Aufschrei der Meere - Hannes Jaenicke - E-Book

Aufschrei der Meere E-Book

Hannes Jaenicke

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Beschreibung

Wale und Delfine verenden durch Plastikmüll, der Klimawandel vernichtet Korallenriffe, die Ozeane werden leer gefischt, Pestizide und Zivilisationsmüll vergiften diesen Lebensraum. Zahlreiche Umweltsünden stellen eine dramatische Bedrohung für die einzigartige Unterwasserwelt dar. Dabei ist nicht nur die Schönheit und Vielfalt der Meere bedroht, sondern auch das Überleben der Menschheit. Darüber zu informieren und Lösungen aufzuzeigen, ist die Mission, der sich Bestsellerautor und Aktivist Hannes Jaenicke und Wissenschaftsjournalistin Dr. Ina Knobloch verschrieben haben. In ihrem ersten gemeinsamen Buch erzählen die beiden Vollblut-Umweltschützer davon, was sie antreibt, sich unermüdlich für unsere Ozeane einzusetzen. Ihre erschreckenden Beobachtungen zeigen, dass wir kurz vor der Katastrophe stehen. Umso lauter ist ihr dringender Appell: Rettet die Meere – jetzt!

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Das Buch

Hannes Jaenicke und Ina Knobloch setzen sich seit Jahrzehnten aktiv für den Schutz der Umwelt ein und berichten darüber in ihren Filmen und Büchern. In diesem Werk verdeutlichen sie, wie viele und welche Umweltsünden eine dramatische Bedrohung für Meere und Gewässer darstellen. Am Beispiel verschiedener Tierarten wie Walen und Delfinen, Meeresschildkröten, Seepferdchen oder Haien zeigen sie, welche dramatischen Folgen die von Menschen verursachte Verseuchung der Meere für unsere einzigartige Unterwasserwelt hat.

Ihr Fazit: Es ist nie zu spät, etwas zu tun – für niemanden von uns!

Die Autoren

HANNES JAENICKE, geboren 1960, ist Schauspieler, Dokumentarfilmer und Querdenker. Mit seinen Büchern Wut allein reicht nicht (2010), Die große Volksverarsche (2013) und Wer der Herde folgt sieht nur Ärsche (2017) kam er auf die SPIEGEL-Bestsellerlisten. Für sein Engagement erhielt er zahlreiche Preise. In der ZDF-Doku-Reihe Hannes Jaenicke: Im Einsatz für... setzt er sich gegen Artensterben und Umweltzerstörung ein. 2018 erhielt Hannes Jaenicke den Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreis.

DR.INA KNOBLOCH, geboren 1963, ist promovierte Biologin, Dokumentarfilmerin, freie Autorin und Journalistin. 1989 gründete sie den Tropenschutzverein Tropicaverde und widmet sich seither dem Naturschutz, dem Filmen und Schreiben. Mehr als 100 Dokumentationen und Fernsehbeiträge realisierte, produzierte und moderierte sie bisher u.a. für ARD, ZDF und arte (z.B. 2018 Die Meeresschützer, ZDF). Darüber hinaus schreibt sie Romane und Sachbücher. 2018 erhielt sie für Die Akte Oppenheimer den Hessischen Filmpreis.

Hannes JaenickeDr. Ina Knobloch

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Was unsere Ozeane bedroht und wie wir sie schützen müssen

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2157-8

© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Hans Scherhaufer

© Kondoruk/shutterstock (Hintergrund)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Über das Buch/ Über die Autoren
Titel
Impressum
Prolog
Vorwort Von Hannes Jaenicke
Vorwort Von Ina Knobloch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Epilog
99 Massnahmen zur Rettung der Ozeane und des Klimas
Danksagung
Quellen
Bibliografie
Bildteil
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

PROLOG

Die Zeit ist reif! Wir können unseren Dreck nicht mehr in die Tonne drücken, mit einem Siegel versehen und mit gutem Gewissen unser Wohlfühl-Programm weiter abspulen. Weder ist die Plastikverpackung weg, wenn wir den gelben Deckel auf die Tonne knallen, noch das Wattestäbchen, das in der Kloschüssel landet. Der meiste Dreck landet im Meer, und wir brauchen gar nicht mit dem Finger nach Asien zu zeigen, wo der Ozean voller Plastik ist. Der Müll dort kommt auch von uns. Weil wir auf den miesen dualen Gelbe-Tonnen-Trick reingefallen sind, wurde die ganze Plastikproduktion erst richtig angeheizt. Aber die Indu­s­trie hat sich einen Dreck um das Recycling gekümmert und stattdessen den Müll nach Asien geschippert. Der fliegt uns gerade um die Ohren, ausgespuckt vom Ozean an die Strände der Welt. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Der Ozean als Müllhalde der Menschheit erstickt gerade daran. Das Duale System hat gezeigt, wie die Freiwilligkeit der Industrie funktioniert: nämlich gar nicht! Und beim Verbraucher auch nicht so richtig. Wir behandeln die Meere der Welt wie Messies, die zu Hause den Müll stapeln, bis sie fast darin ersticken, als hätten sie noch eine zweite Wohnung, in der sie leben können, wenn die eine voll ist. Wir haben aber nur den einen Planeten. Der Ozean ist die blaue Lunge der Erde, die nicht nur unter der Klimaerwärmung leidet, sondern das Klima gestaltet. Von ihm kommen die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Wolken, die die Früchte der Äcker nähren – aber er bringt auch gewaltige Unwetter. Und das umso heftiger, seit das Klima sich wandelt.

Wir wissen das längst, aber statt entschlossen zu handeln, um die Meere und das Klima zu retten, werden Wohlfühl-Pakete für Industrie und Handel geschnürt. Die Kinder haben es kapiert und gehen seit Monaten auf die Straße, um unter dem Motto »Fridays for Future« für ihre Zukunft zu demonstrieren. Genug ist genug. Der Aufschrei muss so laut sein, dass auch noch die hartnäckigsten Leugner schlaflose Nächte bekommen. Unsere Wut ist groß, denn wir lieben das Meer. Es bereichert die Erde seit Jahrmillionen auf einzigartige Weise und steckt voller Wunder und Überraschungen.

Ina Knobloch und Hannes Jaenicke

VORWORT VON HANNES JAENICKE

We are tied to the ocean. And when we go back to the sea, whether it is to sail or to watch – we are going back from whence we came.

John F. Kennedy

Es gibt Kinder, die um Pfützen einen großen Bogen machen, und solche, die mit Lust und Wonne hineinstapfen, um maximal Wasser und Dreck zu verspritzen. Dann gibt es Erwachsene, die es in die Berge zieht, die auf Gipfel wandern oder klettern, um den Ausblick zu genießen. Genauso gibt es Menschen, die wasserscheu sind, die immer einen Regenschirm in Griffweite oder Imprägnier-Spray zu Hause haben, sich nur an Land sicher fühlen, schnell seekrank werden und Sand als lästigen Dreck empfinden. Zu diesen Menschen gehöre ich nicht.

Ich gehöre zum Typ Mensch, der landläufig und eher abfällig als »Wasserratte« tituliert wird. Berge und Hügel finde ich zwar schön, aber sie bieten keinen Badespaß, und wenn man es genau nimmt, versperren sie die Sicht auf das Wasser.

Ich fühle mich erst dann richtig als Mensch, wenn ich mich am, im, auf oder unter Wasser befinde. Und weil mir der Zustand meines geliebten Elements zunehmend Sorge bereitet, muss ich meine Liebeserklärung an die Gewässer unserer Erde mit dem dringenden Appell verbinden, den Umgang mit dem wichtigsten aller Elemente gründlich zu überdenken.

Für meine Meeresschutz-Aktivitäten habe ich keine wissenschaftlich-akademische Grundlage, auch nicht für meine Sorge um Bäche, Flüsse, Seen und Ozeane, aber unser Umgang mit Wasser beschäftigt mich, seit ich als Teenager den Wassersport entdeckte. Ich war und bin zeit meines Lebens ein »Beach Bum«, erst als Sandburgen bauender, Drachen lenkender kleiner Junge, später als Schwimmer, Schnorchler, Taucher, Kite- und Windsurfer, Ruderer, Kajakfahrer und Segler.

