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Lassen Sie sich vom Shitstorm der Agrarlobby nicht täuschen – dieses Buch bringt unangenehme Wahrheiten ans Licht! Wenn es um unser Essen und speziell um tierische Produkte wie Fleisch, Wurst, Eier und Milch geht, werden wir schamlos belogen und betrogen – von der Agrarlobby und der Lebensmittelindustrie, aber auch die Politik spielt auf verantwortungslose Weise mit. Staatlich finanzierte Ernährungswissenschaftler lassen sich von Lobbyorganisationen anheuern. Studien über Gesundheitsrisiken werden unterdrückt oder geschönt, andere von der Wirtschaft finanziert. Industrielobbys nehmen massiv Einfluss auf Gesetzgebung und Ernährungsempfehlungen – mit dem einzigen Ziel, die Profite zu maximieren. In der Diskussion über Tierwohl und entsprechende Zertifizierungen schiebt die Politik dem Verbraucher die Verantwortung zu, während die industrielle Massentierhaltung mit all ihren Auswüchsen erlaubt bleibt und faktisch kaum kontrolliert wird. In diesem investigativen Enthüllungsbuch decken Hannes Jaenicke, Deutschlands bekanntester Umweltschützer, Schauspieler und Autor des »Spiegel«-Bestsellers »Die große Volksverarsche«, und der Journalist und Bestsellerautor Fred Sellin die dreistesten Industrie- und Werbelügen auf, geben Einblick in die skandalösen Produktionsbedingungen tierischer Lebensmittel und erklären, was Verbraucher unbedingt wissen sollten, um beim Einkauf und vor dem Essen die richtige Wahl zu treffen.
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HANNES JAENICKE
FRED SELLIN
HANNES JAENICKE
FRED SELLIN
Wie Agrarlobby und Lebensmittelindustrie uns belügen und betrügen – und was das für unsere Ernährung bedeutet
Originalausgabe
3. Auflage 2023
© 2022 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR
Türkenstraße 89, 80799 München
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Rainer Weber
Umschlaggestaltung: Ivan Kurylenko (hortasar covers)
Umschlagabbildung: Thomas Leidig
Layout und Satz: Daniel Förster
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-96905-202-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-204-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-203-7
»The future is not some place we are going to, but one we are creating. The paths are not to be found, but made, and the activity of making them changes both the maker and the destination.«
John Schaar, amerikanischer Politikwissenschaftler, 1928–2011
Intro
I. Drink Milk, Be Happy – oder doch nicht?
Es war einmal: Warum die Bilderbuch-Milchkuh eine aussterbende Spezies ist
Was wir nicht zu sehen kriegen: Von Wegwerfkälbern und Monster-Eutern
Zucht ohne Zügel: So krank sind Deutschlands Milchkühe
Das »Weiße Wunder«: Werbetricks und Lügen der Milchindustrie
Milchforschung: Beunruhigende Studien und Lobbyverflechtungen
Unsere Gesundheit: Warum es die Milch (eben) nicht macht
II. Echte Kerle essen Fleisch – aber wissen sie auch, wie ihr Schnitzel herangemästet wird?
Stuten und Zuchtsauen: »Blutsschwestern« wider Willen
Ausgenutzt: Nutztier Schwein
»Grundlagenforschung«: Wie Eber zu Sauen gemacht werden
Einzelhaft für Schweine: Eingepfercht im Kastenstand
Antibiotikaresistente Keime: Steak mit Risikobeilage
Nächtliche Stallkontrollen: »Durchschnitt« und Grauen in der Schweinemast
Ausbeutung beim Branchenprimus: Was Corona zum Vorschein brachte
Putenmelken: Milliarden Spermien für Big 6
Knochenbrecher: So entstehen unsere Frühstückseier
»Kognitive Manipulation«: Wie uns Fleisch schmackhaft gemacht wird
Es geht um die Wurst: Das PR-Kommando der Fleischindustrie
Zweifelhafte Studien: Verdrehte Wahrheiten, verheimlichte Geldgeber
III. Prüfzeichen, Awards, Medaillen, Siegel – was sie bedeuten und wie man sich in dem Dschungel zurechtfindet
Staatliches Tierwohlkennzeichen: Was lange währt, muss nicht gut werden
Verbrauchertäuschung: Eine Branche kontrolliert sich selbst
Da hilft auch kein Siegel mehr: Reste-Pampe Separatorenfleisch
Stallhaltung Plus: Tierwohl im Sinne der PR-Strategen
Patriotenfleisch: Kundenfang mit Schwarz-Rot-Gold
Die Geschäfte der DLG: Qualitätsmedaille für Pansch-Wurst
Leere Versprechen: Artgerecht, tierschonend, kontrolliert
Das Gießkannenprinzip: Awards und Siegel für alles und jeden
Modewort Transparenz: Was QR-Codes wirklich verraten
Bessere Qualität fürs gute Gewissen: Ist Bio drin, wo Bio draufsteht?
Eigenkreationen: Wie sich der Handel grün schummelt
Bio ist besser, aber kein Paradies: Von kranken Tieren und schwarzen Schafen
IV. Steaks und Milch aus dem Bioreaktor, gezüchtete Insekten – womit ernähren wir uns in der Zukunft?
Ein Gespenst geht um: Haben wir schon Gen-Food auf dem Teller?
Mythos Gentechnik: Warum Millionen Menschen trotzdem hungern
Die 0,9-Prozent-Regel: Ohne Gentechnik, mit Gentechnik – was denn nun?
Die Vordenker: Ein Speiseplan, der die Welt retten soll
Alte Tricks im neuen Gewand: Wie Kinder zu ungesunder Nahrung verführt werden
Lebensmittelverschwendung: Schluss damit!
Der Veggie-Boom: Warum ausgerechnet Fleischkonzerne davon profitieren
Alternative Proteinquellen: Wie schmeckt eigentlich Insekten-Aufstrich?
Fleisch aus der Petrischale: Nischenprodukt oder Ernährungsrevolution?
Nachwort
Quellenverzeichnis (Auswahl)
»Wurst ist eine Götterspeise. Denn nur Gott weiß, was drin ist.«
Jean Paul, deutscher Schriftsteller, 1763–1825
Als kleiner Junge fand ich Götterspeise wunderbar, sie wackelte so schön und glibberig, dass es völlig egal war, wie künstlich und chemisch sie schmeckte. Wurst fand ich auch sehr lecker, vor allem Gelbwurst. Von der bekam ich jedes Mal, wenn meine Großmutter mich in der Frankfurter Nordweststadt zum Einkaufen mitnahm, vom Metzger ihres Vertrauens eine dicke Scheibe geschenkt. Ich pulte sie aus ihrer gelben Plastikhaut, stopfte sie in den Mund und mampfte genüsslich vor mich hin. Kauen war bei diesem Fleischbrei überflüssig. Finger und Mundpartie glänzten anschließend vor Fett, und ich war glücklich.
Heute esse ich weder Wackelpudding noch Wurst. Mir fehlt das chemische Grundwissen und die Allwissenheit Gottes, um zu verstehen, woraus solche Lebensmittel gemacht werden und ob sie diese Bezeichnung verdienen. Ich dürfte nicht der Einzige sein, der grundsätzlich gerne wissen würde, was genau wir uns beim Essen einverleiben.
Im Zeitalter der industriellen Nahrungsmittelproduktion wissen wir bestenfalls noch, was uns schmeckt, was gerade im Fernsehen oder im Netz beworben wird, im Sonderangebot ist oder als neuestes Superfood angepriesen wird – und ob es bio ist oder nicht. Herauszufinden, wo das Produkt herkommt, was genau drinsteckt, wie und unter welchen Bedingungen es produziert wurde, wie gesund oder schädlich es ist, entpuppt sich zunehmend als Wissenschaft oder als kriminalistisch-investigative Tätigkeit.
