Aufstehen, Krone richten, weitermachen - Glennon Doyle Melton - E-Book

Aufstehen, Krone richten, weitermachen E-Book

Glennon Doyle Melton

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Beschreibung

Jahrelang hielt sich Glennon hinter einer unsichtbaren Mauer aus Heimlichkeiten und Scham verborgen. Niemanden ließ sie an sich heran. Alkohol und Bulimie hatten sie fest im Griff. Doch eines Tages änderte sich alles. Sie öffnete sich dem Leben, nahm ihre Masken ab und stand zu ihren Schwächen. In ihrem Blog schrieb sie über ihre Gefühlswelt. Das sprach sich herum, und der Blog verzeichnete mehr und mehr Zugriffe, wurde schließlich zu einer kleinen Internet-Sensation. Ihre urkomischen und doch ergreifenden Gedanken über das Leben werden inzwischen von Millionen gelesen.

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Über die Autorin

Glennon Doyle Melton hatte seit ihrer Kindheit mit Essstörungen, Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen, bis eine ungeplante Schwangerschaft und eine noch ungeplantere Hochzeit alles veränderte. Ihren Blog (www.momastery.com) begann sie als eine Art Selbsttherapie und war überrascht, wie gut ihre einmalige Mischung aus brutaler Offenheit, herrlichem Humor und großem Tiefgang ankam. Rasch fand Momastery eine riesige Anhängerschaft, und das daraus entstandene Buch wurde zu einem New York Times-Bestseller. Glennon lebt mit ihrem Mann Craig und den drei gemeinsamen Kindern sowie zwei Hunden in Florida.

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Scribner, A Division of Simon & Schuster, Inc., New York,unter dem Titel „Carry on, Warrior: Thoughts On Life Unarmed“.© 2013 by Glennon Doyle Melton © der deutschen Ausgabe 2014 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 AsslarDie Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben,der folgenden Bibelübersetzung entnommen:- Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN)1. Auflage 2014ISBN 978-3-96122-033-5Umschlaggestaltung: Yannick SchneiderUmschlagfoto: ShutterstockSatz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze

Widmung

Eines Abends kam meine Mutter Tisha zu Besuch und fragte mich, ob wir unter vier Augen miteinander reden könnten. Sie wirkte nervös. Wir gingen also in mein Schlafzimmer und setzten uns aufs Bett, beide mit dem Rücken ans Betthaupt gelehnt, und redeten sehr vorsichtig und behutsam über mein Schreiben. Meine Mutter sagte mir, wie schön sie die Sachen fände, die ich schreibe, aber auch, wie schwer es für sie sei, das alles zu lesen. Sie beschrieb, dass es ihr wehtat, von meinem geheimen Leben zu lesen, und wie irritiert sie immer wieder darüber sei, dass all das damals passiert sei, wo wir uns doch alle nach besten Kräften bemüht hätten, einander lieb zu haben. Wir sprachen auch darüber, wie beängstigend es ist, diese Geschichten Fremden zu erzählen.

Wir weinten ein bisschen und lachten auch ein bisschen, aber das Lachen war mit Tränen vermischt. Wir redeten sehr lange, und irgendwann fühlte es sich dann an, als wären wir fertig. Ich war traurig, weil ich am liebsten ewig mit meiner Mutter dort auf dem Bett sitzen geblieben wäre. Und dann sah sie mich an und sagte mit bebenden Lippen und sichtlich voller Angst: „Ich bin so stolz auf dich. Ich bewundere das, was du und Gott zusammen geschafft habt. Du musst deine Geschichten erzählen. Dazu bist du gedacht. Hör nicht auf damit, mein Schatz.“

Es war wie damals, als ich ihr erzählte, dass ich schwanger war und sie auch so große Angst hatte. Aber auch damals hatte sie mich direkt angeschaut und gesagt: „Glennon, du musst ihn nicht heiraten, wenn du nicht willst. Wir können das Kind auch gemeinsam großziehen. Wir schaffen das.“

Es war wie damals, als meine kleine Schwester Amanda verkündete, dass sie nach Afrika gehen würde, um kleine Mädchen zu retten, weil es dort eine Welle von Kindervergewaltigungen gab. Und obwohl meine Mutter schreckliche Angst um Schwester hatte, sagte sie schließlich: „Du musst es tun, also geh.“

Die Leute bezeichnen meine Mutter oft als Engel, aber ich glaube, sie ist eine Kriegerin. Und ich möchte, dass sie eines weiß: Dieses Buch und jedes einzelne Wort, das ich schreibe, ist für sie.

Seid freundlich, denn jeder Mensch, den ihr trefft, hat schwer zu kämpfen.

Rev. John Watson

Dich eingeschlossen.

Glennon

Die Besetzung

Genauso wie Ihre Geschichte ist auch meine nur schwer einer bestimmten Gattung zuzuordnen. Mein Leben ist Tragödie, Komödie, Liebesgeschichte, Abenteuer oder auch die Geschichte einer Rettung, je nachdem, in welchem Jahrzehnt man es anschaut, welche Tageszeit gerade ist oder wie viel Schlaf ich bekommen habe. Die einzige Konstante in meiner Geschichte – sozusagen der rote Faden – ist die Besetzung der Rollen.

Da ist mein Mann Craig, der sich schon bereit erklärt, Freunden beim Umzug zu helfen, bevor er gefragt worden ist. Er tanzt in der Küche, im Bad und im Supermarkt. Er spielt mit unserem Hund Verstecken, wenn die Kinder keine Lust mehr dazu haben. Er behält immer die Ruhe. Wenn die Kinder krank sind, steht er nachts alle zwei Stunden auf, um ihnen Fieber zu messen. Er hält den Mund und die schreienden Babys meiner Freundinnen. Er hat einfach ein goldenes Gemüt.

Durch Chase, meinen Ältesten, hat sich alles verändert, einfach, weil er auf die Welt kam. Meine Töchter Tish und Amma machen mir in erster Linie Angst. Wie soll ich denn kleine Mädchen erziehen, bevor ich mit meinem eigenen Kleine-Mädchen-Ich fertig bin?

Meine Schwester Amanda ist mein rechter Lungenflügel. Wie ich die ersten drei Jahre meines Lebens ohne sie geatmet habe, bleibt mir für alle Zeite ein Rätsel. John, der Mann meiner Schwester, ist mein Bankschließfach. Ich verlasse mich darauf, dass er meinen kostbarsten Schatz bewacht und beschützt.

Bubba, mein Vater, drückt seine Liebe in Worten aus, so wie ich. Meine Mutter Tisha drückt ihre Liebe durch ihr Handeln aus, so wie Craig.