Das Leben an Land und ohne Sand halte ich nur aus, wenn ich weiß, dass ich bald wieder in Wassernähe bin. Und ich halte mich am liebsten an Orten auf, an denen ich Wasser sehen, riechen oder ihm lauschen kann.

Es kann kein Zufall sein, dass der menschliche Körper genau wie die Erdoberfläche zu knapp 70 Prozent aus Wasser besteht. In jeder Sprache gibt es zahllose Redewendungen, die unsere Affinität zu und Abhängigkeit von Wasser beschreiben: »Wasser ist Leben«, »no water no life«, »eau de vie«, »no blue no green«, »etwas scheuen wie der Teufel das Weihwasser«, »im Trüben fischen«, »stille Wasser gründen tief«, »steter Tropfen höhlt den Stein«, »nah am Wasser gebaut«, »mit allen Wassern gewaschen«, »kein Wässerchen trüben«. Auch unser Wortschatz legt das nah, mit Ausdrücken wie Trinkwasser, Fruchtwasser, Grundwasser, Gesichtswasser, Wasserkreislauf, Wasserader, Wasserstraße, Jungbrunnen und vielen mehr.

Es gibt kein Nahrungsmittel, das ohne Wasser entstehen kann, und alles, was der Mensch für seine Gesundheit und Reinigung macht, hat mit Wasser zu tun: vom Waschen, Duschen, Baden, Desinfizieren, Putzen bis zum Kochen. Auch ein Ritual wie die Taufe ist ohne Wasser undenkbar.

Das Missverhältnis zwischen unserer Abhängigkeit von Wasser, seiner Lebensnotwendigkeit, und unserem sträflichen Umgang mit dieser Quelle allen Lebens könnte extremer kaum sein: Wir diskutieren Lebensmittelgifte, Diesel-Gate und Luftverpestung, Artensterben, Habitatvernichtung, Flächenfraß und Ressourcenverschwendung, aber kaum jemand sorgt sich um den Zustand unseres Wasserhaushalts, unserer Flüsse, Seen und Meere. Die scheinen ausschließlich als praktische Mülldeponie oder billiger Selbstbedienungsladen zu fungieren. Wir kühlen Atomkraftwerke damit, spülen es unsere Toiletten hinunter, lassen es beim Rasieren und Zähneputzen bedenkenlos laufen, vergiften es mit allem, was unsere Industrie- und Konsumgesellschaft produziert, und möchten doch, dass es jederzeit in Trinkwasser-Qualität vom Himmel, aus dem Hahn, Schlauch, Rohr sprudelt. Auch von unseren Flüssen, Seen und Meeren erwarten wir kristallklare Sauberkeit.

Dieser Widerspruch ist schizophren und wirft die Frage auf, wie lange unsere Gewässer sich diese Art der Behandlung noch gefallen lassen. Es scheint mir verständlich, dass sie zunehmend die Geduld mit uns verlieren und zurückschlagen, egal ob in Form von Fluten und Tsunamis, von Dürrekatastrophen oder einfach als Giftbrühe, die sich mit keinem Klärsystem der Welt mehr reinigen lässt.

Da ich als Wassersportfan regelmäßig sowohl klare, saubere als auch trübe, vermüllte Gewässer zu sehen bekomme, möchte ich hiermit eine Liebeserklärung an das Wasser und ein Plädoyer für einen verantwortungsvolleren Umgang mit ihm verfassen. Ich habe das rätselhafte Schweigen unserer Meere immer bewundert, befürchte aber, dass aus diesem Schweigen in Zukunft Gebrüll wird, spätestens wenn der Meeresspiegel ungebremst weiter steigt und wir aus dem wichtigsten Sauerstoff- und Protein-Lieferanten unseres Planeten endgültig eine Müll-Kloake gemacht haben.

Und wie bei allem, was mit Umweltschutz, Erhalt von Natur, Ressourcen-Schonung und Nachhaltigkeit zu tun hat, liegt es an jedem Einzelnen von uns. Wir entscheiden, ob die Zukunft unserer Gewässer rosig beziehungsweise klar blau und türkis aussieht, oder eben trübe und fäkalfarben.

VORWORT VON INA KNOBLOCH

Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ist ein Ozean.

Sir Isaac Newton

Meersüchtig wäre vielleicht das richtige Wort für mich, denn ohne Meer geht bei mir nichts, jedenfalls keine Erholung. Wasser hatte schon immer etwas Magisches für mich. Das gleichmäßige Rauschen des Ozeans klingt wie Musik in meinen Ohren, und der Tanz der Wellen vor dem endlosen Horizont ist Balsam für meine Augen und meine Seele. Sanfter, weicher, warmer Sand unter meinen Füßen wirkt wie eine heilende Massage auf meinen Körper. Und wenn ich nur in der Nähe des Meeres bin, kriecht die salzig-frische Brise bereits wie eine Verlockung in meine Nase. Doch dieser Duft der Sehnsucht hat einen modrigen Beigeschmack bekommen, denn dieses erquickende Meer gibt es kaum noch. Die Gier der Menschen hat es geplündert und verseucht. Aber wenn wir jetzt entschieden handeln, gibt es noch Hoffnung.

Die Ozeane unserer Erde produzieren mehr Sauerstoff als alle Kontinente zusammen und bedecken zwei Drittel unseres Planeten. Fisch ist das am häufigsten gehandelte Nahrungsmittel aus der Natur und hält Milliarden Menschen am Leben. Doch trotz modernster Forschungsmethoden ist das Meer, vor allem die Tiefsee, weniger erforscht als der Weltraum.

Etwa drei Wochen kann der Mensch ohne Nahrung über­leben, aber nur etwa drei Tage ohne Wasser. Von sauberem Wasser ist die Menschheit abhängiger als von allem anderen. Und jeder einzelne Wassertropfen landet irgendwann im Meer. Aber was macht die Menschheit? Vergewaltigt die Ozeane regelrecht. Egoistisch und skrupellos wird der Sehnsuchtsort Meer mit allen »Errungenschaften« der modernen Zivilgesellschaft traktiert: Plastik-, Gift-, Atom- und sonstiger Müll, CO2, Lärm und Pestizide. Darüber hinaus schlachtet der Mensch die Meere aus wie eine fette Weihnachtsgans: Überfischung, Bodenschätze, Erdöl, Erdgas.

Dabei beschenkt uns der Ozean nicht nur mit Lebensnotwendigem, sondern auch mit einzigartigen Schätzen: Bernstein, Muscheln, Perlen, Ambra, Sand, Salz und mehr. Er spuckt diese Kostbarkeiten förmlich an Land für uns. Doch uns Menschen sind diese Geschenke nicht genug, wir weiden den Ozean regelrecht aus. Darüber hinaus werden Seepferdchen, Haifische, Wale und sonstige Meereswesen geschlachtet, weil sie als vermeintliche Potenzmittel Profit bringen. Ein schieres Wunder, dass das Meer den Menschen überhaupt noch so freundlich empfängt.

Ich will, dass das so bleibt. Auch in Zukunft soll mir mein heiß geliebter Ozean so wundervoll und liebevoll begegnen wie eh und je. Erst recht für meine Kinder und die nächsten Generationen wünsche ich mir saubere, unberührte Strände und Gewässer voller Leben. Daher macht es mich ziemlich wütend, was gerade mit den Weltmeeren und ihren Zuflüssen passiert.

Das Leben in den Ozeanen droht zu kippen, viele Arten wurden bereits ausgelöscht, andere werden in Kürze für immer verschwinden. Dadurch verbreiten sich andere explosionsartig und bedrohen maritime Ökosysteme. Und wenn es so weitergeht wie bisher, wird es schon bald mehr Plastik als Fische in unseren Meeren geben.

Das Wasser bildet einen ewigen Kreislauf, wie das Blut in ­unseren Adern. Und genau wie sich der Mensch gegen einzelne Keime wehren kann, aber nicht gegen eine Seuche, können die Gewässer der Erde große Mengen Mist verarbeiten, aber nicht die Invasion von Zivilisationsmüll, mit dem wir sie zurzeit traktieren. Dabei liegt der Patient scheinbar klaglos in seinem Bett – noch. Doch sein Fieber steigt langsam und stetig. An einigen Stellen ist er leichenblass, an anderen gefährlich rot. Manchmal schüttelt ihn ein gewaltiger Hustenanfall, und mit seiner ganzen Masse gerät er dabei in ungesunde Wallungen. Dann würgt und spuckt er Unmengen Unverdautes aus, das faulig vor sich hin gärt.