Viele von uns wissen, dass verarbeitetes Essen in Konserven, Fast Food, Fertig- und Tiefkühlgerichte mit Zucker, chemischen und anderen Zusätzen zwar satt machen können, aber nicht unbedingt als Healthfood durchgehen. Doch wie ist das bei »natürlichen« Grundnahrungsmitteln tierischer Herkunft, bei dem riesigen Angebot von Milch- und Fleischprodukten? Was wissen wir über deren Herkunft und die Methoden ihrer Herstellung? Wenig, wie ich im Lauf der Jahre und durch die Arbeit an Tier- und Umwelt-Dokumentationen festgestellt habe. So entstand die Idee zu diesem Buch.
»Du bist, was du isst«, lautet eine Redensart, die gern auch als Werbespruch verwendet wird. Sollte das stimmen, dann sind wir schnell, billig und ungesund. Und lassen uns von einer milliardenschweren Nahrungsmittelindustrie belügen, betrügen und krank machen, insbesondere bei Milch- und Fleischprodukten. Die Hersteller drucken zwar auf fast alles, was wir kaufen, hübsche Bildchen, Pseudo-Siegel, Kilojoule- und Kalorienangaben, aber nichts über Medikamente, Hormone, Chemikalien, Giftstoffe, genmanipulierte Organismen, CO2-Bilanzen, Produktionsmethoden, Umweltschäden. Das hat gute Gründe, wie mein Co-Autor Fred Sellin und ich herausgefunden haben.
Die Nahrungsmittelwirtschaft agiert großenteils wie seinerzeit die Tabakindustrie: Sie weiß, dass sie uns gesundheits- und umweltschädliche Produkte verkauft, tut aber alles, um es ungehindert und möglichst profitabel weiterhin tun zu können.
In Deutschland erkrankt jedes Jahr eine halbe Million Menschen an Krebs, mehr als 10 Prozent der Bevölkerung leiden an Diabetes. 67 Prozent der Männer und 54 Prozent der Frauen sind übergewichtig, knapp ein Viertel der Bevölkerung ist adipös, also stark übergewichtig. Liegt das wirklich nur an unserer Zügellosigkeit, an mangelnder Selbstdisziplin und der Lust an Völlerei? Die Antwort ist: Nein. Vielmehr werden uns seit Jahren und Jahrzehnten Lebensmittel verkauft, die genau diese Bezeichnung nicht verdienen. Die große Sauerei ist, wie gewissenlos unser elementarstes Bedürfnis, nämlich uns zu ernähren, für den maximalen Profit ausgenutzt wird, und wie kompliziert es geworden ist, gesund zu essen.
Dieses Buch sucht Antworten auf Fragen, die uns weder die Industrie noch staatliche Institutionen geben wollen: Wie werden Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Wurst, Eier, Käse und Milch im Zeitalter der industriellen Massentierhaltung produziert – mit welchen Folgen? Was wird uns vorenthalten über die Produkte, die wir täglich beim Discounter, im Supermarkt oder im Bio-Laden in unsere Körbe und Einkaufswagen packen und später verzehren? Wo und wie werden wir Konsumenten bewusst getäuscht – von den Lebensmittelkonzernen, von den PR-Spezialisten der Milch- und Fleischindustrie, selbst von Behörden, Ministerien und Institutionen, deren eigentliche Aufgabe es ist, die Qualität unserer Lebensmittel zu kontrollieren, uns vor gesundheitlichen Schäden zu schützen?
Das Resümee unserer Recherchen: Da die wenigsten von uns, mich eingeschlossen, die Möglichkeit haben, sich auf ihrem Balkon, im Gärtchen, im Hinterhof oder Schrebergarten als Selbstversorger zu ernähren, sondern auf industriell produzierte Ware angewiesen sind, ist ein gesundes Misstrauen gegenüber der Nahrungsmittelbranche dringend angebracht.
Wussten Sie, dass Kühe normalerweise 20 bis 25 Jahre alt werden, Milchkühe aber nur 5, höchstens 6 Jahre? Dass der Anbau genmanipulierter Pflanzen in Deutschland verboten ist, ein großer Teil unseres Tierfutters aber aus Gen-Soja besteht, wir also damit gefütterte Tiere essen, und dass dafür ganze Regenwälder und Savannen vernichtet werden? Oder dass für die Herstellung von einem Kilo Rindfleisch etwa 15 000 Liter Wasser benötigt werden, für ein Kilo Gemüse nur 320 Liter? Dass in der Massentierhaltung mehr Antibiotika verabreicht werden als in der Humanmedizin? Dass auf dem vermeintlich so gesunden Putenfleisch erschreckend oft antibiotikaresistente Keime nachgewiesen werden? Dass Tausenden von trächtigen Pferdestuten Blut abgezapft wird, um mit ihren Hormonen die Schweinezucht zu steuern? Oder warum männliche Kälber in der Milchindustrie als Abfallprodukte betrachtet werden? Und wissen Sie, wie viel Gentechnik in unseren Lebensmitteln steckt? Auch der Frage, ob wir demnächst Fleisch essen werden, das nicht vom Schlachter stammt, sondern in der Petrischale aus tierischen Stammzellen gezüchtet wurde, sind wir nachgegangen.
Ich muss zugeben, dass mir bei unseren monatelangen Recherchen gelegentlich der Appetit vergangen ist. Und dass ich die Auslagen im Supermarkt heute mit anderen Augen betrachte als noch vor wenigen Monaten. Dass ich viele der Siegel, die uns suggerieren sollen, wir hätten es mit hochwertigen, gesunden Produkten zu tun, nicht mehr ernst nehme. Aber da Wissen Macht ist, weiß ich dafür jetzt ziemlich genau, was in meinen Einkaufskorb kommt und was nicht.
Als Kind hörte ich oft Sätze wie: »Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!« Oder: »Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht.« Heute sage ich mir: »Was ich als Kunde nicht kenne, das kaufe ich nicht.« Und oft fällt mir ein anderer Satz meiner Großmutter ein: »Billig können wir uns nicht leisten.«
Meines Erachtens hat jeder ein Recht darauf, zu wissen, was auf seinem Teller liegt, wo und wie es produziert wurde und was darin enthalten ist. Da Industrie und Politik das offenbar anders sehen und uns oft wie unmündige Bürger an der Nase herumführen, bleibt es jedem von uns selbst überlassen, sich zu informieren. Dabei will dieses Buch helfen. Es kann nur Teilbereiche abhandeln, Fisch und Meeresfrüchte beispielsweise haben wir ausgespart. Dieses Thema würde ein weiteres Buch füllen. Wir haben versucht, eine Art Background-Check und Konsumenten-Navi für tierische Produkte zu verfassen – im Interesse unserer Gesundheit, aber auch von Klima, Umwelt, Tierschutz und Nachhaltigkeit.
Hinweis in eigener Sache:
Wir betrachten geschlechtersensible Sprache als wichtiges Thema und haben uns bemüht, dem gerecht zu werden. Sollte uns etwas durchgerutscht sein, dann ist das weder Absicht noch die mangelnde Lernfähigkeit alter weißer Männer, sondern ein Versehen, für das wir um Entschuldigung bitten.
Auch haben wir unsere Recherchen nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt. Zu manchen Themen waren die Quellen widersprüchlich. Das wird im Text vermerkt. Soweit es Zahlenangaben betrifft, haben wir versucht, diese durch mehrere, möglichst amtliche Quellen zu verifizieren.