Und dann steht auf meiner Besetzungsliste noch Gott. Ich kann ihn oder sie absolut nicht erklären, weil ich seine/ihre Wege nicht begreife. Ich weiß nur, dass er es ist, der all diese Menschen in mein Leben gestellt hat, und dafür bin ich dankbar.

Aufstehen, Krone richten, weitermachen

Vor ein paar Jahren passierten mir seltsame Dinge. Ich war mitten in einem angeregten Gespräch mit einer Frau, die ich vor Kurzem kennengelernt hatte, da sagte sie in mühsam-scherzhaftem Ton (der aber gar nicht scherzhaft klang), dass unsere Familie ja so „perfekt“ sei, und dass sie sich deshalb selbst immer so schlecht vorkäme. So etwas passierte mir dann in relativ kurzer Zeit noch dreimal mit drei verschiedenen Frauen. Einmal sagte eine: „Du bist so auf dem Punkt, kriegst alles so toll auf die Reihe. Dadurch fühle ich mich immer total unstrukturiert und chaotisch.“

Ich sah meinen Mann Craig, der in dem Moment neben mir stand, irritiert an, und er schaute ebenso irritiert zurück – eine für uns typische Interaktion. Ich stotterte mich irgendwie mehr schlecht als recht durch den Rest des Gesprächs, und auf dem Heimweg redeten Craig und ich dann noch mal über das Ganze.

Wir waren verwirrt. Craig und ich lieben uns wirklich über alles, aber keiner von uns würde den jeweils anderen als jemanden bezeichnen, der „auf dem Punkt“ ist oder „alles so gut auf die Reihe kriegt“. Die besagten Frauen hätten ebenso gut zu mir sagen können: „Meine Güte, bin ich neidisch, dass du so groß bist und so genial kochst.“ (Ich bin stolze 1,60 Meter „groß“ und „Essen auf den Tisch bringen“ bedeutet für mich, einen Anruf zu tätigen, der zur Lieferung einer Mahlzeit führt). Jedenfalls stellten Craig und ich die Theorie auf, dass die Leute offenbar glauben, man hätte die Lösung aller Rätsel des Universums und keine Probleme, wenn man dünn ist und oft lächelt. Wenn man dann außerdem noch trendige Jeans trägt … ja, dann ist es ganz vorbei!

Diese Sache machte mir schwer zu schaffen. Ich möchte nicht, dass andere sich wegen mir schlecht fühlen. Und ich wollte, dass mein Innenleben und das, was ich nach außen zeige, zueinander passen. Gleichzeitig hatte ich ein bisschen Angst, dass ich dann wie Courtney Love rüberkommen würde1. Sie müssen wissen, dass ich eine lange Geschichte mit Bulimie und Alkoholismus habe. 20 Jahre lang habe ich mich mit einem gestörten Verhältnis zum Essen, zu Alkohol, zur Liebe und zu Drogen herumgequält. Ich habe gelitten. Meine Familie hat gelitten.

Ich hatte eine relativ zauberhafte Kindheit, was meine Schuldgefühle noch verstärkte: Glennon, warum bist du so verkorkst, wenn du nicht mal einen Grund dazu hast? Meine Vermutung ist, dass ich schon ein bisschen verbogen auf die Welt gekommen bin und vielleicht auch eine Extradosis Empfindsamkeit mitbekommen habe. Als ich heranwuchs, hatte ich immer das Gefühl, dass mir eine Schutzschicht gegen die Risiken des Lebens fehlte – Risiken wie Freundschaft, Liebe und mögliche Zurückweisung.Ich fühlte mich unwohl, unwürdig und verletzlich. Und ich wollte nicht über das große Schlachtfeld des Lebens gehen, ohne irgendeine Art der Rüstung gegen diese Gefühle zu haben. Ich dachte einfach, dass ich das nicht überleben würde. Deshalb habe ich mir meine eigene kleine Welt der Süchte erschaffen und versteckte mich darin. Dort fühlte ich mich sicher. Nichts und niemand konnte mich berühren.

Dann änderte sich alles. Am Muttertag des Jahres 2002 bemerkte ich, dass ich schwanger war. Süchtig, solo und schwanger. Abwechselnd starrte ich auf den Schwangerschaftstest in meiner Hand und meine blutunterlaufenen Augen im Spiegel, während ich versuchte, diese Wahrheiten übereinander zu kriegen: Ich bin eine Säuferin. Ich bin allein. Ich bin schwanger.

Und weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst tun sollte, betete ich. Und zwar auf die einzige Art, die ich kenne: Unter Klagen und Anschuldigungen und Ausreden und Tränen und wilden Versprechungen. Als ich mich endlich wieder vom Badezimmerboden erhob, beschloss ich, von nun an Mutter zu werden. Ich ging durch die Tür und schwor mir, nie wieder einen Drink, eine Zigarette, eine andere Droge, eine ungesunde Beziehung oder einen Fressdurchbruch auch nur in Erwägung zu ziehen. Dieser Schwur war sehr schwer zu halten.

In einem wahren Wirbelsturm der Ereignisse heiratete ich einen Mann, den ich (in nüchternem Zustand) keine zehn Mal gesehen hatte. Das sollte sich als die beste Entscheidung herausstellen, die ich jemals nicht bewusst getroffen habe.

In dieser Zeit damals habe ich entdeckt, dass ich stark bin. Das war die erste Wahrheit, die ich jemals über mich herausgefunden habe. Außerdem fand ich heraus, dass Mutter zu sein und ohne Süchte zu leben sehr schwierig ist. Ich fragte mich immer, ob das wohl anderen Frauen auch so schwerfällt wie mir.

Eines Tages war ich dann mit Tess, einer neuen Freundin aus der Gemeinde, und unseren Kindern auf dem Spielplatz. Ich hatte den Verdacht, dass Tess ernsthafte Eheprobleme hatte, auch wenn wir darüber noch nie gesprochen hatten. Schließlich gab es sehr viel wichtigere Themen – wie beispielsweise das Fußballtraining der Kinder oder mögliche neue Strähnchenfarben. Ich fand es schrecklich, dass unsere Gespräche so oberflächlich blieben. Offenbar waren wir nicht in der Lage, über die wirklich wichtigen Dinge zu reden.

Völlig frustriert dachte ich an all die Zeit und Mühe, die ich investiert hatte, um Schutzschichten zwischen meinem gebrochenen Herzen und einer zerbrochenen Welt aufzubauen. Ich dachte daran, wie ich zu anderen Menschen auf Abstand gehe – weil ich Angst habe, dass sie mich noch mehr verletzen könnten, als ich es ohnehin schon bin. Die es vielleicht abstoßend fänden, wenn sie wüssten, wie ich wirklich bin. Meine Angst davor, erkannt und durchschaut zu werden, hatte mich dazu getrieben, mich jahrzehntelang im Bunker der Drogen zu verschanzen, und als ich schließlich wieder daraus hervorgekrochen kam, trug ich meine Geheimnisse und meine Scham und meine Unverwundbarkeit wie eine Rüstung. Ich hatte das Leben schon immer als Überlebenskampf empfunden.

