Auf stillen Sohlen - Lena Häfermann - E-Book

Auf stillen Sohlen E-Book

Lena Hafermann

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Beschreibung

Mia Knoll ist in Bremen heimisch geworden. Nur noch selten hat sie Sehnsucht nach ihrer bayerischen Heimat und ihrem alten Leben in München. Ihr aktuell zu lösender Mordfall handelt von Sebastian Krämer, einem attraktiven Mittzwanziger, der in einer Schusterei arbeitete und eines Morgens dort mit brutal eingeschlagenem Schädel aufgefunden wird. Mia und ihr Kollege Andreas nehmen die Ermittlungen auf. Die erste Spur führt in das turbulente Liebesleben des Mordopfers. Ist Eifersucht das Motiv? Oder hat ihn seine einstige Drogenvergangenheit eingeholt?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Impressum

Auf stillen Sohlen

Mia Knoll und der tote Schuster

Mia Knoll ermittelt – Band 2

von Lena Häfermann

Cover erstellt mit canva.com

Kapitel 1

Der nass-feuchte Kiesweg breitete sich dunkel vor ihm aus. Schnurgerade führte er hier oben unter den dicken Bäumen entlang, die bereits ihr langsam erblühendes Blätterkleid trugen. Rechts von ihm reihten sich die prächtigen Villen am Osterdeich aneinander, wie eine hanseatische Grande Dame neben der anderen. Wer etwas auf sich hielt, sorgte mit eleganter Außenbeleuchtung dafür, dass sein Heim besonders mondän wirkte.

Einige große Pfützen, um die er jetzt immer wieder Haken schlug, verwandelten sich im trockenen Zustand in holprige Schlaglöcher und machten die Strecke bei Radfahrern denkbar unbeliebt. Sie bevorzugten den geteerten Weg, der sich gleich rechts anschloss.

Sebastian Krämer atmete die nieselige Luft ein, die einen Hauch Kaffee der in Bremen produzierenden Röstereien in sich trug. Er hatte nie herausfinden können, welchen Umständen die Stadt ihren charakteristischen Duft zu verdanken hatte. Sicher hatte es mit Luftfeuchtigkeit und Temperaturwerten zu tun. An einigen Tagen roch er fast gar nichts. An anderen wiederum konnte er gar nicht anders, als immer wieder tief durch die Nase einzuatmen, sie förmlich aufzublähen und still und zufrieden in sich hineinzulächeln.

So wie jetzt. Er liebte diesen Geruch. Er erinnerte ihn an die Zeit, als er hergekommen war. Und daran, was er seither alles geschafft hatte. Sein Leben war gut.

Er beschloss, seine Schritte zu beschleunigen. Nicht, dass er es besonders eilig hatte. Es konnte nicht länger als fünfzehn oder zwanzig Minuten her sein, dass er die Nachricht erhalten und bestätigt hatte. Was bedeutete, dass er gleich sicher noch etwas ausharren müsste. Eine halbe Stunde, das hatten sie vereinbart. Trotz der Düfte, die seiner Erinnerung und seinen Sinnen schmeichelten, luden weder Wetter noch Uhrzeit zu einem gemütlichen Spaziergang ein. Der vor ihm liegende Weg wurde ja nur noch länger, wenn er bummelte. Also legte er einen Schritt zu, während er seine Umgebung aufs Neue wahrnahm.

Tief unter ihm schwappte links am Fuße des Stadtdeichs die Weser ans Ufer; rechts von ihm fuhr an der sonst so viel befahrenen Deichstraße zu dieser Stunde nur noch selten ein Auto vorbei und warf sein Scheinwerferlicht auf den einsamen abendlichen Spaziergänger, der es plötzlich eilig hatte.

Jegliche erste zaghafte Frühlingswärme vom Tag hatte sich längst verabschiedet. Fröstelnd schlug Krämer den Jackenkragen hoch und zog die Schultern zu den Ohren. Als er merkte, dass er dabei verspannte und später vermutlich Nackenschmerzen davon bekommen würde, ließ er sie wieder fallen.

Wie warm und gemütlich das gerade noch auf seinem Sofa gewesen war, dachte er und gestattete sich einen Seufzer. Eine Flasche Bier, die er angebrochen stehen lassen musste und die später vermutlich nicht mehr sonderlich genießbar sein würde, und dazu Rocky 3 im Fernsehen – ein eigentlich perfekter, wenn auch in seinem Alter vielleicht ein eher lahmer Abend. Doch dann kam ihre Nachricht dazwischen! Diese Unart der heutigen Zeit, immer sofort reagieren zu müssen, anstatt eingehende Mitteilungen auch einfach mal zu ignorieren, bis man die Muße hatte, sich mit ihnen zu beschäftigen, dachte er jetzt mit einem zweiten Seufzer, besann sich aber sofort auf seine guten Absichten. Ein klärendes Gespräch – und das war dringend nötig zwischen ihnen – war schließlich immer hilfreich. Das hatte schon seine Oma immer gesagt. Sie war überhaupt eine kluge Frau gewesen. Leider war sie früh gestorben.

Die SMS hatte Krämer auf Wunsch der Absenderin wieder gelöscht. Sie war auf der Hut. Und er verstand das. Manche Dinge sollten besser geheim bleiben. In ihrem Fall würde das eine ziemliche Lawine lostreten.

„Nambnd“, unterbrach ein entgegenkommender Fußgänger Krämers Versuche, die Gedanken zu sortieren.

„Nambnd“, entgegnete er etwas überrascht von dem Gruß, den man auch in der kleinen Großstadt Bremen von einem gänzlich Unbekannten nicht unbedingt erwartete. Er lächelte den vorbeihuschenden Anderen kurz an, von dem er nur die Augen und die Nase sah, weil er sich ebenso wie er selbst mit hochgeklapptem Kragen und Kapuze vor Nässe und Kälte schützte.

Später würde der Andere sich an die Begegnung mit dem jungen Mann erinnern, den er, ohne dass er erklären konnte, warum, für einen Studenten gehalten hatte, und würde doch nicht viel zur Aufklärung des Falls beitragen können. Er würde sich daran erinnern, dass er ihn aus einer Laune heraus gegrüßt hatte. Einfach, weil er guter Dinge war und das Gefühl hatte, ihrer beider Anwesenheit auf dem Deich, wenn sonst nicht mehr viele Menschen unterwegs waren, knüpfte ein Band zwischen ihnen. Jetzt aber schritt Karsten Bergmann unbeirrt weiter und freute sich darauf, mit seiner Frau, die zuhause schon auf ihn wartete, noch ein Glas Wein zu trinken. In letzter Zeit musste er oft so lange arbeiten, dass die gemeinsamen Abende viel zu rar gesät waren. Auch heute war es wieder spät geworden. Die Uhr zeigte zehn Minuten vor 22 Uhr an.

Sebastian Krämer war seltsam erfreut über diesen kurzen Moment der Verbundenheit mit dem Fremden, der es ihm erlaubte, die Langeweile seines Fußweges zu vergessen. Wie nett, dachte er, und dass man leider oft überrascht war, wenn jemand eben jenes war. Nett.

Bald hatte er die Querstraße erreicht, in die er einbiegen musste, und er drehte der Weser den Rücken zu. Nach einigen Schritten bemerkte er, wie der Wind jenseits des Flussufers an Kraft verloren hatte und seine Schultern begannen, sich zu lockern, die trotz seiner ständigen Versuche, sie bewusst sinken zu lassen, immer wieder bis zu den Ohren hochgewandert waren. Er griff nach hinten in seine Hosentasche, um sein Smartphone hervorzuholen und die Uhrzeit zu checken. „Fünf Minuten noch“, murmelte er sich selbst zu, „kein Grund zur Eile.“ Er verstaute das Telefon wieder und setzte seinen Weg fort. In froher Erwartung daran, dass er in spätestens einer Stunde den Rückweg antreten würde. Vielleicht wäre das Bier ja dann doch noch trinkbar, so hoffte er. Den Film hatte er angehalten. So könnte er später weiterschauen.

