ ihm keine Ruhe. Gleichermaßen wie er sich darüber freute, nagten beunruhigende Gedanken an ihm wie hungrige Wölfe am Aas. Eine Schwangerschaft stellte selbst bei jungen Frauen trotz allem Fortschritt der Medizin heutzutage noch ein hohes Risiko dar. Nicht alleine ihr beider Alter, auch seine gefährliche Lebensweise und die eher unorthodoxen politischen Ansichten steigerten diese Bedenken. Die See war zudem kein sicherer Hafen für Kinder.
Dennoch durfte dies kein Hindernis sein. Auch einige seiner Matrosen hatten Familie.
Dagegen tun konnte man ohnehin nichts, was für ihn infrage käme. Wenn es geschehen war, dann war es geschehen, und sie mussten das Beste daraus machen. Der Gedanke, mit Effie gemeinsam ein Kind großzuziehen, stimmte ihn unerwartet fröhlich. Trotz seinem stillen Schwur vor vielen Jahren, sich nicht erneut Herz über Verstand auf eine Liebschaft einzulassen, fühlte es sich mit Effie anders an. Richtig. Diese Frau stellte kein lästiges Anhängsel dar, von dem man in Gefahr lief, müde zu werden, nein, sie stand mit beiden Beinen auf dem Boden und konnte für sich selbst sorgen. An ihre Gegenwart könnte er sich gewöhnen, wollte sie gar kaum mehr missen. Zudem wäre es ihm diesmal möglich, ein Vater für ein Kind zu sein, das er nicht ein Jahrzehnt lang suchen musste.
Noch während die Matrosen damit beschäftigt waren, die Fregatte am Pier zu vertäuen, sah Jack, wie ein Kurier das Schiff erreichte und einem seiner Männer einen Brief übergab. Der junge Bote machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge. Nicht einmal auf ein eventuelles Trinkgeld wartete er. Ein Verhalten, dass Jack als höchst suspekt erachtete.
Sein Matrose ging zielstrebig auf ihn zu. »Kapitän?«
Jack hob fragend die Brauen.
»Das wurde für Sie abgegeben, Sir.« Er hielt ihm den versiegelten Umschlag hin.
Jack nahm ihn an sich. »Hat der Bote irgendetwas über den Adressaten gesagt?«
»Nein, Kapitän, nur, dass ich Ihnen das Schreiben unverzüglich und persönlich aushändigen soll.«
»Danke. Nun zurück an die Arbeit!«
»Aye.« Der Mann grüßte und eilte davon.
Jack betrachtete den Umschlag. Es stand lediglich sein Name darauf, ohne Absender. Das aufgetropfte Siegelwachs wies keinen Wappenstempel auf. Er brach es und faltete das Pergament mit gerunzelter Stirn auseinander.
Verehrter Mr. Farson,
Ich kenne Ihre kriminellen Handlungen und werde diese ans Licht bringen. Ich sende Ihnen einen Sturm, aus dem es kein Entrinnen gibt. Genießen Sie den Sommer in England, es wird Ihr letzter sein.
Morta
Morta ... Jack betrachtete die Handschrift. Die Buchstaben wirkten klein, aber geschwungen, beinahe weiblich, und weder zittrig, noch abgehackt. Er würde auf einen selbstsicheren, aber verbissenen Verfasser tippen. Zudem wurde die Feder innerhalb der Worte kaum abgesetzt und die dünnen Tintenlinien deuteten auf ein schnelles Schreiben hin. Es zeigte weder Fehler, noch ein längeres Zögern aufgrund von Unsicherheit oder Überlegung. Demnach wurde der Text von einer gebildeten Person geschrieben. Dass ein derartig scharf formulierter Brief von einem bezahlten Schreiber aufgesetzt wurde, bezweifelte Jack. Wer immer dies verfasste, riskierte gewiss keine Zeugen. Demzufolge kam der Adressat selbst aus gehobenem Stand.
Zu dumm, dass der Bote so schnell abgehauen war. Er hätte den Auftraggeber zumindest beschreiben können.