Doch dort auf dem Spielplatz wurde mir plötzlich klar, dass mir das nackte Überleben nicht mehr genügte. Als ich dort mit Tess saß, wurde mir klar, dass ich eigentlich nicht mit Tess dort saß. Es waren so viele Schichten von ihrer Rüstung und von meiner Rüstung zwischen uns, dass wir einander gar nicht mehr berühren konnten. Und selbst wenn wir es gewollt hätten, wären wir einander nicht nah genug gekommen, weil wir uns gegenseitig mit Geschichten von unserem „perfekten“ Leben bombardierten.

Plötzlich kam mir das alles völlig absurd vor. Ja, ich war mittlerweile clean und aus dem Bunker gekommen, aber indem ich meine Vergangenheit vor anderen verbarg und mich mit einem Schild aus Geheimnissen und Scham schützte, isolierte ich mich selbst. Ich war einsam und ein bisschen gelangweilt, denn ein Leben, in dem man nicht mit anderen in Berührung kommt, ist schrecklich öde. Mir wurde klar, dass die Schlachten des Lebens am besten ohne Schild und ohne Waffen geschlagen werden; dass das Leben erst dann echt, gut und interessant wird, wenn wir all die Schutzschichten, die wir um unser Herz herum gebildet haben, entfernen und nackt hinausgehen.

Ich fragte mich: Ob Tess ihre Waffen wohl auch niederlegt, wenn ich es als Erste tue?, und kam zu dem Schluss, dass es einen Versuch wert war. Ich legte also meine Rüstung ab und hisste die weiße Flagge. Und plötzlich hörte ich mich zu Tess sagen: „Du solltest wissen, dass ich viele Jahre lang alkohol- und drogensüchtig war und eine Essstörung hatte. Ich bin wegen dieser Sachen sogar schon verhaftet worden. Craig und ich haben ziemlich überstürzt geheiratet, nachdem ich ungewollt schwanger geworden war. Wir lieben uns sehr, aber ich habe schreckliche Angst davor, dass meine Probleme mit dem Sex und meine Wut irgendwann alles kaputt machen. Manchmal bin ich traurig und neidisch, wenn anderen Leuten etwas Gutes passiert. Ich schnauze regelmäßig fremde Menschen, meine Kinder und meinen Mann an. Unter der Oberfläche bin ich eigentlich ständig wütend, und zurzeit macht mir eine postnatale Depression zu schaffen. Den größten Teil des Tages wünschte ich, meine Kinder würden mich auch mal in Ruhe lassen. Chase hat mir neulich einen Zettel gegeben, auf dem stand: ‚Ich hoffe, Mama ist heute nett.‘ Das ist deprimierend und erschreckend, weil ich mich ständig frage, was passiert, wenn dieses Gefühl nie wieder weggeht. Vielleicht komme ich einfach nicht klar mit dem Muttersein. Ich wollte, dass du das alles weißt.“

Tess starrte mich danach so lange an, dass ich mich fragte, ob sie jetzt unseren Pastor oder den Notruf alarmieren würde. Dann sah ich, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen. Und dann ließ auch sie die Deckung fallen. Um die Beziehung zu ihrem Mann stand es offenbar richtig, richtig schlecht. Tess hatte furchtbare Angst und fühlte sich einsam, aber an jenem Tag auf dem Spielplatz kam sie zu dem Schluss, dass sie lieber Hilfe suchen wollte, als von mir für perfekt gehalten zu werden.

Wir kannten uns kaum, aber uns war klar, dass wir das zusammen durchstehen würden. In den darauffolgenden Monaten durchlebten wir gemeinsam eine sehr schwere Zeit – Therapie, Trennung, Wut, Angst und viele Tränen. Aber eine kleine Armee der Liebe bildete eine Wagenburg um Tess und ihre Familie und verhinderte, dass jemand zu weit hinein- oder hinausgelangte. Und irgendwann wurde es dann besser. Tess, ihr Mann und ihre Kinder sind immer noch zusammen, und ihre Familie wird langsam heil und gedeiht. Und ich habe das alles miterleben dürfen. Ich habe wirklich gesehen, wie die Wahrheit eine Familie frei gemacht hat.

Zu diesem Zeitpunkt wollte ich unbedingt zusätzlich zu meiner Arbeit in der Familie ehrenamtlich etwas Sinnvolles und Hilfreiches tun, aber niemand wollte mich haben. Immer wieder wurde ich abgelehnt. Als Erstes, als wir einen Adoptionsantrag stellten und wieder und wieder einen negativen Bescheid bekamen. Dann versuchte ich es als ehrenamtliche Helferin in einem Seniorenheim vor Ort. Man schien dort begeistert von mir – bis mein Hintergrund überprüft wurde. Danach hörte ich nichts mehr von der Einrichtung. Vielleicht glaubte die Pflegeheimleitung, ich wollte die alten Leute heimlich zu Sauforgien verführen. Dann versuchte ich es in einem Frauenhaus in unserem Wohnort. Es sah ganz so aus, als ob sie mich dort haben wollten – bis zum letzten Bewerbungsgespräch, in dem die Dame sagte: „Es ist nur eine Formalität, aber ich muss Sie fragen, ob Sie schon einmal verhaftet worden sind.“ Es war ein bisschen schwer zu erklären, dass das nur fünf Mal passiert war. Auch von dieser Einrichtung hörte ich nie wieder etwas.

Ich war deprimiert.

Aber dann passierte die Sache mit Tess, und ich dachte, dass es das ja vielleicht für mich wäre. Vielleicht konnte mein Dienst für die Allgemeinheit darin bestehen, dass ich den Leuten die Wahrheit über das sagte, was in mir los war. Dabei wurde mir klar, dass für diese spezielle ehrenamtliche Arbeit meine Polizeiakte sogar von Vorteil sein könnte, denn das machte mich wohl irgendwie glaubwürdiger. Und ich überlegte, ob mein Talent fürs Geschichtenerzählen und meine Schamlosigkeit vielleicht die Begabungen sind, die Gott in mich hineingelegt hat. Ich bin nämlich wirklich schamlos. Ich schäme mich beinahe schon dafür, wie wenig ich mich schäme. Aber nur beinahe.

Ich kam also zu dem Schluss, dass es das ist, was Gott von mir will: dass ich mein Leben lebe und den Leuten die Wahrheit sage – ohne Maske, ohne Verstecken, ohne So-tun-als-ob. Genau das würde mein Ding sein. Ich würde dafür sorgen, dass sich die Leute in Bezug auf ihr Inneres besser fühlten, indem ich ihnen meines zeigte. Indem ich ganz ich selbst war.