Nach den nieseligen Stunden am Abend zuvor schien die Frühlingssonne am nächsten Morgen schwach, aber bemüht über Bremen. Der Himmel war von einem leuchtend hellen Blau, neblige Schleierwolken verzierten den Horizont mit verwunschenen Mustern. Mia Knoll stand am Fenster im Präsidium und sah verzückt nach draußen, wo der Frühling begann. Sie pustete vorsichtig in ihren Kaffee, den sie sich eben erst geholt hatte, und nahm dann einen ersten Schluck. Mmh, dachte sie. Der erste Kaffee am Morgen schmeckte doch immer besonders gut. Zuhause war sie noch nicht dazu gekommen, sich ihrer Morgenroutine bestehend aus einem großen Becher Lieblingskaffee und einem Moment der Ruhe zu widmen. Sie hatte verschlafen und war ohne Kaffee und morgendliches Innehalten los, um nicht allzu spät zum Dienst zu erscheinen. Ihr Kollege legte Wert auf Pünktlichkeit.

Eben seine Stimme war es, die sie jetzt etwas abrupt in den Moment zurückholte. „Mia, was träumst du vor dich hin? Ich habe dich eben schon angesprochen und du hast nicht mal reagiert“, empörte er sich.

„Mh?“ Mia drehte sich um und stand nun mit dem Rücken zum Fenster. Sie blinzelte. Nachdem sie einige Minuten in die frühlingshafte Helligkeit gestarrt hatte, konnte sie im Büro kaum etwas erkennen.

„Wir müssen los, es gibt Arbeit. Stell deinen Kaffee weg!“

Auf gar keinen Fall, dachte Mia und nahm, wie um ihre Abwehr zu unterstreichen, einen weiteren Schluck. Sie blinzelte erneut, begann klarer zu sehen und verfolgte die schlanke Gestalt ihres Kollegen mit ihrem Blick.

Der sonst so bedächtige Andreas Paulsen wuselte ungewöhnlich hektisch durch das gemeinsame Büro und machte eine auffordernde Handbewegung in ihre Richtung. Gleichzeitig begann er bereits, in seine Jacke zu schlüpfen. Dann beugte er sich über den Schreibtisch, griff nach seinem Handy und schob es nach einem prüfenden Blick aufs Display in die Jackentasche. Als er zu Mia herübersah und bemerkte, dass sie seiner Bitte bisher nicht Folge geleistet hatte, forderte er sie erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck, auf: „Na los doch, Mia. Es gibt eine Leiche. Wir müssen zum Tatort.“

Mia antwortete nicht, drückte sich jedoch von der Fensterbank ab, an die sie sich gelehnt hatte, und begann ihrerseits, ihre Sachen zusammenzupacken. Es war noch früh. Gerade halb neun Uhr und der Arbeitstag hatte eben erst begonnen. Mia hatte bislang nicht mal ihren Computer hochgefahren, als der Anruf kam, der Andreas aufgescheucht hatte. Jetzt schnappte sie sich ihren Notizblock und ihre Tasche, griff nach ihrer gefütterten Jeansjacke und blieb noch einen Moment stehen, um zu überlegen, ob sie noch irgendwo einen Thermobecher zum Mitnehmen hatte. Andreas war bereits auf dem Flur und sie hörte, wie er laut seufzte, um seinen Unmut darüber, dass sie so trödelte, kundzutun.

Sie beschloss, den Kaffee einfach im Porzellanbecher mitzunehmen. Ihr Kollege war zwar sehr bedacht auf seinen Wagen und wäre entsetzt, wenn sie in einer Kurve oder beim Bremsen etwas verschüttete und Flecken hinterließ, aber dann müsste sie eben besonders gut aufpassen, beschloss sie.

„Was ist denn los?“, maulte Mia, als sie kurz darauf endlich beide im Auto saßen und vom Hof fuhren. Andreas’ strafenden Blick auf den offenen Becher beantwortete sie lediglich mit einem Augenzwinkern und einem frechen Grinsen. Seit sie vor einem knappen halben Jahr erst zu Kollegen und dann zu Freunden geworden waren, hatte sie ihn einzuschätzen gelernt und wusste, dass er es eigentlich nicht so streng meinte. Er pflegte seine Ordnungsliebe und seine kleinen Schrullen eben gern. Die Fliege, die er oft zu Jeans und Turnschuhen trug, war eine davon. Auch heute blitzte sie wieder unter seinem Jackenkragen hervor. Mit seiner dunklen Hornbrille und den verwuschelten braunen Haaren hätte er viel eher an einen geisteswissenschaftlichen Fachbereich an der Uni gepasst als in ein Polizeipräsidium.

Mia gähnte herzhaft, während sie darauf bedacht war, den Becher gerade zu halten. Sie war müde und lehnte sich im Sitz zurück. Ihr halber Zopf drückte ein wenig, aber sie war zu faul, das dicke Zopfband zu lösen, mit dem sie ihre Haare am Hinterkopf hochgebunden hatte.

Es war ein toller Abend gewesen gestern, dachte sie jetzt und lächelte. Sie war mit ihrer lebenslustigen Freundin und Nachbarin Frederike unterwegs gewesen. Sie hatten an Bremens Bummel- und Ausgehmeile Schlachte Cocktails getrunken und darauf angestoßen, dass Mia nach Bremen gezogen war, sie beide so Freundinnen werden konnten und Mia inzwischen gar nicht mehr so scharf darauf war, endlich wieder zurück nach München gehen zu können. So wie das an ihren ersten Tagen in Bremen gewesen war, als fürchterliches Heimweh sie geplagt hatte, sie das graue Nieselwetter von Herzen verabscheut hatte und ihr die gemütliche Hansestadt alles in allem nicht mondän genug erschien. Dass sie mittlerweile heimisch geworden war, lag natürlich auch an ihrem Henrik, dachte Mia nun verträumt, und sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz unwillkürlich einen kleinen freudigen Hopser machte, als sich das Bild des großen Mannes, der es vermochte, ihr so unendlich viel Geborgenheit zu schenken, vor ihrem inneren Auge zusammensetzte.

Was hatte sie dazu neulich gelesen? Ihr Bauch fühlte sich an, als hätte sie zu viel Brausepulver gegessen. Sie grinste. So war es! Immer noch. Nach fast sechs Monaten. Henrik war inzwischen ihr Lebensgefährte und sie kannte ihn genauso lange, wie sie Bremen kannte. In ihrer ersten Woche in der Stadt hatten sie ein Spaziergang und ein wütender Sturm in die Kneipe seines Vaters geführt. Sie war vor dem Regen und der Einsamkeit geflüchtet und hatte sich dringend aufwärmen müssen. Und plötzlich stand er dort in der Tür, während sie ihr Heimweh in einem Kakao zu ertränken versuchte. Schüttelte sich wie ein Hund den Regen aus den Haaren und stellte sich ihr mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein vor. Damals hatte sie darüber die Augen gerollt. Doch wenn sie sich jetzt daran zurückerinnerte, wusste sie, dass es schon genau in diesem Moment um sie geschehen war, als sie in seine blitzenden Augen gesehen hatte. Eigentlich ein filmreifer Beginn einer Romanze.

„Wohin fahren wir? Worum geht es?“, wollte sie nun von Andreas wissen. So gut sich ihre Schwärmerei auch anfühlte, jetzt war Arbeit angesagt!

Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, antwortete Andreas: „Ein Toter bei einem Schuster im Viertel.“

„Wie bitte? Bei einem Schuster? Im Ernst?“ Mia konnte sich kaum einen seltsameren Ort für einen Mord vorstellen. Wobei, korrigierte sie sich dann. Machte ein Mord einen Ort nicht immer zu einer seltsamen Kulisse?

„Ja, der Chef hat heute Morgen die Polizei angerufen“, bestätigte Andreas auf Mias Nachfrage, „der Tote ist sein Angestellter. Er hat ihn gefunden, als er heute früh zur Arbeit kam. Mehr weiß ich bisher nicht.“

„Warum wurden wir angerufen?“, wollte Mia wissen. „Ist schon sicher, dass es kein natürlicher Tod war?“

„Muss wohl“, gab Andreas abwesend zurück und hielt bereits Ausschau nach einem Parkplatz. „Vielleicht wollten die Kollegen auch einfach auf Nummer sicher gehen.“

Er bremste ab und sah hinaus. Mehrere Polizei- und Krankenwagen standen kreuz und quer in der schmalen Straße, so als wären sie alle gleichzeitig eingetroffen und von ihren Fahrern abrupt verlassen worden.

