Aufklärung - Manfred Geier - E-Book

Aufklärung E-Book

Manfred Geier

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Beschreibung

Seit nunmehr dreihundert Jahren findet der Kampf um Aufklärung und Menschenrechte statt. Als Epochenbegriff im engeren Sinne umfasst die europäische Aufklärung nicht zufällig das Jahrhundert zwischen der Glorreichen Revolution in England und der großen Französischen Revolution. Sie ist eine philosophische und politische Programmidee, die bis heute nichts von ihrer kämpferischen Energie verloren hat. In diesem Buch spannt Manfred Geier den Bogen von den Begründern der Aufklärung – John Locke, Immanuel Kant, Moses Mendelssohn, Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot – zu den Vertretern aufgeklärten Denkens in unserer Zeit wie Hannah Arendt und Karl Popper, Jürgen Habermas und Jacques Derrida. Die ungebrochene Aktualität der Aufklärung dokumentieren nicht nur die grauenvollen totalitären Rückfälle, die vor allem im 20. Jahrhundert stattgefunden haben. Auch gegenwärtig hat das Projekt Aufklärung auf dramatische Weise an globaler Relevanz gewonnen – man denke nur an die fortdauernden Konflikte mit neuen Formen des religiös-politischen Fundamentalismus. Eine dramatische Geschichte des aufklärenden Denkens – und ein Plädoyer für Toleranz und Vernunft in unserer Zeit.

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Manfred Geier

Aufklärung

Das europäische Projekt

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

VorwortEin Kerzenlicht in der DunkelheitDie Wahrheit kann jedes Licht vertragenDer Mensch ist das Werk der NaturWir träumten von nichts als AufklärungEine tröstende Aussicht in die ZukunftMann, bist du fähig, gerecht zu sein?Die vielseitigste Bildung der IndividuenNamenregister
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«Die Maxime, jederzeit selbst

zu denken, ist die Aufklärung.»

Immanuel Kant

 

«Ich lehre nicht, ich erzähle.»

Michel de Montaigne

Vorwort

Aufklärung. Am Anfang war das Bild: Wie morgens der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertrieben wird, so soll auch der menschliche Verstand erhellt werden. Schon 1691 wird der Ausdruck «Aufklärung des Verstandes» lexikalisch verzeichnet. Helle Köpfe sollen mittels deutlicher Begriffe und geschärfter Urteilskraft klar erkennen können, was wirklich der Fall ist. «Aufklärung» ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen «dunkle» Vorstellungen, die alles wie in einem Nebel oder Schattenreich verschwimmen lassen. Sie richtet sich gegen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit und Phantasterei. Sie ist zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes. Sie favorisiert das Selbstdenken mündiger Menschen. Das erklärt ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Aufklärung bekämpft alle autoritären Mächte, die den selbständigen Verstandesgebrauch der Menschen blockieren wollen.

Europa. Das Vertrauen in die Vernunft und der Wunsch nach Emanzipation charakterisieren die Aufklärung als eine geistige und politische Bewegung der europäischen Neuzeit. Als Epochenbegriff im engeren Sinne umfasst sie nicht zufällig das Jahrhundert zwischen zwei Revolutionen, in denen die absolute Vormachtstellung von Kirche und Staat gebrochen worden ist. Sie beginnt 1689 mit der Glorreichen Revolution in England und endet hundert Jahre später 1789 mit der Großen Revolution in Frankreich, als die anti-klerikalen und anti-feudalen Ideen der französischen Philosophen die Massen ergreifen. Eine dritte starke zentraleuropäische Position entwickeln die deutschen Aufklärer. Zwar weniger erfahrungsorientiert als die Engländer, weniger religions- und staatskritisch als die Franzosen und weniger politisch als beide, streiten sie äußerst risikofreudig für kritische Vernunft und lebenspraktisches Glück. Im kulturgeschichtlichen Rückblick zeigt sich Aufklärung als ein europäisches Projekt mit universellem Anspruch. Lumières philosophiques, Enlightenment, Aufklärung und Illuminismo gehören zum Besten, was ein kosmopolitisches Europa zu bieten hat, das mehr sein will als ein bürokratisch geregeltes Wirtschaftsgeflecht, das von einer finanzpolitischen Krise in die nächste getrieben wird.

Projekt. Wir leben in keinem aufgeklärten Zeitalter, aber in einem Zeitalter der Aufklärung, stellte Immanuel Kant 1784 fest. Er verwies darauf, dass Aufklärung kein Zustand ist, sondern ein Prozess, kein Sein, sondern ein Werden, wobei der Ausgang der Geschichte offen ist. Für den praktischen Erfolg der Aufklärung gibt es keine Garantie. «PROJEKT (Moral). Ein Plan, den man zu verwirklichen beabsichtigt, doch es ist ein weiter Weg vom Projekt zur Ausführung & ein noch weiterer Weg von der Ausführung zum Erfolg. Wie oft verfällt der Mensch auf unsinnige Unternehmungen.» So war es in der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie zu lesen, dem aufklärenden Gemeinschaftswerk einer französischen Gelehrtengesellschaft, die zwei Jahrzehnte lang gegen heftigste Widerstände von Kirche und Staat ankämpfte. Es gibt keine Aufklärung ohne Gegenaufklärung. Die Geschichte der Aufklärung, vor allem im europäischen Zeitalter der Extreme, erinnert an die absurde Tätigkeit des Sisyphos, der seinen Stein immer wieder den Berg hinaufwälzen muss, bevor er erneut in die Tiefe rollt.

Universalismus. Auch wenn das Projekt der Aufklärung in Europa entworfen wurde, so hat es sich doch nicht auf Europa beschränkt. Schon Kant verstand «Aufklärung» als einen Weltbegriff, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert. Aufklärung begrenzt sich nicht auf Franzosen, Italiener, Engländer, Deutsche oder andere Nationalitäten. Sie konzentriert sich auf die «Bestimmung des Menschen». Es geht ihr um den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, um die Rechte jedes Menschen also, der als solcher kein Ding ist, sondern eine mündige Person mit ihrer eigenen Würde. Die Aufklärung versucht philosophisch zu begründen und praktisch zu verwirklichen, was jedem Menschen von Natur aus zukommt. Sie versteht dieses Naturrecht als ein Bündel von Menschenrechten, auf die alle Menschen ein Anrecht haben. Ihr Zentrum bilden geistige und politische Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Recht auf Eigentum. Universell realisierbar sind sie nur in einem Völkerbund aller Staaten, die gemeinsam die allgemeinen Rechte aller Menschen anerkennen. Doch weltweit eingeklagt werden können sie schon heute vor dem Forum einer Weltöffentlichkeit, die sich zunehmend global vernetzt.

Aktualität. Die selbstreflexive Frage – «Was ist Aufklärung?» – lässt sich im Sinn der Aufklärung durch keinen bloßen Rückgriff in die Philosophiegeschichte beantworten. Sie richtet sich auf ihre eigene Gegenwart und fragt nach der Aktualität ihres Projekts. Aufklärung legitimiert sich nicht durch den Verweis auf stabilisierte oder anerkannte Vormächte, sondern durch eine Begründung, der jeder mündige Mensch mit seinem eigenen Verstand zu folgen in der Lage ist. In dieser Hinsicht ist sie absolut modern und muss zwangsläufig auf die Gegenwehr von Mächten stoßen, die der religiösen, geistigen und wirtschaftlichen Autonomie des Menschen keinen besonderen Wert zugestehen. Im europäischen Jahrhundert der Aufklärung waren es christliche Dogmatik, kirchliche Autorität und feudale Staatsgewalt. Gegenwärtig sind es in globalem Ausmaß vor allem islamischer Fundamentalismus und autoritäre Staatsgebilde, die als Mächte der Gegenaufklärung wirksam sind. Im weltweiten Kampf der Ideen scheint Chinas Plan, im 21. Jahrhundert als größte Wirtschaftsmacht ohne die «westlichen» Werte der Demokratie, der Menschenrechte und individuellen Freiheiten an die Weltspitze zu gelangen, verwirklicht zu werden. In Amerika stellt man einen epochalen Rückschritt fest, der als «Post-Enlightenment» beschrieben wird: Der Stil des Denkens wird immer weniger durch vernünftiges Argumentieren, kritische Auseinandersetzung und offenen Verstandesgebrauch geprägt, sondern verstärkt durch Glaubensgewissheit, Meinung und Orthodoxie. Und auch in Europa selbst drohen Stimmen immer lauter zu werden und Gehör zu finden, die sich gegen die Werte der Aufklärung richten: gegen religiöse Toleranz und politische Liberalität, geistige Offenheit und kulturelle Vielfalt, gegenseitigen Respekt und weltbürgerliche Mentalität.

Große Erzählung. Es gehört zur Dynamik der europäischen Moderne, dass sie intern auch ihre eigenen Ideen verwerfen kann. Von einer angeblich verhängnisvollen «Dialektik der Aufklärung», die in ein totalitäres System übergegangen sei, bis zum hoffnungslosen «Elend der Aufklärung», von der verspielten bis zur verträumten, von der palavernden bis zur unbefriedigten Aufklärung reicht das Spektrum kritischer Vorwürfe. Unsere postmoderne Moderne erklärte die «große Erzählung» der Aufklärung zu einem Dokument der Vergangenheit. Der großen Perspektive einer möglichen Übereinstimmung vernünftiger, freier Menschen in einer gemeinsamen Welt wurde kein Glaube mehr geschenkt. So wurde nicht nur leichtfertig aufgegeben, wofür in der Vergangenheit mutig und nicht ohne Erfolg gekämpft wurde. Es wurde auch der Blick getrübt für die weltweiten Aktivitäten von Rebellen und Dissidenten, die sich gegenwärtig in vielen Ländern, seien sie auch noch so despotisch regiert, für die Ideale der Aufklärung engagieren und mit moralischer Klarheit das Risiko eingehen, dafür verfolgt, bestraft, isoliert oder getötet zu werden.