Jack hielt das Papier an seine Nase. Es duftete leicht blumig, weder nach Ruß, noch nach Tabak. Also in keinem Kaminzimmer verfasst. Auch der Geruch von Salz oder Schimmel fehlte, der sich in feuchten Räumen der Schiffe oft in die Papiere setzte.
Er zerriss das Pergament schließlich in winzige Fetzen und warf es in den Wind. Nicht, dass Effie es noch in seinem Raum fand, solche Dinge würden sie unnötig aufregen. Jack selbst gab nicht allzu viel auf derartige Einschüchterungsversuche, dennoch musste er in Zukunft wachsam bleiben.
Effie
Effie saß auf dem Deck der Nemesis und genoss die wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch den stark bewölkten Himmel kämpften. Sicher würde es bald wieder regnen, doch nach der langen Zeit unter Deck wollte sie jede Minute an der frischen Luft nutzen. Die Übelkeit, die sie noch am Morgen heimgesucht hatte, war glücklicherweise verflogen.
Sie schaute über Rinaldos Liste der benötigten Lebensmittel. Später würde sie nochmal mit Grace zum Markt gehen und die Dinge besorgen.
»Miss Preston?«, hörte sie Brians Stimme vor ihr.
Sie sah auf und den Bootsmann fragend an. »Ja, Mr. Harper?«
»Gegen achtern fährt ein Schiff in den Kanal, ich denke, Sie kennen es.« Er schmunzelte wissend.
Effie sprang auf und lief zur Reling. Ihr ging das Herz auf, als sie die blau gestrichene Bark mit den gelbgoldenen Verzierungen durch den Kanal von Bristol segeln sah. Unverwechselbar die Alecto. Sie faltete ihre Hände vor der Brust zusammen und atmete tief ein, hoffentlich ging es allen gut.
Als sich das Schiff mit geblähten Segeln näherte, sah sie eine junge Frau in einem fliederfarbenen Kleid an der Reling stehen. Die langen, braunen Haare peitschten im Wind um ihr Gesicht. Liliana! Effie hob die Hände und winkte ihrer Nichte heftig zu. Tränen der Freude rannen über ihre Wangen.
Liliana winkte ähnlich wild zurück. Sie legte die Hände an den Mund und rief etwas, doch der Wind und der Lärm des Hafens verschluckten die Worte.
Die Alecto steuerte einen freien Platz weiter unten im Hafen an. Effie beugte sich über die Reling, doch verlor sie aus den Augen.
»Auf der anderen Seite des Schiffes ist ein Steg anstelle von Wasser, da könntest du trockenen Fußes zu ihnen gelangen«, hörte sie Jacks Stimme.
Sie drehte sich um und blickte ihn vielsagend an. »Ich vermisste sie so schrecklich. Liliana war an meiner Seite, seit sie acht Jahre alt gewesen ist.«
Jack nickte verstehend. »Sie ist erwachsen und verheiratet, sie führt ihr eigenes Leben. Brachtest du mir nicht erst schmerzlich bei, dies zu akzeptieren?«
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Damals posaunte ich solch eine Weisheit heraus und ahnte nicht, wie schwer es mir selbst fallen würde, loszulassen. Am liebsten würde ich sofort hinstürzen.«
Er legte den Arm um sie. »Lass die beiden erst einmal ankommen. Ich schicke Kai zur Alecto, er soll Finlay und Liliana heute Abend zum Essen einladen.«
Effie verspürte ein Glücksgefühl bei dem Gedanken. »Eine gute Idee.« Sie kannte Jacks Verhalten Lilianas Gatten gegenüber, aber ein gemeinsames Essen war stets etwas geselliges, das hoffentlich nicht in Streit endete. »Dann gehe ich gleich zu Grace und helfe ihr bei den Vorbereitungen. So bin ich abgelenkt.«
Jack nickte und küsste sie sanft auf die Lippen. Mitten an Deck, vor Matrosen und sogar den Besuchern des Hafens zeigte er trotz noch ausstehender Heirat, dass er zu ihr gehörte. Ohne Heimlichtuerei oder ein Hinauszögern, wie sie es von Männern aus ihrer Jugend kannte. Sie war so unendlich stolz.