Der Patient heißt Ozean, und seine Adern sind die Flüsse. Der Zustandsbericht stammt aus dem Jahr 2018 und beschreibt nur ein paar wenige der zahlreichen Symptome: Viele Flüsse wurden so heiß, dass die Fische darin regelrecht gekocht wurden und tonnenweise elendig verendeten. Andere Gewässer färbten sich durch explosionsartige Algenblüten blutrot. Fledermäuse und Vögel fielen tot vom Himmel. Die Temperatur der Weltmeere stieg ebenfalls weiter an, und damit schritt auch die Korallenbleiche voran. Unvorstellbare Massen von Braunalgen spuckte der Ozean so lange an die Ufer der Karibik, bis sich der Tang gärend und stinkend meterhoch auftürmte. Norwegen, Japan und Island eröffneten erneut die Waljagd, und hier war es dann tatsächlich Blut, das den Ozean stellenweise rot färbte. Die Plastikmüllberge in den Gewässern wuchsen weiter, und Kunst­stoffteile wurden in den Mägen von fast allen toten Meeresbewohnern nachgewiesen. Die Adern der Erde sind dermaßen verseucht und verstopft, dass das große blaue Herz den reinigenden Kreislauf kaum mehr aufrechterhalten kann.

Der Ozean als Patient ist nur eine Metapher, aber die weltweiten Symptome der kränkelnden Meere sind nicht mehr zu übersehen. Letztendlich bedroht dies den Menschen mehr als den Ozean: Wenn das Leben im Ozean erlischt, stirbt nicht der Ozean, sondern der Mensch. Und nur der Mensch kann und muss dies verhindern. Denn das Meer umfasst nicht nur die sieben Ozeane, es ist der Ursprung allen Lebens. Jeder Mensch beginnt sein Dasein im Wasser, schwimmend und wohlbehütet im Mutterleib. Ein Gefühl der Geborgenheit, das sich bei uns wieder einstellt, sobald wir in das Meer eintauchen und uns von den salzigen Wellen umspülen lassen. Mit jedem Atemzug bleiben wir mit dem Meer verbunden, denn der Mensch inhaliert, was der Ozean ventiliert.

Doch nicht mehr lange, wenn wir so weitermachen wie bisher. Schon 2050 werden mehr Plastikteile als Fische in den Meeren schwimmen, wenn wir jetzt nicht entschieden handeln. Strudel voller Plastikmüll, größer als die Bundesrepublik, belasten schon heute die Ozeane, und fast die Hälfte aller Meeresbewohner wurde bereits vernichtet.

Die Ampeln stehen auf Rot, doch der Mensch steuert den Zug der Zerstörung ungebremst weiter. Noch ist es nicht zu spät, um die Meere für die zukünftigen Generationen zu retten, doch jeder Tag zählt und jeder Einzelne kann handeln – im Namen der Meere und für alle Lebewesen der Erde. Gemeinsam haben wir die Macht, die Welt zu verändern, um zu schützen, was wir lieben und mit jedem Atemzug benötigen: das Meer.

KAPITEL 1

Von Poseidon bis Moby Dick – ­Helden, Götter und Katastrophen

Alles ist aus dem Wasser entsprungen!

Alles wird durch Wasser erhalten!

Ozean, gönn uns dein ewiges Walten.

Aus »Faust. Der Tragödie zweiter Teil« von Johann Wolfgang von Goethe

INA KNOBLOCH

Die Rache der Götter war gefürchtet, besonders die der Meeresgötter. Unsere Urahnen könnten das bezeugen. In manchen Regionen der Erde ist das auch heute noch so, vor allem in der Südsee. Trotz fanatischem Eifer und brachialen Methoden konnten die Missionare auf den polynesischen Inseln den ur­alten Glauben an die Götter der Natur nicht ganz brechen. Der große Gott des Meeres wird dort auf allen Archipelen noch immer geliebt und gefürchtet: Tangaroa.

Aber auch auf allen anderen Teilen der Erde wurden Meeresgötter verehrt: Im europäischen Norden war es Athi, in Ägypten Tefnut, im Orient Aschera, die Griechen huldigten Poseidon und die Römer Neptun, und in Polynesien waren es der schon erwähnte Tangaroa und sein Sohn Tinirau. Alle hatten sie ihre Mee­res­götter, vor denen sie höllischen Respekt hatten. Unzählige My­then und Märchen kreisen um sie und ihre Clans, Geschichten, die sich bis heute in Erzählungen und Romanen gehalten haben.

Das Meer und der Mensch, eine unendliche Geschichte und eine magische Beziehung seit Menschengedenken: Schon Plinius der Jüngere (62 – 115 n. Chr.) berichtete in einem Brief an seinen Freund Caninius von einem Jungen, der von einem Delfin über das Meer getragen wurde.

Auch der junge Odysseus soll stets auf einem Delfin über das Mittelmeer geritten sein, und der Meeresgott Poseidon nahm gar die Hilfe eines Delfins für seine Brautwerbung in Anspruch. In der Antike galten Delfine als heilig, der Sage nach waren sie einst Menschen. Es hieß, dass sie deshalb menschliche Wesenszüge zeigen würden.

Mehr Respekt vor dem Meer würde den Menschen auch heute noch helfen. Denn:

»Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.«

Das Mantra der Umweltbewegung in den 80er-Jahren ging als Weissagung der Cree, ein Indianervolk Nordamerikas, in die Geschichte ein. Die Quelle konnte nie verifiziert werden, aber die Wucht der Botschaft führte die Menschen zusammen und veränderte die Welt zum Guten.

Das Jahrzehnt der Umweltkatastrophen

Mit einer Explosion in der italienischen Chemie-Fabrik Icmesa 1976 in der Region Seveso bei Mailand, dem sogenannten Seveso-Unglück, bei dem Tonnen von hochgiftigem Dioxin entwichen, Luft, Grund und Boden verseucht und Tausende Menschen, Tiere und letztlich der Seveso-Fluss vergiftet wurden, begann eine Serie menschengemachter Umweltkatastrophen, die sich in den 1980er-Jahren noch dramatisch steigerte: Seen und Flüsse kippten durch Überdüngung und Abwässer um und wurden durch Chemieabfälle vergiftet, bis das Leben darin fast erlosch; Bäume verloren schon im Sommer ihr Laub, und ganze Wälder starben durch sauren Regen. 1986 vergiftete der größte Chemieunfall der Geschichte den Rhein und angrenzende ­Gewässer bis zur Nordsee. Ein Großbrand im Chemiewerk Sandoz bei Basel hatte die Katastrophe ausgelöst. Ohne Auffangbecken oder sonstige Sicherheitsvorkehrungen spülte das Löschwasser tonnenweise tödliches Gift in den Rhein. Im gleichen Jahr ereignete sich die Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl, als ein Test im Atomkraftwerk durchgeführt werden sollte. Weite Teile des Landes wurden verstrahlt, die radioaktive Wolke erreichte die letzten Winkel Europas und vergiftete Felder, Wälder, Seen und Städte. Gleichzeitig brannten am Amazonas die einzigartigen tropischen Regenwälder lichterloh. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), vor allem in Spraydosen, Kühlschränken und Klimaanlagen vorzufinden, rissen ein gigantisches Loch in die schützende Ozonschicht der Erde. Anfang der 80er-Jahre wurde das Ozonloch erstmals nachgewiesen, und die an­thropogenen Ursachen wenig später aufgedeckt.

All das führte zu einem Aufschrei in Europa, vor allem in Deutschland.

Die Geburt der Umweltschutzbewegung

Die 1980er-Jahre waren aber nicht nur ein Jahrzehnt der menschengemachten Katastrophen, sondern auch ein Jahrzehnt der erfolgreichen Umweltbewegung. Ein Jahrzehnt, das auch Hoffnung für heute gibt. Es war die Zeit, als die Grünen sich gerade gegründet hatten und in den Bundestag einzogen. Es war die Zeit, als die Menschen aufstanden, protestierten und sich so lange engagierten, bis die Politik endlich Maßnahmen ergriff: Phosphate in Waschmitteln wurden verboten, FCKW-haltige Spraydosen ebenso, Kläranlagen zu weiteren Reinigungsstufen und Kraftwerke zu Filtern verpflichtet, Holzimporte gestoppt. Es wurden strengere Vorschriften für Abwässer, Kanalisation und Industrie erlassen und neue Naturschutzgebiete/Nationalparks gegründet, Biolandbau gefördert und internationale Artenschutzabkommen getroffen sowie Walfangverbot verhängt. Wenn Proteste nicht halfen, boykottierten wir entsprechende Produkte, bis die Politik endlich reagierte und die Wirtschaft verstand, dass es so nicht weiterging. Wir haben damals erfahren, dass sich etwas bewegen lässt, wenn der Aufschrei so lange hallt, bis der Industrie und der Gier nach Wachstum Grenzen gesetzt werden.