Sieben Erzählungen. Es waren schon immer Einzelne, die sich in konkreten geschichtlichen Problemsituationen auf unterschiedliche Art und Weise als Aufklärer zu Wort meldeten. Einige regten erfolgreich Freiheitsbewegungen an, andere scheiterten an übermächtigen Widerständen und zahlten mit ihrem Leben. «Aufklärung» wäre nur ein leerer Begriff ohne die anschaulichen Beispiele der Menschen, die für sie argumentiert, gestritten und gelitten haben; und die philosophischen, schriftstellerischen und politischen Aktivitäten dieser Individuen wären blind gewesen, wenn sie nicht alle der überindividuellen Maxime gefolgt wären, jederzeit selbst zu denken. Deshalb soll hier keine «große Erzählung» versucht werden. Stattdessen werden sieben ausgewählte Lebens- und Werkgeschichten erzählt. Jeder einzelne Fall exemplifiziert auf seine besondere Weise eine allgemeine Intention, sei es der politische Liberalismus, die jüdische Emanzipation oder die Gleichberechtigung der Frau, sei es die Naturalisierung des Menschen, seine humorvolle Moralisierung oder seine Erziehung zur Mündigkeit. Es sind unterschiedliche Charaktere, denen wir begegnen, vom nüchternen Denker bis zur libertinen Frauenrechtlerin, vom gebildeten Juden bis zum atheistischen Freigeist. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, ohne einen festen Typus identifizieren zu können; und folgen Diskursen, in denen sich die Gedanken vielstimmig überschneiden und kreuzen, gegenseitig stabilisieren oder aneinander reiben. Es geht uns nicht um ein Lehrbuch[1], sondern um dramatische Geschichten von Menschen und Büchern, die uns zum Nachdenken und Mitmachen im Geist der Aufklärung einladen. Den Anfang macht John Locke, der 1689 nach mehrjährigem Exil endlich in seine Heimat zurückkehrt, um seinen Mitbürgern ein kleines Licht aufgehen zu lassen.

Hamburg, September 2011

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Ein Kerzenlicht in der Dunkelheit

Wie John Locke zu seinen Ideen über Menschenrechte, Toleranz und Selbstdenken kam

Sonntag, 10. Februar 1689, drei Uhr nachmittags. Endlich ist es so weit. Von den Freunden, die er während seines fünfeinhalbjährigen Exils in Holland kennenlernte, hat er sich verabschiedet. Besonders Philippus van Limborch bedauerte seinen Entschluss, in die englische Heimat zurückzukehren. Doch er hat sich dazu entschieden, obwohl er völlig unsicher ist, was auf ihn zukommt. Seit einer Woche wartet er nun schon in Den Haag, dass der stürmische Wind sich dreht. Starker Westwind hat die Fahrt verhindert. Er vertrödelt seine Zeit, und seine Untätigkeit macht ihn ganz krank. Doch endlich steht der Wind günstig, im kleinen Städtchen Biel werden die Segel der «Isabella» gesetzt, er geht an Bord, die Anker werden gelichtet, und das Schiff sticht in See. Bald verschwindet die holländische Küste im winterlichen Nebel.

John Locke ist 57 Jahre alt. Er sorgt sich um seine Existenz. Sein äußerst hagerer Körper bereitet ihm Schmerzen. Schon lange leidet er an einer chronischen Bronchitis, und er fürchtet, dass das schlechte englische Wetter und die feuchte, rußige Londoner Luft seine krampfartigen Hustenanfälle verschlimmern werden. Die Zukunft erscheint ihm wie der dichte Nebel, der über dem horizontlosen Meer liegt. Er besitzt kaum Vermögen, übt keinen praktischen Beruf aus, mit dem er Geld verdienen könnte, und weiß nicht recht, was er in England tun soll. In seiner Heimat kennt man ihn nur noch als den «Mann, der zu Shaftesbury gehörte», zu diesem schillernden und umstrittenen Politiker, der bereits 1683 im holländischen Exil gestorben ist, wohin ihm sein Schützling gefolgt war.

Locke hat in den letzten zwanzig Jahren zwar viel geschrieben. Er ist davon überzeugt, dass es wichtige Überlegungen zu Politik, Religion und Philosophie sind. Aber nichts davon ist veröffentlicht. Nur einige Freunde haben die Manuskripte zu Gesicht bekommen und mit ihm darüber debattiert. Was ist, wenn die umfangreichen Schriften, die er in Kisten verpackt auf einem anderen Schiff vorausgeschickt hat, die gefährliche Fahrt nicht überstanden haben und in den dunklen Tiefen des Meeres verschwunden sind? Man würde nichts von seinen Gedanken erfahren, die er in so vielen müßigen und schweren Stunden zu Papier gebracht hat, und er sähe sich nicht in der Lage, diese Arbeit noch einmal zu leisten.

Nicht nur seine Zukunft ist ungewiss. Auch die politische Situation, die ihn zur Rückkehr in seine Heimat lockt, ist unsicher. Die Nachrichten, die er in den letzten Wochen erhalten hat, geben zwar Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Politik in eine Richtung entwickelt, wie Locke es sich wünscht und gedanklich entworfen und begründet hat. Eine religiöse und politische Machtverschiebung, die als englische «Glorious Revolution» von 1688/89 in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist in Gang gekommen.

Locke ist über die wichtigsten Ereignisse, teilweise aus erster Hand, gut informiert. Er glaubt nicht, dass es um eine wirkliche Revolution geht. Eher handelt es sich um eine komplizierte, durch religiöse Differenzen gestörte Familiengeschichte, die militärisch gelöst worden ist: Der protestantische Statthalter der Niederlande, Prinz Wilhelm von Oranien, hat seinen Schwiegervater und Onkel, den katholischen Stuart-König Jakob II., in die Flucht geschlagen. Anlass für seine Aktion ist eine unerwartete Geburt gewesen. Im Juni 1688 brachte Jakobs zweite Frau endlich einen Sohn zur Welt, der Thronfolger werden sollte. Es kursierte zwar das Gerücht, dass ihr ein fremdes Baby in einer gewärmten Bettpfanne untergeschoben worden sei. Aber das war nicht beweisbar. Stärker war die berechtigte Befürchtung einflussreicher protestantischer Männer des höheren und niederen Adels, dass damit der dynastische Anspruch von Jakobs ältester Tochter Maria aus erster Ehe, die mit ihrem Cousin Wilhelm von Oranien verheiratet und protestantisch war, zugunsten eines männlichen katholischen Thronfolgers verlorenging. Das wollten sie verhindern. Überhaupt war ihnen die Rekatholisierung Englands unter Jakob II. verhasst, der nach dem Tod seines Bruders Karl II. 1685 den Thron bestiegen hatte, mit seiner katholikenfreundlichen Personalpolitik alle Anglikaner und Protestanten düpierte und ein enges Bündnis mit dem katholischen französischen König Ludwig XIV. eingegangen war. So forderten sie verschwörerisch Anfang Juli 1688 Wilhelm von Oranien, den Sohn Karls II., Neffen Jakobs II. und Ehemann Marias, zu einer militärischen Intervention auf und versprachen ihm breite Unterstützung. Es gelte, das englische Volk vor «Papismus und Sklaverei» zu retten. Wilhelm sagte zu, stellte in Holland eine Flotte mit einem Heer von 15000 Mann zusammen, segelte im November 1688 nach England und trieb den überraschten Jakob in die Flucht nach Frankreich, wo er beim absolutistisch herrschenden Sonnenkönig Ludwig XIV. Schutz suchte und fand.

1.Wie Locke der Mann wurde, der zu Shaftesbury gehörte[2]

Während John Locke im Februar 1689 Wilhelm von Oranien über das raue Meer in sein von katholischer Macht befreites Heimatland nachfolgt, geht es um die Klärung wichtiger staatsrechtlicher Probleme. Ist der Thron durch Jakobs Flucht nach Frankreich vakant geworden, oder ist Jakob II. noch immer rechtmäßiger König? Soll Maria, seine Tochter, königliche Nachfolgerin werden oder ihr Mann, der Jakob aus England vertrieben hat? Oder soll die Thronfolge überhaupt vom royalistischen Erbfolgerecht befreit und der souveränen Entscheidung des Volkes und seiner Repräsentanten überlassen werden? Welche Rolle soll der religiöse Glaube bei der Besetzung politischer Ämter spielen? Und wie soll das Verhältnis zwischen Parlament und Krone geregelt werden?

Als John Locke an Bord der «Isabella» nach England zurückkehrt, ist er sich sicher, dass er bereits Wesentliches zur Beantwortung dieser Fragen durchdacht und niedergeschrieben hat. Es sind zwar andere politische Problemsituationen gewesen, in denen er nach philosophisch und rechtlich begründeten Lösungen gesucht hat. Aber alles, was er damals auf Hunderten von Seiten entwickelt hat, gewinnt nun eine aktuelle Relevanz und politische Sprengkraft, wovon er sich zuvor nichts hat träumen lassen. Die zweitägige Fahrt westwärts über die Tiefe Rinne zwischen Holland und England gibt ihm Gelegenheit, sich daran zu erinnern, wie er als Mann, der zu Shaftesbury gehörte, seine neuen Gedanken entwickelt hat. Er denkt vor allem an den schicksalhaften Tag im Juli 1666, als er zum ersten Mal dem First Earl of Shaftesbury begegnet ist, der damals noch kein Graf war, sondern Anthony Ashley Cooper, Baron of Wimborne St. Giles.