Eine Szene wie ein Werbespot für Urlaub in Oberbayern. Die Sonne strahlt, vereinzelt weiße Wölkchen am blauen Himmel. Auf der Wiese neben der Straße, die ich entlangfahre, weiden Kühe, schwarz-weiß gefleckt, ein Dutzend etwa. Im sattgrünen Gras gelbe Tupfer von blühendem Löwenzahn. Als Kulisse dahinter, jenseits eines windschiefen Lattenzauns, ein hübsches Bauernhaus. Weiß getünchte Wände, an Dachgiebel und Balkonbrüstung dunkelbraunes Holz. Vor den Fenstern Blumenkästen mit Geranien in Rot- und Lilatönen, die Blüten so dicht, dass sie wie kleine Teppiche herunterhängen. Ich halte an, öffne das Fenster, genieße den Anblick und die frische Luft. Vogelgezwitscher ist zu hören, hier scheint die Welt noch in gesunder Ordnung.
Diese Idylle, etwa 50 Kilometer südwestlich von München, erinnert mich an meine Kindheit, an den ersten Sommer nach unserer Rückkehr aus den USA. Mein Vater, von Beruf Biochemiker, hatte nach Studium und Dozententätigkeit in Frankfurt an der Universität in Pittsburgh geforscht. Was genau, habe ich als naturwissenschaftliche Niete nie verstanden, es hatte irgendetwas mit Molekülen und Proteinfaltung zu tun. Zurück im Deutschland der frühen Siebzigerjahre machten wir jedenfalls Ferien auf dem Bauernhof, irgendwo im Schwarzwald, im Badischen. Ich muss elf oder zwölf gewesen sein, es ist zu lange her, um mich genau zu erinnern. Aber ich weiß noch genau, was ich dort am aufregendsten fand. Es gab Kühe und Hühner, die frei herumliefen und bei jeder Gelegenheit Verdauungsprodukte absonderten, mal als Häufchen, mal als Klecks, mal als Klacks, mal als riesiger Fladen. Ich flitzte den ganzen Tag in Gummistiefeln herum und habe verdrängt, wie meine Füße abends gemüffelt haben müssen. Der Bauer – er hieß Rolf Stiefvatter, trug einen Seppelhut, war immer freundlich und gut gelaunt – brachte mir bei, wie man den Stall ausmistet und Kühe melkt. Nach der traditionellen Methode, per Hand und mit einem einbeinigen Holzschemel, den man sich unter den Hintern klemmt. Erst hatte ich ordentlich Respekt, mich direkt unter die großen Viecher zu setzen, und ich brauchte eine Weile, bis ich den Dreh raushatte, mit meinen kleinen, geballten Fäusten die Zitzen so zu traktieren, dass tatsächlich Milch in den Blecheimer spritzte. Nach einer Weile kamen die ersten Tropfen, ich war erstaunt, wie anstrengend das Melken per Hand ist.
Mein absolutes Highlight aber war, dass ich Traktor fahren durfte. Bauer Rolf besaß einen Fendt, grün mit roten Felgen, die hinteren Räder gefühlt doppelt so groß wie ich. Es war schon ein Abenteuer, wenn er mich auf dem Beifahrersitz mitnahm und über die Feldwege rumpelte. Der Traktor hatte keine Fahrerkabine, ich saß über dem rechten Hinterrad, zur Sicherung einen dünnen Metallbügel im Rücken, wurde durchgeschüttelt wie ein Rodeo-Reiter und saß so hoch, dass ich mich fühlte wie ein Zwergenkönig auf seinem Thron.
Eines Tages hielt Bauer Rolf auf einem Feldweg plötzlich an und fragte, ob ich es mal probieren wolle. Er zeigte auf den Fahrersitz und grinste. Ich nickte begeistert und stand plötzlich hinter dem großen Lenkrad, viel zu klein, um im Sitzen an die Pedale zu kommen. Das übernahm Rolf, ich durfte steuern und hoppelte nun schwer begeistert zwischen den Äckern entlang. Von dem Tag an konnte ich es kaum erwarten, morgens aus dem Bett zu hüpfen, mein Marmeladenbrötchen hinunterzuschlingen und Bauer Rolf draußen bei der Arbeit zu helfen – in der Hoffnung, dass er mich wieder auf dem Traktor den Käpt’n spielen ließ.
Es sind solche Erinnerungen, die zuverlässig wiederkehren, wenn ich heute übers Land fahre und an kleinen Höfen vorbeikomme. Diese Bauernhöfe sind selten geworden, meist sind es Nebenerwerbsbetriebe, die nur dank staatlicher Subventionen überleben. Fahre ich am Ammersee, wo ich heute lebe, eine bestimmte Strecke Richtung Süden, komme ich an einem alten Gehöft vorbei, einem kleinen Milchkuhbetrieb, der frische Bio-Milch aus eigener Produktion anbietet. Und Eier von Hühnern, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf der Wiese vor ihrem Stall scharren und herumpicken dürfen. Die Tiere auf dem Hof werden mit selbst angebautem Futter ernährt, frei von Gentechnik und Glyphosat oder anderen giftigen Pestiziden. Ein kleines Paradies – wie man es in dieser Form nur noch selten findet. Diese Art von Landwirtschaft rechnet sich einfach nicht mehr, sie kann mit der modernen Agrarindustrie nicht konkurrieren.
Zwischen den Ferien auf dem Bauernhof, die ich mit meiner Familie bei Stiefvatters verbringen durfte, und der Recherche für dieses Buch liegen ziemlich genau 50 Jahre. Sollte die harte Arbeit in der Landwirtschaft jemals etwas Romantisches gehabt haben, dann findet man dies hierzulande und heute bestenfalls noch in kleinen Bio-Betrieben. Innerhalb eines halben Jahrhunderts wurde aus einer kleinparzelligen, weitgehend nachhaltigen Landwirtschaft eine hoch industrialisierte, auf maximale Effizienz und Gewinnmargen ausgerichtete Branche. Milchkühe per Hand zu melken wie seinerzeit bei Rolf Stiefvatter klingt heutzutage geradezu mittelalterlich.
Rund 3,8 Millionen Milchkühe leben, wenn man es denn so nennen will, laut Statistischem Bundesamt aktuell in Deutschland. Etwa 87 Prozent davon werden in offenen Laufställen gehalten, 13 Prozent in sogenannter Anbindehaltung, das heißt, die Kühe sind in ihrer Bucht angekettet oder angegurtet. Sie können sich ein paar Zentimeter nach rechts und links bewegen, aber weder drehen noch ein Stück laufen. Die, die es etwas besser haben, werden zwischendurch auf eine Weide gelassen, zumindest über die Sommermonate. Die anderen müssen das ganze Jahr an ein und derselben Stelle stehen, beziehungsweise liegen, Kühe dösen und wiederkäuen den halben Tag lang. Auch gemolken werden sie an ihrem Platz im Stall.
Dagegen klingt Laufstallhaltung nach Luxushotel – aber das täuscht. Dort können sich die Kühe zwischen Ess-, Liege- und Melkbereich bewegen, bekommen frische Luft durch Dachluken, Fenster oder halboffene Wände, sind aber trotzdem eingepfercht.