Die zahlreiche Maßnahmen, die damals ergriffen wurden, zeigten schon bald Wirkung, und es dauerte nicht sehr lange, bis Wälder, Flüsse und Seen anfingen, sich zu erholen, selbst die Wale vermehrten sich wieder.

Doch kaum hatte sich die Natur ein wenig regeneriert, fing der Mensch in den 90er-Jahren schon wieder mit der gnaden­losen Ausbeutung an. Diesmal still und heimlich unter dem Deckmantel unzähliger Ökolabels, die die Farbe nicht wert sind, mit der sie gedruckt werden, schon gar nicht unter ökologischen Aspekten. Selbst Wale werden in Japan unter dem Vorwand, es diene der Wissenschaft, gejagt, das Fleisch kann man dann im Supermarkt kaufen. Weil der große Aufschrei ausgeblieben ist, haben die Japaner kürzlich angekündigt, wieder kommerziell Wale zu jagen. Dabei sind die Tiere nach wie vor vom Aussterben bedroht. Dazu kommt, dass Walfleisch hochgradig mit Schwermetallen und Quecksilber belastet ist.

Green-Washing – Hirnwäsche

Aber der Walfang ist nur die Spitze des Eisbergs: Plastikmüll, Pestizide, Überfischung und Klimaerwärmung sind aktuell die größten Herausforderungen. Leider gehen die Meldungen im selbstverliebten Instagram-Zeitalter und angesichts der Siegel-­Flut und des »Green-Washings« unter. Die Helden der 80er sit­zen heute träge in ihren Sesseln. »Nach mir die Sintflut«, scheint inzwischen auch ihr Motto geworden zu sein. Jetzt ist es wieder die junge Generation, die Schüler*innen und Student*innen, die aufschreien, weil sie zu Recht eine Zukunft in einer lebenswerten Umwelt einfordern, dazu gehört vor allem auch das Meer. Denn ohne gesunde Ozeane gibt es keine Zukunft für die Menschheit.

Aber noch verhallt der stumme Schrei der Meere in der Kako­phonie des zerstörerischen Wirtschaftswahns, der außer Wachstum nichts kennt und die Angst der Menschen vor Arbeitslosigkeit und Armut stetig schürt. Doch weder die Wirtschaft noch die Menschheit kann ewig weiterwachsen, der Kollaps ist vorprogrammiert, wenn wir jetzt nicht entschieden handeln. Weder der Wald noch das Meer braucht die Menschen, aber die Menschen das Meer – und den Wald. Eine simple Erkenntnis, die schon in der Antike kein Geheimnis war. Zahlreiche Mythen und Legenden sind nichts anderes als Metaphern, die vor der Ausbeutung der Natur, vor allem der Meere warnen, nicht nur in antiken Sagen, sondern auch in allen Religionen. Die enge Verbindung zwischen Mensch und Meer ist bis heute in allen Kulturen verankert und in allen Religionen vertreten.

Wasser ist göttlich

Kein Christ ohne Taufe, kein Katholik ohne Weihwasser, und in fast allen Religionen spielt Wasser eine spirituelle Rolle: zur Rei­­nigung, Segnung und zum Schutz vor dem Bösen. Schon in der Antike gab es keine jüdische Gemeinde ohne die Mikwe, das rituelle Bad, und die islamischen Moscheen werden gar mit Rosenwasser ausgewaschen. Der Fisch gilt als urchristliches Symbol, und das Meer ist weder aus dem Alten noch aus dem Neuen Testament wegzudenken. Die Bibel, der Koran und die Tora und damit alle monotheistischen Religionen erzählen von Moses, der das Rote Meer teilt, und dem Propheten Jona, der drei Tage in einem Wal überlebt. Das Neue Testament von Jesus, der über das Meer geht und für Petrus die Fische ins Netz lockt. In anderen Religionen spielen die Zuflüsse der Meere die Hauptrollen, beispielsweise im Hinduismus. In Indien gilt der Ganges auch heute noch als der heiligste Fluss der Erde und müsste eigentlich »die Ganges« heißen, denn der Name bezieht sich auf die Göttin Ganga, für Hindus die Mutter Gottes schlechthin. Aber mit Demut und Respekt vor der Göttin ist es nicht weit her: Der Ganges ist einer der größten Flüsse der Erde und einer der verseuchtesten. Alles, was man sich vorstellen kann, landet in diesem Gewässer, das kaum mehr Fische trägt. Vor jedem Tempel werden die Schuhe ausgezogen, aber Göttin Ganga wird vergiftet. Doch inzwischen formieren sich in Indien Protest- und Umweltbewegungen, um Ganga zu retten.

In der restlichen Welt gab es in der Antike nicht nur Meeresgötter, sondern ebenfalls zahlreiche Meeresgöttinen, wie die sumerische Meeresgöttin Nammu oder die griechische Amphritide, die südamerikanische Yemayá, die chinesischen Göttinen Hin Tau und Matsu oder Göttinnen, die eng mit dem Meer verbunden sind, wie die in Meeresschaum geborene Aphrodite, die römische Venus oder die Meernymphe Calypso – göttliche Meerfrauen tauchen in allen Kulturen auf. Und ganz besonders in denen, die von Meer umgeben sind, wie die der polynesischen Inselwelt: Ina oder Hina.

Aloha ’Oe – Willkommen in der Südsee

Sanft schwappten die Wellen in die riffgeschützte Lagune des Südseearchipels Rarotonga. Das türkisblaue Meer glitzerte unter der tropischen Sonne fast kitschig. Umrahmt wurde diese elysische Wasserwelt von einem fast schneeweißen, pudrigen, palmengesäumten Sandstrand. Es war genau so, wie ich mir die Südsee-Idylle vorgestellt hatte, als ich das erste Mal nach Polynesien reiste und auf der Hauptinsel des Cook-Archipels landete. Der friedliche Ozean mit seiner lieblichen Inselwelt zeigte sich mit einer fast übernatürlichen Schönheit, sodass mir das Herz allein bei dem Gedanken an den steigenden Meeresspiegel blutete. Beim Anblick dieses scheinbar unberührten Archipels war es kaum zu glauben und noch weniger zu ertragen, dass dieses und andere Südsee-Paradiese bereits dem Untergang geweiht waren. Die Lagune war wie ein Gruß der Götter, um daran zu erinnern, was die Menschheit gerade zerstört. Denn der Klimawandel ist in der polynesischen Inselwelt längst angekommen. Bereits 2010 verwüstete ein Zyklon unter anderem eine Insel des Cook-Archipels. Die Strände sind auf ­vielen polyne­sischen Inseln deutlich schmaler geworden, weil der Meeresspiegel längst gestiegen ist. Durch die Klimaerwärmung bleichen Korallenriffe aus und sterben ab, mit zahlreichen, weitreichenden Folgen. Für diese Region bedeutet das unter anderem, dass die schützenden Riffe durchlässig werden und die Inseln noch weniger vor den zunehmenden Unwettern schützen.

Die Südsee-Inseln sind dem Klimawandel genauso hilflos ausgesetzt wie einst den Atomwaffentests, die seit Ende des Zwei­ten Weltkriegs bis zur Jahrtausendwende vor allem von den USA und Frankreich in Polynesien durchgeführt wurden. Die Ausmaße der radioaktiven Verstrahlung auf Mensch und Umwelt sind noch lange nicht umfassend untersucht worden, die Folgen der Strahlung auf die Meeresfauna wurden kaum erforscht, und über die Auswirkungen der gewaltigen Explosionen auf die Tektonik des pazifischen Feuerrings weiß man nichts.