Locke weiß, dass ihn erst die Freundschaft mit Shaftesbury zu den philosophischen Gedanken anregte und zu den politischen Überzeugungen motivierte, die für ihn charakteristisch wurden. Auch seine Schriften wären ohne Shaftesburys Einfluss nicht entstanden. Denn bis in sein 34. Lebensjahr ist nicht absehbar gewesen, dass er als Gefolgsmann Shaftesburys zu einem Denker werden konnte, dessen Texte wegweisende Ursprungsdokumente einer liberalen Staatsauffassung, einer großzügigen religiösen Toleranz und einer aufgeklärten Verstandestätigkeit werden sollten. Bis 1666 neigte er eher zu einer konservativen Haltung. Weder gegen die Herrschaft des Stuart-Königs Karl II. (1660–1685) noch gegen die religiöse Vormachtstellung der Anglikanischen Staatskirche mit ihren festgefügten Vorschriften hatte er grundsätzliche Bedenken.

Am 29. August 1632 wurde John Locke als erstes Kind des Rechtsanwalts John Locke senior und seiner Frau Agnes in Wrington, Grafschaft Somerset, geboren. Als Kind und Jugendlicher erlebte er die politischen und religiösen Wirren in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Er ängstigte sich, als sein puritanischer Vater 1642 im ersten Bürgerkrieg auf Seiten der Parlamentsarmee gegen die Soldaten der Royalisten kämpfte, die sich für die absolute Macht des Stuart-Königs Karl I. engagierten. Erschrocken hörte er, dass am Ende des zweiten Bürgerkriegs, mit Oliver Cromwell als Führer der Independents als der stärksten puritanischen Sekte, König Karl I. durch einen Sondergerichtshof zum Tode verurteilt worden war und am 30. Juni 1649 das königliche Haupt öffentlich abgehackt und vor den Schaulustigen, die sich in großer Zahl vor dem königlichen Palast von Whitehall versammelt hatten, in die Höhe gehalten wurde. Dann waren die Monarchie, die Anglikanische Staatskirche und das Oberhaus der anglikanischen Bischöfe und adligen Lords abgeschafft worden. England war zu einer Republik geworden, wobei die staatliche Souveränität auf Oliver Cromwell konzentriert war, den Lord Protektor des «Commonwealth of England, Scotland and Ireland» von 1653 bis 1658. Nach Cromwells Tod hatte sich die Volksstimmung vom Puritanismus abgewandt und wieder der Monarchie zugewandt. Elf Jahre nach der Hinrichtung Karls I. wurde sein Sohn Karl II. 1660 zum neuen König. Sofort begann die Restauration der Monarchie. Die Anglikanische Staatskirche gewann ihre religiöse Vormachtstellung zurück, gegen deren Alleinvertretungsanspruch sich jedoch zahlreiche «Dissenters» wandten, protestantisch Andersdenkende, die sich in verschiedenen nonkonformistischen Sekten organisierten.

Der junge Locke nahm die Krise der Jahrhundertmitte aufmerksam zur Kenntnis. Die ständigen politischen Machtverschiebungen und religiösen Konflikte beunruhigten ihn. Doch er hielt sich zurück und versuchte sich auf seine Studien und seine akademische Karriere zu konzentrieren. Als begabtes Kind hatte er für die angesehene Westminster School in London ein Stipendium erhalten, wo er sich neben dem Lernen der alten Sprachen Latein und Griechisch, später dann auch Hebräisch und Arabisch, vor allem für Arithmetik und Geographie interessierte. Während Cromwell auf dem Höhepunkt seiner Macht war, führte Locke seine Studien am berühmten Christ Church College in Oxford fort. Er konzentrierte sich auf Naturphilosophie, Experimentalwissenschaften und Medizin, machte 1656 seinen Bachelor of Arts, zwei Jahre später dann seinen Master of Arts. Er gehörte nun als Dozent zum Lehrkörper des renommierten Christ Church College. Einer erfolgreichen akademischen Laufbahn stand nichts im Wege.

Gegen die Rückkehr eines Stuarts 1660 auf den englischen Thron hatte er nichts einzuwenden. Die Wiederherstellung der Monarchie unter Karl II. begrüßte er mit größter Freude und Genugtuung. Von der königlichen Autorität erhoffte er sich eine Beruhigung der chaotischen politischen Lage im großen Tollhaus England. Auch zog er vor, sich trotz seiner strengen puritanischen Erziehung im elterlichen Haus zur wiederhergestellten Anglikanischen Staatskirche zu bekennen. Gegen das 1662 erlassene «Uniformitätsgesetz» (Act of Uniformity) hatte er keine grundsätzlichen Bedenken. Glaubensvorschriften und liturgische Regelungen sollten die Einheit der Rechtgläubigen garantieren, die sich in Puritaner, Presbyterianer, Sozinianer, Independents, Quäker, Baptisten, Unitarier und andere «Dissenters» zu zerstreuen drohten. Seine politisch-religiöse Grundhaltung war konservativ-staatsautoritär. Nur ein starker Souverän und eine vereinheitlichte Staatskirche könnten die Gefahren des religiösen Bürgerkriegs und einer irreführenden Berufung auf das Gewissen bannen, die zur Staatsauflösung zu führen drohte.

Eine Tätigkeit im Kirchen- oder im Staatsdienst bot sich an. 1665 durfte Locke als Sekretär den englischen Gesandten nach Kleve begleiten, damals Sitz des Kurfürsten von Brandenburg, wo ihn die große religiöse Toleranz erstaunte, die im Herzogtum Kleve praktiziert wurde. Lutheraner, Calvinisten und sogar Katholiken durften öffentlich und frei ihren Gottesdienst feiern, auch wenn dem protestantischen Großen Kurfürsten die Katholiken verhasst waren.

Nach seiner Rückkehr aus Kleve wollte Locke sich wieder in Ruhe seinen Forschungen und seiner Lehrtätigkeit widmen. Doch stattdessen geriet er in einen Sturm. Sein Leben nahm eine unerwartete schicksalhafte Wende, als er Anthony Ashley Cooper traf. Es war im Juli 1666. Locke unternahm gerade einige physikalische und chemische Experimente und half seinem Freund Dr. David Thomas bei der Sezierung der Leiche eines Jungen, der an Rachitis gestorben war. Da bat ihn Thomas, aus der Heilquelle in Astrop, in der Nähe von Oxford, einige Flaschen mineralisches Wasser für Baron Ashley zu besorgen, der schon seit vielen Jahren an schrecklichen Schmerzen der rechten Seite litt. Bald darauf kam Ashley selbst nach Oxford. Sein großer Charme, sein kultiviertes Auftreten und seine ästhetische Bildung faszinierten Locke, der wiederum mit seinen medizinischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen Ashley beeindruckte. Gemeinsam fuhren sie nach Astrop.

Anfang Oktober 1666 besuchte Locke zum ersten Mal Ashley in dessen Exeter House in London. In den kommenden Monaten, während sich Locke wieder seinen medizinischen Studien widmete, intensivierte sich ihre Beziehung. Schließlich, im April 1667, nahm er Ashleys Angebot an, mit ihm und seiner Familie in Exeter House zu leben. Seine Stellung war nicht klar bestimmt. Er war zugleich Privatsekretär, philosophischer Berater, politischer Weggefährte, hilfreicher Hausarzt ohne akademisches Doktordiplom und Erzieher von Ashleys fünfzehnjährigem Sohn.

Während Locke sich bisher aus den politischen Wirren der Zeit herausgehalten hatte, war Ashley zeitlebens hochgradig engagiert gewesen, wobei er geschickt auch die Seiten zu wechseln wusste, wenn er es für opportun hielt.[3] Im Bürgerkrieg war er zunächst neutral, dann Royalist, doch bereits ein Jahr später kämpfte er gegen die königliche Armee Karls I. Er wurde Mitglied in Cromwells Staatsrat, wandte sich aber schon bald gegen den Lord Protektor. Als Mitglied des Konventionalparlaments von 1660 verhalf er Karl II. zur Krone und war ein Jahr später zum Schatzkanzler des englischen Königreichs ernannt worden. In dieser Position lernte er schließlich 1666 John Locke kennen.

Das erste größere Problem, zu dessen Lösung Ashley den Rat seines Protegés einholte, betraf eine religiöse Konfliktsituation. Ashley, seit 1667 Mitglied der Regierung unter Karl II., nahm in Glaubensfragen eine recht tolerante Haltung ein. Ein größeres Maß an Freiheit ermögliche ein erfolgreicheres Wirtschaften. Gläubige, die sich nicht in die staatskirchliche Einheit einpassten, sollten nicht von wichtigen Positionen im Staat ferngehalten werden. In dieser Hinsicht wusste Ashley sogar den König auf seiner Seite, der von einer rigiden religiösen Konformität wenig hielt und, wie man vermutete, heimlich sogar mit dem Katholizismus sympathisierte.