Effie hielt nach Grace Ausschau, um ihr die fröhliche Nachricht zu überbringen.
Endlich fand sie die Köchin am Heck stehen. Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Grace unterhielt sich mit einem hochgewachsenen Fremden mit rötlichen Haaren, der schwarze Kleidung trug. Die Gesichter beider waren angespannt, es schien sich um ein ernstes Thema zu handeln. Graces Mimik konnte sie von der Seite nicht deutlich erkennen, doch der junge Mann wirkte nervös und unsicher, obgleich die Köchin neben ihm ein ganzes Stück kleiner und schmäler war.
Wer war er? Was wollte er von der alten Frau und worum ging es bei dem Gespräch? Sollte sie Jack benachrichtigen? Aber ohne sein Einverständnis käme niemand an Bord, er musste den jungen Mann daher kennen. Effie schüttelte den Kopf und drehte sich zum Gehen. Sie sollte sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen und die gute Grace brauchte gewiss keine Hilfe von ihr.
Dann sah sie, wie die alte Frau den Kopf senkte und der Fremde erst verunsichert zögerte, dann aber beinahe mitleidig ihren Oberarm berührte. Als Grace sich in ihre Richtung drehte, erkannte sie Tränen in dem faltigen Gesicht und ein Schrecken durchfuhr sie. Was hatte er ihr mitgeteilt? Eine schlimme Nachricht? Diese Person konnte doch sonst kaum etwas aus ihrer Ruhe bringen. Entschlossen ging sie zu ihr.
»Grace? Was ist geschehen?« Sie sah den jungen Mann finster an. »Wer sind Sie und was wollen Sie von ihr?«
Grace berührte mit einem sanften Lächeln ihre Hand. »Es ist alles gut, Effie, ihn trifft keine Schuld.«
Der Mann wirkte noch unsicherer und nahm seinen Dreispitz ab. »Ich entschuldige mich für das Eindringen, Madam, mein Name ist Thomas Clarkson. Ich bin Diakon und sammele Informationen über die Sklaverei und bat Miss Grace, mir zu helfen. Mit der Erlaubnis Mr. Farsons natürlich.«
Die Köchin wischte sich die feuchten Rinnsale vom faltigen Gesicht. Effie bemerkte erneut den fehlenden kleinen Finger an ihrer Hand. »Das ist eine gute Freundin von mir, Miss Elfreda Preston.«
Effie lächelte. Sie fühlte sich geschmeichelt von Grace als gute Freundin tituliert zu werden, empfand sie doch ebenso. Selten hatte sie sich derart nahe zu einer anderen Frau gefühlt.
Mr. Clarkson verbeugte sich. »Freut mich.«
Effie nickte ihm zu, doch ihre Augen blieben erneut bei der Köchin hängen. »Warum weinst du?«
»Erinnerungen, meine Liebe.« Sie seufzte leise. »Es sind nur Erinnerungen.« Sie lächelte sanft. »Setzen wir uns, Mr. Clarkson. Ich werde Ihnen alles berichten.« Sie sah zu Effie. »Möchtest du lieber gehen?«
Diese schüttelte beherzt den Kopf. Sie kannte Grace gut genug um zu sehen, dass sie ihre Nähe bevorzugen würde. Auch wenn es nicht über ihre Lippen kam, ihr Blick sprach diese Bitte deutlich aus. Als Effie sich auf die Seilrollen setzte, nahm sie Graces raue Hand in ihre. Sie wollt ihr alle Kraft geben, die sie besaß. Die Köchin ließ es sich gefallen. Thomas Clarkson zückte sein Notizheft und einen Silbergriffel und seine blaugrünen Augen weiteten sich erwartungsvoll.