Atombomben-Versuchslabor Südsee

Erst im Oktober 2018 wurde Frankreich für die Atomversuche auf den polynesischen Atollen vor dem Europäischen Gerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verklagt. Dabei bezogen sich die Richter auf die Folgen der 193 Atomwaffenversuche in den Jahren 1966 – 1996 auf dem Mururoa-Atoll und dem Fangataufa-Atoll und deren Auswirkung auf die Bevölkerung.

Kein Wort bei dem Urteil von einer Kompensation für die Zerstörung der Ozeane. Man hätte beispielsweise erwarten können, dass Frankreich nun zusätzliche Schutzzonen in seinen Hoheitsgebieten auszeichnen müsste. Es gäbe zahlreiche Möglichkeiten, die Meere zu entlasten und ihre natürliche Regeneration zu fördern, aber die Verantwortlichen drücken sich stets vor den Konsequenzen und beugen sich dem Druck der Wirtschaft.

Gäbe es nicht diverse unglaublich engagierte Einzelkämpfer und unabhängige Organisationen, die sich weltweit für die Meere einsetzen, wären die Ozeane wahrscheinlich schon längst kollabiert.

Viele Meeresschützer pflegen darüber hinaus auch eine ganz besondere Beziehung zu den Bewohnern des Ozeans. Das war schon immer so, Mythen und Legenden vermischten sich hier mit wahren Geschichten. So soll auch die biblische Geschichte um Jona und den Wal einen wahren Kern haben. Die Legende besagt, dass Jona von einem Wal (oder einem großen Fisch) verschlungen wurde und drei Tage und Nächte in seinem Magen verbrachte, bevor er ausgespien wurde und schließlich seine bib­lische Mission erfüllte. Zahlreiche Wissenschaftler stellten sich schon ernsthaft die Frage, ob so etwas möglich sei, was es natürlich nicht ist. Aber der deutsche Tauchlehrer Rainer Schimpf hat im Frühjahr 2019 zumindest bewiesen, dass ein Mensch im Schlund eines Wales verschwinden und unversehrt wieder entkommen kann. Der 51-Jährige wollte eigentlich vor der Küste von Südafrika einen Sardinenschwarm filmen, dabei wurde er versehentlich von einem Brydewal verschluckt, der ihn umgehend wieder ausspuckte. Die Bilder von Schimpf im Wal gingen um die Welt und wurden von vielen Medien in Zusammenhang mit der biblischen Geschichte um Jona und dem Wal gebracht.

Es gibt heute einige engagierte Forscher und Meeresschützer, die sich zwar nicht in, aber ganz nah bei den Giganten der Meere aufhalten. Es sind Menschen, die ein ganz besonderes Verhältnis zum Meer und ihren Bewohnern haben und zu manchen Tieren eine außergewöhnliche Nähe aufbauen konnten – vor allem Frauen.

Das Geheimnis der Meerjungfrauen

Kein Wunder also, dass Meerfrauen eine Sonderstellung in der Mythologie aller Kulturen einnehmen, von den Sirenen bis zur kleinen Meerjungfrau. Nixen gehören zu den beliebtesten Moti­ven in der darstellenden Kunst und dürfen auch in keiner moder­nen Fantasy-Geschichte fehlen. Die Comicverfilmung »Aqua­man« mit der Meerjungfrau Mera, gespielt von Amber Heart, war einer der erfolgreichsten Filme im Jahr 2018. Im Kern geht es dabei um nichts anderes als die Rettung der Meere. Aber vor allem ganz reale »Meerfrauen« lenken die Aufmerksamkeit auf den dringend notwendigen Schutz der Meeresbewohner.

Die Bilder der Meeresbiologin Ocean Ramsey, mit einem riesigen weißen Hai an ihrer Seite, gingen um die Welt. Seit Jahren forscht die in Hawaii lebende Wissenschaftlerin über weiße Haie und kämpft gegen das Monsterimage, das diesen Tieren spätestens seit dem Horrorfilm »Der weiße Hai« anhaftet. In Hawaii gilt der Hai übrigens, wie in ganz Polynesien, als heiliges Tier.

Aber nicht nur die Menschen interessieren sich für die Meeresbewohner – es wird auch immer wieder von den umgekehrten Fällen berichtet, in denen Meeresbewohner die Nähe von Menschen suchen. Vor allem Delfine scheinen zu spüren, wer Hilfe benötigt und wer sich engagiert, um sie zu beschützen. Dass Menschen von Delfinen vor dem Ertrinken oder vor Haiattacken gerettet wurden, ist keine Seltenheit. Doch auch große Wale sind offenbar zu solchen Leistungen in der Lage.

Die Forscherin Nan Hauser beispielsweise taucht mit Walen und erforscht die Sprache und Gesänge dieser Tiere. Seit Jahrzehnten engagiert sich die Biologin für den Schutz dieser Meeressäuger und hat zu einigen ein enges Verhältnis aufgebaut. Bei einem ihrer Tauchgänge wäre sie beinahe von einem Tigerhai attackiert worden, wenn eine Gruppe von Buckelwalen sie nicht verteidigt und den Hai verjagt hätte. Nan Hauser konnte diese lebensgefährliche Begegnung 2018 aufnehmen. Das Video ging um die Welt.

Auch der Inselschamane Pa erzählt von einer solchen Begegnung, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Bei Pa waren es Delfine, die ihm einst das Leben retteten. Eine dicke Narbe an seinem Arm zeugt noch heute von der Hai-Begegnung. Haie sind aber keineswegs gefährliche »Monster«, es gibt sogar ­immer wieder Berichte von Haien, die Menschen gerettet haben. Das vergisst auch Pa nie zu erwähnen, ebenso Nan Hauser, die auf der Südseeinsel als Walfrau selbst schon zur Legende geworden ist. Doch gerade als ich die Amerikanerin auf ihre Prominenz in Poly­nesien ansprechen wollte, sagte sie, dass doch eigentlich ich es wäre, die auf den Cook-Inseln berühmt sei – oder besser mein Name. »Ina und der Hai« ist die berühmteste Sage der Cook-­Inseln und das beliebteste Künstlermotiv der Inselgruppe. Selbst der einzige noch gehandelte Cook-Dollar-Schein zeigt Ina mit dem Hai, ebenso einige Münzen.

Die Göttin Ina taucht in vielen Südsee-Sagen auf, spielt aber in der Mythologie der Cook-Inseln eine ganz besondere Rolle. Vielleicht weil sie dort so etwas wie die Aphrodite der Sagenwelt ist und auch für den Schutz der Meere steht.

Ina und der Hai

Einer polynesischen Sage nach hatte die spätere Meeresgöttin Ina die Aufgabe, den großen Gott Tinirau zu suchen, um den gestohlenen Meeresschatz wiederzufinden. Doch sie wusste nicht, wo sich die Insel von Tinirau befand, denn es war eine schwimmende Insel. Und so bat sie ihre Freunde, die Fische, und andere Meeresbewohner um Hilfe. Die Tiere boten auch bereitwillig ihre Unterstützung an, doch die Reise zu Tinirau scheiterte stets aus ganz unterschiedlichen Gründen, und sie landete immer wieder auf ihrer Heimatinsel, bis ein Hai seine Dienste anbot. Damit sie auf dem Weg etwas zu trinken hatte, nahm sie ein paar Kokosnüsse mit. Um sie öffnen zu können, schlug sie die erste auf der Rückenflosse des Hais auf, was sich das Tier noch gefallen ließ. Als sie jedoch die zweite auf seinem Kopf zerschlagen wollte, schüttelte sie der Hai ab und tauchte weg (damit wird die keulenartige Ausbuchtung auf der Nase von Hammerhaien erklärt). Ina sank in die Tiefe, ertrank jedoch nicht, denn Tangaroa, Meeresgott und König der Haie höchstpersönlich, hob sie empor und brachte sie schlussendlich doch noch zu seinem Sohn, dem Meeresgott Tinirau, mit dessen Hilfe sie den gestohlenen Schatz zurückerobern konnte.

Und wie bei allen Mythen wird auch dieser einen wahren Kern haben. Tatsächlich soll auf den Cook-Inseln immer wieder und auch vor nicht allzu langer Zeit eine Frau von einem Hai vor dem Ertrinken gerettet und an Land gebracht worden sein. Erst kürzlich soll auch ein polynesischer Fischer, der auf seinem Boot schlafend weit ins offene Meer abgetrieben war, von ­einem Hai sanft auf ein nahendes Schiff aufmerksam gemacht und dadurch gerettet worden sein.