Ashley forderte Locke zur grundsätzlichen Klärung der Frage auf, welches Maß an Freiheit und Bindung dem Menschen in religiöser Hinsicht zukommen soll. Unter dem Eindruck seiner Argumente machte Locke sich ans Werk. 1667 schrieb er seine erste größere Toleranzschrift, die einen Wendepunkt in seinem Denken bedeutete: den Essay on Toleration. Grundsätzlich ging er nun davon aus, dass der Staat nur dafür da sei, das öffentliche Wohl zu fördern und den Frieden zu erhalten. Um das Seelenheil der Bürger habe er sich nicht zu sorgen. Auch der Gottesdienst müsse nicht streng geregelt werden. Unterschiedliche Rituale der Gläubigen sollten toleriert werden. Und schließlich wandte Locke sich an den König selbst und empfahl ihm, auch den protestantischen Dissenters und Sekten eine Toleranz zu gewähren, die zur Erhaltung und Stabilisierung seines Königreichs mehr beitrage als eine anglikanisch-royalistische Zwangsjacke. Nur die katholischen «Papisten» sollten nicht toleriert werden. Denn ihre Loyalität gegenüber dem römischen Papst als einer ausländischen Macht mache sie für die englische Regierung zu innenpolitischen Fremdkörpern mit destruktiven Meinungen.[4]

Im Londoner Exeter House stand Locke nicht nur Ashley hilfreich zur Seite, unter anderem als Mediziner, als er ihm im Juni 1668 einen großen Tumor entfernen konnte, der sich unter seinen Rippen gebildet hatte und äußerst schmerzhaft war. In sein Zimmer konnte Locke in den kommenden Jahren auch regelmäßig fünf oder sechs Freunde einladen, mit denen er, angeregt durch den Genuss mehrerer Flaschen Wein, offenherzig über Prinzipien der Moral und der Offenbarungsreligion diskutierte. Dabei tauchten immer neue Fragestellungen auf, für die sie keine überzeugenden Antworten finden konnten. Im Frühjahr 1671 waren sie an einem toten Punkt angelangt. Was tun? Locke entschloss sich zu einem radikalen Versuch, über den er später schreiben wird: «Nachdem wir uns so eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns quälenden Zweifel irgendwie näherzukommen, kam mir der Gedanke, daß wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müßten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei. Ich setzte das der Gesellschaft auseinander, und alle stimmten mir bereitwillig zu, worauf wir vereinbarten, daß dieser Frage unsere erste Untersuchung gelten sollte.»[5]

Also skizzierte John Locke im Sommer 1671 für sich und seinen kleinen Gesprächskreis seine noch recht flüchtigen und unverdauten Gedanken über das, «was ich über den menschlichen Verstand denke»[6]: Sic Cogitavit de Intellectu humano Jo: Locke an 1671. Er dachte über sein eigenes Denkvermögen nach. Was kann ich wissen? Und warum kann ich es wissen? Theologische Dogmen, göttliche Offenbarungen, staatliche Vorschriften, traditionsreiche Überlieferungen oder gelerntes Bücherwissen wollte er nicht als Grundlage seines eigenen Verstandes anerkennen. Die Frage nach dem Grund zielte auf eine andere Begründung. Locke dachte über den Anfang des menschlichen Wissens nach. Dabei kam ihm eine fundamentale Einsicht, eine gleichsam embryonale Idee, die nicht nur sein weiteres Denken bestimmte, sondern auch einen philosophiegeschichtlichen Neuanfang bedeutete. Locke wagte die kühne Behauptung, dass alles Wissen letztlich in der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung begründet sei und von ihr abgeleitet werden müsse. Es muss ein erhebender Augenblick gewesen sein, als Locke zur Feder griff und seine grundlegende Einsicht niederschrieb. Der menschliche Geist sei für ihn nicht mit angeborenen Ideen ausgestattet, die den Weg seiner Erkenntnis im Voraus festlegen, sondern anfänglich nur eine «tabula rasa», eine leere Tafel, auf der einfache Vorstellungen (wie heiß oder kalt, hell oder dunkel, gelb oder blau, weich oder hart) eingeschrieben werden, die verarbeitet werden, um immer komplexere Ideen zu ergeben. Im Sommer 1671 erweiterte er seine kleine erkenntnistheoretische Skizze zu einem Ersten Entwurf (Draft A), den er im Herbst sprachlich glättete und für einen größeren Leserkreis ausformulierte (Draft B).[7] Das war die Keimzelle, aus der sich später Lockes philosophisches Hauptwerk entwickeln sollte: sein Essay concerning Human Understanding.

2.Die Entdeckung der Menschenrechte

Nach seinem religionskritischen Essay on Toleration von 1667 und seinem erkenntnistheoretischen Versuch über den menschlichen Verstand von 1671 wandte sich Locke verstärkt politischen Problemen zu. Wieder ging es um eine grundsätzliche Frage. Auf welchem Grund, mit guten Gründen, basiert eine Regierung? Wie lassen sich königliche Herrschaft, parlamentarische Macht und die Rechte des Volkes legitimieren, und wo liegen ihre jeweiligen Grenzen? Auch bei der Beantwortung dieser Fragen spielte Lockes Mentor mit seinen politischen Aktivitäten die ausschlaggebende Rolle. Es galt, in all den Wirren der politischen Erfolge und Misserfolge nicht den Kopf zu verlieren und eine klare, auch philosophisch gut begründete Position einzunehmen. Das war nicht leicht in diesem Jahrzehnt eines ständigen Auf und Ab, in dem Lord Ashley 1672 zum First Earl of Shaftesbury erhoben worden war, als Lordkanzler die mächtigste Stellung in der Regierung einnahm, dann seinen eigenen liberalen «Green Ribbon Club» gründete, aus dem später die «Whig»-Partei hervorgehen sollte, als Lordkanzler entlassen wurde, 1677 im Tower inhaftiert war und schließlich, wieder freigelassen, eine konsequente antikatholische Politik verfolgte, die ihn gegen Ende der siebziger Jahre in größte Schwierigkeiten brachte.

Dabei drehte sich alles um die Frage der Thronfolge. Gerüchte kursierten, dass der protestantische Karl II. ermordet werden sollte, um seinen römisch-katholischen Bruder Jakob, Herzog von York, zum neuen König machen zu können. Papistenfurcht und antikatholische Hysterie bestimmten das politische Klima, in dem es zur «Exclusion Crisis» von 1679 bis 1681 kam, in der sich Shaftesbury als politische Schlüsselfigur mit all seinen Mitteln dafür einsetzte, dass ein Katholik unbedingt von der Thronfolge ausgeschlossen werden müsse. Es wurden mehrere «Exclusion Parliaments» einberufen und vom König wieder aufgelöst. Auch ein gewaltsamer Staatsstreich wurde geplant, um einen katholischen König und die Wiedereinführung des Katholizismus in England zu verhindern.

Auf dem turbulenten Höhepunkt der Ausschluss-Krise bat Shaftesbury seinen besten Mann um argumentative Hilfe. John Locke sollte die Regierungsgewalt einer philosophischen Untersuchung unterziehen, wobei mit «government» die gesamte staatliche Rechts- und Institutionenordnung gemeint war. Die Souveränität des Königs, die dynastische Thronfolge, die Bedeutung des religiösen Glaubens und der kirchlichen Organisationen, die Macht des Parlaments und das Widerstandsrecht des Volkes rückten ab 1680 ins Zentrum von Lockes Überlegungen zur Politischen Philosophie.[8]

Als seinen diskursiven Gegner nahm er sich zunächst Sir Robert Filmer vor, einen streng royalistisch denkenden Landadeligen, dessen Streitschrift Patriarcha, or the Natural Power of Kings gerade publiziert worden war. Das Manuskript hatte Filmer, der 1654 gestorben war, zwar schon während der Bürgerkriege in den vierziger Jahren geschrieben. Doch erst jetzt, während der Exclusion Crisis, konnte es seinen politischen Gehalt voll zur Geltung bringen. Von den royalistischen Verfechtern eines Stuart-Absolutismus wurde es quasi zur offiziellen Staatsdoktrin erklärt: Die «natürliche Gewalt der Könige» sei, wie auch die Macht des Familienvaters über seine Frau und seine Kinder, ursprünglich von Gott an Adam übertragen worden. Die absolute Autorität Adams, des ersten Vaters und Königs, sei der Archetyp einer paternalistischen Herrschaft, die gottgewollt sei. Sie dürfe nicht in Frage gestellt werden. Gegen den Souverän Widerstand zu leisten breche das Gebot, seinen Vater zu lieben, und einen König abzusetzen sei Vatermord.

Gegen diese Vergöttlichung der königlichen Macht begann Locke Anfang 1680 seine Erste Abhandlung über die Regierung zu schreiben, in der er die Prinzipien und Begründungen von Sir Robert Filmer und seiner Nachfolger als unbegründet zurückzuweisen versuchte. Denn nicht nur gebe es für die göttliche Einsetzung Adams als Urkönig, dessen legitime Herrschergewalt sich in kontinuierlicher Erbfolge auf die heutigen Könige übertrage, keine biblischen Belege. Auch sei die Gleichsetzung von väterlicher, königlicher und erblicher Gewalt unhaltbar. Nach der Niederschrift seines First Treatise on Government war Locke davon überzeugt, nachgewiesen zu haben, dass es unmöglich sei, «daß die jetzigen Herrscher der Erde aus dem, was als die Quelle aller Macht angesehen wird, nämlich Adams persönliche Herrschaft und väterliche Gerichtsbarkeit, irgendwelchen Gewinn ziehen oder auch nur eine Spur von Autorität ableiten können».[9]

In den kommenden Jahren versuchte er dann, über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung aufzuklären. 1681 bis 1683 schrieb er an seinem Second Treatise. Wie in den erkenntnistheoretischen Reflexionen über den menschlichen Verstand, die er zehn Jahre zuvor begonnen hatte, rückte er das neue Problem wieder in eine zeitliche Dimension. Die politisch-philosophische Frage nach dem legitimen Grund der Regierung wurde auf den Naturzustand ausgerichtet, in dem sich die Menschen ursprünglich befanden. Er diente ihm zur Begründung der Rechte und der Pflichten jedes Menschen in den seither gebildeten politischen Gesellschaften. Dabei schien ihm auch jetzt seine Grundeinsicht wie ein Licht aufgegangen zu sein, das sein weiteres Lebenswerk durchstrahlen sollte.