»Ich wurde auf einer Zuckerplantage in der Karibik geboren«, begann Grace leise und monoton zu erzählen, als wolle sie jegliche Emotionen von sich fernhalten. »Das genaue Jahr kenne ich nicht, aber es muss um 1720 gewesen sein. Meine Mutter arbeitete von fünf Uhr früh bis beinahe Mitternacht. Sobald ich laufen konnte, musste ich mithelfen. Als ich etwa acht Jahre alt war, wurde ich der jüngeren Tochter meines Herrn als Zofe und zum Spielen geschenkt. Es erging mir nicht schlecht, die Herrin brachte mir sogar Lesen und Schreiben bei. Sie wollte mit ihren gebildeten Sklavinnen im Haus prahlen. Ich musste jeden Sonntag mit anderen farbigen Kindern in den Gottesdienst. Dort lernten wir Bibeltexte auswendig, bei jedem Fehler gab es Schläge.« Effie spürte, wie sich die schwieligen Finger um ihre Hand versteiften, doch auf dem Gesicht der Köchin zeigte sich noch immer keine Regung. »Uns wurde erzählt, wie glücklich wir uns schätzen sollten, aus dem Heidenland gerettet worden zu sein. Die dunkle Hautfarbe sei eine Strafe Gottes, des Allmächtigen. Wir wären die Nachkommen Kains und mit Sünde behaftet. Nur mit Gottesfurcht und viel harter Arbeit könnten wir uns von diesem Schandfleck freiwaschen und nach dem Tod im Himmelreich aufgenommen werden. Die Arbeit hier auf Erden als Sklave wäre unsere Chance.« Effie erkannte, wie Mr. Clarkson empört den Mund öffnete, sich dann jedoch eines besseren besann und schweigend weiter lauschte. Er schien so gebannt von der Erzählung, dass die aufgeschlagene Seite seines Notizbuchs noch immer blank war.
»Ich glaubte dies als Kind und war meinem Herrn Mr. Statfield dankbar für die Rettung aus der Sünde, in die ich geboren wurde«, fuhr Grace mit leiser Stimme fort. »Mit fünfzehn verliebte ich mich in den Küchenjungen, ebenfalls ein Sklave von Mr. Statfield. Er hieß Jon und war so geschickt beim Kochen, was ich bewunderte. Und Fantasievoll.« Das Gesicht der alten Frau nahm einen schwärmenden Ausdruck an. »Er erzählte mir von seinen Träumen, einmal freizukommen und ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Er berichtete, dass es in New York eine Gesellschaft mit freien Farbigen gäbe und er dorthin wollte. Eines Tages versuchten wir, gemeinsam zu fliehen. Wir hielten es zwei Tage durch, dann entdeckten die Bluthunde uns. Jon wurde ausgepeitscht, bis er starb. Für mich setzte sich meine junge Herrin ein. Sie sagte, Jon hätte mich verführt. Man trennte mir zur Strafe den Finger ab.« Sie machte eine Pause. Weder Effie noch der reichlich blass gewordene Mr. Clarkson unterbrachen ihr Schweigen.
»Ich gelobte, meinem Herrn von da an treu zu dienen und keine Schande zu bereiten. Auch als er mir körperlich nahe kam, wehrte ich mich trotz des Ekels und der Schmerzen nicht. Es musste alles Gottes Wille sein, wie er sagte.« Ein erneutes Zögern, bevor sie weitersprach. »Ich wurde schwanger von ihm. Mein Herr schlug mich daraufhin in den Bauch, in der Hoffnung, das Ungeborene würde so verschwinden. Als dies nicht half, holte er eine Engelmacherin und ließ sie das Kind wegmachen. Dennoch ließ er nicht von mir ab, ich musste diese Prozedur noch weitere Male erleiden, einmal blutete ich so stark, dass ich nur knapp dem Tod entkam.« Ihre Stimme wurde erneut monoton und ausdruckslos. »Als ich älter wurde und weniger attraktiv für ihn war, brachte man mich zurück auf die Plantage. Jahre später verkaufte mein Herr mich nach England. Ich wurde mit einigen anderen Sklaven auf ein Schiff geladen. Wir lagen in Ketten unter Deck, ohne Nahrung und kaum Wasser. Es war eine Zeit, in der ich längst aufgegeben hatte und mir wünschte, dass diese Reise meine allerletzte sein würde. Als wir Kanonenschüsse hörten und ich begriff, dass wir angegriffen wurden, freute ich mich. Ich hoffte, endlich sterben zu dürfen.« Sie sah auf und blickte Effie mit feuchten Augen ins Gesicht. Der schmerzverzerrte Blick der alten Frau ging ihr durch Mark und Bein, sie konnte kaum fassen, was sie da hörte.