„Schusterei Herman & Söhne. Hier muss es sein.“ Andreas wies auf das Geschäftsschild an einem der Häuser.

Es handelte sich um eine der typischen Viertel-Straßen mit Kopfsteinpflaster, verträumten Altbremerhäusern und einer verschlungenen Wegführung. Das Geschäft befand sich im Erdgeschoss eines hübschen, stuckverzierten Gebäudes und war von der bereits anwesenden Polizei schon großzügig abgesperrt worden. Ein breites Tor führte zu einem Innenhof mit einem zweiten Wohngebäude. Ein architektonisches Arrangement, das für Bremer Verhältnisse eher ungewöhnlich war.

Dutzende Polizisten hatte versucht, den Tatort vor den Blicken neugieriger Passanten zu schützen und neben dem Absperrband auch eine große Plane aufgespannt. Mia und Andreas verließen den Wagen und näherten sich dem Aufruhr, der sich am Fundort der Leiche gebildet hatte. Blicke und Getuschel folgten ihnen. Eine Traube aus Schaulustigen stand auf dem Gehweg, reckte die Köpfte und plapperte aufgeregt. Es konnten willkürliche Passanten auf ihrem Weg zur Arbeit sein, Nachbarn, die etwas mitbekommen hatten und kundtun wollten, dass sie den Schuster kannten, oder Menschen, die über Online-Kanäle von dem Vorfall erfahren hatten und sensationslustig an vorderster Front dabei sein wollten. Mia und Andreas hatten alles schon erlebt.

Sie grüßten die Polizisten mit einem Kopfnicken und schlüpften unter dem Polizeiband hindurch. Dann traten sie hinter die flatternde Folie und konnten den Tatort von außen nun selbst in Augenschein nehmen.

Das Schaufenster war eingeschlagen. Die Scherben verteilten sich im Innenraum. Dazwischen lag das Opfer, ein junger Mann in Straßenkleidung. Es sah nicht so aus, als hätte er vor der Tat gearbeitet oder hätte sich schon länger in der Schusterei aufgehalten, dachte Mia, und bemerkte die dicke Jacke, die das Opfer trug. Sie holte ihren Block hervor und machte sich diesbezüglich eine Notiz. Wenn sie es aus der Ferne richtig sehen konnte, musste der Tote schon eine Weile dort liegen. Seine Haut hatte bereits eine bläuliche Verfärbung angenommen. Die Statur wirkte starr.

Plötzlich wurde die Plane ein Stück beiseitegeschoben, nur einen kleinen Spalt, damit die Polizistin, die dahinter zum Vorschein kam, nicht zu viel vom Tatort preisgab. Die junge Frau räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen, und reichte dann zwei verpackte weiße Schutzanzüge an Mia und Andreas: „Frau Knoll? Herr Paulsen? Wenn Sie die bitte überziehen würden?“, bat sie. „Die Spurensicherung ist noch am Tatort.“ Sie wirkte verunsichert, vielleicht war sie noch in Ausbildung, und machte einen schüchternen, aber fleißigen Eindruck.

„Kein Problem“, gab Mia freundlich zurück und schenkte ihr ein Lächeln, „geben Sie ruhig her. Wie ist Ihr Name?“

„Antje Lahus.“

Mia wies mit dem Kinn auf die Menschen am Gehweg. „Nehmen Sie bitte von allen Leuten die Daten auf, Frau Lahus? Und fragen Sie, ob Sie etwas bemerkt haben?“

„Natürlich.“ Die Frau nickte eifrig. „Das habe ich mir schon vorgenommen.“

„Gut. Ich sehe, Sie haben alles im Griff“, erwiderte Mia. Sie zwinkerte ihr zu und stellte fest, dass die Polizistin vor Freude leicht errötete.

Mia und Andreas traten ein Stück zur Seite, um nicht im Weg zu sein, rissen die Verpackung auf und stiegen in die unförmigen Anzüge. Kurz darauf betraten sie die kleine Schusterei. Es roch nach Lederfett und ein bisschen nach getragenen Schuhen. Hinter der langen Holztheke befanden sich altmodische Maschinen aus schwerem Metall. Griffe und Hebel waren stellenweise schon ganz blank gerieben und Mia konnte sich den Schustermeister gut vorstellen, wie er seine Arbeit mit jahrzehntelanger Routine an den Werkzeugen verrichtete. Jetzt aber saß er auf einem wackeligen Stuhl in einer Ecke, vergrub das Gesicht in seinen Händen und gab so den Blick auf eine große lichte Stelle auf seinem Hinterkopf frei.

„Herr Herman?“, sagte sie fragend und näherte sich ihm vorsichtig. Er hob den Kopf, seine Augen waren ein wenig gerötet und seine angespannten Kiefermuskeln verrieten, dass er die Zähne kraftvoll aufeinanderbiss. Mia sah, dass er jünger war, als sie auf den ersten Blick vermutet hatte, oder besser, als sie es aufgrund des Berufes angenommen hatte. Vielleicht Ende 30.

„Ja, das bin ich“, er stand auf und machte einen Schritt auf sie zu, „Jan Herman.“

Sie reichte ihm die Hand: „Herr Herman, ich bin Mia Knoll von der Kriminalpolizei Bremen und das ist mein Kollege Andreas Paulsen.“ Sie machte eine Geste zu Andreas und Herr Hermans Augen huschten zu ihm rüber, der ihm als Begrüßung wortlos zunickte.

„Sie haben den Toten gefunden?“, fragte Mia, nachdem sie ihren kleinen Block erneut gezückt hatte.

„Ja“, der Schuster nickte schwer und schluckte in Erinnerung an den Moment, „heute Morgen, als ich zur Arbeit kam. Ich kam über den Hof“, er wies mit dem Daumen über die Schulter zu einer alten Holztür mit geprägtem Fenstereinsatz, dem der Zahn der Zeit eine gelbliche Note verpasst hatte.

Mia sah zur Tür und runzelte mit der Stirn. „Haben Sie etwa irgendetwas angefasst?“ Ihr Ton hatte unbeabsichtigt eine anklagende Note angenommen.

„Ja, natürlich habe ich etwas angefasst“, polterte Herr Herman überraschend los und Mia wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Es schien, als nutzte er die Frage als Ventil, um seinen Emotionen, denen er nicht Herr werden konnte, Raum zu geben. „Den Rahmen, die Klinke. Alles, was man eben so anfasst, wenn man eine Tür aufschließt. Konnte doch nicht wissen, dass Sebastian hier liegt.“ So plötzlich wie der Unmut gekommen war, so schnell war er auch wieder vorbei und Herr Herman sackte leicht zusammen. Mit dem Ärmel seines fleckigen Flanellhemdes wischte er sich über die Stirn. Er steckte in einem blauen Overall, wie ihn Handwerker trugen.

Mia richtete sich auf. Zu dumm, dass sie vor Schreck eben einen Schritt zurück gemacht hatte. Man unterschätzte sie aufgrund ihrer geringen Größe und der zierlichen Statur ohnehin schon häufig genug. Aber Vorsicht war immer besser als Nachsicht, besonders in unübersichtlichen Situationen am Tatort, zugleich wollte sie aber nicht den Eindruck erwecken, als ließe sie sich von einem Gefühlsausbruch einschüchtern. „Ja, natürlich, da haben Sie recht. Entschuldigung. Das konnten Sie ja nicht wissen.“

Andreas hatte die Szene weiterhin wortlos verfolgt. Mia nahm an, dass er Herrn Herman gern zurechtgewiesen und für seine Polterei gerügt hätte, aber er wusste, dass sie es nicht schätzte, wenn man sie überging, also ließ er es.

„Entschuldigen Sie, ich bin durcheinander. Kann ich dann erst einmal …?“, fragte Herr Herman fahrig und sah sich im Geschäft um. Als sein Blick auf den Toten fiel, zuckte er zusammen und starrte zu Boden. „Ich brauche einen Moment.“

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Nach hinten. In meine Wohnung. Ich muss hier raus. Ihre Kollegen wollten mich nicht gehen lassen, ehe Sie beide da sind.“

„Ach, Sie wohnen hier?“

„Ja, in dem hinteren Gebäude. Warum fragen Sie?“

„Nun, haben Sie denn heute Nacht etwas gehört oder gesehen?“

„Nein. Ich bin früh schlafen gegangen. Ich fühlte mich nicht besonders. Mitbekommen habe ich nichts“, ergänzte er und begann wieder, mit dem Kiefer zu mahlen, „meine Wohnung ist zu weit von der Werkstatt entfernt. Hätte ich doch bloß nicht so früh geschlafen!“, rief er plötzlich wieder wütend aus. „Vielleicht hätte ich helfen können!“

Es entstand eine kurze Pause. Mia warf dem Mann einen mitfühlenden Blick zu. Wie schrecklich das sein musste, dass ein Angestellter nur wenige Meter entfernt ums Leben gekommen war und man nicht helfen konnte. Schlimmer noch: sogar friedlich geschlafen hatte, während der andere getötet worden war.