Das Geheimnis der schwimmenden Inseln

Auch die schwimmende Insel ist nicht nur ein Mythos, der in fast allen Sagen, Märchen und auch modernen Romanen, die mit dem Meer zu tun haben, auftaucht. Es gibt sie tatsächlich, sie bestehen aus Treibgut und sind manchmal sogar bewohnt. Bekannt sind zurzeit einige schwimmende Inseln auf Binnenseen wie zum Beispiel dem Titicacasee. Sie wurden von den peruanischen Ureinwohnern, den Urus, aus Schilfgras geflochten. Die Urus besiedelten die schwimmenden Inseln, um sich vor feindlichen Stämmen auf dem Festland zu schützen, und leben noch heute darauf.

Der berühmte norwegische Ethnologe und Umweltaktivist Thor Heyerdahl (1914 – 2002) hatte sein Leben der Theorie gewidmet, dass Polynesien von Peru aus besiedelt worden war. Durch den spektakulären Schiffsnachbau Kon-Tiki konnte er praktisch beweisen, dass eine Überfahrt von Peru nach Poly­nesien für die Ureinwohner machbar gewesen wäre. Möglich, dass die schwimmende Insel in dem Mythos von »Ina und der Hai« in Wahrheit ein Floß war. Vielleicht war es auch eine Insel aus riesigen Braunalgen, so wie sie aus der Karibik bekannt sind. Die Riesenschildkröten auf den Galapagos-Inseln sollen ebenfalls vom Südamerikanischen Festland aus auf schwimmenden Inseln das Archipel erreicht haben. Allerdings tauchen schwimmende Inseln auch in der griechischen und römischen Mythologie auf. Beispielsweise die griechische Insel Delos soll einst eine schwimmende Insel gewesen sein, die der Göttin Leto als Geburtsstätte diente. Dem zur Folge soll Poseidon die Insel an vier Diamantsäulen befestigt haben.

Selbst Kolumbus begegnete 1492 den berüchtigten schwimmenden Inseln bei seiner Suche auf dem Seeweg nach Indien und dokumentierte diesen Vorfall sehr genau. Demnach muss es schrecklich für die Besatzung der Schiffe gewesen sein, als sie nach Wochen auf hoher See einen Streifen am Horizont sahen und dann feststellen mussten, dass sie auf eine Insel aus schwimmendem Tang zusteuerten. Sie berichteten sogar von Armen aus Tang, die versuchten, ihre Schiffe zu erobern, und von einem seltsamen Licht auf der Tanginsel, das bis heute die Wissenschaft beschäftigt. Bislang blieb das Leuchten aber im Reich der Mythen, genau wie die kapernden Algenarme. Tatsächlich steckte die Flotte von Kolumbus aber tagelang bei einer Flaute in einem Algenteppich fest, bis sie endlich eine Brise erlöste und in die Karibik trug. Die Details für die Nachwelt hielt Kolumbus in seinem Logbuch fest. Er gilt damit auch als Entdecker der Sargassosee, die nach den Algen Sargassum benannt wurden.

Der moderne Fluch der Karibik

Diese explosionsartige Vermehrung der Sargassum-Braunalgen wurde inzwischen jedoch zu einer Todesfalle für zahlreiche Meeresbewohner, die ansonsten mit und von dieser meterlangen, freischwimmenden Alge leben. Ob die Klimaerwärmung oder der Plastikmüll dieses uralte Gleichgewicht ins Wanken und zu einer Überproduktion von Algen geführt und die Strömungen verändert hat, weiß niemand, nur dass immer mehr Algen in der Karibik an Land gespült werden. Die Sargassosee selbst ist ein Meer ohne Ufer, umrahmt von verschiedenen Strömungen zwischen dem Bermuda-Dreieck und dem Golfstrom. Durch den Sog sammeln sich diese freischwimmenden Braun­algen und bilden eine riesige schwimmende Insel. So war es jedenfalls jahrhundertelang, aber aus dem Algenstrudel wurde inzwischen vor allem ein Plastikstrudel, und das Meer würgt die Algen tonnenweise an die Strände der Karibik. Als in den Sommern 2018 und 2019 Unmengen dieses Tangs vom Ozean an die Strände der Karibik gespuckt wurden und sich dort meterhoch auftürmten, gab es für Millionen von Tieren kein Entkommen mehr. Sie verendeten elendig unter dem Algenberg. Wie der faulige Atem eines Todkranken ventilierten die verrottenden Algen stinkende, schwefelige Gase, die Metall schwärzen und Menschen vergiften können. Kurz: Sie stinken wie der Teufel und vermehren sich wie die Pest. Sie sind wie Bakterien im menschlichen Darm, lebenswichtig für die Verdauung, aber aus dem Ruder geraten, eine tödliche Falle. Der Ozean ächzt und stöhnt und wird kollabieren, wenn wir ihn weiter so traktieren. Dann werden die Wunder der Natur, wie die schwimmenden Inseln auf der Sargassosee, zur Pest für die Menschheit.

Zwar gibt es außer diesem Tang-Teppich aktuell keine bekannten schwimmenden Inseln auf den Weltmeeren, das heißt aber nicht, dass es keine gibt. Nicht nur Seefahrer haben immer wieder von diesen schwimmenden Inseln auf hoher See berichtet, auch Biologen sind sich einig, dass einige tierische Inselbewohner ihr heutiges Zuhause auf einer schwimmenden Insel gefunden haben. Meist sind es Seegras- oder Braunalgenteppiche, die sich zu einer Insel formieren, auf denen andere Algen und auch höhere Pflanzen wachsen und mit der Zeit eine stabilere Grundlage bilden. Auch in der modernen Literatur, wie dem Bestseller »Schiffbruch mit Tiger«, tauchen solche Inseln immer wieder auf und nehmen in fast jedem Meeres-Mythos einen festen Platz ein, so wie als Wohnort des polynesischen Meeresgottes Tinirau.

Rückkehr ins Meer

Vielleicht haben die Vorfahren der Meeressäuger Schiffbruch auf einer solchen Insel erlitten und mussten schwimmen lernen. Tatsächlich sind Wale und Delfine aber die einzigen Säugetiere, die einst vom Land wieder vollständig ins Meer zurückgekehrt sind. Nach wie vor ist sich die Wissenschaft nicht darüber einig, wie intelligent diese Meereswesen sind. Inzwischen wurde immer­hin nachgewiesen, dass ihr Hirn dem des Menschen ebenbürtig ist. Delfine sind mit Abstand die beliebtesten Meeresbewohner, und wer mit der Fernsehserie »Flipper« aufgewachsen ist, weiß, wie Holly­wood schon sehr früh die Tiere medial erfolgreich missbrauchte. Fast zwanzig verschiedene Delfine wurden für die Serie benutzt. Dennoch hat diese Serie auch ihre guten Seiten gehabt: Sie weckte die Sehnsucht nach dem Schutz der Meere und ihrer Bewohner. So war auch für mich das Meer schon von Kindesbeinen an heilig und zog mich magisch an.

HANNES JAENICKE

Wasser war bereits als Kleinkind mein Lieblingselement. Meine Schwester pflegte liebevoll ihre vermeintlich erkrankten Puppen (sie wurde später Krankenschwester), mein Bruder bemalte Wände mit dem Spinat, den er nicht essen mochte (er wurde erfolgreicher Maler). Laut meiner Mutter wurde ich schon euphorisch, wenn die Plastikwanne mit Wasser gefüllt wurde, in der ich gebadet wurde. Ich kann mich noch erinnern, dass diese Wanne immer gut sichtbar auf unserer Waschmaschine stand und bei Benutzung in der großen Bade­wanne platziert wurde. Das war der Beginn meiner Karriere als Wasserratte. Die nahm eine steile Kurve nach oben, als ich als Anderthalbjähriger zum ersten Mal an die Nordsee durfte.