Artgerecht kann man das Leben zwischen Eisenstangen und Beton- oder Gussasphaltböden sicher nicht nennen. Artgerecht wäre, wenn sie ihre Grundbedürfnisse ausleben könnten, zum Beispiel die Gegend erkunden – in freier Wildbahn legen gesunde Kühe bis zu 40 Kilometer am Tag zurück. Oder mal ausgelassen herumgaloppieren, soziale Kontakte innerhalb der Herde haben, Körperpflege betreiben. Letzteres veranstalten sie mit einiger Hingabe, bei sich selbst und auch bei ihren Artgenossen, Kühe sind überaus soziale Tiere. Oder, und das würde gut zu dem Klischee vom Weide-Paradies passen, einfach nur gemächlich vor sich hin tapsen und dabei in aller Ruhe grasen. Schließlich ist Grünzeug wie Gräser, Blätter, Pflanzenstängel das, was sie normalerweise fressen würden. Aber dafür müssten sie auf eine Weide – was nur einem Drittel aller Milchkühe hierzulande vergönnt ist, und auch denen nur gelegentlich. Falls das mit dem Drittel überhaupt stimmt, woran der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in einem Gutachten Zweifel äußerte. Demnach könnten Landwirte schon den Zugang zu einem Laufhof als »Weidehaltung« ausgeben. Zwar gewährt ein solcher Laufhof etwas mehr Bewegungsfreiheit und sogenannte Außenklima-Reize, die sich positiv auf Gesundheit und Fruchtbarkeit auswirken sollen. Trotzdem bedeutet Laufhof nichts anderes als eine eingezäunte Betonfläche. Dass Kühe daran wirklich ihre Freude haben, darf bezweifelt werden.
Diese Wirklichkeit entspricht nicht den Bildern oder der Vorstellung, die wir im Kopf haben, wenn wir im Supermarkt nach einer Packung Milch greifen, nach Butter, Quark, Joghurt oder Käse. Es ist erstaunlich, wie gut unser Verdrängungsmechanismus funktioniert: »Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht rein.« Der Spruch stammt von Schopenhauer, ist über 160 Jahre alt, bringt es aber auf den Punkt. Wir glauben lieber, was wir glauben wollen, jedenfalls wenn es ums vielzitierte Tierwohl geht. Deswegen funktionieren die Abbildungen auf Milchpackungen so gut, die uns suggerieren, ein gesundes Naturprodukt in den Händen zu halten, das von glücklichen Kühen stammt, die in traumhaft schöner Berglandschaft auf Almwiesen ein Leben genießen, um das man sie nur beneiden kann. Und wenn es nicht die idyllische Bergkulisse ist, die solches Kopfkino hervorzaubern soll, dann sind es sonnenbeschienene Flachlandwiesen, auf denen Klee oder Gänseblümchen blühen, mit wohlgenährten Kühen, die manchmal sogar noch Hörner haben. Gern benutzt werden auch Zeichnungen von lachenden Kuhgesichtern, idealerweise mit einem vierblättrigen Kleeblatt im Maul, damit die Botschaft unmissverständlich ist: Drink Milk, Be Happy. Die Milch kommt ja schließlich von glücklichen Kühen.
Kombiniert werden solche optischen Botschaften vorzugsweise mit Begrifflichkeiten, die ähnlich behagliche Assoziationen auslösen sollen. So gibt es Heimatmilch, Landmilch, Alpenmilch, Bergbauernmilch, Weidemilch, Heumilch, Nordseemilch. Dass unter der Bezeichnung Heimat, Land oder regional auch Milch verkauft werden darf, die nicht von Bauern aus der Gegend, sondern von sonst woher stammt, zum Beispiel aus Polen oder Tschechien – geschenkt, Heimat bedeutet sowieso für jeden etwas anderes. Auch der Begriff Weidemilch ist lebensmittelrechtlich nicht geschützt, sodass die namensgebenden Kriterien wie Häufigkeit und Dauer des Weidegangs, Bewegungsfreiheit der Kühe und Futterqualität von Molkerei zu Molkerei unterschiedlich definiert werden können.
Anders verhält es sich mit Heumilch. Diese Bezeichnung ist mittlerweile EU-geschützt als »garantiert traditionelle Spezialität« und darf nur bei Einhaltung festgelegter Standards verwendet werden, hauptsächlich in Bezug aufs Futter. Wobei Heu, anders als man vermuten könnte, nur in der Winterfütterungsperiode zum Einsatz kommt. Die übrige Zeit wird vor allem auf Grünfutter gesetzt – Gräser, Hülsenfrüchte, Kräuter. Gentechnisch Verändertes oder Silage, also gegärtes Grünfutter, sind nicht erlaubt, ebenso alles, was tierischen Ursprungs ist wie Molke, Milch oder Tiermehl. Die Liste, was die Kühe kriegen dürfen und was nicht, ist lang. Trotzdem bedeutet Heumilch nicht automatisch bio (oder Bio, auf Verpackungen wird es meist großgeschrieben, nicht nur bei Milch). Auf den Feldern, wo das Futter heranwächst, dürfen chemische Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden. Es heißt auch nicht, dass es den Tieren gut geht. Sogar Anbindehaltung ist erlaubt, solange die Kühe an 120 Tagen im Jahr Auslauf kriegen, das braucht nicht mal eine Weide zu sein, Betonflächen reichen auch. Die Enthornung von Kälbern ist ebenfalls nicht verboten, vorausgesetzt sie findet »nach wirksamer Betäubung und Schmerzausschaltung« statt.
Wie man sieht, ist es kompliziert, besonders für uns Konsumenten. Eigentlich müsste in jedem Geschäft, das Milchprodukte anbietet, eine Art Milch-Bibel ausgelegt sein, mit Erläuterungen zu den einzelnen Sorten und ihren Besonderheiten. Nehmen wir nur die Nordseemilch, die einzige Milch, die ich kenne, die mit Fotos von Strand und Meer auf der Verpackung wirbt. Sie ist als Weidemilch deklariert, gleichzeitig als Tierwohlmilch und zusätzlich mit dem Label »Für mehr Tierschutz« und einem »Ohne GenTechnik«-Siegel versehen. Außerdem erfährt man durch die Beschriftung, dass es sich – bei der nicht fettreduzierten Variante – um frische Vollmilch handelt, die länger haltbar ist. Das wird offenbar dadurch erreicht, dass man sie nicht nur homogenisiert, sondern auch pasteurisiert. Doch handelt es sich dann überhaupt noch um Milch, die man frisch nennen kann? Immerhin liegen zwischen Euter und Abfüllen in Tetra Paks einige Tage – für den Transport und mehrere Verarbeitungsschritte in der Molkerei, einschließlich Erhitzung, um Keime und Mikroorganismen abzutöten. Und was genau bedeuten Begriffe wie Weidemilch und Tierwohlmilch, wenn keine einheitlichen Richtlinien existieren? Wenn man wie ich den gut klingenden Worten nicht blind vertraut, türmen sich nur Fragen auf. Deren Beantwortung ist so kompliziert, dass ich vorsichtshalber seit Jahren nur noch Hafermilch kaufe.
Es gibt einfach zu viele verschiedene Siegel und Label, mit denen immer mehr Lebensmittel, natürlich auch Molkereiprodukte, gekennzeichnet werden. Gegen die Idee, dem Verbraucher gut sichtbar in komprimierter, leicht verständlicher Form Orientierungshilfe anzubieten, ist nichts einzuwenden. Fragwürdig wird es, wenn gefühlt im Wochentakt neue Sticker hinzukommen, dass man nicht mehr weiß, welche Siegel ernst zu nehmen sind und welche eher unter die Kategorie verkaufsfördernde Kosmetik oder sogar Konsumententäuschung fallen. Aber dazu mehr in Kapitel III.