„Okay, gut“, ergriff Andreas, der weniger zart besaitet war als Mia, nun doch das Wort. „Wir kommen gleich noch mal zu Ihnen, Herr Herman, ja? Bitte gehen Sie in der Zwischenzeit nicht weg.“

„Natürlich.“ Mit einem ergebenen Kopfnicken gab er sein Einverständnis und ging zur Hoftür.

„Nicht anfassen“, rief Mia ihm hinterher, eilte herüber und öffnete ihm mit ihren behandschuhten Händen die Tür, „bis nachher.“ Sie sah ihm nach, wie er mit hängenden Schultern über den Hof trottete, den Blick zu Boden gerichtet, und im Anbau verschwand.

„Scheint ihn sehr mitzunehmen“, bemerkte Andreas, der neben Mia getreten war und den Schuster ebenfalls beobachtete.

„Ja, klar“, gab Mia zurück, die sich manchmal darüber wunderte, was Andreas so alles überraschte. Er konnte im Privaten emphatisch, taktvoll und einfühlsam sein, doch insbesondere im Umgang mit dem Umfeld eines Mordopfers fehlte ihm hin und wieder jegliches Gespür. Es war, als würde die berufliche Distanz, die in ihrem Beruf sehr oft sehr dringend nötig war, dann Besitz von ihm ergreifen und alles Taktgefühl überdecken. „Ist ja auch keine einfache Situation, wenn dein Arbeitsplatz zum Tatort wird, oder was denkst du?“, entgegnete sie nun schärfer als beabsichtigt. Eine ihrer Schwächen war es nämlich wiederum, zu viel Mitgefühl zu haben. „Haben die beiden schon lange zusammengearbeitet?“, überlegte sie laut.

Ehe Andreas antworten konnte, rief ein Polizist, der Mias Frage gehört hatte: „Fast zehn Jahre!“ Mia und Andreas drehten sich überrascht um und sahen einen untersetzten Mann, der mit gezücktem Block zu ihnen herüber marschierte. Zum Gruß tippte er sich altmodisch gegen die Krempe seiner Polizeikappe. „Polizeiobermeister Müller“, stellte er sich mit wichtiger Miene vor, „wir waren heute Morgen die Ersten hier am Tatort, meine Streife und ich. Ich fahre mit Antje Lahus. Andreas, wir kennen uns ja bereits.“ Seiner Miene nach zu urteilen, war die Bekanntschaft bislang eher unerfreulich geblieben.

Mia nickte. „Ich bin Mia Knoll“, erwiderte sie, „was können Sie uns noch über das Opfer sagen? Aus Herrn Herman war bislang nicht viel herauszubekommen.“

„Nein“, der erfahrene Polizist schüttelte bedauernd den Kopf, „uns gegenüber auch nicht. Wir haben bisher nur das Nötigste. Der Tote hieß Sebastian Krämer, war 25 Jahre alt und schon seit 9 Jahren hier im Betrieb. Hat hier auch seine Ausbildung gemacht“, las Polizeiobermeister Müller seine Notizen vor, „laut Dr. Schnellsen wurde er erschlagen. Stumpfe Gewalt auf den Hinterkopf.“

Mia guckte auf die Leiche, die auf dem Bauch lag. Die Rückseite des Kopfes war zertrümmert und mit Blut verschmiert. Der Körper war mit Glasscherben übersät, wie Mia nun bei näherer Betrachtung feststellen konnte. Neben dem leblosen Körper hockte Dr. Johann Schnellsen, der Rechtsmediziner, und machte Bilder.

„Moin“, rief er, als er bemerkte, dass Mia ihn ansah.

„Moin“, gab sie zurück. „Kannst du uns schon etwas sagen?“

„Noch nicht sehr viel. Am besten, ihr wartet auf meinen Bericht.“ Seine Mundwinkel zuckten. Er wusste, wie ungeduldig die beiden Kommissare immer waren.

„Noch nicht mal, wie lange er schon hier liegt?“

Johann Schnellsen hob die Schultern. „Wahrscheinlich schon seit gestern. Später Abend. Lasst mich erstmal meine Arbeit machen.“ Dann fuhr er fort, die Leiche zu untersuchen.

„Und niemand von den Passanten hat etwas bemerkt?“, fragte Andreas den Polizisten Müller jetzt misstrauisch. „Hier im Viertel ist ja immer was los, auch in der Woche. Und die kaputte Scheibe fällt doch auf!“

„Das schon. Aber die Schusterei ist nicht beleuchtet, man kann nur etwas erkennen, wenn man direkt vor der Scheibe steht und sich wirklich anstrengt. Er konnte demnach erst gesehen werden, als es hell wurde.“

„Gab es außer Herrn Hermans Anruf noch Meldungen anderer Leute? Irgendwer, der heute Morgen hier vorbeigekommen ist und den Toten gesehen hat?“, wollte Mia wissen.

„Nicht, dass ich wüsste. Aber wer guckt auch schon so genau in eine Schusterei? Da huscht man eben dran vorbei“, gab Herr Müller ein wenig neunmalklug zum Besten. „Besonders, wenn man es eilig hat und zur Arbeit muss.“

„Gut“, sie atmete durch und dachte nach, „und weiter? Was hat Herr Krämer gestern Abend hier gewollt?“

„Das wissen wir leider noch nicht. Auch Herr Herman konnte sich keinen Reim darauf machen. Er selbst hat bis 18 Uhr gearbeitet, da war Herr Krämer noch da, aber er war auch schon auf dem Sprung. Er muss dann später wiedergekommen sein, meinte Herr Herman.“

„Hm“, machte Andreas und schaute nachdenklich auf den toten Sebastian Krämer, der von dem Arzt gerade auf den Rücken gedreht wurde. Er war einmal ein hübscher junger Mann gewesen. Mit dunklem, glänzendem Haar und stechend blauen Augen. Sein Oberkörper war breit und schien trainiert.

„Warum will man einen so jungen Kerl töten? Eifersucht? Oder finanzielle Schwierigkeiten?“, stellte Mia erste Vermutungen an, nachdem sie den Anblick einen Moment auf sich wirken lassen hat und nun versuchte, sich das Leben des Opfers vorzustellen. Ein junger Mann, attraktiv, bodenständiger Beruf. Er sah gepflegt aus, dachte sie. Niemand, der übermäßig viel trank oder Drogen nahm. Die Kleidung war schlicht, aber hochwertig.

„Wir wissen noch nicht viel über ihn“, schaltete sich Herr Müller wieder ein. „Nur das, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Und Frau Lahus ist noch mit der Befragung der Passanten beschäftigt. Vielleicht ergibt sich da noch etwas.“

„Ja, danke. Wir übernehmen dann“, gab Andreas zurück. Er lächelte, aber machte recht unmissverständlich klar, dass ab sofort die Kripo am Zug wäre. Herr Müller zog den Kopf ein und verschwand. Nicht ohne Andreas noch einen finsteren Blick zuzuwerfen. Mia glaubte ein „Elende Besserwisser allesamt“ zu hören und sie konnte es ihm nicht mal verübeln.

„Dann sehen wir uns hier um und sprechen dann noch mal mit Herrn Herman, einverstanden?“, fragte Andreas, dem nicht entgangen war, dass er den Polizisten verärgert hatte. Sein zufriedener Gesichtsausdruck verriet indes, dass es ihn eher amüsierte als bestürzte.