Gegen Adam und dessen Paradies gerichtet schrieb er seine ersten Sätze, mit denen er ein gänzlich anderes Bild als Sir Filmer entwarf: Der anfängliche natürliche Zustand der Menschen «ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein. Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind.»[10] Gegen die Natural Power of Kings brachte Locke die Freiheit und Gleichheit ins Spiel, die den Menschen von Natur aus zukommen und die auch in den notwendig gewordenen politischen Gesellschaften beachtet werden sollten. «Zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens»[11] (life, liberty and estate), die Locke für den naturgegebenen Besitz (property) des Menschen hielt, haben sie sich freiwillig zu einem «common wealth» vereinigt, um mittels einer vertraglich geregelten und allgemein anerkannten Regierung die drohenden Konflikte zwischen den Individuen durch gesetzliche Maßnahmen lösen zu können.

Was Locke als natürliches Eigentum des Menschen bestimmte, als das ihm Eigentümliche, wurde von ihm zwar historisch gedacht. Es verwies auf einen Ursprung. Aber diese geschichtliche Perspektive wurde von ihm zugleich ins Überzeitliche gewendet. Sie führte vor Augen, was dem Menschen wesentlich zukommt. Der Naturzustand erhellte das «von Natur Rechte», das Locke als das normative Modell eines «für Menschen Rechten» begriff. Seine Zweite Abhandlung über die Regierung lieferte den vernünftigen Grund dafür, das Natur-Recht in ein Menschen-Recht zu übersetzen. Den für die neuzeitliche Ideengeschichte entscheidenden und wegweisenden Schritt vom Naturrecht zu den Menschenrechten vollzog er im § 6: «Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.»[12] Als Standardformel seiner natürlichen Rechtsgüter hat Locke wiederholt die Trias von Leben, Freiheit und Eigentum benutzt: life, liberty and estate. Er verstand sie als angeborene, unantastbare und unveräußerliche Ur-Rechte, die dem Menschen als Menschen zukommen, und zwar allen Menschen in gleicher Weise. Das Recht auf Leben ist der elementarste Ausdruck der Selbsterhaltung und Voraussetzung menschlicher Handlungsmöglichkeiten; das Recht auf Freiheit weist Hindernisse und Zwänge zurück, die der Entfaltung menschlicher Kräfte im Wege stehen; und das Recht auf Eigentum betrifft ursprünglich den eigenen menschlichen Körper, durch dessen Arbeit jeder Mensch sich seinen Besitz erarbeiten kann.

Mit diesen natürlichen Menschenrechten waren auch die staatliche und die königliche Macht in ihre Grenzen verwiesen worden: Das natürliche Gesetz ist stärker als die bestehende Rechtsposition des Königs oder der Regierung. Ein König kann abgesetzt und eine Regierung kann aufgelöst werden, wenn sie gegen das in sie gesetzte Vertrauen verstoßen und sich zu willkürlichen Herrschern über die drei naturgegebenen Güter des Menschen machen; und eine Auflösung der Regierung ist auch möglich, wenn durch den König oder durch die Legislative das Volk «unter das Joch einer fremden Macht» gebracht wird. Denn das Volk ist mit dem Ziel in die Gesellschaft eingetreten, als eine einheitliche, freie, unabhängige Gesellschaft erhalten zu bleiben und nach ihren eigenen Gesetzen regiert zu werden. Dieses Ziel geht aber verloren, sobald das Volk der Gewalt eines anderen ausgeliefert wird.

Damit ging Locke weiter als alle anderen politischen Denker seiner Zeit, wobei er sich unausgesprochen auf die bevorstehende Thronfolge bezog. Schließlich noch ein letzter Schritt: Ja, die Menschen haben sogar das Recht, gegen drohende Übel vorzugehen, bevor sie eintreten und nicht mehr zu heilen sind. Es ist legitim, sich um seine Freiheit zu kümmern, bevor man zum Sklaven geworden ist. Denn «die Menschen könnten vor der Tyrannei niemals sicher sein, wenn es kein Mittel gibt, ihr zu entrinnen, bevor sie ihr völlig unterworfen sind. Daher haben sie nicht nur ein Recht, sich von der Tyrannei zu befreien, sondern auch ein Recht, sie zu verhindern.»[13]

Lockes Abhandlungen über die Regierung lieferten Shaftesbury Munition in seinem Kampf gegen Jakob von York, der die Nachfolge seines kranken Bruders Karl anzutreten drohte. Denn als strenggläubiger Katholik würde er sich und das englische Volk der päpstlichen Macht in Rom unterordnen. Das galt es zu verhindern. Auch gegen die autoritäre Herrschaft Karls II. organisierte Shaftesbury die parlamentarische Opposition. Der Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Das Parlament wurde aufgelöst, Shaftesbury im Juli 1681 verhaftet, in den Tower geworfen und des Hochverrats angeklagt. Es kam dann zwar zu keinem Prozess vor der «Grand Jury», und Shaftesbury wurde gegen Kaution freigelassen. Kaum in Freiheit, schmiedete er Pläne zur gewaltsamen Absetzung des Königs. Die Verschwörung wurde durch Spitzel aufgedeckt und ein neuer Haftbefehl ausgestellt. Shaftesbury zog es vor, seiner Verhaftung zuvorzukommen. Er floh nach Holland ins Exil, wo er schon bald nach seiner Ankunft am 21. Januar 1683 starb.

Die Stellung von Locke, der zu Shaftesbury gehörte, war in diesen krisengeschüttelten Jahren immer unsicherer geworden. Sorgsam versteckte er seine Manuskripte, damit sie nicht in die Hände der Staatsgewalt fielen. Geschickt entzog er sich der Überwachung durch die Spitzel des Königs, die nur berichten konnten: «Niemand weiß, wohin er geht oder wann er geht oder wann er zurückkommt. Sicherlich steckt eine Intrige der Whigs dahinter, aber von ihm selbst hört man hier kein Wort über Politik, keine Nachrichten und nichts über die gegenwärtigen Ereignisse, als ob er mit ihnen überhaupt nichts zu tun hätte.»[14] Doch was würde passieren, wenn man seine Abhandlungen über die Regierung fände? Würde es ihm wie dem Staatstheoretiker Algernon Sidney ergehen, der gerade hingerichtet worden war, weil man bei ihm ein Manuskript über die Regierung (Discourses concerning Government) gefunden hatte, in dem er die liberale Staatsauffassung der Whigs verteidigte? Locke war sich seines Lebens in England nicht mehr sicher. Er entschied sich, wie Shaftesbury zuvor, nach Holland zu gehen.

3.Die Strahlkraft der Aufklärung ist begrenzt

Am 7. September 1683 kam John Locke in Rotterdam an, zwei Tage später war er in Amsterdam. Damit begann sein fünfeinhalbjähriges Exil in Holland, das im 17. Jahrhundert zu einer Zufluchtsstätte religiöser Nonkonformisten und politischer Flüchtlinge aus vielen Ländern geworden war, seit den achtziger Jahren auch ein Sammelbecken der englischen Oppositionellen, die von hier aus ihre Umsturzpläne schmiedeten. Locke scheint sich von ihnen ferngehalten zu haben. Doch das schützte ihn nicht vor der Verfolgung seitens englischer Agenten, die sich verschärfte, nachdem Karls Bruder im Februar 1685 als Jakob II. den Thron bestiegen hatte. Lockes Name tauchte auf einer Liste von Verschwörern auf. Die englische Regierung wünschte seine Auslieferung. Seine Mitgliedschaft im Oxforder Christ Church College wurde aberkannt. Was sollte er tun? Er hielt es für ratsam, unter verschiedenen Namen sich in den Häusern neu gefundener holländischer Freunde zu verstecken, die er meist nur nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen wagte. Die lange Zeit der unfreiwilligen Muße nutzte er zur Weiterarbeit an seinen bereits geschriebenen Manuskripten über den menschlichen Verstand, die religiöse Toleranz und die politische Gesellschaftsstruktur. Er schärfte sie gedanklich zu, baute seine Begründungen aus und brachte sie in eine stilistisch ausgefeilte Form.

Seine beiden Abhandlungen über die Regierung, die er während der Exclusion Crisis geschrieben hatte, hielt er für weitgehend abgeschlossen. Er fügte nur wenige Änderungen hinzu. Dagegen schienen ihm seine Überlegungen über den menschlichen Verstand nur ein Haufen wirren Zeugs zu sein. Vierzehn Jahre zuvor hatte er sie skizzenhaft in recht unzusammenhängenden Absätzen für vertraute, gleichgesinnte Freunde niedergeschrieben, mit denen er sich seit 1671 in Ashleys Londoner Exeter House getroffen hatte, um über Gott und die Welt, Glauben und Wissen, Offenbarungsreligion und selbst zu verantwortende Moralität zu räsonieren. Jetzt musste er sie fern der Heimat allein zu Ende denken. Hier war noch viel zu tun.