Was auf den Verpackungen von Milchprodukten von industriell gehaltenen Hochleistungskühen nie gezeigt wird, sind die monströsen Euter, die ihnen angezüchtet werden, so groß und schwer, dass diese Tiere mit den Hinterbeinen kaum richtig laufen können, sich wund scheuern und ihre Gelenke dadurch überstrapaziert werden. Ein Schlüsselerlebnis für mich war der Dokumentarfilm Samsara (2011) und der daraus entstandene YouTube-Clip »La surconsommation«. Hier sah ich zum ersten Mal, wie unsere Milch produziert wird, wie die Kühe in riesigen Fabriken gehalten und gequält werden.
Die Milchpackungen, die bei uns in den Supermarktregalen stehen, zeigen nie, wie unglaublich abgemagert die meisten Tiere in Wirklichkeit sind, ganz zu schweigen von wunden Klauen, lädierten Körperpartien, entzündeten Zitzen. Dabei sind das nur die sichtbaren Leiden.
Im Grunde ist das ganze Leben einer Milchkuh in der industriellen Massentierhaltung eine einzige Quälerei, vom ersten Tag an. In der Regel wird ein Kalb nur wenige Stunden nach der Geburt von der Mutterkuh getrennt, worunter beide wochenlang leiden. Wobei weibliche Kälber noch die besseren Karten haben, zumindest die, aus denen fleißige Milchkühe werden sollen. Dagegen gelten männliche Exemplare eher als Abfallprodukte, erst recht, wenn sie krank werden. Nicht selten lässt man sie sterben, hilft dabei sogar noch nach. Ein neugeborenes Kalb muss erst nach sieben Tagen in der nationalen Datenbank registriert werden. Verschwindet es vorher, auf welche Weise auch immer, erfährt das niemand. Es scheint auch niemanden zu interessieren. Auch Totgeburten müssen Viehhalter nicht melden. Die Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbunds hat hochgerechnet, dass jährlich etwa 600 000 Kälber sterben, die nicht sterben müssten. Da sind die rund 180 000 ungeborenen Föten, die bei der Schlachtung von ausrangierten, weil kranken, trächtigen Kühen im Mutterleib ersticken, nicht mitgezählt.
Jeder Tag, den ein Kalb gefüttert und gegebenenfalls medizinisch versorgt werden muss, kostet den Landwirt Geld, und zwar mehr, als durch den Verkauf wieder reinzuholen wäre. Milchkühe sind so gezüchtet, dass sie kaum Fleisch ansetzen, deswegen taugt der Nachwuchs nicht für die Mast. Außerdem gibt es viel zu viele Kälber. Das drückt den Preis und macht es generell schwierig, sie loszuwerden. Zehn, zwölf Euro, mehr kriegt man für ein Bullenkalb nicht.
Aussortierte Kuhkälber werden manchmal auch nur mit dem symbolischen Preis von einem Euro abgerechnet. Es kommt sogar vor, dass Landwirte den Viehhandel bezahlen müssen, damit der sie überhaupt abnimmt. Viele dieser Kälber landen auf direktem Weg im Schlachthof, um zu Tierfutter verarbeitet zu werden. Oder sie werden ins Ausland verscherbelt, wo kostengünstiger gemästet wird, mit weniger strengen Kontrollen.
Der Trend geht dahin, die Geburt von »Wegwerfkälbern« zu reduzieren. Ein Weg besteht darin, »gesextes« Sperma einzusetzen, bei dem X- und Y-Chromosomen voneinander getrennt werden. Das ist allerdings wesentlich teurer, was sich nicht jeder Milchbauer leisten kann. Es muss wahrscheinlich nicht extra erwähnt werden, dass Milchkühe heutzutage nicht durch Sex trächtig werden. Mit natürlichem Paarungsverhalten oder gar Spaß hat das nichts zu tun, eher mit Stress und unangenehmen Gefühlen. Das Sperma, ob gesext oder nicht, stammt von Zuchtbullen, denen es auf Besamungsstationen mithilfe einer künstlichen Scheide abgezapft wird. Ein Besamungstechniker, oder der Besitzer der Kühe, befördert es dann per Hand und Pipette über den Darmausgang in die Gebärmutter.
Angeboten wird Sperma über Bullen-Kataloge, die an Verkaufsbroschüren von Autohändlern erinnern – nur dass die technischen Kategorien andere sind: Milchleistung, Fettgehalt, Eiweißgehalt, Fundament (womit die Qualität des Gangwerks, der Beine also, gemeint ist), Euter, Beckenneigung, Melkbarkeit, Überlebensrate der Kälber, Nutzungsdauer. Ich blättere durch den 2022er-Katalog der Firma Masterrind, die eigenen Angaben zufolge jährlich fast 3 Millionen Portionen Sperma verkauft, über 1,5 Millionen Besamungen durchführt und rund 700 sogenannte Vererber im Programm hat. In der Einleitung geht es um die aktuellen Chartplatzierungen: »Neu an der Spitze der deutschen RZG-Liste (Gesamtzuchtwert, d. A.) stehen gleich zwei Kandidaten aus dem Masterrind-Angebot. Adwin … steigt als Nr. 2 ein und entstammt der bekannten Kuhfamilie von Pen-Col Grafeeti Bell VG-87. Vielen Züchtern dürfte diese Kuhfamilie bekannt sein: Der Masterrind-Star Topmodel ist ein Sohn der Urgroßmutter von Adwin, Pen-Col Silver Bella …« Also Sinn für originelle Namen haben die ja.
Einige Zeilen weiter erfahre ich, was für ein toller Hirsch – sprich: toller Bulle – Skater ist, der als Spross der Familie Wesswood-HC Rudy Missy EX-92 direkt zurückgehe auf die weit übers Zuchtgebiet hinaus bekannte Kuh Diva Mr VG-88, der Mutter des international hoch erfolgreichen Salvo RDC. »Damit wird verdeutlicht, woher Skater seinen überragenden Exterieur-Zuchtwert hat. Abgesehen von der Größenvererbung kann dieser als ideal angesehen werden: Viel Stärke, abfallende und breite Becken, kombiniert mit perfekter Hinterbeinwinkelung und sehr guter Bewegung. Dazu kommen die extrem festen und hohen Euter mit einem starken Zentralband. Alles in allem ein rundum gelungener Zuchtbulle.« Für mich klingt das, als wäre er der Aston Martin unter seinesgleichen.
Dann kann ich einige der Prachtexemplare auf Fotos bestaunen, alle fein in dieselbe Positur gestellt. Der Rücken gerade wie mit einem Lineal gezogen. Am Hinterteil geht die Körperlinie fast rechtwinklig nach unten, als läge das Fell direkt auf den Knochen. Auch die Rippen treten so markant hervor, dass sie nicht zu übersehen sind. Bei keinem einzigen entdecke ich Hörner, als wären die nur eine sinnlose Laune der Natur gewesen, die es auszumerzen galt. Überhaupt wirken diese kantigen Geschöpfe nicht wie Tiere aus Fleisch und Blut, eher wie technische Geräte – Maschinen.