Ab Anfang der 60er-Jahre mietete meine Großmutter, Nonna genannt, in einem Sommer eine Ferienwohnung in Domburg an der holländischen Küste. Dort verbrachten wir von da an alljährlich unsere Sommerferien. Ich konnte zwar noch nicht schnell laufen, schaffte es aber in jedem unbeobachteten Moment, meiner Oma oder Mutter zu entwischen und auf allen vieren in die Brandung zu krabbeln. Babyschwimmen gab es noch nicht, und diese neon-farbenen Schwimmflügel auch nicht, jedenfalls nicht in unserem Haushalt. Meine Mutter erzählte noch Jahrzehnte später, dass nichts meine Freude am Baden stoppen konnte. Offen­bar war es mir egal, wenn mir vor Kälte die Lippen lila anliefen und die Zähne klapperten. Oder wenn ich so viel Salzwasser geschluckt hatte, dass ich mich übergeben musste. Es war mir wohl auch egal, wenn mich die Wellen immer wieder unter Wasser zogen. Ich muss vor Vergnügen gequietscht haben und musste jedes Mal aus dem Wasser gezerrt werden, sehr zu meinem kreischenden Missvergnügen. Meine Geschwister waren pflegeleich­ter, sie buddelten ganztägig im Sand, sammelten Muscheln, futterten Pommes mit Majo und waren eher wasserscheu.

Woher diese Liebe zum Wasser kommt, weiß ich nicht. Astrolog*innen würden vielleicht sagen: Sternzeichen Fisch, Aszendent Krebs: der kann ja nicht anders, der arme Mann. Von Astrologie habe ich keine Ahnung und bin diesbezüglich auch eher skeptisch. Aber so richtig erklären kann ich mir meine Leidenschaft zum Wasser und zum Wassersport nicht. Ich bin gebürtiger Frank­furter, also zumindest meine Herkunft scheint nicht der Grund dafür zu sein, dass ich begeisterter Surfer, Schwimmer und Kajakfahrer bin. Ich besitze Segelscheine und zu viele Surfboards, und ein Urlaub ohne Surfen, Kiten oder Windsurfen ist in meinen Augen eher Strafe und Zeitverschwendung als Erholung.

Aber vom Wassersport abgesehen reicht es mir oft, nur am Wasser zu sitzen und darauf zu gucken. Das kann die Nordsee, der Pazifik, ein See, Weiher oder Gebirgsbach sein. Oder der Rhein. Einfach am Fluss sitzen und zuschauen, wie die Schiffe rauf- und runterfahren (wenn der Rhein nicht wie im Sommer 2018 gerade ausgetrocknet ist). Wasser nur zu betrachten hat etwas Meditatives und Beruhigendes. Das silbrige Schimmern von Seen und Flüssen, die bläulich metallische, bisweilen schäumende Oberfläche der Meere ist mit nichts zu vergleichen. In solchen Momenten erscheint mir das Wasser mystisch, und es ist leicht zu glauben, dass unsere Vorfahren Götter, Geister und andere Wesen damit in Verbindung gebracht haben. Wobei ich im religiösen Sinn kein gläubiger Mensch bin. Das Einzige, ­woran ich glaube, ist die Evolution. Aber die Mythen und Sagen, die seit Menschengedenken über Meere und Ozeane überliefert werden, haben mich immer schon fasziniert oder zumindest amüsiert: Viele erinnern an gute Comics und Cartoons. Das fängt bei der griechischen und römischen Göttermythologie an und geht bei den Sagen der Kelten, Wikinger, Inuit und Polynesier weiter.

Es leuchtet mir durchaus ein, dass es in vielen alten oder indigenen Kulturen für jeden Lebensbereich Götter gab, wie bei den Griechen den Meeresgott Poseidon oder bei den Römern Neptun. Diese Arbeitsteilung unter Göttern scheint mir moderner und effizienter als die Allmacht eines einzigen Gottes in monotheistischen Kulturen zu sein. Der muss in Anbetracht dessen, wie wir Menschen mit seinem Werk und der Umwelt umgehen, an Multitasking, Überforderung und Burnout kläglich scheitern oder in Depressionen verfallen. Vielleicht guckt der Herrgott deshalb in allen Darstellungen so ernst und streng und lacht nie. Bezeichnenderweise sind die archaischen, polytheistischen Kulturen und ihre Mythen und Märchen völlig anders mit ihrer Umwelt umgegangen, als wir es tun, nämlich nachhaltig und weitaus weniger zerstörerisch. Vordenker wie Noam Chomsky von der Elite-Uni MIT in Boston sind der Überzeugung, dass wir unseren Planeten nur noch retten können, wenn wir uns beim Umgang mit unserer Umwelt an indigenen Kulturen wie den First Nations in Kanada, Indianern in den USA, Indios in Südamerika, Bushmännern in Afrika oder Aborigines in Australien orientieren würden. Das sind aber genau die Kulturen und Ethnien, die wir weitestgehend vernichtet haben.

Mythen und ihr wahrer Kern

Überlieferungen zeigen, dass diese vermeintlich barbarischen oder primitiven Kulturen eine tiefe Ehrfurcht hatten vor den Elementen. Neptun, Poseidon oder Tangaroa wurden respektiert und verehrt. Wenn sie wütend wurden, glaubten diese Völker, gab es brutale Stürme und zahllose Tote. Damals lebten Menschen gefährlich, in keinster Weise abgesichert wie wir heute. Es gab weder Rettungs­westen noch Leuchtraketen oder Seenot-Retter. Man fuhr auf Schiffchen und Nussschalen über die Weltmeere, die wir heute nicht einmal für eine Kaffeefahrt auf dem Tegernsee besteigen würden. Alles, was man bei einem Tret- oder Ruderbootverleih mieten kann, ist wahrscheinlich sicherer und komfortabler.

Anders sieht es allerdings aus, wenn eine Notlage uns zwingt, wie derzeit viele Flüchtlinge, die versuchen, zum Beispiel von Libyen aus übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Diese Menschen nutzen sogar Wracks, um ihrer Heimat zu entfliehen. Viele überleben ihre Reise nicht. Insofern war es schon früher überaus klug, Angst und Respekt zu haben vor den jeweiligen Göttern und ihren Elementen und diese mit Demut zu behandeln. Vermutlich ist der Verlust dieser Art von Religiosität ein Werteverlust, der zu der unaufhaltsamen Umweltzerstörung führt, die wir mittlerweile erleben. Wenn man wie viele Indianer und andere indigenen Kulturen die Natur und das, was sie hervorbringt, vergöttert, dann geht man anders mit ihr um, als es unsere Wegwerf- und Konsumgesellschaft tut.

Manch uralte Legende scheint heute aktueller denn je. Zum Thema Artensterben beispielsweise fällt mir immer die biblische Geschichte von der Arche Noah ein. Wenn sich der Artenverlust weiter so beschleunigt, wie es heute der Fall ist, dann werden wir die letzten Vertreter der aussterbenden Tierarten tatsächlich in irgendeiner Form von Arche konservieren und sie irgend­wo hinschaffen müssen, wo sie in Sicherheit sind. Wie in fast allen Hightech-Bereichen zeigen die USA, wie diese Arche aussehen wird: Im sogenannten »Frozen Zoo«, einem Labor nahe San Diego, werden Eizellen, Sperma und DNA von aussterbenden Tierarten gesammelt, eingefroren und konserviert, um sie eines Tages aus dem Gen-Labor wieder auferstehen zu lassen, ähnlich wie die Dinosaurier in Jurassic Park. Das aktuellste, sehr reale Beispiel ist das 2018 in freier Wildbahn endgültig ausgestorbene nördliche Spitzmaul-Nashorn. Mit dessen konserviertem Sperma werden Wissenschaftler demnächst in einem Reagenzglas eine weibliche Eizelle befruchten und anschließend von einem süd­lichen Spitzmaul-Nashorn in Afrika austragen lassen. Mission accomplished, Art gerettet, wenigstens eine einzige der einen Million (von bisher bekannten zwei Millionen) Spezies, die laut neuestem IPBES-Bericht vom Aussterben bedroht sind. Das alttestamentarische Konzept der Arche Noah erhält durch diese Analyse des Weltbiodiversitätsrates eine tragische Aktualität und Dringlichkeit.

Auch die überlieferten Meeressagen und -geschichten, die weniger aktuell scheinen, sind faszinierend. Jonas und der Wal zum Beispiel. Seit ich die Geschichte kenne, frage ich mich, wie sie zu verstehen ist. Einerseits spielt sie mit der menschlichen Angst, gefressen zu werden, andererseits überlebt Jonas sein Abenteuer unbeschadet. Wenn der Wal Jonas aber unversehrt wieder aus­spuckt, warum haben die meisten Menschen eine solche Angst vor großen Meeresbewohnern? Die Wissenschaft kennt keine einzige marine Spezies, zu deren Beute der Mensch gehört. Das gilt auch für Haie, Orcas, Wale, Riesenkraken. Meeresbiologen vermuten, dass es sich bei Jonas’ Geschichte nicht um einen Wal, sondern um einen Walhai handelt, den größten Fisch im Meer. Sein Maul wäre groß genug, um einen Menschen zu verschlucken, aber er ernährt sich ausschließlich von Plankton, Krill und kleinen Fischen, ist also für Menschen völlig harmlos.