Bei meinen trendigen Jeans bin ich allerdings geblieben, weil ich finde, dass sie untrennbar zu meinem wahren Ich gehören.

Ein paar Tage nachdem ich Craig gesagt hatte, dass ich ehrenamtlich als „radikale Wahrheitssagerin“ tätig werden würde, rief mich der Pastor meiner Gemeinde an. Mein erster Gedanke war, dass Tess mich verpetzt hatte, aber das war nicht der Fall. Er war von ganz allein darauf gekommen und sagte: „Ich weiß, dass du gerade eine schwere Zeit durchmachst mit deinem Baby, und vielleicht findest du meine Idee auch nicht gut, aber ich möchte dich bitten, dass du deine Geschichte der ganzen Gemeinde erzählst. Der ganzen Gemeinde. Von vorne. Live und in Farbe.“

Craig kam ins Schwitzen und schaute sicherheitshalber noch einmal in seinen Arbeitsvertrag, ob er dafür gefeuert werden konnte, dass er mit einer Ex-Straffälligen verheiratet war.

Ich schrieb meine Geschichte auf, ohne etwas auszulassen. Das las ich dann meiner Gemeinde vor, und es lief richtig, richtig gut. Die Leute waren geschockt. Es macht so viel Spaß, Leute zu schockieren. Viele wollten hinterher mit mir zusammen weinen und mir ihre Geschichten erzählen, und ich dachte: Nimm das, Altersheimleitung! Ich wollte sowieso nicht eure blöde Limonade verteilen. Bekommt man etwa Standing Ovations und Freudentränen fürs Getränkeausschenken? Wohl kaum.

Ich hatte mein Ding gefunden: Offenheit.

Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen kam ich zu dem Schluss, dass es viel mehr Spaß macht, Sachen zu erzählen, durch die andere Frauen neue Hoffnung für sich selbst und in Bezug auf Gott schöpfen, als Dinge zu sagen (oder eben nicht zu sagen), die bei anderen Leuten Neid oder Minderwertigkeitsgefühle auslösen. Und außerdem ist es viel einfacher. Man muss nicht ständig aufpassen, dass man immer dasselbe erzählt und dass alles stimmig ist.

Ein paar Monate später fing ich an zu schreiben, damit ich noch mehr Menschen hemmungslos meine Wahrheit erzählen konnte. Nachdem mein Vater ein paar von meinen Texten gelesen hatte, rief er mich an und sagte: „Glennon, findest du nicht, dass du ein paar Sachen lieber einfach mit ins Grab nehmen solltest?“

Ich dachte einen Moment lang intensiv nach und antwortete dann: „Nein. Eigentlich nicht. Das klingt ja furchtbar. Ich möchte gar nichts mit ins Grab nehmen. Ich möchte verbraucht und leer sterben. Ich möchte nichts mit mir herumschleppen, was nicht unbedingt sein muss. Ich möchte mit leichtem Gepäck reisen.“

Als ich nüchtern wurde, wachte ich auf und trat zum ersten Mal hinaus ins wirkliche Leben. Ich war 26 Jahre alt, aber weil ich seit meinem achten Lebensjahr versteckt gewesen war, sah ich die Welt mit den Augen eines Kindes. Ich war voller Staunen und Angst. Mein Herz öffnete sich für die Schönheit und die Brutalität der Welt. Ich schaute mir die Menschheit und ihre ganze Zerbrochenheit aus der Nähe an und beschloss, ihr und auch mir selbst zu vergeben. Weil Menschen nun mal zerbrochen sind, schien mir die einzige Möglichkeit, in Frieden zu leben, darin zu bestehen, jedem Menschen – auch mir selbst – permanent zu vergeben. Ich entschied, dass ich mich für nichts zu schämen brauchte. Mit den Möglichkeiten, die ich gehabt hatte, hatte ich es so gut gemacht, wie ich konnte. Von jetzt an würde ich es besser machen. Meistens wenigstens.

Dieses neue Lebensgefühl der Vergebungsbereitschaft und Hoffnung machte es mir zum ersten Mal möglich, einem anderen Menschen von ganzem Herzen zu vertrauen, und deshalb heiratete ich. Wie sich bald herausstellte, ist die Ehe schwere und heilige Arbeit. Aber ich erlebte auch, dass ich schwere Dinge schaffen kann. Ich machte die Erfahrung, dass ich würdig und fähig dazu war, die Konstante im Leben eines anderen Menschen zu sein. Und dieses Selbstvertrauen half mir dabei, größere Kreise zu ziehen. Ich bekam Chase, Tish und Amma. Ich wurde ein aktiver Teil der Gemeinschaft. Und ich wandte mich an Gott: den größten, den ultimativen Kreis – den Einen, der uns alle zusammenhält.

Ich begriff, dass diese konzentrischen Kreise – mich selbst zu akzeptieren, dann meinen Partner, meine Kinder, meine Gemeinschaft und meinen Glauben – die einzigen Schutzschichten waren, die ich brauchte. Diese Kreise waren mein Leben, und ich befand mich in der Mitte: nackt und ehrlich und nüchtern und zerbrochen und unvollkommen vollkommen. Ein Kunstwerk im ständigen Entstehen.

Je mehr ich mich den Menschen innerhalb meiner Kreise öffnete, desto mehr wuchs meine Überzeugung, dass das Leben zu gleichen Teilen brutal und schön ist. Beides. Das Leben ist brutal schön. Wie die Sterne an einem schwarzen Nachthimmel funkelt das Schöne erst vor einem dunklen Hintergrund. Wenn wir das Brutal-Schöne des Lebens miteinander teilen, dann fühlen wir uns nicht mehr so allein und haben auch nicht mehr so viel Angst.

Die Wahrheit lässt sich weder mit Essen noch mit Alkohol oder Sport oder Arbeit oder Ritzen oder Shoppen lange wegdrücken. Der Versuch, sich vor der Wahrheit zu verstecken führt zu einer ganz eigenen Form von Leid, und es ist ein einsamer Schmerz. Das Leben ist schwer – und zwar nicht, weil wir es falsch anpacken, sondern weil es eben einfach schwer ist.

Dieses Buch ist meine Geschichte, und ich hoffe, dass es auch Ihre ist. Es handelt davon, wie ich meine Kreise gebildet habe, wie ich ein Leben aufgebaut habe – und was es für mich bedeutet, immer wieder aufzustehen, meine Krone zu richten und weiterzumachen.

1 Die Witwe des berühmten Nirvana-Sängers Kurt Cobain, der sich 1994 selbst erschoss. Die Ex-Stripperin und Sängerin der Rockband Hole sorgt immer wieder für Skandale rund um Drogen, Alkohol und Obszönitäten.