»Doch es kam besser als ich je zu hoffen gewagt hatte«, fuhr Grace leise fort. »Kapitän Farson rettete uns und schenkte mir ein neues Leben. Hier auf der Nemesis bekam ich eine Welt geboten, in der ich mich zum ersten Mal frei und glücklich fühlte.« Sie lächelte. »Mehr brauche und verlange ich nicht.«
Effie drückte ihre Hand. Der Kloß in ihrer Kehle war zu groß, um auch nur ein Wort herauszubringen.
Mr. Clarkson räusperte sich. »Ich bin zutiefst erschüttert über das Gehörte, jedoch gleichfalls dankbar, dass Sie mir diesen doch sehr persönlichen Einblick in Ihr Leben ermöglicht haben. Es bestätigt mich nur mehr in meinem Vorhaben, solch unsäglichem Missbrauch der Gebote Gottes entgegenzutreten.« Er stand auf und legte seine Hand auf sein Herz. »Miss Grace, bitte glauben Sie nicht den Unfug, den diese boshaften Menschen Ihnen erzählten. Kein Mensch wird sündiger geboren als der andere. Wir alle mögen gleichermaßen befleckt sein von der Erbsünde, doch unser Herr Jesus Christus ist für alle Menschen gestorben, ganz gleich welcher Hautfarbe. Dessen bin ich mir als Diakon sicher.«
Grace sah auf und lächelte. »Ich danke Ihnen, Mr. Clarkson«, sagte sie. »Heute bin ich mir darüber auch bewusst.«
Die Züge des Mannes entspannten sich und er blickte hinunter auf sein Notizbuch. »Ich war derart gefesselt von Ihrem Bericht, dass ich völlig vergaß, mir Notizen zu machen.« Er seufzte. »Dabei ist Ihre Geschichte eine, die es wert ist, dass man sie erhört.« Er sah auf. »Dennoch hat sie sich ohnehin in meinen Kopf eingebrannt und Bilder erzeugt, die ich sicher nicht vergessen werde.«
»Danke, dass Sie mir zuhörten.«
»Ich danke Ihnen.« Er zog seinen Hut. »Ich werde nun zu den anderen Matrosen gehen und diese befragen. Leben Sie wohl und in Gottes Gnaden, Miss Grace.«
Mit diesen Worten ging er davon und unter Deck, die Schritte sichtbar unsicherer. Effie hielt weiter Graces Hand und drückte diese, noch immer unfähig, zu sprechen. Besonders bei dem Gedanken an die grausamen Abtreibungen zog sich ihr Innerstes schmerzlich zusammen. Wie sehr hoffte sie selbst gerade, ein gesundes Kind zu bekommen, und dieser Frau wurde ein solches gewaltsam genommen.
Erst nach einer ganzen Weile löste Grace den Griff. »Ich sollte zurück in die Kombüse«, sagte sie als wäre nichts geschehen.
Effie lagen so viele Fragen auf der Zunge, doch sie spürte im Inneren, dass sie ihre Freundin damit nur belasten würde. »Ich ...« Ihre Stimme erstickte und sie musste sich räuspern. »Ich wollte dir Bescheid geben, dass Liliana und Finlay zum Essen kommen heute Abend.« Es war ihr unangenehm nach dem Gehörten zum Tagesablauf zu wechseln.