„Das war nicht nötig“, wies Mia ihn zurecht. „Warum hast du ihn so abgekanzelt?“

„Wir kennen uns von früher. Ich bin auch schon mit ihm Streife gefahren. Da war ich ganz frisch von der Polizeischule und er schon ein paar Jahre dabei. Er war ganz schön von oben herab. Er ließ mich echt spüren, dass ich noch ein Greenhorn war.“

„Und das lässt dir Jahre später immer noch keine Ruhe? Ich wusste nicht, dass du so nachtragend bist.“

„Bin ich auch nicht. Aber wie man in den Wald hineinruft, so schallt es eben heraus. Und bei aller Gelassenheit bin ich auch nur ein Mensch mit Erinnerungen und Erfahrungen.“ Wieder breitete sich ein etwas selbstgerechtes Grinsen auf seinem Gesicht aus. Mia schüttelte leicht mit dem Kopf. Wenn er meinte!

„Na, dann lass uns mal besser auf den Fall konzentrieren.“ Sie ließ ihren Blick durch die Schusterei schweifen. Auf den ersten Blick erschien ihr nichts ungewöhnlich. Keine Einbruchspuren, bis auf das Loch im Fenster, und zu ihrem Bedauern auch keine blutige Tatwaffe als ersten Anhaltspunkt für ihre Ermittlungen. Ein einziger umgeworfener Stuhl ließ die Vermutung zu, dass ein Kampf stattgefunden haben könnte.

Sie fragte laut. „Was ist mit dem Stuhl? Sind da verwertbare Spuren dran?“

„Nein. Aber den hat auch Herr Herman umgeschmissen, als er Herrn Krämer auf dem Boden liegen sehen hat und zu ihm herübergelaufen ist“, gab die Kollegin zurück.

„Behauptet er.“ Mia verschränkte die Arme. „Die Tatwaffe kann es nicht sein?“

„Nein. Passt nicht zur Wunde. Blut ist auch nicht dran“, antwortete Dr. Johann Schnellsen anstelle der Kollegin. Die zuckte mit den Schultern, froh darüber, nicht länger Rede und Antwort stehen zu müssen, und fuhr damit fort, die Ladentür auf Fingerabdrücke zu untersuchen.

„Wurde die Tür aufgebrochen?“, fragte Mia sie und ging zu ihr, um das Schloss in Augenschein zu nehmen.

„Nein, sieht nicht danach aus. Allerdings war die Tür unverschlossen, als wir kamen.“

„Und dass, obwohl Herr Herman durch die Hintertür kam. Ob Herr Krämer seinen Mörder gekannt und hineingelassen hat?“, murmelte Mia. „Welchen Grund könnte es haben, dass die Eingangstür über Nacht geöffnet war?“, fragte sie sich halblaut und richtete ihren Blick unbestimmt in die Ferne. War es denkbar, dass er vergessen hatte, abzuschließen und nur zurückgekommen war, um das nachzuholen? Aber warum war er dann in der Werkstatt, anstatt nur rasch von außen den Schlüssel in die Tür zu stecken?

„Was quasselst du da vor dich hin, Sherlock?“, fragte Andreas amüsiert, der Mia ansah, wie sie ihre Fragen im Kopf ausformulierte, weil sich ihre Lippen unablässig bewegten.

„Ich denke nach“, wies sie ihn unwirsch zurecht, „bist du fertig hier?“

Er nickte. „Irgendetwas dabei, das du mir mitteilen möchtest?“

„Ich habe mich gefragt, warum die Tür offen war und ob Herr Krämer möglicherweise nur vergessen haben könnte, sie abzuschließen“, ließ sie ihn an ihren Überlegungen teilhaben.

„Es wäre einfacher, in diesem Fall, den Chef anzurufen, der nebenan wohnt“, bemerkte Andreas, „aber wir können Herrn Herman ja gleich dazu befragen.“

Nachdem sie sich der Schutzanzüge entledigt hatten, liefen sie über den Hof und klingelten. Die Wohnung von Herrn Herman lag im ersten Stock. Unten befanden sich Garagen. Andere Mieter gab es nicht.

„Sind Sie Eigentümer der Immobilie?“, fragte Andreas statt einer Begrüßung, als Herr Herman die Tür öffnete.

„Ja, das bin ich“, bestätigte er nach einer kurzen Überraschungspause, „ich habe das Haus von meinem Großvater geerbt. Meine Eltern leben seit einigen Jahren auf den Kanaren und mein Vater wollte den Betrieb sowieso nie übernehmen. Also ist alles direkt an mich gegangen. Sozusagen eine Generation übersprungen.“

Er ging voraus in eine geräumige Küche und bot den beiden Polizisten einen Platz an.

„Und wieso heißt die Schusterei dann Herman & Söhne?“, fragte Mia, die sich auf einen der Holzstühle setzte und Herrn Herman aufmerksam betrachtete. Er schien sich in der Zwischenzeit zumindest etwas gefangen haben. Jetzt lehnte er an der Küchenzeile und nahm gerade einen Schluck Kaffee aus einem Becher, auf dem „I Love Shoes“ stand.

„Da hat mein Opi wohl zu optimistisch gedacht. Aber vielleicht bekomme ich ja noch einen Nachfolger.“

Mia war angesichts des Gemütsumschwungs verwirrt. Fast schien Herr Herman nun guter Laune zu sein. Sie schob ihr Erstaunen jedoch beiseite und frage: „Was können Sie uns über Herrn Krämer sagen?“

„Er hat die Ausbildung noch bei meinem Großvater gemacht. Der hat bis zu seinem Tod in der Werkstatt gestanden, wissen Sie.“

„Hatte Herr Krämer Probleme? Privater oder finanzieller Natur?“

„Ich weiß von nichts.“

„Herr Herman, die Ladentür war unverschlossen. Es könnte sein, dass Sebastian seinen Mörder kannte und sich mit ihm verabredet hat.“

Herr Herman riss die Augen auf. „Das kann ich mir kaum vorstellen. Wirklich nicht. Er war ein guter Mensch. Er hatte keine zwielichtigen Bekannten …“ Dann brach er ab und starrte auf den Boden.

„Herr Herman?“, fragte Andreas, „ist Ihnen etwas eingefallen?“

„Nein, nein“, stotterte er, „ich habe nur überlegt, ob Sebastian Drogen genommen hat oder so. Daran denkt man doch als Erstes beim Thema zwielichtig, nicht wahr? Dealer oder so was.“ Traurig schüttelte er den Kopf.

„Und?“

„Was und?“

„Ja, hat er Drogen genommen?“, fragte Andreas ungeduldig nach.

„Glaube ich nicht“, entgegnete Herr Herman trotzig, „höchstens mal ’nen Joint.“

„Und das sind für Sie keine Drogen, oder was?“

„Jetzt seien Sie mal nicht so spießig, Herr Paulsen“, Herr Herman lächelte begütigend, „natürlich sind das auch Drogen. Aber für ein bisschen Haschisch bringt man ja niemanden um.“ Dann fügte er ein „Schätze ich jedenfalls, nicht, dass ich davon irgendetwas wüsste“ hinzu und Mia glaube auf einmal eine Ahnung davon zu haben, warum sich seine Laune so plötzlich gehoben hatte. Aber das gehörte nicht hierher.

„Kann es sein, dass er zurückgekommen war, um die Ladentür abzuschließen? Ist es manchmal vorgekommen, dass er das bei Feierabend vergessen hatte?“

„Nein. Sebastian war äußerst gewissenhaft. Und selbst wenn: dann hätte er sicher versucht, mich zu erreichen, um mir Bescheid zu geben, statt sich selbst auf den Weg zu machen. Er wohnt ein Stück entfernt in Hastedt.“

Plötzlich klingelte es. Herr Herman fuhr zusammen und auch Mia hatte das schrille, anhaltende Geräusch ein wenig erschreckt.

Vor der Tür stand Polizeiobermeister Müller. In der Hand hielt er eine Plastiktüte mit einem Handy. „Wir haben das Telefon von Herrn Krämer gefunden“, erklärte er stolz.

„Ja, das ist sein Handy“, bestätigte Herr Herman, ohne dass ihn jemand direkt danach gefragt hat. „Oh, äh, ich meine, war …“ Dann schluckte er.

„Darf ich?“, fragte Andreas in die Stille hinein.

„Bitte“, entgegnete Herr Müller freundlich und reichte Andreas die Tüte. Mit angestrengter Miene tippte sich Andreas durch die Menüführung des Telefons, das überraschenderweise nicht durch eine Pin gesichert war. „Letzte Anrufe“, murmelte er, „hmm, zwei unbeantwortete Anrufe von Sabine. Wer ist Sabine?“, fragte er an Herrn Herman gerichtet.