AUFWACHEN

Schwestern

Meine Entscheidung, nüchtern zu werden, war eher eine Kapitulation aus Erschöpfung als ein mutiger Aufbruch in die Schlacht. Nachdem ich zum tausendsten Mal zugelassen hatte, dass mein Leben in tausend Teile zerbrach, hatten meine Mutter Tisha und mein Vater Bubba eigentlich eine liebevolle Intervention geplant. Aber dann fand ich heraus, dass ich mit Chase schwanger war, und mir wurde klar, dass mir die Menschen und die Alternativen ausgingen. Zum besagten Zeitpunkt schien es der Weg des geringsten Widerstands zu sein, nüchtern zu werden.

Ich rief meine Schwester an und sagte: „Schwester, tu, was du immer tust“ – nämlich herauszufinden, was jetzt zu tun ist, und dann dafür zu sorgen, dass es auch passiert. Ein paar Stunden später sammelte sie mich kaputtes Etwas ein und fuhr mit mir zu meinem ersten Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA).

Schwester hielt mich an meiner zitternden, schwitzenden Hand und ging voraus, um nachzuschauen, ob es Probleme oder Menschen gab, vor denen sie mich schützen musste. Das macht sie immer so. Während wir auf den Beginn des Treffens warteten, nahm sie eine Broschüre über die Arbeit der Anonymen Alkoholiker vom Tisch, damit wir etwas hatten, woran wir uns festhalten konnten.

Vorn auf der Broschüre waren die typischen Hinweise dafür aufgeführt, dass möglicherweise eine Alkoholsucht vorliegt:

• Trinken Sie mehr als vier Gläser hintereinander? Einmal habe ich das nicht gemacht.

• Trinken Sie schon morgens? Nur am Wochenende.

• Haben Sie manchmal „Filmrisse“? Ich kann mich nicht erinnern.

• Hat Ihr Trinken schon negative Folgen für Sie gehabt? Dass ich hier bin, scheint mir doch eine ziemlich negative Folge zu sein.

Wir sagten beide kein Wort, bis sich Schwester zu mir herüberbeugte und flüsterte: „Ich weiß nicht, ob AA für dich ausreicht. Wir brauchen vielleicht doch eher AAA.“

Als wir nach dem Treffen wieder zu Hause waren, setzten wir uns auf mein Bett, und ich schaute mir das Chaos auf dem Schlafzimmerboden an. In den Jahrzehnten, in denen ich Alkoholikerin war, habe ich wie ein Schwein gehaust. Mein Zimmer war ein Bermudadreieck aus Stilettos, Tops, Weinflaschen, Aschenbechern und alten Zeitschriften. Ich hatte die ultimative Wegwerfmentalität. Alles, was irgendwie in mein Leben gelangte, war für mich austauschbar: Kleider, Chancen und auch Menschen. Mein Schlafzimmer sah aus, als ob sich mein Inneres über den Boden ergossen hätte.

Nachdem wir eine Weile einfach schweigend dagesessen hatten, stand Schwester auf und fing an, die Sachen ein Teil nach dem anderen vom Boden aufzusammeln. Sie entsorgte die Weinflaschen und die Zigaretten, sie legte die Tops zusammen und warf die alten Zeitschriften weg. Erst schaute ich ihr eine Zeit lang nur zu, und dann machte ich mit. Wir hängten jedes Kleidungsstück auf einen Bügel, wischten jede verstaubte Fläche sauber und leerten jede versteckte Schnapsflasche aus.

Zwei Stunden arbeiteten wir so Seite an Seite, bis alles geschafft war. Dann setzten wir uns wieder auf das Bett und hielten uns bei der Hand. Mein Zimmer sah jetzt völlig anders aus. Es sah aus wie ein Ort, an dem vielleicht jemand gern wohnen würde. Ich fragte mich, ob wohl auch mein Kopf und mein Herz eines Tages Orte sein würden, wo ich gerne war.

Das war der Beginn.

Heilige Löcher

Das Leben ist die Suche nach etwas, was nicht zu finden ist.

Das ist das Problem. Das Leben ist irgendwie eine Mogelpackung. Wir werden in die Welt hineingeschubst, brauchen aber etwas, das es hier gar nicht gibt. Und das ist, wie meine Freundin Adrianne sagen würde, ganz schön scheiße. Die Schriftstellerin Anne Lamott, die ich auch die „heilige Anne“ nenne, bezeichnet diesen unstillbaren Durst als inneres „Loch, das genau die Größe Gottes hat“.

Fromme Menschen glauben, dass Gott uns hier in diese Welt gestellt hat und wir uns die ganze Zeit nach etwas sehnen, das es nur im Himmel gibt: nämlich nach ihm. Das kapiere ich ja irgendwie, aber es kommt mir trotzdem ein bisschen pervers vor. Das ist doch so, als wenn ich meine Tochter Amma in ihr Laufställchen setze und dann ihren Schnuller so hinlege, dass sie ihn sehen, aber nicht erreichen kann.

Was soll dieses ganze Leben, wenn wir nicht das bekommen können, was wir brauchen? Was sollen wir denn bis zu unserem Tod machen mit unseren inneren „gottförmigen Löchern“? Wie sollen wir denn mit so einem blöden großen Loch in unserem Inneren hier unten jemals einigermaßen zurechtkommen?

Weil ich sehr langsam lerne, habe ich 20 Jahre lang versucht, mein gottförmiges Loch mit schädlichen Dingen zu stopfen. Als ich noch sehr, sehr jung war, habe ich versucht, es mit Essen zu füllen. Essen war mein Trost, meine Zuflucht und meine Freude. Essen war mein Gott. Aber da war auch mein Wunsch, schön zu sein. Und schön zu sein bedeutete nach meiner Überzeugung, dünn zu sein und die richtigen Klamotten zu tragen. Natürlich hat beides nicht viel mit wirklicher Schönheit zu tun, aber wie gesagt, ich war noch sehr jung.

Da ich nach meinem eigenen Maßstab nicht schön war, wollte ich mich am liebsten verstecken. Aber als Kind oder Jugendliche gibt es kein Versteck, denn man muss dort hingehen, wohin einen die Erwachsenen schicken, und zwar so, wie man aussieht und in den Klamotten, die man gekauft bekommt. Ich wurde also jeden Tag so unvollkommen und speckig losgeschickt, wie ich war, und alle konnten mich so sehen. Sich so zu geben, wie man ist, ist für jemand so Junges schlicht unmöglich. Also beschloss ich, dass ich, wenn ich schon so sichtbar sein musste, auf jeden Fall dünner werden musste.

Aber wie soll man seine innere Leere mit Dünnsein füllen, wenn man sich gleichzeitig mit Essen vollstopfen muss?