Graces Blick hellte sich auf, sie wirkte ehrlich erfreut. »Wie schön! Dann muss ich mich erst recht sputen.« Sie stand auf und strich ihr Kleid zurecht. »Die beiden sollen mal wieder etwas Vernünftiges zu essen bekommen. Deren Smutje lässt zu wünschen übrig, wie ich hörte.« Sie zwinkerte Effie stolz zu und schien wieder ganz die Alte zu sein.
Effie erkannte, wie es Grace freute, wenn sie gebraucht wurde, Anerkennung für ihre Künste bekam und andere umsorgen durfte. So entschied sie sich, nicht mehr weiter nachzuhaken, sofern es nicht von Grace selbst käme. Sie wollte ihre Freundin auf keinen Fall verletzen. Die Wolke des Trübsinns über der Köchin schien gänzlich verflogen und Effie schwor sich im Stillen, Graces Geschichte in Ehren zu halten.
***
Die Zeit verging wie im Flug. Effie stand bereits eine halbe Stunde früher an der Reling und jubelte im Stillen, als sie endlich das junge Pärchen den Pier entlang spazieren sah. Finlay trug seinen blauen Kapitänsrock mit goldenen Manschetten, beige Kniehosen und Strümpfen. Seine halblangen, blonden Haare waren unter dem Dreispitz wie gewohnt mit einem schwarzen Band zu einem Zopf gebunden. Lilianas Arm ruhte auf seinem. Sie hatte ihr fliederfarbenes Sommerkleid angelegt, das ihre blauen Augen und die hochgesteckten braunen Locken so wundervoll zur Geltung brachte. Effie musste Tränen der Freude unterdrücken und schob dies auf ihren derzeitigen Zustand. Die beiden waren auch ein wunderschönes Paar und wirkten so glücklich zusammen. Nach den Aufregungen im letzten Jahr freute sie sich umso mehr darüber. Lediglich die deutliche Narbe über Finlays linker Wange erinnerte noch an die Intrige, an der ihre Schwester Eliza eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte. Sie hoffte so sehr, Liliana wäre in Zukunft sicher vor den Gehässigkeiten ihrer Mutter. Besserung hatte diese zumindest gelobt.
Die beiden blickten hinauf auf die Reling und Liliana zeigte ein strahlendes Lächeln.
»Tante Effie!«, rief sie und winkte heftig.
Der Kloß in ihrer Kehle war zu dick, um ein Wort herauszubringen. Sie konnte nur ähnlich wild mit den Händen wedeln und lief ihnen entgegen.
Liliana rannte an Bord und stürzte in ihre Arme.
Effie hielt sie fest und küsste sie auf die Wangen. »Meine Kleine!« Sie nahm Lilianas Hände in ihre und betrachtete sie. »Was sage ich da, du bist größer als ich mittlerweile.« Erneut kämpften sich die Tränen in ihre Augen. »Du siehst so glücklich und erholt aus.« Ihr ging durch den Kopf, was Eliza wohl sagen würde, sähe sie ihre Tochter derart sonnengebräunt. Schnell verdrängte sie diese Gedanken wieder. Was half eine noble Blässe, wenn sie bereits den Mann ihrer Träume gefunden hatte, der sich offensichtlich nicht um derartige Moden scherte.
»Das bin ich auch, Tante Effie.« Liliana schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das gegen keinen Stern am Firmament ankommen könnte. »Sehr sogar.«
»Das freut mich!«
»Wie geht es dir?« Liliana musterte sie mit schiefem Kopf. »Auch du siehst erholt aus.«
Effie lächelte. »Die Fahrt mit deinem Vater war wundervoll.« Sie löste sich von ihrer Nichte und drehte sich zu Finlay, der höflich und geduldig mit gezogenem Hut danebenstand. »Es ist schön, auch dich zu sehen, Finlay.«
Er deutete eine Verbeugung an, doch Effie trat zu ihm und nahm ihn in die Arme. »Nicht so höflich, Junge, wir sind doch eine Familie.«
Finlay zögerte kurz, erwiderte die Umarmung aber dann herzhaft. »Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen, Effie.«
»Na, das wurde auch Zeit, dass ihr auftaucht.« Jacks strenge Stimme drang zu ihnen. Effie merkte, wie Finlay sich versteifte, als er seinen ehemaligen Vorgesetzten sah.