Noch deutlicher wird das bei einer Aufnahme, die drei Kühe von hinten zeigt, mit überdimensionierten Eutern, zum Bersten prall gefüllt, sodass schon das Hinsehen Schmerzen bereitet. Wie es heißt, handelt es sich um Nachfahren eines gewissen Goaway. Ich forsche weiter, werde bei Facebook fündig. Dasselbe Foto, zusätzlich ein Video, das die Euter wie Trophäen in Großaufnahme präsentiert. Der Text dazu: »Wow! Dies sind drei Goaway-Töchter in der 3. Laktation (Phase der Milchbildung und des Milchgebens, d. A.) … und sie sehen einfach nur beeindruckend aus! Goaway ist ein Gold-Chip-Sohn und steht für Milchleistung … und vererbt bombig Eutermerkmale.«
Apropos Schmerzen – zurück zu den Kälbern und ihren ersten Lebenswochen: Obwohl die Anzahl hornlos gezüchteter Milchkühe rasant zunimmt, besitzen viele noch ihre Hörner, zumindest die Veranlagung zu deren Wachstum. Dass man in den Ställen trotzdem kaum Hörner sieht, rührt daher, dass die Kälber schon als Babys eine Tortur über sich ergehen lassen müssen, die gemäß Tierschutzgesetz als Amputation gilt und dementsprechend eigentlich verboten ist – für die aber im selben Gesetz eine Ausnahmeregelung geschaffen wurde. Gemeint ist das Enthornen, beziehungsweise das Unterbinden des Hornwachstums. Das darf man den Tieren in den ersten sechs Lebenswochen antun. Ohne Betäubung, nur mit Sedation und Schmerzmittel. Und mit Brennstab, elektrisch oder gasbetrieben – wichtig ist, dass er heiß genug wird, extrem heiß, 450 bis 600 Grad, deutlich über der Zündtemperatur etwa von Holz. So wird er auf die Lederhaut am Hornansatz, aus dem das Horn wachsen würde, aufgesetzt, angedrückt, dann leicht gedreht. Es zischt und raucht, bis eine etwa fünf Millimeter tiefe Furche entsteht. Die Prozedur nennt sich Ringbrennen oder Veröden. Zehn, fünfzehn Sekunden, länger sollte der Eingriff nicht dauern, doch der Schmerz wirkt ungefähr acht Wochen nach. So lange braucht die Wunde, um zu verheilen.
Man kann den Hornansatz auch ausstanzen oder ihn mit einer speziellen Ätz-Paste oder Säure traktieren. Diese Methoden sind zwar verboten, werden aber nach wie vor praktiziert, meistens von den Viehhaltern selbst. Tierärzte werden fürs Enthornen selten gerufen, sie kosten Geld, und vorgeschrieben ist es auch nicht.
Aber warum wird diese Quälerei, bei der die Kälber trotz aller Medikamente Schmerzen leiden und ihr Körper mit dem Stresshormon Cortisol regelrecht geflutet wird, immer noch praktiziert? Es soll verhindern, dass sie sich später gegenseitig mit den Hörnern verletzen oder Menschen gefährlich werden, die sie versorgen. Solche Verletzungen passieren aber hauptsächlich, weil die Tiere in den Ställen zu wenig Platz haben und zu eng beieinanderstehen. Anstatt mehr Platz zu schaffen oder weniger Kühe zu halten, werden sie massenhaft verstümmelt. Dabei wird ignoriert, dass Hörner keine tote Materie sind, sondern – ausgestattet mit Blut- und Nervenbahnen – Sinneseindrücke wie Berührungen und Temperaturen wahrnehmen und als Stoffwechselorgane bei der Verdauung eine Rolle spielen.
Auch auf Bio-Höfen dürfen Kälber dieser Prozedur unterzogen werden. Dort allerdings mit lokaler Betäubung durch einen Tierarzt und mit vorheriger Genehmigung der Behörde. Und es muss einen triftigen Grund geben. Erwähnte Verletzungsgefahr ist einer, Platzmangel auch. Selbst Demeter, der Öko-Anbauverband mit den vermutlich strengsten Richtlinien, der sich schon vor über zwanzig Jahren auf die Fahnen geschrieben hat, Kühen die Hörner zu erhalten, musste vor einiger Zeit eingestehen, dass es noch immer Mitglieder-Höfe mit einem Anteil an hornlosen Kühen gibt. Dabei soll es sich ausschließlich um genetisch hornlos gezüchtete Tiere handeln, die laut Demeter bald der Vergangenheit angehören sollen. Wäre ich bei der Arbeit an diesem Buch noch Milchtrinker gewesen, spätestens beim Thema Enthornung wäre ich auf das wachsende Angebot pflanzlicher Alternativen umgestiegen.
15 bis 18 Monate nach ihrer Geburt beginnt für eine Milchkuh die nächste Phase ihrer lebenslangen Tortur – sie wird besamt, dann trächtig. Ohne schwanger zu werden, kann eine Kuh keine Milchleistung erbringen. Falls das beim ersten Versuch nicht klappt, wird nach wenigen Wochen der nächste gestartet, bis es funktioniert. Um den Prozess der Fortpflanzung zu optimieren, vor allem, um möglichst viele Superkühe mit Spitzen-Milchleistung zu produzieren, wird immer häufiger das Verfahren des Embryonentransfers angewendet. Dafür benutzt man eine Hochleistungsmilchkuh als Spendertier. Mittels Hormonbehandlung wird eine sogenannte Superovulation herbeigeführt, bei der 20 bis 30 Eizellen gleichzeitig reifen. Die werden befruchtet und nach sieben Tagen als Embryonen ausgespült, sofort auf minus 197 Grad tiefgekühlt und nach Bedarf an Landwirte verkauft, die sie ihren brünstigen Kühen einsetzen lassen.
Mit dem Abkalben durchlebt die Kuh noch einmal, was ihr bereits als Kalb widerfahren ist: Mutter und Kind werden getrennt, und der Nachwuchs erhält statt Muttermilch – die wird an die Molkerei verkauft – ein Gemisch aus Magermilchpulver und Wasser. Die Kuh selbst wird gemolken. Und gemolken. Und noch mal gemolken. Jeden Tag gibt sie ein bisschen mehr Milch, erreicht nach etwa sieben Wochen das Maximum, das sie gut zwei Monate hält, vorausgesetzt, sie wird nicht krank und kriegt das für Hochleistungskühe notwendige Futter. Ohne hochenergetisches, eiweißreiches Kraftfutter geht heute nichts mehr, normale Nahrung würde nicht einmal ansatzweise die benötigte Energie liefern.
Dann ist es auch schon wieder so weit: Die nächste Besamung steht an, the same procedure as last time, nur dass die Kuh, während in ihrem Leib Kalb Nummer zwei heranwächst, fleißig weiter Milch zu liefern hat. Im Klartext: Zwischen Abkalben und Besamung liegen im Schnitt nur 60 bis 85 Tage, nicht einmal drei Monate. Erst sechs Wochen vor der Geburt bekommt die trächtige Kuh eine Erholungspause und wird »trockengestellt«. So heißt im Fachjargon der Zeitraum, in dem keine Milch abgezapft wird, ihr Organismus sich erholen, das Eutergewebe regenerieren soll.
Mit der zweiten Geburt geht alles von vorn los, das Karussell dreht sich wieder. Ich habe irgendwo gelesen, dass eine Kuh in der Hochphase des Milchgebens so viel Energie verbraucht wie ein Mensch, der drei Marathons läuft – an einem Tag. Eine ausgewachsene Milchkuh, die zwischen 600 und 650 Kilo auf die Waage bringt, hat etwa 50 Liter Blut im Körper. Damit nur ein einziger Liter Milch entstehen kann, muss dieses Blut mindestens zehn Mal durchs Euter gepumpt werden. Das heißt: Nicht nur das Euter, auch das Herz arbeitet auf Hochtouren. In den Fünfzigerjahren, als heutige Turbomilchkühe noch nach Science-Fiction oder Horrorfilm klangen, gab eine Kuh rund 2600 Liter Milch im Jahr. Heute liegt die Ausbeute bei 8000 bis 12 000, sogar 14 000 oder 15 000 Liter können erreicht werden. Das wäre bei 300 Melktagen im Jahr ein Durchschnitt von 46 bis 50 Litern. Pro Tag! Spätestens bei dieser Rechnung versteht man, warum solche Kühe täglich 50 000 Kalorien aufnehmen müssen, obwohl selbst die meist nicht ausreichen. Früher genügten um die 10 000 Kalorien.