Die Antwort darauf bekam ich mit acht Jahren, als ich im Fernsehen einen Film über Bulimie sah. Der Film war eigentlich als Warnung gedacht, aber für mich war er ein Himmelsgeschenk. Es gab also doch eine Methode, wie man weiterhin Essen als Trost und Flucht benutzen konnte, ohne mit den gewichtigen Folgen leben zu müssen! Nach dem Film futterte ich den Kühlschrank leer und erbrach mich dann zum ersten Mal absichtlich. Die Bulimie war wunderbar, denn wenn ich einen Fressanfall hatte, spürte ich mein Unbehagen und meine innere Leere nicht so. Doch wenn ich dann fertig war mit dem Kotzen und völlig erschöpft im Bad auf dem Boden lag, dann fühlte sich das Loch in meinem Inneren noch viel größer an.

Daran merkt man, dass man sich mit den falschen Dingen vollstopft: Man verbraucht eine Menge Energie, und am Ende fühlt man sich leerer und unwohler denn je.

Die Bulimie war unschön, aber immer noch einfacher als das wirkliche Leben. In meiner eigenen kleinen dramatischen Welt des Essens und Kotzens fühlte ich mich sicher. Also stieg ich aus dem Leben aus und in die Bulimie ein. Fast 20 Jahre lang habe ich mich mehrmals täglich vollgestopft und mich danach erbrochen. Ich füllte das innere Loch und leerte es wieder. Erst als ich 26 war, kehrte ich wieder ins Leben zurück. Aber das Leben ging trotzdem weiter, wie es das immer tut.

Ich war in der siebten Klasse, als ich bei meiner Freundin Susie übernachten durfte und wir uns abends heimlich aus dem Haus schlichen, um auf eine Highschool-Party zu gehen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Bier trank, aber dafür gleich so viel, dass ich einen totalen Filmriss hatte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, dass ich überhaupt auf dieser Party war, aber man erzählte mir später, dass ein paar Oberstufenschüler versucht hätten, meine Hände in der Mikrowelle zu erhitzen. Nach der Party musste ich mich bei Susie zu Hause die ganze Nacht übergeben, und am nächsten Tag rief ich meine Mutter an und sagte ihr, ich hätte die Grippe und sie müsse mich abholen. Sie war verständnisvoll … und ich war süchtig. Alkohol war eine weitere Möglichkeit, nicht mehr alles mitzubekommen, sich noch ein Stückchen mehr aus dem Leben zurückzuziehen. Ich wurde schnell Alkoholikerin, und zwar zum einen wegen einer gewissen familiären Vorbelastung und zum anderen, weil man von etwas, was man nicht braucht, nie genug kriegt.

In meinem Abschlussjahr auf der Highschool verbrachte ich eine Zeit lang in der Psychiatrie. Ich hatte mittlerweile seit neun Jahren Bulimie, und die Gesprächstherapie half nicht, wahrscheinlich in erster Linie, weil ich in den Sitzungen darüber sprach, wie gut es mir ginge und dass das Wetter doch toll sei.

Und dann aß ich eines Tages, es war ein stinknormaler Mittwoch, mittags in der Schule zu viel und hatte das Gefühl, sterben zu müssen. Das Gefühl, satt zu sein, war für mich nämlich gleichbedeutend mit dem Tod. Ich geriet in Panik, weil ich keinen Ort fand, wo ich mich übergeben konnte, und so kam ich dort mitten auf dem Gang in der Highschool zu dem Schluss, dass es mir nicht gut ging, ganz und gar nicht gut. Ich marschierte schnurstracks ins Büro meines Vertrauenslehrers und sagte: „Rufen Sie bitte meine Eltern an. Ich muss in eine Klinik. Ich kriege das nicht hin. Ich brauche Hilfe.“

Ich war in der Schülervertretung für fast tausend Schüler, ich war eine gute Sportlerin, ich war recht hübsch, ich war klug und scheinbar auch selbstbewusst. Mein Status in der Schule war super, ich hatte schon Schulveranstaltungen organisiert und war beliebt bei Lehrern und Mitschülern.

Menschen, die Hilfe brauchen, sehen manchmal kein bisschen hilfsbedürftig aus.

Mein Vertrauenslehrer rief also meine Eltern an, die auch sofort kamen und einen Platz für mich fanden, wo mir geholfen werden sollte. Ich denke oft daran, wie dieser Tag wohl für sie gewesen sein muss. Vielleicht hätten sie am liebsten gesagt: „Nein, nein, es wird schon wieder! Keine Klinik! Wir sind doch deine Eltern! Wir bekommen das auch so wieder hin!“ Aber das taten sie nicht. In dem Augenblick, als ich den Mut hatte, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauchte, glaubten sie mir, und trotz des Schocks, des Schmerzes und des Stigmas, das damit verbunden war, kümmerten sie sich darum, dass ich genau die Hilfe bekam, um die ich gebeten hatte.

Damals gab es noch kaum Therapien speziell für Essstörungen, also kam ich auf eine ganz normale psychiatrische Station. Dort gab es außer mir nur noch zwei weitere Patientinnen mit Essstörungen. Die anderen Patienten waren schizophren, drogensüchtig, depressiv oder suizidgefährdet, und viele von ihnen waren auch gewalttätig. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich vor einem von ihnen Angst gehabt hätte, aber ich erinnere mich sehr wohl daran, dass ich vor so ziemlich jedem auf meiner Highschool Angst hatte.

Wir machten Kunsttherapie, Tanztherapie und Gruppentherapie, und alles, was dort lief, leuchtete mir ein. Das, was meine Mitpatienten erzählten, leuchtete mir ebenfalls ein, auch wenn es Dinge waren, die die Gleichaltrigen in meinem „normalen“ Leben nie, nie gesagt hätten. Jeder war verpflichtet, den anderen ausreden zu lassen, und es gab Regeln, wie man richtig zuhört und wie man auf Äußerungen von Mitpatienten reagiert. Wir lernten, wie man sich in jemanden hineinversetzen kann und wie man den Mut findet, selbst etwas zu sagen. Alles, was ich dort lernte, fand ich besser als den Schulunterricht, und es kam mir auch viel sinnvoller vor. Wir lernten, wie man sich um sich selbst und um andere kümmert.

Am Morgen meiner Entlassung zitterte ich vor Angst. Ich wusste, dass ich noch nicht so weit war, aber dass ich trotzdem gehen musste, weil ich niemals so weit sein würde. In der Klinik war das Leben so viel einfacher und sicherer als draußen. Ich fand das Leben da drinnen machbar. Draußen kam es mir so vor, als ob jeder für sich allein kämpfte.