Zunächst galt es, die Problemsituation klarzumachen, in der sich vernünftige Menschen in diesen unruhigen Zeiten politischer und religiöser Konflikte befanden. Locke schrieb ein erstes einleitendes Kapitel, in dem er grundsätzlich klärte, was auf dem Spiel stand. In jedem Satz spürt man die hochgradige geistige und existenzielle Spannung, für die Locke eine grundsätzliche Lösung anstrebte: Auf der einen Seite war er davon überzeugt, dass die Menschen über einen Verstand verfügen, der sichere Erkenntnisse ermöglicht. Im Reich der Natur ist der Mensch ein herausgehobenes Lebewesen, dessen einzigartiger Verstand eine erhabene Würde besitzt. Er ist ein Wunder, dessen Untersuchung nicht nur der Mühe wert ist, sondern auch großes intellektuelles Vergnügen bereitet. Wenn wir mit unserer Verstandestätigkeit den Verstand zu seinem eigenen Objekt machen, können wir uns darüber freuen, dass uns selbstreflexiv bewusst wird, was uns als Menschen wesentlich auszeichnet. Denn das «Licht, das wir auf unseren Geist fallen lassen können», vermag zu vertreiben, «was uns über uns selbst so sehr im Dunkeln läßt».[15]

Das war die andere Seite, die Locke zur Untersuchung des Verstandes anregte. Die geistige Situation der Zeit war verdunkelt. In den Wirren der konfessionellen und staatlichen Kämpfe schwirrten die verschiedenartigsten und widersprüchlichsten Meinungen umher. Irrtümer, unbewiesene Behauptungen, äußerst unwahrscheinliche Vermutungen, unvernünftige Glaubensformen und ein schwärmerischer Übereifer, der sich gewaltsam gegen Andersgläubige richtete, waren an der Tagesordnung, und es gab viele Zeitgenossen, die sie mit unversöhnlicher Entschlossenheit durchzusetzen versuchten. Am Verstand der meisten Menschen konnte gezweifelt werden. Es bestand ausreichend Grund zum radikalen skeptischen Argwohn, «dass es entweder so etwas wie die Wahrheit überhaupt nicht gebe oder dass die Menschen nicht über ausreichende Mittel verfügen, um eine sichere Kenntnis von ihr zu erlangen».[16]

Für Locke konnte es nur eine Lösung geben, um diesen Widerstreit von Licht und Dunkelheit, Vernunftvertrauen und Skeptizismus schlichten zu können. Es galt, bloße Meinung und sichere Erkenntnis voneinander abzugrenzen. Lockes Untersuchung des menschlichen Verstandes wurde durch eine Doppelfrage angeregt: Was können wir wissen? Und was entzieht sich unserer Kenntnis? Es ging um eine kritische Grenzziehung. Locke erklärte es zu seinem Ziel, einerseits Ursprung, Gewissheit und Umfang der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen, andererseits sich über die Eigenarten und Grundlagen von Glauben (belief) und Meinung (opinion) klar zu werden und die abgestuften Gründe der Zustimmung (assent) freizulegen, die wir Sätzen gewähren, von deren Wahrheit wir keine sichere Kenntnis haben können. Die selbstbezügliche Untersuchung des Verstandes sollte «die Grenzlinie ausfindig machen, die den erhellten und den dunklen Teil der Dinge, das für uns Faßliche und das Unfaßliche voneinander scheidet».[17]

Diese Grenzziehung verband Locke mit einem Plädoyer für intellektuelle Bescheidenheit. Überzeugt davon, dass der Mensch über erstaunliche Verstandeskräfte verfügt, die den erkennbaren Dingen angemessen sind und wahre Aussagen ermöglichen, sah er keinen Grund, die Beschränktheit unseres Geistes grundsätzlich zu beklagen. Sein Licht reiche weit genug, um die Dinge zu erhellen, die für uns von Nutzen sein können. Aber es gebe gute Gründe, sich mit unserer Unwissenheit in Bereichen abzufinden, die unsere Fassungskraft übersteigen. «Wir würden dann vielleicht nicht so vorschnell sein, aus einem Streben nach allumfassender Erkenntnis heraus Fragen aufzuwerfen und uns selbst und andere mit Streitgesprächen zu verwirren über Dinge, denen unser Verstand nicht gewachsen ist und von denen wir in unserem Geist keinerlei klare und deutliche Wahrnehmungen vermögen oder für die wir (wie es vielleicht nur allzu oft der Fall gewesen ist) überhaupt keine Begriffe haben.»[18]

Zunächst waren es nur Bilder, mit denen Locke seine Grenzziehung anschaulich und plausibel machte. Er erinnerte an den Seefahrer, der die Länge seiner Lotleine kennt, auch wenn er damit nicht alle Tiefen der Weltmeere ergründen kann. Sie ist jedenfalls nützlich und lang genug, um dort den Grund zu erreichen, wo es notwendig ist, um den sicheren Kurs zu bestimmen und gefährlichen Untiefen auszuweichen. So sollten auch die Menschen ihre Gedanken nicht in jene dunklen Tiefen hinabdringen lassen, wo sie keinen sicheren Boden mehr finden können. Ihre Gedanken würden sich nur verwirren, und ihre Streitgespräche fänden kein Ende. Ebenso wenig macht es für einen erfahrenen Seemann Sinn, seinem nautischen Verstand auf dem unermesslichen und grenzenlosen Ozean freien Lauf zu lassen, statt sich auf die Fahrt zu konzentrieren, die ihn sicher zu seinem Ziel bringen kann.

Doch das schönste und folgenreichste Bild war das Licht. Locke sprach zwar noch nicht von «enlightenment». Aber das Licht, das er selbstreflexiv auf den menschlichen Verstand und dessen mögliche Gegenstände warf, sollte erhellen, was wir wissen können und was in der Dunkelheit des Unwissens verschwimmt und verschwindet. Es konnte für Locke nicht das Licht einer Sonne sein, die alles hell erleuchtet, als läge es schattenlos da auf der grenzenlosen Ebene des Seins. Es glich eher einem Kerzenlicht, das den Menschen hilft, sich in den dunklen Räumen zu orientieren, in denen sie sich befinden, umgeben von grauen Schatten und tiefster Schwärze. Es kam darauf an, seine begrenzte Reichweite für die Erkenntnis der Dinge zu nutzen, statt skeptisch zu resignieren oder völlig gedankenlos zu werden. «Es ist für einen trägen und eigensinnigen Diener, der seine Arbeit bei Kerzenlicht nicht verrichten mag, keine Entschuldigung, sich darauf zu berufen, daß er keinen hellen Sonnenschein gehabt habe. Die Leuchte, die in uns entzündet ist, strahlt für alle unsere Zwecke hell genug. Die Entdeckungen, die wir mit ihrer Hilfe machen können, müssen uns genügen. Und wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten entspricht, und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich sind, nicht aber unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewißheit fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere Angelegenheiten zu besorgen.»[19]

Die Epoche der europäischen Aufklärung begann bei «candle-light» mit einem erkenntniskritischen Versuch. Lockes Essay concerning Human Understanding versuchte Licht zu bringen in den Grund, die Kraft und die Reichweite des menschlichen Verstandes. Die Grundlage fand er in einfachen sinnlichen Wahrnehmungen (sensations) und ihren Reflexionen (reflections) im menschlichen Bewusstsein, von denen ausgehend der menschliche Verstand konstruktiv zu immer komplexeren Ideen gelangen kann. Locke folgte seinem erfahrungsorientierten Weg bis zu den Wahrscheinlichkeiten des Vermutungswissens und den Irrtümern unserer Urteilskraft, wenn wir etwas für wahr behaupten, was nicht wahr ist. Am Ende versuchte er das Verhältnis zwischen Wissen und Glauben zu klären und ihre verschiedenen Gebiete zu beleuchten. Scharfsinnig unterzog er überlieferte religiöse Offenbarungen einer kritischen Prüfung, wobei er die Behauptung wagte, «daß durch Offenbarung uns dieselben Wahrheiten enthüllt und überliefert werden können, die wir auch mit Hilfe der Vernunft und der auf natürlichem Wege erlangten Ideen entdecken können».[20] Er war nicht mehr bereit, sich auf seinem Weg durch Glaubenssätze verwirren zu lassen, die unserer Erkenntnis widersprechen. Dass zum Beispiel die Toten auferstehen und wieder leben werden, galt ihm als eine reine Glaubenssache, über die wir nichts wissen können. Gegen die offenbarten Sätze der Religion ließ er die Vernunft zur Sprache kommen. «Wenn irgend etwas als Offenbarung ausgegeben wird, das den einleuchtenden Prinzipien der Vernunft und der offensichtlichen Erkenntnis des Geistes von seinen eigenen klaren und deutlichen Ideen widerspricht, so muß die Vernunft gehört werden, da sie auf diesem Gebiet zuständig ist.»[21]

Das Kerzenlicht des Aufklärers war einleuchtend. Mit begrenzter Reichweite strahlte es hinein in die zwielichtige Dunkelheit des noch nicht Erkannten; seine Leuchtkraft reichte nicht in die tiefe Schwärze des Unerkennbaren. Ganz anders verhielt es sich mit der erleuchteten «Schwärmerei» (enthusiasm), der sich Locke am Schluss seines Versuchs über den menschlichen Verstand zuwandte. Unmittelbar erleuchtet vom Geist Gottes glaubten die Schwärmer das Licht der Sonne zu sehen. Locke wollte ihnen nicht abstreiten, dass sie die Wahrnehmung dieses klaren Lichts zu haben glaubten. Doch er entschloss sich, den «himmlischen Strahl mit unserer trüben Leuchte, der Vernunft, zu prüfen».[22] Was sich ihm dabei zeigte, war nichts anderes als ein enthusiastischer Gefühlsüberschwang, der weder auf der Vernunft noch auf göttlicher Offenbarung begründet war, sondern «den Eingebungen eines erhitzten und eingebildeten Gehirns»[23] entsprang. Befreit von jeder gedanklichen Überlegung, steigerte sich der Schwärmer in eine göttliche Autorität, die, nüchtern betrachtet, nur aus dem eigenen Inneren stammte.

4.Ein Brief über Toleranz

Während Locke gerade dabei war, seine Gedanken über den menschlichen Verstand zu klären, sah er sich erneut einem Problem konfrontiert, das ihn schon früher beunruhigt hatte. Die permanenten Konflikte zwischen zahlreichen Sekten, religiösen Bekenntnissen, kirchlichen und staatlichen Machtzentren hatten ihn zu Überlegungen über die Toleranz angeregt, die eine neue Aktualität gewannen. Was befürchtet worden war und schon um 1680 in England zu einer Staatskrise (Exclusion Crisis) geführt hatte, war Wirklichkeit geworden. Nach dem Tod Karls II. bestieg im Februar 1685 sein Bruder als Jakob II. den Thron. Ein Katholik war König im protestantischen England.