Mit natürlicher Evolution hat all das nichts zu tun. Hier wurde – und wird – genetisch nachgeholfen, seit Jahren und Jahrzehnten, in einem Ausmaß, dass inzwischen von Qualzucht gesprochen wird. Und zwar nicht nur bei Tierschützern, sondern insbesondere bei Tierärzten.
Dazu noch mal ein Blick ins Tierschutzgesetz, Paragraf 11b. Sinngemäß verbietet dieser, bei der Züchtung von Tieren Eigenschaften zu fördern oder zu dulden, durch die Schmerzen, Leiden, Schäden oder Verhaltensstörungen entstehen. Klingt unpräzise und schwammig und wird genau so ausgelegt. Ich konnte keinen einzigen Fall finden, der vor Gericht gelandet wäre, nicht im Zusammenhang mit Milchkühen.
Beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft scheint das Problem noch nicht angekommen zu sein. Auf seiner Website sind Tierschutzgutachten und -leitlinien zur Haltung von Hunden, Katzen, Papageien, Zierfischen und Straußenvögeln abrufbar, auch zu Pferden, Zirkustieren und Wild. Zu Rindern findet sich lediglich eine Haltungsempfehlung des Europarats, sie stammt aus dem Jahr 1988. In Artikel 19 heißt es: »Züchtungen und Zuchtprogramme, die entweder bei den Eltern oder bei den Nachkommen zu Leiden oder Schäden führen oder bei denen die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, sollten nicht durchgeführt werden.« Sollten? Das klingt wie ein nett gemeinter Ratschlag.
Sucht man an gleicher Stelle den Begriff »Qualzucht«, bekommt man 19 Ergebnisse angezeigt. Nahezu alle beziehen sich auf Haustiere. Dazu passt die Einschätzung aus einem Gutachten des bereits erwähnten Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik: »Deutschland nimmt beim Tierschutz innerhalb Europas im Gegensatz zur allgemeinen Annahme keine Vorreiterposition ein, sondern befindet sich im ›gehobenen Mittelfeld‹.« Dies beziehe sich sowohl auf die Vollständigkeit von Detailregelungen im Bereich der Nutztierhaltung als auch auf das Regelungsniveau selbst.
Anders die Bundestierärztekammer. Dort existiert seit 2019 eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Qualzucht bei Nutztieren beschäftigt und auch genau so heißt, was schon ein deutliches Statement ist. Einer der Initiatoren, der Veterinärmediziner Holger Martens, Professor a. D. des Instituts für Veterinärphysiologie der Freien Universität Berlin, beschreibt in seinem Buch Das Dilemma der Milchkuh, wie die auf extreme Milchleistungen getrimmte Zucht die Tiere regelrecht kaputtmacht. Ihr Organismus ist überfordert, solche Höchstleistungen zu erbringen. Dauerschwangerschaft und Dauermilchgeben lassen sie abmagern und schwächen ihr Immunsystem, sie werden anfällig für Krankheiten. Kühe haben normalerweise eine Lebenserwartung von über 20 Jahren. Hochleistungsmilchkühe sind meist nach 5 bis 6 Jahren so ausgelaugt oder krank, dass sie ausgemustert werden und auf der Schlachtbank landen. Sie stehen also maximal drei Geburten und drei Milchphasen durch.
Es gibt Ausnahmen: Kühe, die pro Tag zwar weniger Milch geben, das aber acht oder zehn Jahre lang. So schaffen sie eine Lebensleistung von 100 000 Litern oder mehr. Sie werden artgerechter gehalten, sind nicht kaputtgezüchtet zu Milchmaschinen auf wackeligen Beinen. Es sind Kühe, denen Bauern noch Namen geben, die also nicht in industriellen Großställen stehen.
Ich gehe davon aus, dass es intelligente, gut ausgebildete Menschen sind, die es schaffen, vierbeinige Lebewesen in lebende Zapfsäulen zu transformieren. Vielleicht beschäftigen sie sich nicht mit Ethik und Moral, solche Spezialisten trifft man in jeder Branche. Dass sie aber nicht wissen, wohin die Kombination aus einseitiger Züchtung und Dauerüberlastung zwangsläufig führt, halte ich für unwahrscheinlich. Meine Schlussfolgerung ist, dass diese Fachleute mit Vorsatz handeln und die gesundheitlichen Folgen billigend in Kauf nehmen: Gebärmutterentzündung, Stoffwechsel- und Fruchtbarkeitsstörung, Labmagenverlagerung, Euterentzündung, Gewichtsverlust, Trägheit – um nur die häufigsten der sogenannten Produktionskrankheiten zu nennen. Womit wir wieder beim Tierschutzgesetz wären.
Nun könnte man auf die beteiligten Landwirte losgehen, weil sie ein System stützen, für das sie verantwortlich sind. Sie pferchen die überzüchteten Kühe in ihre Ställe und melken sie, bis die Euter wund sind. Trotzdem bin ich sicher, dass sich keiner dieser Milchbauern kranke Kühe wünscht, im Gegenteil. Die meisten von ihnen dürften selbst Opfer sein, vor allem ökonomischer Zwänge: Es wird zu viel Milch produziert, die Konkurrenz ist groß, der Gewinn klein. Letztendlich sind Milchbauern Einzelkämpfer, kleine Räder im großen Getriebe von Molkerei- und Lebensmittelkonzernen, die die Preise diktieren und Milliardenumsätze machen, von Zuchtunternehmen und nicht zuletzt der Pharmaindustrie, die an jedem kranken Tier verdient.
Aber selbst mit gesunden Kühen ist Profit zu machen: Die Umweltorganisation Germanwatch will herausgefunden haben, dass etwa 80 Prozent aller Milchkühe mit Antibiotika behandelt werden, bevor sie ein Kalb zur Welt bringen, prophylaktisch. Und das ist nur ein Beispiel.
Vor Jahren sorgte die Zulassung eines dafür verwendeten Medikaments für Diskussionen. Den Namen unterschlage ich, um nicht noch Werbung dafür zu machen. Seine Wirkung beruht darauf, den Energiehaushalt beim Übergang von der milchlosen Zeit vor der Geburt zur milchintensiven danach so zu stabilisieren, dass die Kuh nicht an Ketose erkrankt, einer schweren Störung des Kohlenhydratstoffwechsels, die unter anderem die Lunge schädigen kann, zu starkem Gewichtsverlust und zur Verringerung der Milchleistung führt. Kurz: Das Medikament wirkt wie Doping, die Milch sprudelt weiter, sogar in größeren Mengen. Klingt eigentlich ganz nützlich, wären da nicht zwei Fakten, die diese Behandlung in einem anderen Licht erscheinen lassen – abgesehen von der Tatsache, dass in der Massentierhaltung generell viel zu viel Antibiotika eingesetzt werden. Erstens: Würde man die Kühe nicht zu diesen gigantischen Milchleistungen optimieren, wie Züchter es gern nennen, bräuchte man ein solches Medikament gar nicht. Das ist keine Behauptung von mir, so bewerten es Tierärzte wie Professor Martens. Das Ketose-Risiko steigt nachweislich mit der Milchleistung. Und zweitens: Der Wirkstoff, der in dem Medikament enthalten ist, wurde vom Hersteller früher als Zusatz für Rinder- und Schweinefutter vermarktet. Aber die EU stufte ihn 2006 als problematischen Stoff ein, der unnatürliches Wachstum fördert, deshalb wurde er verboten. Wie es zur Rolle rückwärts kam? Das kann man in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag nachlesen: Weil der Wirkstoff, so heißt es da, nun nicht mehr einem Futtermittel beigefügt, sondern als Arzneimittel eingesetzt werde, also nicht wie vorher für die Masse bestimmt sei, sondern für die gezielte Behandlung einzelner Tiere, wurde er erneut zugelassen. Diese Argumentation mag plausibel erscheinen, das ist sie aber nicht. Der erste Widerspruch findet sich in der Antwort selbst. Dort steht, dass Ketose aufgrund ihrer Häufigkeit und wirtschaftlichen Bedeutung eine wichtige Rolle spiele. Die Tiere mögen einzeln behandelt werden, aber man kann wohl kaum von wenigen sprechen, wenn im Durchschnitt fast 30 Prozent einer Herde betroffen sind. Der zweite Widerspruch ergibt sich beim Blick auf die Packungsbeilage: Das Medikament soll drei bis vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin verabreicht werden – da ist die Kuh noch gesund. Außerdem: Um das Risiko zu minimieren, Verluste durch die Krankheit zu erleiden, wird ein Milchbauer es bei möglichst vielen Tieren einsetzen wollen.