„Ach“, er machte eine abwertende Handbewegung, „irgendeine Frau eben.“

„Eine Frau, ja“, entgegnete Andreas gedehnt, „das dachte ich mir. Nachname? Adresse?“ Abwartend sah er Herrn Herman an.

„Keine Ahnung. Sabine, Sabine“, er überlegte, „nein, tut mir leid. Fällt mir nicht ein. Sebastian hat sie vor einiger Zeit abends in der Disco kennen gelernt und seitdem ab und zu mal getroffen. Nichts Ernstes.“

„Glauben Sie oder wissen Sie?“, fragte Mia dazwischen.

„Das weiß ich“, sagte Herr Herman nachdrücklich, „glauben Sie mir. Sebastian war jung. Der wollte nichts Festes. Der wollte Spaß und Partys. Mehr nicht.“

„Könnte es sein, dass er sich mit Sabine gestritten hat?“

Er zuckte mit den Schultern. „Klar, kann immer sein, oder nicht? Hat er aber nicht erwähnt.“

„Gab es sonst Probleme mit der Sabine? Ich meine, war sie in festen Händen und unterhielt mit Sebastian nur eine Affäre?“

„Nein. Und wenn, dann hat Sebastian das nicht gewusst. Wie gesagt, er wollte ein bisschen Spaß. Von allem, was nach Ärger roch, hat er die Finger gelassen.“

Mia hörte aufmerksam zu. In ihrem Kopf formte sich eine Vorstellung davon, wie das Opfer gelebt hatte. Die Unterhaltungen förderten immer weitere Puzzleteile hinzu, die sie anlegen konnte. Nach einer kurzen Denkpause sagte sie zu dem Schuster: „Ich denke, dann war es das erstmal. Es sei denn, Ihnen fällt noch etwas ein?“ Fragend sah sie ihn an, erwartete im Grunde aber keine Antwort und gab sich damit zufrieden, dass Herr Herman stumm den Kopf schüttelte. „Andreas? Hast du noch etwas?“ Sie drehte sich zu ihrem Kollegen, der damit beschäftigt war, das Handy nach Hinweisen zu durchforsten und offenbar Nachrichten zu lesen.

„Dürfen Sie das überhaupt?“, fragte Herr Herman, der ebenso wie Mia einen Blick auf Andreas und sein Tun geworfen hatte. Etwas missbilligend runzelte er die Stirn. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass ein Fremder die Privatsphäre seines Angestellten und Freundes störte.

„Ja“, gab Andreas kurz angebunden zurück, „das dürfen wir.“ Wie, als sei ihm aufgefallen, dass Herr Herman sich nur Sorgen machte und obendrein einen wirklich schwierigen Morgen hinter sich hatte, schob er hinterher: „Wir alle wollen doch nur, dass man den Täter oder die Täterin findet, nicht wahr?“ Dann verzog er das Gesicht zu einer um Zustimmung heischenden Grimasse.

„In Ordnung. Sie haben natürlich recht.“ Herr Herman nickte.

Sie verließen die Küche und Herr Herman verabschiedete sie an der Tür mit einem kurzen Nicken.

„Auf Wiedersehen, Herr Herman. Melden Sie sich, wenn Ihnen etwas einfällt.“

Kapitel 2

Andreas und Mia schritten über den Hof, am Tatort vorbei und gingen zum Auto. Inzwischen waren die Krankenwagen verschwunden und die Straße zumindest teilweise wieder für den Verkehr freigegeben. „Die Sabine schien das nicht so locker zu nehmen wie Sebastian“, sagte Andreas, als sie im Wagen saßen. „Ich rufe sie mal an, dann können wir uns mit ihr treffen“, bestimmte er.

„Wollen wir nicht zuerst mit den Eltern sprechen?“, wandte Mia jedoch ein. „Das wäre doch wichtiger.“

Andreas zuckte mit den Schultern. „Die wurden bereits über Beamte in Dortmund informiert. Sie werden aber erst morgen in Bremen sein können, sagen sie.“

„Die Krämers leben in Dortmund?“

„Ja.“

„Und wieso können sie erst morgen hier sein? Wenn der eigene Sohn umgebracht wird, wird man es doch wohl in weniger als 24 Stunden von Dortmund nach Bremen schaffen können!“ Mia war empört.

„Keine Ahnung“, gab Andreas unbeeindruckt zurück, das Handy noch immer abwartend in der Hand, um Sabine anzurufen. „Soll ich nun, oder nicht?“

„Na gut, dann sprechen wir eben zuerst mit ihr.“

Andreas wählte und wartete mit gespanntem Gesichtsausdruck darauf, dass das Gespräch angenommen wurde. Es dauerte einen Moment, dann konnte Mia ein dumpfes und fragendes „Hallo“ aus Andreas’ Handy vernehmen.

Er antwortete: „Moin, hallo, mein Name ist Andreas Paulsen. Sind Sie Sabine?“ Dann lauschte er der Antwort, die Mia nicht verstehen konnte, und fragte weiter: „Können Sie mir Ihren vollen Namen sagen?“ Pause. „Frau Giese, wir müssen Ihnen leider etwas mitteilen.“ Räuspern. „Ich bin von der Polizei und man hat Ihren Freund Sebastian Krämer heute Morgen tot aufgefunden. Können wir bei Ihnen vorbeikommen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen?“

Mia rollte mit den Augen. Wieder war Andreas denkbar unsensibel. Sie konnte hören, wie Sabine Giese aufschluchzte. Andreas’ Versuche, sie zu beruhigen, waren vergeblich. „Frau Giese? Bitte beruhigen Sie sich. Wir kommen zu Ihnen, ja? Wo wohnen Sie denn?“

Unter Weinkrämpfen, die Mia durch die Leitung vernehmen konnte, brachte Frau Giese offenbar ihre Anschrift hervor, dann legte Andreas mit beschämter Miene auf. Er startete den Motor und sie machten sich umgehend auf den Weg zu ihr.

Frau Giese, die in dem gutbürgerlichen Stadtteil Findorff wohnte, ließ sie bald darauf über die Gegensprechanlage herein und ihre schwache zittrige Stimme verriet, wie sie sich fühlte. Sie war ein ganzes Stück älter, als Mia vermutet hatte. Da sich Sebastian in seinen 20ern befand, hatte sie angenommen, dass auch seine Freundin in diesem Alter wäre. Doch die Frau, die in der offenen Wohnungstür stand, die Augen verheult und die Haut gerötet, musste Ende 30 sein und damit gute 15 Jahre älter als das Opfer. Sie trug eine Jogginghose aus hellblauem Nickistoff und ein weißes Shirt mit glitzerndem Aufdruck. Ihre blondierten Haare waren hochgebunden und vereinzelte Strähnen hingen müde heraus.

„Guten Tag, Frau Giese“, sagte Andreas höflich, „es tut mir sehr leid, was geschehen ist. Und dass wir Ihnen die Nachricht telefonisch mitgeteilt haben, auch“, setzte er hinzu, „das war nicht sehr einfühlsam.“

Sie rang sich ein kraftloses Lächeln ab. „Kein Problem. Danke, Herr, äh Paulsen, richtig?“

„Ja, und das ist meine Kollegin Mia Knoll.“

„Hallo“, grüßte Mia und dann gingen sie gemeinsam hinein.

Mit brüchiger, vom Weinen geplagter Stimme fragte Frau Giese, ob sie etwas trinken wollten. Mia, die zwar Lust auf einen Kaffee verspürte, winkte ab. Sie wollte Frau Giese nicht mit derlei profanen Dingen belästigen. Zudem wäre ihr wohler, wenn ihre wacklige Gastgeberin sitzen würde. Zu sehr war sie kurz zuvor hin- und her gewankt, als sie die beiden Kommissare ins Wohnzimmer geleitet hatte. Auch Andreas lehnte ab.

„Können wir jemanden für Sie anrufen, Frau Giese? Jemand, der sich ein wenig um sie kümmert?“, wollte Mia zunächst wissen, ehe sie die Zeugin mit schmerzhaften Fragen belästigen müsste.