Das konnte zunächst als vorübergehendes Zwischenspiel von der Nation noch akzeptiert werden. Doch bald begann man sich zu ängstigen, dass auch England von den französischen Ereignissen eingeholt werde. Am 18. Oktober 1685 hob nämlich der katholische Sonnenkönig Ludwig XIV. in Frankreich das «Edikt von Nantes» von 1598 auf. War unter diesem Edikt den protestantischen Hugenotten im katholischen Frankreich volle Gewissensfreiheit und in gewissen Grenzen auch die offene Ausübung ihrer Religion gewährt worden, so verschlechterte sich nun ihre Situation dramatisch. Ihre Kultfreiheit wurde aufgehoben, protestantische Erziehung und Auswanderung von Protestanten wurden verboten. Ihre Kirchen wurden zerstört, ihre Schulen geschlossen, und ihr Leben war einer willkürlichen Gewalt ausgeliefert. Grausame Morde waren alltäglich, und durch Folter wurden Konversionen erzwungen. Die Aufhebung des Edikts von Nantes führte zu einem neuen Flüchtlingsstrom, vor allem nach Holland, wo die verfolgten Hugenotten sich sicher fühlen konnten. Zugleich steigerten die Ereignisse die Befürchtung der hier lebenden englischen Exilanten, dass es auch in England zu ähnlichen Verhältnissen wie in Frankreich kommen könnte.

Als am 10. Juni 1688 ein Sohn des katholischen Jakob II. zur Welt kam, wuchs die Furcht vor einer systematischen Gegenreformation in England. Es gab also gute Gründe für Locke, sich Ende des Jahres 1688 noch einmal grundsätzlich mit dem Problem der religiösen Toleranz zu beschäftigen. Was sind die Aufgaben von Staat und Kirche? Müssen Staat und Kirche gegenüber Andersgläubigen tolerant sein? Wie weit reichen die Rechte der Kirche hinsichtlich unterschiedlicher Kulte und Glaubensformen? Und wie groß darf die Freiheit des Glaubens sein, ohne die friedliche politische Gemeinschaft der Staatsbürger zu gefährden?

Unmittelbaren Anlass, sich diesen Fragen zu stellen, bot eine neue Bekanntschaft. War es zwei Jahrzehnte zuvor Lord Ashley gewesen, der Locke zu seinem Essay on Toleration angeregt hatte, so war es nun Philippus van Limborch, mit dem sich Locke in seinem holländischen Exil angefreundet hatte. Limborch, Professor der Theologie am Seminar der Remonstranten in Amsterdam und Bischof der «Remonstrantse Broederschap», war einer der führenden Männer dieser brüderlichen Sekte, die entschieden die calvinistische Lehre der Prädestination «zurückwies» (remonstrare): Der Mensch sei weder durch eine Erbsünde vorbelastet noch durch Gottes Gnade und das Sühneopfer Christi zum Glauben und Seelenheil vorherbestimmt. Er werde vielmehr als ein freies Wesen geboren, das sich mit freiem Willen und aus innerer Überzeugung für jenes tugendhafte und gottgefällige Leben entscheiden könne, von dem im Neuen Testament die Rede ist. Dabei gebe es nur wenige wesentliche Dogmen, an die ein Christ unbedingt glauben müsse, und diese stimmten mit einer vernünftigen humanistischen Überzeugung überein. Jeder Zwang von außen sei abzulehnen und Toleranz gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen ein Gebot christlicher Nächstenliebe.

Limborch interessierte, was sein Freund Locke von dieser remonstrantischen Toleranz hielt, die durch die aktuellen Ereignisse in Frankreich und England auf eine harte Probe gestellt wurde. Locke nahm sich seinen alten Essay vor und erweiterte ihn zu seinem Brief über Toleranz, den er im November und Anfang Dezember 1688 für Limborch verfasste. Bereits mit den ersten Sätzen seiner lateinisch geschriebenen Epistola de Tolerantia legte er den Grund, auf dem er seine weitere Argumentation aufbaute, die diesen Brief zur fundamentalen Programmschrift eines aufgeklärten christlichen Glaubens macht: «Geehrter Herr. Da es Euch gefällig ist, Euch zu erkundigen, was ich über die wechselseitige Duldung (tolerantia) der Christen verschiedenen religiösen Bekenntnisses denke, muß ich Euch freimütig antworten, daß ich Duldung für das hauptsächlichste Kennzeichen der wahren Kirche erachte. Mögen einige auch viel Rühmens machen von den altertümlichen Stätten und Namen oder von dem Gepränge des äußeren Gottesdienstes; andere von der Reformation ihrer Lehre; alle von der Orthodoxie ihres Glaubens – denn jeder ist in seinen eigenen Augen orthodox – so sind doch diese Dinge und alle anderen dieser Natur viel eher kennzeichnend für Menschen, die für Macht und Herrschaft übereinander streiten, als für die Kirche Christi. Mag jemand einen noch so begründeten Anspruch auf alle diese Dinge haben, aber wenn er der Mildtätigkeit, der Sanftmut und des guten Willens überhaupt gegen alle Menschen, selbst wenn sie nicht Christen sind, bar ist, so ist er gewiß weit davon entfernt, selber ein guter Christ zu sein.»[24]

Gegen den Willen zur Macht, der zu unversöhnlichem Streit, geistlicher Herrschaft, gewaltsamem Zwang und grausamer Verfolgung führen kann, plädierte Locke für eine «wahrhaft christliche Kirche». All die Tumulte und Kriege, die es in der christlichen Welt wegen der Religion gegeben hatte, ließen ihn zunächst das Bild einer Kirche entwerfen, in der die Freiheit von größtem Wert sein sollte. Sie konnte, ähnlich wie der politische Staat freier Bürger, für den liberalen Locke keine Vereinigung sein, in die man hineingeboren wird oder hineingezwungen werden kann. Für ihn war Kirche eine freie und auf Freiwilligkeit beruhende Gesellschaft von Menschen, «die sich nach eigner Vereinbarung zusammentun, um Gott in der Weise zu verehren, die sie als annehmbar für ihn und als wirksam für ihr Seelenheil betrachten»[25]. Weil niemand von Natur aus als Mitglied einer besonderen Kirche oder Sekte geboren wird, kann jeder ebenso frei wieder austreten, wenn er es für sinnvoll oder vernünftig hält.

Wahrhaft christlich kann eine solche Kirche nur sein, wenn sie sich nicht auf äußeren Pomp, vorgeschriebene kultische Rituale, staatliche Herrschaft oder rein spekulative Glaubensdogmen fixiert, sondern den Geist des Evangeliums lebendig hält, für das die Heiligkeit des Lebens, der Wille zum Guten, eine sanftmütige Gesinnung und ein werktätiger Glaube der Liebe wesentlich sind. Und nicht zu vergessen: auch die Toleranz gegenüber Andersgläubigen. «Die Duldung derer, die von andern in Religionssachen abweichen, ist mit dem Evangelium Jesu Christi und der unverfälschten menschlichen Vernunft so sehr in Übereinstimmung, dass es ungeheuerlich scheint, wenn Menschen so blind sind, ihre Notwendigkeit und Vorzüglichkeit bei so hellem Lichte nicht zu gewahren.»[26]

Locke übersah nicht die Schwierigkeiten, die sich für die christliche Kirche und die staatliche Obrigkeit aus einem zu weit gefassten Toleranzgebot ergeben mussten. Er versuchte die Frage zu beantworten: «Wieweit sich die Pflicht der Duldung erstreckt und was durch sie von jedermann gefordert wird.»[27] Die angestrebte Grenzziehung war in kirchlicher Hinsicht nicht einfach. Das Licht der Vernunft schien nicht hell genug, um sie klar und deutlich zu markieren, und manchmal konnte Locke sich nur durch einen Appell an Gott als den einzigen und obersten Richter aus der Bredouille ziehen. Sicher war er sich dagegen im Blick auf die staatliche Toleranzpflicht. Sie gelte unbegrenzt, weil die Staatsgewalt grundsätzlich nichts mit dem Seelenheil und dem religiösen Glauben der Menschen zu tun habe. Ihre Aufgabe beschränke sich auf den Schutz des Lebens, der Freiheit und des äußeren Besitzes der Staatsbürger. Locke scheute sich nicht vor der Konsequenz, die sich aus einer Trennung von Kirche und Staat ergab: «Ja, wenn wir offen die Wahrheit sagen sollen, wie es sich von Mann zu Mann gebührt, so darf weder ein Heide noch Mohammedaner noch Jude wegen seiner Religion von den bürgerlichen Rechten des Gemeinwesens ausgeschlossen sein.»[28]

Angesichts dieser weit ausgreifenden Toleranz mag es überraschen, dass Locke am Ende seines Briefes zwei Gruppen nicht zu tolerieren vermochte: die katholischen Papisten und die Atheisten. Man hat ihm deshalb später vorgeworfen, eine logische Inkonsequenz begangen zu haben. Denn der Ausschluss der römisch-katholischen Kirche und der Gottesleugner von der Toleranz widerspreche seinem grundlegenden Bekenntnis, «dass ich Duldung für das hauptsächlichste Kennzeichen der wahren Kirche erachte». Doch man sollte nicht übersehen, dass John Lockes religionspolitische Überlegungen von Anfang an durch den Konflikt mit katholischen Machtansprüchen motiviert worden waren. In der Ausschlusskrise, in der ein katholischer Thronfolger verhindert werden sollte, war er auf Seiten von Shaftesbury gewesen; durch die Thronbesteigung Jakobs II. begann eine katholische Restaurationsbewegung, in der die Macht des Papstes in Rom über die Souveränität des englischen Volkes gestellt zu werden drohte; und schließlich ließ die Aufhebung des Edikts von Nantes befürchten, was auch England an schrecklicher Intoleranz bevorstand, wenn sich die katholische Dynastie dauerhaft einrichten sollte.