Bemerkenswert war im Zuge der neuerlichen Zulassung noch etwas anderes. Der Hersteller beantragte gleichzeitig die Heraufsetzung der Grenzwerte für Rückstände des Wirkstoffs in tierischen Lebensmitteln, speziell für Leber und Nieren. Auch das wurde von der zuständigen EU-Kommission durchgewinkt, der Grenzwert für Leber um fast 70 Prozent angehoben, der für Nieren sogar um 400 Prozent. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass es sich bei dem Hersteller um eines der größten Pharmaunternehmen der Welt handelt. Und damit um eines der mächtigsten. Jetzt muss man sich nur noch den Einfluss der Agrarlobby dazudenken, die in Brüssel die Strippen zieht, aber das ist ein anderes Thema.
Wie krank Deutschlands Milchkühe sind, offenbart eine repräsentative Studie, für die ein Forscherteam aus Tierärzten 765 Milchkuhbetriebe mit insgesamt über 180 000 Kühen vier Jahre lang unter die Lupe nahm. Nachdem alle Daten ausgewertet waren, schienen die Veterinäre ziemlich schockiert gewesen zu sein. Zumindest was einige ihrer Befunde betraf, zum Beispiel, dass – je nach Region – bis zu 40 Prozent der Tiere lahmten, im Schnitt jede dritte Kuh. In den meisten Fällen war das auf Klauenerkrankungen zurückzuführen, verursacht durch dauerhafte Druckbelastung beim langen – genauer: zu langen – Stehen (noch dazu auf Spaltenböden) oder infolge unzureichender Klauenpflege oder einer Kombination aus beidem. Auf einigen der am stärksten betroffenen Höfe stießen die Forscher auf ein Phänomen: Je mehr Kühe lahmten und je länger sie das taten, umso weniger fiel es den Landwirten auf. Was anscheinend damit zu erklären ist, dass sie schlicht den Blick dafür verloren. Lahmende Tiere waren irgendwann das normale, weil gewohnte Bild.
Nun klingt Lahmheit nicht besonders dramatisch, tatsächlich aber ist sie mit starken Schmerzen und Stress verbunden, und das über lange Zeiträume hinweg. Die Folge: Das Tier bewegt sich weniger, bleibt länger liegen, kommt nur schwer auf die Beine und frisst nicht genug. Dadurch verfällt es körperlich zusehends und produziert weniger Milch. Wird das Leiden nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, landet die Kuh beim Schlachter. Für den Landwirt ein ärgerliches Minusgeschäft. Und vor allem ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz – gegen gleich zwei Paragrafen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, heißt es in Paragraf 1. Und Paragraf 2 verlangt von Tierhaltern, die Möglichkeit zu artgemäßer Bewegung nicht derart einzuschränken, dass Tieren Schmerzen, vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden. Genau das aber geschieht, jeden Tag, massenhaft. Die ernüchternde Bilanz der Forscher: »… die in der überwiegenden Zahl der Betriebe momentan vorhandenen Haltungs- und Managementbedingungen [sind] nicht geeignet, die Milchkühe langfristig gesund zu erhalten.«
Die Studie, finanziert vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, brachte noch weitere Krankheiten und Verletzungen ans Licht, die nicht ausschließlich, aber häufig auf unzulängliche Haltungsbedingungen zurückzuführen waren. Hier eine Auswahl:
Läsionen am Nacken und am Rücken
Frakturen oder Verrenkungen des Schwanzes
Amputationen desselben, meist nach schweren Verletzungen oder weil die Schwanzspitze abgestorben war
Rippenschwellungen, die auf aktuelle oder zurückliegende Frakturen hindeuteten
Läsionen der Sprunggelenke, davon waren zwei Drittel aller untersuchten Kühe betroffen
Dieser Wert wurde in den meisten der begutachteten Höfe deutlich unterschritten. Zugleich stellte sich heraus, dass Kühe – genau wie Menschen – es am liebsten gemütlich mögen. In den Boxen, die statt einfacher Unterlagen aus Gummi mit weicheren Komfortmatratzen ausgestattet waren, ließen sich die Tiere viel häufiger nieder und blieben auch länger.
Bedenklich auch die Anzahl der Kühe, die als zu mager eingestuft wurden, besonders in der Phase nach dem Abkalben, zu Beginn des Melkens – Stichwort: Ketose. Zudem wurde bei einem Fünftel der Tiere die Sauberkeit der Euter beanstandet. Passend dazu ergab die Befragung der Milchviehhalter, dass bis zu 40 Prozent ihrer Tiere zumindest phasenweise an Milchdrüsen-Entzündungen oder anderen Euterkrankheiten litten, die mit Antibiotika bekämpft werden mussten.
Unappetitlich wird es, studiert man die Ergebnisse der Analysen von Milchproben aus Milchtanks (darin wird sie auf Höfen gesammelt) und von Umgebungsproben, womit unter anderem Kot gemeint ist. Es sollte untersucht werden, ob die Herden von Parasiten oder gefährlichen Bakterien befallen waren. Am häufigsten fanden sich Hinweise auf den Braunen Magenwurm, einen im ausgewachsenen Zustand etwa einen Zentimeter langen Fadenwurm, der direkt übers Weidegras oder frisch geschnittenes Gras im Futtertrog aufgenommen wird, sich in der Schleimhaut des Labmagens, des sogenannten vierten Magens der Kuh, einnistet und sein Unwesen treibt. Tummeln sich dort zu viele Würmer, kann dies heftigen und anhaltenden Durchfall verursachen, das Tier magert ab, schlimmstenfalls stirbt es.
In größerer Zahl nachgewiesen wurden Antikörper, die auf einen Befall mit Exemplaren des Großen Leberegels hindeuteten, einem weiteren Weideparasiten. Groß heißt hier zwei bis vier Zentimeter. Possierlich kann man ihn also nicht nennen, eher hinterhältig. Hat eine Kuh sich dieses saugende Schleimwesen eingefangen (was auch bei Menschen vorkommen kann), arbeitet es sich bis zu den Gallengängen der Leber vor und sorgt für Infektionen und Blutungen. Im schlimmsten Fall wird die Leber angegriffen, bis sie versagt – was einem Todesurteil gleichkommt.