„Danke“, gab sie zurück, „ich habe schon meine Mutter angerufen. Sie kommt gleich.“

„Gut. Also, Frau Giese, Sie und Sebastian waren befreundet?“

Schon entfuhr ihr ein zarter Schluchzer. „Er würde es wohl anders nennen. Aber für mich, ja“, sie nickte heftig, „für mich war es mehr als eine Affäre.“

„Wie lange kannten Sie sich schon?“, wollte Andreas wissen.

„Etwa zwei Monate“, erzählte Frau Giese nun, „wir hatten uns in einem Club kennen gelernt. Er war mir gleich aufgefallen, diese tollen blauen Augen zu dem dunklen Haar. Und seine breiten Schultern …“ Sie blickte für einen Moment starr auf den Boden. „Naja, wir gingen zusammen nach Hause und aus dem einen Mal wurde eine Affäre. Ich war viel älter als er, vielleicht hat ihn das an einer echten Beziehung gehindert.“

„Wie alt sind Sie denn, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin 37“, antwortete Sabine Giese und Mia hatte den Eindruck, als würde sie sich etwas dafür schämen, zugeben zu müssen, dass sie eine Beziehung zu einem Mann unterhalten hatte, der mehr als 10 Jahre jünger gewesen war als sie.

„Was sind Sie von Beruf?“, fragte Andreas weiter.

Sie stutze. „Warum ist das wichtig?“, fragte sie zurück. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern.

„Alles könnte wichtig sein, Frau Giese. Wir möchten uns ein umfassendes Bild von Sebastians Umfeld machen, verstehen Sie?“, erläuterte Mia.

„Ach so, ja, natürlich“, Frau Giese sackte wieder ein wenig in sich zusammen, „ich arbeite in einer Boutique im Viertel. Heute ist mein freier Tag.“

Eifrig schrieb Andreas mit und notierte auch ihr Alibi, sie sei bei einer Freundin zum Fernsehen gewesen, akribisch. Wie ein Häufchen Elend saß Sabine Giese ganz vorne auf der Kante des hellen Ledersofas. Ihre Hände hatte sie zwischen die Oberschenkel geschoben und sie starrte abwechselnd auf ihre Füße und auf Andreas, der ihr Fragen zu ihrer Person und ihrer Beziehung stellte. Dabei hob sie kaum den Kopf, sondern blickte nur scheu unter ihren langen, ungeschminkten Wimpern nach oben. Mia drängte sich der Gedanke auf, ob sie etwas verbarg. „Frau Giese“, fragte sie, als Andreas eine Pause machte, „wissen Sie, ob Herr Krämer Feinde hatte?“

Sie schluckte. „Nein. Ich glaube nicht.“ Dabei wich sie Mias Blick aus.

„Nein? Sind Sie sicher?“

Dann atmete sie tief durch und sagte: „Ich möchte niemanden beschuldigen, Frau Knoll, nur, ähm, also“, stotterte sie und räusperte sich, „ich habe einen Freund, also nicht so einen Freund, aber wir waren auch mal zusammen und sind jetzt nur noch gut befreundet, jedenfalls war der gar nicht von Sebastian angetan und davon, wie er mich hinhielt, schon gar nicht.“

„Und Sie glauben, der könnte etwas mit Sebastians Tod zu tun haben?“, fragte Andreas.

„Nein“, rief Sabine Giese nervös aus, „eigentlich glaube ich das nicht. Aber na ja, wer weiß, vielleicht im Streit?“

„Das heißt, die beiden kannten sich?“

„Was heißt schon kennen?“, fragte sie zurück. „Matze war dabei, als ich Sebastian getroffen habe, und von mir wusste er, wo er arbeitet. Vielleicht wollte er ihn bloß zur Rede stellen und dann ist es passiert“, sie verbarg das Gesicht in ihren Händen, „oh Gott, wie furchtbar. Das möchte ich mir gar nicht vorstellen.“

Mia lehnte sich vor und legte sanft ihre Hand auf die Schulter der anderen Frau: „Frau Giese, bisher sieht es so aus, als wäre Sebastian mit seinem Mörder verabredet gewesen. Gestern Abend in der Schusterei. Das spricht möglicherweise gegen Ihren Bekannten.“

Frau Giese schniefte: „Ach so, nein. So gut, dass sie sich verabredet hätten, kannten sie sich nicht“, der Anflug eines Lächelns ging über ihr Gesicht, „ach, da bin ich aber froh. Es würde auch überhaupt nicht zu Matze passen, er ist ein ganz liebenswerter Kerl. Aber man weiß ja nie. Vielleicht in Sorge um mich …“, ließ sie den Satz ausklingen.

„Könnten Sie uns trotzdem bitte den vollen Namen und die Anschrift von Matze geben?“

„Er wird doch aber keinen Ärger bekommen?“ Besorgt sah Frau Giese Mia und Andreas an, nannte ihnen dann aber trotzdem Name und Adresse ihres Ex-Freundes Matthias Baumert.

„Gut. In Ordnung. Dann wollen wir Sie mal nicht länger stören.“ Andreas stand auf.

„Kommen Sie alleine zurecht?“, fragte Mia und erhob sich ebenfalls.

„Ja. Es geht mir gut. Wie gesagt, meine Mutter ist schon auf dem Weg.“

An der Tür drehte Mia sich nochmal um: „Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Sie jemanden zum Reden brauchen, dann rufen Sie mich gerne an, ja?“ Frau Giese nickte. „Vielen Dank.“

In Gedanken versunken stiegen sie die Treppe hinab und liefen zum Auto.

„Zuerst zu Herrn Baumert?“, wollte Andreas wissen und öffnete die Fahrertür. Er sah seine Kollegin über das Auto hinweg an. „Oder in die Wohnung von Herrn Krämer?“

„In die Wohnung“, bestimmte Mia und stieg ein.

Andreas gab die Adresse in sein Navi ein und fuhr los. Mia hatte Zeit, aus dem Fenster zu sehen und die ersten Eindrücke zu verarbeiten. Schon bald ließ sie sich aber ablenken, sah in den Himmel, der noch immer herrlich blau war, betrachtete die Menschen, die den Frühling auf den Café-Terrassen begrüßten, und freute sich darüber, dass sie immer mehr Ecken und Winkel der Stadt erkannte. Der Waller Fernsehturm war für sie nicht länger ein müder Abschlag des Berliner Pendants, sondern hatte einen Namen; sie reckte ihren Kopf, um einen Blick auf den Bremer Bürgerpark zu werfen, durch den sie schon oft spaziert war – Bremen wurde langsam, aber sicher zu ihrer Heimat.

In den Taschen des Toten war ein Schlüsselbund gefunden worden, den Mia in Absprache mit der Spurensicherung an sich genommen hatte und mit dem sie sich nun mühelos Zutritt verschaffen konnten. Nachdem sie sich erneut Schutzanzüge übergestreift hatten, betraten sie die Wohnung. Sebastian hatte in einem Ein-Zimmer-Appartement am Rande von Hastedt, fast schon im Viertel, gewohnt. Auf den ersten Blick war es eine typische Junggesellen-Wohnung: Ein altes, durchgesessenes Ledersofa in der großen Wohnküche, keine Blumen bis auf einen vertrockneten Kaktus und an der Wand im Flur hing ein großes Rocky-Poster in Schwarz-Weiß. Im Kühlschrank nichts als Bier, Mettwurst und eingelegte Gurken, und in der schmalen Schlafnische beherbergte eine winzige Kommode die gesamte Kleidung, die Herr Krämer besessen hatte. Der Fernseher lief auf Standby und Sebastian Krämer hatte offenbar einen Film pausiert. Auf dem Couchtisch stand eine angebrochene Flasche Bier.

„Er wollte nur mal kurz raus …“, sagte Mia und ließ das Ende des Satzes melancholisch in der Luft hängen.

Andreas nickte. „Ja, sieht ganz danach aus. Rocky“, fügte er nach einem Blick auf den Fernseher hinzu.

„Dann mal los. Sehen wir uns um.“

Sie begannen, die Wohnung durchzusehen, schauten in Schränke und Abfalleimer, blätterten Papierstapel durch und guckten auch unter das Sofa und das Bett. Nach einer guten Stunde hatten sie hinter jedes Kissen geguckt, den Kühlschrank unter die Lupe genommen und nach Verstecken gesucht, die heimliche Briefe oder Bilder beherbergen könnten. Sie hatten aber weder in den Schubladen noch in der Post oder sonst irgendwo Hinweise auf den Mörder oder auf Probleme gefunden, die den Toten möglicherweise belastet hatten. Eine noch gründlichere Durchsuchung würden sie den Spezialisten der Spurensicherung überlassen.