»Kapitän«, sagte er deutlich angespannter.
»Vater!« Liliana stürzte in seine Arme.
Jack drückte sie an sich. »Ich bin erleichtert, dich wohlauf zu sehen.«
Effie sah, wie Finlays Miene sich verdüsterte und er empört den Mund öffnete. Schnell ergriff sie Liliana am Arm. »Kommt, lasst uns in die Messe. Grace hat sich extra ins Zeug gelegt für euch.«
Liliana jauchzte. »Ich kann es kaum erwarten, ihre Gewürze sind ein Traum.«
Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch und Liliana berichtete von ihrer Reise nach Kontinentaleuropa. Das Gespräch verlief angenehm, sie scherzten und lachten. Effie genoss diese traute Runde sehr. Ihr fiel auf, dass sich Jack höflich zurückhielt und seine Tochter berichten ließ, ohne eine Diskussion mit Finlay anzufangen. Sie dankte ihm im Stillen dafür, wusste aber auch, dass Jack den jungen Mann mittlerweile akzeptierte und sogar mochte, dies aber niemals zugeben würde.
Er stand schließlich auf und holte eine Flasche hervor. »Auch einen Wein?«
Liliana winkte ab. »Für mich nicht, ich meide Alkohol. Dr. Hurley sagte, es könnte womöglich schlecht für das Kind sein.«
Effie runzelte die Stirn. Ihr war bereits aufgefallen, dass ihre Nichte das Kleid weniger eng geschnürt hatte. »Bedeutet das, du bist ...?«
Lilianas Wangen röteten sich. »Es sieht so aus, ja.« Sie blickte scheu zu Finlay, der zärtlich den Arm um sie legte und ihre Wange küsste. Seine Augen strahlten aufrichtige Freude aus.
»Deine Nichte macht mich jeden Tag aufs Neue zum glücklichsten Mann dieser Welt«, sagte er an Effie gerichtet.
Jacks Miene bliebt ungewohnt ausdruckslos. Allzu sehr schien ihn der Gedanke, Großvater zu werden, nicht zu erfreuen.
Liliana winkte beinahe beschämt ab. »Es ist noch immer recht früh und ungewiss«, sagte sie schnell. »Daher wollten wir es noch nicht publik machen. Dr. Hurley meinte, es wird wohl Ende September oder Anfang Oktober soweit sein ... sofern alles gut geht.«
»Das wird es!« Effie kamen nun doch die Tränen. »Das ist so wundervoll!« Sie schluchzte vor Freude. »Herzlichen Glückwunsch, ich freue mich so sehr für euch!« Ihr Blick traf Jacks. Der hob fragend die Brauen. Effie spürte einen Druck auf dem Magen. Sie schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Sie wollte Liliana nicht mit ihrer eigenen Schwangerschaft belasten, gerade, weil es noch so unsicher war. Jack nickte. Er verstand. Wie immer. Der Druck im Magen löste sich.
Glücklicherweise waren ihre Nichte und Finlay zu sehr mit sich selbst beschäftigt und schienen den Blickaustausch nicht bemerkt zu haben.
Jack setzte sich wieder. »Dann lasst uns alle solidarisch auf Alkohol verzichten und zu Tisch gehen«, sagte er feierlich und Effie lächelte ihm dankbar zu.
Wenig später trug Rinaldo das Essen auf. Das Reisgericht duftete verführerisch nach Koriander, Zimt und anderen orientalischen Gewürzen. Es schmeckte wie immer vorzüglich. Effie wünschte, sie könnte auch nur annähernd so gut mit Kräutern und Gewürzen umgehen, und hoffte, Grace würde ihr noch einige ihrer Künste beibringen. Sie liebte Kochen und Backen fast so sehr wie das Schneidern. Handwerklich tätig zu sein und aus Zutaten herrliche Gerichte zu zaubern, das war ein wenig wie Magie. Gerade Grace beherrschte diese Kunst wie kein anderer Mensch, den sie kannte.