Hawaiianer, die Bewohner der vermutlich ältesten Inselgruppe der Erde, haben einen überaus liebevollen Respekt vor Haien. Sie betrachten den Hai als Gottheit, er spielt eine wesentliche Rolle in der polynesischen Mythologie. Dort gilt er nicht als hässliches, gefährliches Tier, im Gegenteil. Die Menschen hier haben offensichtlich schon vor Jahrtausenden begriffen, wie wichtig der Hai im Ökosystem Ozean ist: Er frisst als eine Art Ozeanpolizei bevorzugt tote, alte und kranke Meeresbewohner und sorgt so für einen gesunden Fischbestand.

Die alten Griechen erklärten Delfine zu Gottheiten; in der antiken Kunst tauchen diese Meeressäuger immer wieder auf. Das mag ganz profan auch damit zu tun haben, dass Delfine für Fischer die zuverlässigsten Wegweiser zu Herings-Schwärmen und anderen Beutefischen waren. Man brauchte sie also und behandelte sie entsprechend respektvoll.

Die Verehrung von Meeressäugern im alten Griechenland teilen Norweger, Isländer, Japaner und Russen bis heute leider nicht. Diese vermeintlich modernen, zivilisierten Nationen jagen, fangen und schlachten bis heute Wale und Delfine, sabotieren die IWC (die Internationale Walfang-Kommission) und ihre Walschutz-Moratorien. Und kein anderes Land der Welt kommt bisher auf die Idee, diese Nationen per Sanktion oder politischem Druck zu einem Umdenken zu bewegen.

Sehnsucht und Seemannsgarn

Auf die mündlich übertragenen Sagen der Frühzeit folgten nach Erfindung der Schrift unzählige Werke, die aus der Faszination des Menschen für das Meer entstanden sind, von Homers »Odyssee« über Melvilles »Moby Dick« bis zu Heyerdahls »Kon-­Tiki«. Dazwischen großartige Jugendliteratur wie »Robinson Crusoe«, »Die Schatzinsel«, Jules Vernes »20 000 Meilen unter dem Meer« und »In 80 Tagen um die Welt«. Vielleicht hat die Sehnsucht vieler Menschen nach dem Meer mit diesen Büchern zu tun. »Robinson Crusoe« war ein Weltbestseller. Die Idee, allein auf einer einsamen Insel zu stranden und zusammen mit einem guten Kumpel dort überleben zu müssen, fand ich sehr viel inspirierender als Schulbesuch, Geigenunterricht und Messdienern, Gleiches galt für »Die Schatzinsel«. Einem Großstadtkind, dessen Spielplatz die Frankfurter Nordwest-Stadt und das vermüllte Nidda-Ufer war, erschien Stevensons exotische Insel wie das Paradies.

Eine weitere völlig unbekannte Geschichte ist die eines deutschen Frachtseglers, »Libelle« genannt, der 1866 auf der Reise von San Francisco nach Hongkong auf einem win­zigen Atoll im Südpazifik, irgendwo zwischen Hawaii und Marianen-Inseln, auf ein Lava-Riff auflief und zerschellte. Mannschaft und Passagiere, darunter eine Opernsängerin und Geschäftsleute, konnten sich auf eine winzige, paradiesisch schöne Insel retten und überlebten dort drei Wochen lang. Weil es aber kein Süßwasser gab, es kein einziges Mal regnete und keinerlei Rettung in Sicht war, entschlossen sie sich, in den win­zigen, notdürftig reparierten Rettungsbooten die Weiterreise in Richtung Marianen-Inseln zu wagen, um dem sicheren Tod durch Verdursten zu entkommen. Dank des brillanten deutschen Steuermanns überlebten die meisten die über 1000 Seemeilen weite Reise in den Nussschalen. Dieses Ereignis gilt bis heute als einer der spektakulärsten Rettungsaktionen der Seefahrtsgeschichte. Außerdem hatte auch die Libelle einen Silberschatz an Bord, mit dem ein Waffendeal für den japanisch-chinesischen Krieg bezahlt werden sollte. Der Schatz ist bis heute nicht geborgen; immer noch versuchen moderne Schatzsucher und Glücksritter, ihn zu finden. Solche Geschichten faszinieren mich heute genauso wie als kleiner Junge; am liebsten würde ich sie alle verfilmen.

Eine der bewegendsten Geschichten von Gewässer und Mensch erzählt Theodor Fontane in seiner Ballade »John Maynard« über einen Steuermann, der sein brennendes Schiff nicht verlässt und sich für seine Passagiere und die Besatzung opfert. Auch Bertolt Brechts »Ballade von der Hanna Cash« erzählt zwar eine tragische Geschichte, ist aber ein poetischer und gleichzeitig schonungsloser Text über die Härte der Seefahrt, der Seemänner, des Lebens auf See.

Beim Thema Wasser geht es im Grunde immer um Leben und Tod. Es spendet Leben und zerstört es auch wieder. Damit symbolisiert es das Leben an sich. Man kann in einem Flusslauf durchaus eine Meta­pher sehen für den Lauf des Lebens. Es ist kein Zufall, dass zumindest in der deutschen Sprache Mensch und Fluss »laufen«, sich »verlaufen« und »zulaufen«. Unser ganzes Leben ist ein Fluss. Bei manchen ein kurzer oder langer, ein ruhiger oder wilder, bei manchen beides. Mensch wie Fluss fangen klein, zart, unscheinbar an. Der eine im Bauch der Mutter, der andere in Mutter Erde. Wie Kleinkinder, die noch wackelig unterwegs sind, stolpern und schlängeln sich Flüsse durch ihren Oberlauf, bevor sie (ähnlich wie Menschen) im Unterlauf immer breiter und langsamer werden. Dazwischen kurven sie durch die unterschiedlichsten Landschaften, stürzen gelegentlich (Wasserfälle hinunter), werden aufgehalten und gestaut, paaren sich mit ­anderen (Zuflüssen), werden älter und behäbiger und landen irgendwann im Nirwana (der unendlichen Weite der Meere).

Entdecker und Helden

Jedes Gewässer transportiert Mythen und Versprechen, die alle berühmten Entdecker angetrieben haben müssen. Irgendwann fragten sich Menschen: Was passiert eigentlich, wenn ich mit meinem Einbaum oder Kahn diesen Fluss hier runterfahre, bis es nicht mehr weitergeht? Andere fragten sich: Wie sieht es eigentlich auf der anderen Seite dieses Ozeans aus? Kommt da noch was? Und schon waren die Griechen, Mauren, Wikinger, Poly­nesier, Maoris unterwegs, in aus heutiger Sicht abenteuerlichen Vehikeln. Es folgten Vasco da Gama, Christopher Columbus, James Cook, Charles Darwin, Ernest Shackleton, David Livingston, Alexander von Humboldt, Fridtjof Nansen, Thor Heyerdahl und viele mehr. In der Regel kennen wir heute nur noch die Glückspilze und Helden, die diese Abenteuer überlebt haben. Es gibt keine Schätzungen, wie viele Menschen auf Expeditionen und Seefahrten ihr Leben gelassen haben. Dafür wissen wir, dass alljährlich über 2,2 Millionen Deutsche eine Kreuzfahrt buchen. Das versteht man heute unter »See-Abenteuer«. Wer wie ich zu spät auf die Welt kam, um noch Entdecker zu werden, durfte wenigstens die Bücher über die Abenteuer der Seefahrt verschlingen.

Als Film- und Fernsehzuschauer waren Pioniere wie Hans Hass und Jacques Cousteau die Helden meiner Jugend. Auch wenn man sie heute zu Recht kritisch beurteilt – Costeau hat für seine Arbeit ganze Korallenriffe weggesprengt –, sie haben uns die damals weitgehend unbekannte Unterwasserwelt gezeigt und uns für den Meeresschutz begeistert.

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