Ich wurde trotzdem entlassen und musste gehen – das mussten alle dort. Ich machte meinen Schulabschluss und ging dann aufs College, wo ich meinen Strategien zum Umgang mit dem „inneren Loch“ noch Haschisch und Marihuana hinzufügte. Aber auch das funktionierte nicht besonders gut. Meine Freunde und ich setzten uns hin, rauchten Haschisch oder Marihuana, und die anderen fingen an zu kichern und zu chillen – nur ich nicht. Ich geriet sofort in Panik. Meine Blicke schossen hektisch durch den Raum, und ich schaute ständig zur Tür, weil ich sicher war, dass jeden Moment die Polizei oder meine Eltern auftauchen würden. Die anderen lachten nur und sagten: „Was ist denn bloß los mit dir?“, und ich weinte, weil alle über mich lachten und ich nicht wusste, weshalb.

Meine Fressattacken, Alkoholexzesse und der Drogenkonsum dienten eigentlich dem Zweck, mein Denken abzuschalten, aber das Kiffen bewirkte lediglich, dass ich noch viel schneller und mehr und verrückteres Zeug dachte. Außerdem ist es für einen Menschen, der von Natur aus paranoid ist und sich ständig selbst beobachtet, absolut qualvoll, sich mit anderen zusammen zu bekiffen. Ich bin jemand, der anderen gefallen und es ihnen recht machen will, und ich frage mich permanent, wie die anderen mich wohl finden. Aber wenn ich bekifft war, konnte ich nicht mehr schauspielern. Vielleicht machen Leute das ja genau deshalb – um nicht mehr zu schauspielern, sondern einfach nur sie selbst zu sein und das gut zu finden. Doch für mich war das unmöglich. Ich war absolut besessen davon, wie ich bei anderen ankam. Daher nervte ich meine Freunde mit meinen ständigen Bitten um Rückmeldung, was ich so machte und wie ich wirkte, wenn ich high war. Zupf dir am Ohrläppchen, wenn ich zu laut rede. Kontrollier alle zehn Minuten, ob ich mir in die Hose gemacht habe. Muss ich die Person da begrüßen? Was würde ich jetzt normalerweise machen? Würde ich aufstehen? Würde ich ihr die Hand geben? Würde ich sie umarmen? Oder einfach sitzen bleiben? Mag ich diese Person? Mag sie mich? Von diesen Brezeln krieg ich Durst.

Auch Haschisch und Marihuana füllten das innere Loch also nicht, im Gegenteil, sie weiteten es aus und ich war unsicherer als je zuvor. Es war an der Zeit, zu den Halluzinogenen überzugehen und mit „Zauberpilzen“ weiterzumachen.

Haschisch und Marihuana hatten mich paranoid gemacht, aber von den Pilzen wurde ich komplett wahnsinnig. Als ich einmal abends zu Hause Pilze konsumiert hatte, unterhielt ich mich den ganzen Abend mit der Popsängerin Carmen Electra. Sie kam aus dem Poster herausgesprungen, das in der Wohnung meines Freundes hing, bei dem ich gerade wohnte, und setzte sich in ihren schicken Hotpants zu mir, ebenfalls in Hotpants, um mir Gesellschaft zu leisten. Wir waren beide besorgt wegen etlicher Entscheidungen, die wir in unserem Leben getroffen hatten, aber mit unserem Modestil waren wir d’accord. Es entwickelte sich eine richtige Kameradschaft zwischen uns – ein echt nettes Mädchen, diese Carmen. Aber auch wenn ich ihren Besuch wirklich schätzte, war (am nächsten Tag) klar, dass sie nicht real war.

Und eines Tages kam dann wie ein finsterer Prinz auf einem Schimmel das Kokain in mein „Nicht-Leben“ getrabt. Kokain war genau das, worauf ich gewartet hatte. Kokain war ein Traum. Es kam ziemlich nah an eine Lochfüllung heran. Ein paar Stunden lang löschte es meine Unsicherheit komplett aus. Es machte mich lustig, energiegeladen, faszinierend und charmant, und es gab mir das Gefühl, ein tolles Geheimnis zu kennen. Wenn es Kokain gab, was eigentlich immer der Fall war, dann kamen ein paar von uns im Hinterzimmer irgendeiner Party zusammen und konsumierten es, und wir kamen erst wieder zum Vorschein, wenn kein Stoff mehr da war. Manchmal schlichen ein Freund und ich uns in sein Zimmer, zermörserten seine rezeptpflichtigen ADHS-Tabletten und snifften das Pulver. Ich habe keine Ahnung, was das in unserem Körper anrichtete, außer dass es uns mit der Nase darauf stieß, wie fertig und überdreht und unglaublich dumm wir waren.

Wenn die Wirkung nachließ, hätte ich alles gegeben, um high zu bleiben, denn dann erinnerte ich mich wieder an das Loch, das dann größer denn je war.

Aber so panisch ich mich auch mit allem zudröhnte, was gerade zur Verfügung stand – Alkohol, Drogen, Sex –, irgendwann ging die Sonne wieder auf. Wie ich den verdammten Sonnenaufgang hasste! Der Sonnenaufgang war Gott, der jeden Morgen vorbeikam, um sein Licht auf mein Leben scheinen zu lassen, und Licht war wirklich das Allerletzte, was ich wollte.

Also ließ ich alle Rollläden herunter und versuchte, den Tagesanbruch zu verschlafen. Ich legte mich hin mit Herzrasen von all den Drogen, das Bett drehte sich vom Alkohol, und ich starrte an die Decke und konnte meine Gedanken nicht abstellen. Ich dachte daran, wie meine Eltern jetzt aufstanden und zur Arbeit gingen, um Geld für meine Seminare und Vorlesungen am College zu verdienen, die ich nicht besuchte. Ich dachte an meine Freundschaften, die eine nach der anderen kaputt gingen. Ich dachte an meine Schwester, mit der ich nicht mehr redete, weil ich auf ihre simple Frage „Wie geht es dir?“ keine Antwort wusste. Ich dachte daran, dass ich kein Geld hatte, keine Zukunftspläne und einen Körper, der genau wie mein Geist und meine Seele langsam aufgab. Mein Hirn quälte mich stundenlang, während draußen diese Sonne aufging und alle anderen ihren Tag begannen. Ihren Tag. Ich hatte keinen Tag. Ich hatte nur Nacht. Das waren die schlimmsten Augenblicke meines Lebens – diese Sonnenaufgänge im Bett meines College-Freundes.

Während eines dieser Sonnenaufgänge saß ich allein auf dem Klappsofa und sah mich in dem versifften dunklen Zimmer um. Ich lebte dort mit ihm, weil alle meine anderen Freunde inzwischen ihr Studium abgeschlossen hatten. Sie hatten den nächsten Schritt in ihrem Leben vollzogen und standen jetzt im Berufsleben. Sie führten ihr Leben im Hellen, bei Licht, und ich saß immer noch im dunklen Keller.