Als der junge Hilfskoch gegangen war, blickte Jack seine Tochter ernst an. »Wie habt ihr eure Zukunft geplant, falls die Schwangerschaft normal verläuft?«
Liliana rollte die Augen. »Vater! Muss das sein?«
Jack hob abwehrend die Arme. »Das ist eine legitime Frage. Naive Romantik hin oder her, aber wir müssen den Tatsachen ins Auge schauen. Willst du dein Kind irgendwo auf dem Meer auf Finlays Nussschale gebären? Oder zu deiner Tante auf ihr Landgut zurück? Auch das müssten wir planen.«
Finlay legte die Gabel zur Seite und räusperte sich. »Jack, nichts für Ungut, aber das ist und bleibt unsere Entscheidung, eine passende Lösung zu finden. Auch wenn du es nicht glauben willst, sehe ich mich durchaus in der Lage, ein verantwortungsbewusster Vater zu sein.«
Jack tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Dennoch erfuhren wir alle, wie oft du in Kalamitäten gerätst. Kommt dann nicht ein weiteres Mal an und verlangt Hilfe von mir.« Seine Stimme gewann an Schärfe.
Effie seufzte innerlich. »Die beiden dürfen jederzeit zu uns kommen, wenn sie Hilfe benötigen, Jack«, sagte sie schnell, bevor die beiden Streithähne erneut in eine verbale Auseinandersetzung gerieten.
Jacks Blick schoss zu ihr, verlor aber im selben Moment an Härte. Er holte tief Luft. »Ja, du hast recht, natürlich dürfen sie das.«
Liliana lächelte. »Ich weiß, auf dich kann und konnte ich mich immer verlassen, Vater. Danke dafür.« Sie beugte sich über den Tisch und drückte seine Hand, die noch immer die Serviette hielt. »Sei dir bitte darüber gewiss, dass wir jeden unserer Schritte wohl überlegen. Wir wollen lediglich eigenständig unser Leben bestreiten.«
Ihr Vater nickte mit zusammengepressten Lippen. Effie wusste, wie schwer es ihm fiel. Hatte er seine Tochter doch schon einmal beinahe verloren. Sie nun einem anderen Mann zu überlassen, den er lange für unselbstständig hielt, glich einem zähem Stück Fleisch, dass er nur mit viel Kauen und Geduld zu schlucken vermochte.
Sie wollte das Thema Familie nicht weiter vertiefen, zu sehr wühlte es sie innerlich auf. Der Gedanke, dass sie vielleicht gemeinsam mit ihrer Nichte schwanger wäre, freute Effie zwar sehr, zugleich ängstigten sie die Sorgen darüber, was alles schiefgehen könnte. Nein, besser warten, bis es konkret werden würde.
»Was habt ihr geplant die nächsten Tage?«, fragte sie Finlay in einem gesprächigen Plauderton, um die Stimmung aufzulockern und auch, sich selbst von trüben Gedanken abzulenken.
Finlay nahm sein Besteck wieder auf. »Ich werde mich zuerst um die Ladung und deren Verkauf kümmern, dann gebe ich den Männern Landurlaub, um ihre Familien zu besuchen. Im Juli wollten wir nach Italien segeln, um bestellte Güter abzuholen.«
»Warum kommt ihr nicht mit uns nach London? Ich würde so gerne etwas Zeit mit euch verbringen, bevor unsere Wege sich erneut trennen.« Sie blickte fragend zu Jack, der nickte.
»Ich wollte Effie endlich ein Reisedokument ausstellen lassen.« Er sah zu Liliana. »Du könntest uns begleiten. Soweit ich weiß, besitzt du ebenfalls noch keinen Ausweis.«
»Das wäre wohl von Vorteil, gerade, wenn wir nun so oft in fremden Ländern an Land gehen«, stimmte Liliana zu. Sie sah zu ihrem Vater. »Segelst du mit dem Schiff nach London?«
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, die gesamte Mannschaft mitzuführen ist zu aufwendig und teuer in dieser Stadt.