Lockes Argument gegen die römisch-katholische Kirche war deshalb auch nicht theologisch begründet oder aus der Vernunft abgeleitet. Er wollte sie nicht dulden aus rein politischen Gründen: «Diejenige Kirche kann kein Recht haben, von der Obrigkeit geduldet zu werden, die auf einem solchen Boden errichtet ist, daß alle, die ihr zugehören, sich dadurch ipso facto unter den Schutz und in den Dienst eines anderen Fürsten begeben. Denn damit würde die Obrigkeit die Niederlassung einer fremden Rechtsgewalt in ihrem eignen Lande einräumen und leiden, daß die Angehörigen ihres eignen Volkes gleichsam als Soldaten gegen ihre eigne Regierung in Stammrollen eingetragen werden.»[29]

Zu lange war Locke in den Konflikt um eine katholische Thronfolge eingebunden gewesen, um hinsichtlich der Papisten über seinen Schatten springen zu können. Anders sah es aus im Fall der Atheisten. Lockes eigener Glaube an eine göttliche Existenz war noch zu stark, als dass er sich ein gutes Leben in moralischer Hinsicht ohne Gottvertrauen hätte vorstellen können. Für ihn konnte es keine Trennung zwischen der religiös-ethischen und der moralischen Person geben: Die Gesetze der Moral seien dem «natürlichen Licht» nur als göttliche Gesetze zugänglich; ohne Gott verlören sie ihren verpflichtenden Charakter. Lockes liberale Toleranz betraf also nur die Freiheit des religiösen Glaubens. Die atheistische Freiheit von jeder Religion fürchtete er. Sie drohte ihm die Grundlage des geselligen Zusammenlebens zu zerstören. Gegen sie formulierte er sein intolerantes Verdikt: «Letztlich sind diejenigen ganz und gar nicht zu dulden, die die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, können keine Geltung für einen Atheisten haben. Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles dies auflösen.»[30]

Vor allem dieser Ausschluss der Ungläubigen von der Toleranz dokumentiert, dass Locke noch nicht zum Gedanken an allgemeine Menschenrechte vorgedrungen war. Das Recht der Menschen, sich um ihr eigenes Heil so zu kümmern, wie sie es mit ihrem Gewissen verantworten können, blieb dem religiösen Grund verhaftet, mit seinen moralischen Handlungen Gott gefallen zu wollen und damit sein Seelenheil zu erlangen. Eine Moral ohne Gott war ihm undenkbar. Der Glaube an die Existenz Gottes und die Anstrengung, seine Wohlgeneigtheit zu erreichen, setzten der Toleranz grundsätzliche Grenzen. Das Kerzenlicht der Aufklärung schien noch nicht hell genug, als dass es möglich gewesen wäre, eine Philosophie der Menschenrechte ohne Gottvertrauen klar und deutlich zu formulieren.

Doch was er noch nicht sagen konnte, zeigte schon die Richtung an, in die das Licht der Aufklärung künftig scheinen konnte. Indem Locke die wahrhaftigen religiösen Überzeugungen letztlich der autonomen Gewissensentscheidung jedes einzelnen Menschen überantwortete, schwächte er die Macht von Kirche und Staat. Wovon man nicht in seinem Inneren aufrichtig überzeugt ist, darüber kann nicht von außen bestimmt werden. Mit seiner Verlagerung der Religiosität in die Sphäre des Individuums wies Lockes Brief über Toleranz über seine eigene Begrenztheit hinaus.

All seine Gedanken, die Locke über religiöse Toleranz, liberale Regierung und menschlichen Verstand zu Papier gebracht hatte, waren auf einem Schiff vorausgeschickt worden, nachdem er sich entschlossen hatte, nach England zurückzukehren. Die Glorious Revolution ließ ihn hoffen, dass verwirklicht wurde, was er gedacht hatte, seit er der Mann geworden war, der zu Shaftesbury gehörte. Sein Mentor war tot. Jetzt schien seine eigene Zeit gekommen zu sein, auch wenn er bei der Überfahrt noch nicht wissen konnte, was ihn in seiner Heimat erwartete.

5.Der Philosoph der Glorreichen Revolution

Am frühen Morgen des 12. Februar 1689 betritt John Locke in Harwich englischen Boden. Dann noch eine Kutschfahrt, und er ist wieder zurück im nebligen und kalten London, wo er zunächst im Haus eines befreundeten Arztes wohnen kann. Die politischen Ereignisse überstürzen sich. Am selben Tag beschließt ein von Prinz Wilhelm von Oranien einberufenes Konventionalparlament die «Declaration of the Rights of Parliaments», meist zu «Bill of Rights» verkürzt, durch die vor allem das Verhältnis zwischen Krone und Parlament geregelt wird: England soll auch künftig eine Erbmonarchie bleiben, wobei die Thronfolge auf protestantische Erbberechtigte beschränkt wird. Aufgehoben wird die Dispensionsgewalt des Königs, ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze außer Kraft setzen zu können. Verbürgt werden freie Parlamentswahlen, die Freiheit der parlamentarischen Rede und die häufige Einberufung des Parlaments. Nie wieder soll es eine parlamentslose Herrschaft geben.

Wilhelm und seiner Frau Maria wird angeboten, gemeinsam die Krone zu tragen, die durch Jakobs Flucht außer Landes frei geworden ist. Beide nehmen das Angebot an, und schon einen Tag später, am 13. Februar 1689, besteigen sie als König Wilhelm III. und Königin Maria II. zusammen den Thron. Bemerkenswert ist der Krönungseid der beiden Majestäten, der den Satz enthält, sie regierten nun «in Übereinstimmung mit den von ihnen anerkannten Gesetzen des Parlaments» (according to the statutes in parliament agreed on). Durch gesetzlich auferlegte parlamentarische Schranken ist das absolute königliche Herrscherrecht von Gottes Gnaden gebrochen worden. Nicht Gott, sondern ein Vertrag zwischen freien Menschen begründet und regelt die Regierungsgewalt. England ist eine konstitutionelle Monarchie geworden.

Kaum ist Locke in London angekommen, bietet ihm der König, der ihn bereits während seines holländischen Exils persönlich kennen und schätzen gelernt hat, Botschafterposten in Wien oder in Brandenburg an. Doch Locke lehnt ab. Sein Körper sei zu krank und schwach, um einen so verantwortungsvollen Dienst mit ganzer Kraft wahrnehmen zu können. Freunden teilt er jedoch mit, dass er die mangelnde Gesundheit als Ausrede vorgeschoben habe. Denn eigentlich strebe er nur nach Frieden und Ruhe für sich selbst und sein Land, und er glaube, dazu als freier Gelehrter mehr beitragen zu können als durch eine Stellung im Staatsdienst.

1689 tritt John Locke als zentrale Figur der frühen Aufklärung in die Geistesgeschichte ein. Er sucht Buchhändler, die bereit sind, seine Manuskripte zu publizieren. Es findet sie ohne Schwierigkeiten. Seine drei wichtigsten Schriften, an denen er die letzten zwanzig Jahre gearbeitet hat, erblicken das Licht der Öffentlichkeit. An der Publikation seines Toleranzbriefes ist er zunächst nicht beteiligt. Anonym wird bereits gegen Ende April die lateinische Fassung in Gouda/Holland veröffentlicht, wobei sich auf dem Deckblatt der Epistola de Tolerantia verschlüsselte Hinweise auf den Adressaten und den Verfasser finden. Geschrieben ist der Brief an den klar denkenden Mann T.A.R.P.T.O.L.A., ein Akronym für «Theologiae apud Remonstrantes Professorem, Tyrannidis Osorem, Libertatis Amantem», den Professor für Theologie der Remonstranten, Hasser der Tyrannei, Liebhaber der Freiheit, womit Philippus van Limborch gemeint ist; verfasst hat ihn P.A.P.O.I.L.A: «Pacis Amante, Persecutionis Osore, Joanni Lockio, Anglo», ein Freund des Friedens, Hasser der Verfolgung, John Locke, Engländer. Schon im Frühsommer werden holländische, französische und englische Fassungen angefertigt, die sofort auf großes Interesse stoßen und heiß umstritten sind. Mit dem Titel A Letter concerning Toleration erscheint die englische Übersetzung von William Popple im November, wobei Locke später darauf hinweisen wird, dass sie ohne sein Wissen zustande gekommen ist.

Dagegen kümmert sich Locke schon bald nach seiner Ankunft in England um die Publikation seiner erkenntnistheoretischen Untersuchung. Bereits im Mai 1689 vereinbart er mit dem Buchhändler Thomas Bassett die Ausstattung und Auflagenhöhe seines Essay concerning Human Understanding. Locke ist sich sicher, dass er mit diesem Versuch, den menschlichen Verstand Schritt für Schritt konstruktiv auf dem Grund sinnlicher Wahrnehmungen aufzubauen, etwas radikal Neues unternommen hat. Er hat die angeborenen Ideen der rationalistischen Philosophie weggewischt. Er hat den menschlichen Verstand von allen inhaltlichen Präformationen befreit, um in jedem Individuum Platz zu schaffen für die Entwicklung eigener Gedanken, angeregt durch den mannigfaltigen Reichtum möglicher Erfahrungen, den zu verarbeiten es in der Lage ist.