Es gab keine Fotoalben oder dergleichen, die Aufschluss über Familie oder Freunde des Toten geben könnten, aber Mia war sich darüber im Klaren, dass Sebastian Krämer bereits zu einer Generation gehörte, die ein Album mit ausgedruckten Bildern sicher für hoffnungslos altmodisch hielt. Als er von zuhause ausgezogen war, hatte er offensichtlich nicht viel mitnehmen können, stellten sie zudem fest. Die Wohnung bot nicht viel Stauraum. Einen Dachboden oder ein Kellerabteil schien es nicht zu geben. Erinnerungen aus seiner Kindheit waren wohl bei den Eltern in Dortmund geblieben. Das Appartement war aufgeräumt und minimalistisch gehalten. Den Computer würden sie der Spurensicherung übergeben. Der war mit einem Passwort geschützt und man müsste sich ihn ohnehin genauer ansehen, als sie jetzt dazu in der Lage wären.

„Hast du etwas gefunden?“, fragte Mia, auch wenn sie wusste, dass sie es mitbekommen hätte, wenn Andreas auf den wenigen Quadratmetern eine wichtige Entdeckung gemacht hätte.

Und so verwunderte es sie nicht weiter, dass er mit dem Kopf schüttelte. „Nein. Nicht wirklich. Er war Fan der Rocky-Reihe“, versuchte er einen Scherz, auf den Mia nicht reagierte.

Laut grübelnd fasste sie zusammen: „Herr Krämer war ordentlich, stand nicht so sehr auf Konsum, wenn ich mir den spärlichen Kleiderschrank und die unauffällige Technikausstattung hier ansehe“, warf sie zur Erklärung ein. „Er war Mitglied in einem Fitness-Studio“, sie zeigte auf eine Sporttasche in der Ecke, an der ein Mitgliedsausweis baumelte, „und wenn mich mein Eindruck nicht ganz täuscht, mochte er klare Strukturen.“ Wie um sich zu vergewissern, ließ sie ihren Blick zum wiederholten Mal durch den eher kargen Raum schweifen. Die wenigen Bücher waren nach Größe sortiert, die Fernbedienung lag in einem akkuraten Winkel auf dem Couchtisch und das angebrochene Bier stand auf einem Untersetzer.

„Was schließt du daraus?“, wollte Andreas mit hochgezogener Augenbraue wissen.

„Das weiß ich bislang nicht“, gab Mia zu, „vorerst ist es nichts weiter als eine Beobachtung.“

Anschließend fuhren die beiden Kommissare zu Matthias Baumert, alias Matze, dem Ex-Freund von Sabine Giese, um ihn mit den Umständen zu konfrontieren und ihn nach seinem Alibi zu befragen. Herr Baumert führte laut Frau Giese eine kleine Auto-Werkstatt, nur ein paar Straßen von Sebastian Krämers Wohnung entfernt. Seine eigene Wohnung befand sich in unmittelbarer Nähe. Auf der kurzen Fahrt erlaubte sich Mia die Bemerkung, dass es doch eher unwahrscheinlich sei, dass die beiden sich dann in der Schusterei verabredet hätten, wenn sie etwas zu klären hätten.

„Kann auch clever eingefädelt sein von Herrn Baumert, meinst du nicht? Vielleicht wollte er, dass du genau das denkst.“

„Stimmt auch wieder.“

Sie fanden den Ex-Freund in seiner Werkstatt kopfüber in den Motorraum eines alten Golf-1-Cabrios gebeugt.

„Herr Baumert?“, sagte Andreas fragend und betrat die umgebaute alte Scheune. Dass er von dem mächtigen Kreuz des Kfz-Mechatronikers etwas eingeschüchtert war, ließ er sich kaum anmerken.

„Ja?“, kam es dumpf zurück und Herr Baumert richtete sich zu seiner ganzen eindrucksvollen Größe auf. Er hatte Oberarme wie Autoreifen, bunte Tattoos lugten unter den kurzen Ärmeln seines T-Shirts hervor und sein riesiger Kopf mit glänzender Glatze thronte geradezu über alledem. Dennoch hatte er die wohl freundlichsten braunen Augen, die man sich vorstellen konnte. Fast hätte Mia gesagt: „Ach, wir haben uns geirrt, zu Ihnen wollten wir gar nicht“, denn so nett und liebenswert sah er aus. Wie ein Bernhardiner, urteilte sie spontan.

„Moin“, sagte Andreas zur Begrüßung, „mein Name ist Andreas Paulsen von der Kriminalpolizei Bremen. Das ist meine Kollegin.“

„Mia Knoll.“

„Hallo“, sagte der Hüne ein wenig schlicht und sah sie erwartungsvoll an. Währenddessen putzte er sich die ölverschmierten Pranken mit einem fleckigen Tuch ab, das einmal weiß gewesen sein musste.

„Wir sind hier, weil wir Sebastian Krämer heute Morgen tot aufgefunden haben“, erklärte Andreas und sprach den Namen langsam und betont aus, „wissen Sie, wer das ist?“

„Jau, der Neue von meiner Biene“, sagte Matthias Baumert, „tot, sagen Sie? Nun, is’ nicht schade drum.“ Als er in die skeptischen Mienen der Polizisten sah, ergänzte er schnell: „Mensch, so hab’ ich das jetzt nicht gemeint, du. Nur, weil die Biene nicht glücklich war mit dem.“

„Aber Sie haben nichts damit zu tun, Herr Baumert?“

„Ich? Mit dem Tod? Nee“, beteuerte er, „wie is’ das denn überhaupt passiert?“

„Sie können es uns also nicht sagen?“, blieb Andreas hartnäckig.

„Nein, natürlich“, gab Herr Baumert erschrocken zurück, „ich schwöre bei allem, was mir heilig ist.“ Dazu hielt er treuherzig Zeige- und Mittelfinger zum Schwur hoch.

„Was wäre das denn zum Beispiel, alles, was Ihnen heilig ist? Etwa Ihre Biene?“, bohrte Andreas nach.

Und der Riese wurde tatsächlich ein bisschen rot. Er wand sich unter Andreas’ Blicken und fuhr verlegen mit der rechten Fußspitze über den staubigen Boden. „Nun ja“, entgegnete er dann, „vielleicht hamse da recht, Herr Kommissar.“

„Und da dachten Sie nicht vielleicht, jetzt knöpfe ich mir den blöden Konkurrenten mal vor?“ Andreas gab nicht auf. Mia war sich mittlerweile sicher, dass sie bei Matthias Baumert an der falschen Adresse waren, aber da sie dazu neigte, dem einen oder anderen Verdächtigen zu viel Sympathie entgegenzubringen, beschloss sie, Andreas zunächst nicht an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Zu oft hatte er deshalb schon mit ihr geschimpft.

„Wann soll denn das gewesen sein?“, fragte Herr Baumert gerade.

„Gestern am späten Abend“, gab Andreas Auskunft, „wo waren Sie da?“

„Ich habe bis ungefähr 22 Uhr an diesem Schmuckstück gearbeitet“, er zeigte auf das Cabrio hinter sich, „und dann habe ich im Dönerladen um die Ecke etwas gegessen. Anschließend bin ich nach Hause gegangen.“

„Wann war das?“

„Das muss vielleicht halb elf gewesen sein.“

„Und dann?“

„Dann war ich zuhause.“

„Alleine?“

Sanftmütig wie ein Schaf beantwortete Herr Baumert die ihm gestellten Fragen. „Ja. Leider schon. Ich lebe alleine.“

„Es gibt also niemanden, der bezeugen kann, wann Sie nach Hause gekommen sind?“

„Wie gesagt: Leider nein, Herr Kommissar. Ich wünsche auch, es wäre anders.“

Mia verbarg ein Grinsen.

„Gut, dann geben Sie uns bitte den Namen des Imbisses. Wir erkundigen uns dort nach Ihnen.“

„Natürlich, tun Sie das. Döner Deluxe. Das ist nur ein paar Meter die Straße hinunter.“

Andreas dankte und vergewisserte sich mit einem raschen Seitenblick auf seine Kollegin, dass sie alles mitgeschrieben hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---