An diesem Morgen dachte ich ernsthaft daran, mich umzubringen. Selbstmordgedanken sind ein blinkendes Neonschild, das einem sagt, dass man das innere Loch mit den falschen Dingen zu stopfen versucht.

Ich vergleiche Gottes Liebe gern mit dem Sonnenaufgang. Die Sonne geht jeden Morgen wieder auf, egal wie schlimm man sich in der Nacht aufgeführt hat. Sie scheint, ohne zu verurteilen. Sie hält sich nicht zurück. Sie wärmt die Guten und die Bösen, die Junkies und die Cheerleader, die Heiligen und die Heiden gleichermaßen. Man kann sich vor der Sonne verstecken, aber das nimmt sie nicht persönlich. Sie bestraft einen niemals dafür, dass man sich vor ihr verbirgt. Man kann Jahre oder sogar Jahrzehnte lang im Dunkeln bleiben, und wenn man dann irgendwann hervorkriecht, ist sie immer noch da. Sie ist die ganze Zeit da gewesen und hat geschienen.

Sie ist immer noch da – hell und beständig – und wartet darauf, dass du es bemerkst und herauskommst, um dich von ihr wärmen zu lassen. All die Jahre habe ich gedacht, dass Gott und sein Licht mich verurteilen würden, aber das stimmte gar nicht. Der Sonnenaufgang war meine tägliche Einladung von Gott, wieder ins Leben zurückzukommen.

Dazu war ich aber nicht bereit. Noch nicht. Also setzten Gott und die Sonne ihre Nachtwachen fort, während ich mich noch fast zehn weitere Jahre mit Essen, Alkohol und Drogen zudröhnte. Ich machte meinen Collegeabschluss – was mich in Bezug auf diese Bildungsstätte ebenso dankbar wie misstrauisch macht – und wurde Lehrerin. Meine Liebe zu den Schülern füllte mich acht Stunden am Tag aus, und ich bekam sogar Auszeichnungen für meinen Unterricht. Ich war das, was man als „funktionstüchtige Süchtige“ bezeichnet. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch einmal wiederholen, dass Menschen, die Hilfe brauchen, manchmal kein bisschen hilfsbedürftig aussehen.

Außerhalb der Schule machte ich mit meiner Selbstzerstörung weiter. Ich reizte meinen Dispokredit bis zum Anschlag aus, um durch Einkaufen Erfüllung zu finden. Ich verwechselte Sex mit Liebe und wurde schwanger. Nach einem verstörenden Tag in einer Abtreibungsklinik war ich allein zu Hause. Das Loch in meinem Innern wurde so groß, dass ich ganz darin verschwand. Ich lernte Craig kennen, aber bald schon wurde deutlich, dass wir uns gegenseitig herunterzogen. Wir nahmen ständig Drogen und tranken wie Goldfische.

Und dann, eines Tages, wachte ich auf und mir war speiübel. Es war der Muttertag des Jahres 2002 und ich war 25 Jahre alt. Wieder einmal torkelte ich zur Apotheke und kaufte mir einen Schwangerschaftstest, kam wieder nach Hause, pinkelte auf das Teststäbchen, starrte drei Minuten lang auf meine zitternden Hände und dachte ... nichts. Ich dachte absolut gar nichts.

Ich schaute auf den Test hinunter und sah, dass er positiv war. Positiv. Ich war schwanger. Ich war eine hoffnungslos bulimische, alkoholkranke Drogensüchtige, die bald Mutter werden würde. Und ich betete. Ich saß einfach dort auf dem Boden und schrie lautlos: Hilf mir, Gott, bitte hilf mir.

Das Loch in meinem Inneren war immer größer geworden, immer größer, so lange, bis Gott genau hineinpasste. Und dann kam er tatsächlich hinein. Wenn man nur noch aus einem Loch besteht, dann passt Gott perfekt.

Am Nachmittag des besagten Tages hörte ich auf zu rauchen, Drogen zu nehmen, zu trinken und zu fressen. Ich wachte auf. Ich heiratete Craig. Ich bekam ein Baby und dann noch eins und dann ein drittes. Ich wurde Lehrerin. Ich wurde Autorin. Ich wurde eine gute Schwester und Tochter und Freundin. Ohne all das Fressen und Kotzen hatte ich irgendwann Normalgewicht und begann mich schön zu fühlen. So eine Verschwendung von Zeit und Zahnschmelz! Ich wurde eine Frau des Glaubens. Es war ein schwankender, zweifelnder, verwirrter Glaube, aber es war ein Glaube.

Ich habe in meinem Inneren immer noch ein gottförmiges Loch. Aber ich fülle es jetzt mit weniger schädlichen Dingen, die allerdings auch nicht wirklich effektiv sind. Zum Beispiel kaufe ich noch immer zu viel. Mein Vater Bubba bezeichnet das als „Shopping-Bulimie“. Ich werde innerlich ganz kribbelig und fühle mich unwohl, und statt mich einfach hinzusetzen mit diesem Gefühl und mich zu fragen, was es mir sagen will, und es zu nutzen, um mich weiterzuentwickeln, mache ich mich auf den Weg ins nächste Einkaufszentrum und genieße den Adrenalinkick eines Kaufrauschs. Wenn ich wieder zu Hause bin, habe ich dann solche Schuldgefühle, dass ich wieder ins Einkaufszentrum fahre und im übertragenen Sinne kotze, indem ich all die gekauften Sachen wieder zurückgebe. Am Ende des Tages bin ich müde und frustriert und leer, weil ich jede Menge Energie verbraucht, aber null bleibende Befriedigung erlangt habe.

Ich ziehe auch gern mal um. Ich fange an, mich rastlos und leer zu fühlen, und statt daran zu denken, dass das Leben eben manchmal unbehaglich und rastlos und leer ist, egal, wo man ist, meine ich, dass ein neues Haus oder ein neuer Bundesstaat möglichst ganz weit weg das Tor zur Glückseligkeit ist. Ist es aber nicht. Wohin man auch geht, man ist ja selbst dabei. Die innere Leere kommt mit. Nervtötend!

Shoppen und Umziehen bringt also nichts, aber ein paar Dinge habe ich entdeckt, die wirklich helfen: Schreiben, Lesen, Wasser, Spaziergänge, mir alle zwei Minuten selbst vergeben, einfache Yoga-Übungen, tief durchatmen und meine Hunde kraulen.

Diese Dinge erfüllen mich nicht ganz und gar, aber sie erinnern mich daran, dass es gar nicht meine Aufgabe ist, mir selbst Erfüllung zu verschaffen. Meine Aufgabe besteht lediglich darin, meine Leere zu bemerken und annehmbare Möglichkeiten zu finden, als gebrochener, unerfüllter Mensch zu leben – und vielleicht mir selbst und anderen dabei zu helfen, uns ein ganz klein wenig besser zu fühlen.