Aufstehen und weitermachen - Fatima Dyduch Tissafi - E-Book

Aufstehen und weitermachen E-Book

Fatima Dyduch Tissafi

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Beschreibung

«Aufstehen und Weitermachen. Ein Leben für die Kochkunst» ist ein Plädoyer an das Leben. Es ist eine fesselnde Biografie von Erich Häusler (geb. 1946) - dem Starkoch aus Hamburg, der den ersten Michelin-Stern in die Hansestadt geholt hatte. Sein abenteuerlicher Weg von Vorarlberg über Paris nach Hamburg wird im historischen Kontext der Nachkriegsjahre dargestellt und vermittelt emotionsgeladene Lebensweisheiten sowie einen unbändigen Lebenswillen. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen im privaten, beruflichen Umfeld und der geopolitischen Entwicklung in Europa und der Welt ist diese Schlüsselkompetenz heute besonders aktuell. Tauchen Sie ein in die spannungsgeladene Reise eines Meisterkochs mit seinem Lebenscredo: «Stets weiterzumachen, auch wenn alles verloren zu sein scheint!»

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WIDMUNG

Für all diejenigen, die den Mut haben, aufzustehen und weiterzumachen, wenn alles verloren zu sein scheint.

Für all diejenigen, die mich durch die verschiedenen Stationen meines Lebens begleitet und unterstützt haben.

Für all diejenigen, die stets an mich geglaubt haben, und all diejenigen, die trotz Niederlagen an die Kraft in sich selbst und an das Gute im Menschen glauben.

Erich Häusler

Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann

»Unsichtbare Wegweiser«

PROLOG

Geburt und Kindheit – Hoffnungszeichen der Nachkriegszeit

Da bin ich

Ich will ein guter Junge sein

Papa ist der Lehrer – ich kann nicht weg

Ein Ort, wo ich frei bin

Traumata der Kindheit

Mama muss stark sein

Ich bin schockverliebt

Schreckensfahrt mit Papa

Angst vor dem betrunkenen Opa

Eng, bedrückend, lebensfeindlich

Das tue ich alles aus Liebe zu dir

Die Kunst der Improvisation

Gehorsam – das oberste Gebot

Mit Miniholzsarg durch die Straßen

Jugendzeit – Aufbruch

Pinkfarbener Plastikumschlag

Schlimmer kann es nicht werden

Ich kann ihn nicht riechen

Jugendstreiche können böse enden

Geschenk mit unabsehbaren Folgen

Heiliger Schwur

Mein Kartenhaus bricht zusammen

Liebe auf den ersten Blick

Einer für alle – alle für einen

Ein Hauch von Freiheit

Ruf des Abenteuers

Weg in eine unbekannte Zukunft

Lehrzeit in der aufstrebenden Nachkriegszeit

Die Stunde der Entscheidung

Aufnahmeprüfung

Nun kann es losgehen

Mein Stigma

Wer nicht hören will, muss fühlen

Butterbrot mit fatalen Folgen

Neues Zuhause

Lass dich durch nichts abschrecken

Erste Liebe

Auf Wolke sieben

Sich selbst treu bleiben

Täglicher Nervenkrieg

»Tout es possible«

Erster Kuss

Abschluss im Hotel Central

Paris – eine unbekannte Zukunft

Ruf des Abenteuers

»Bonjour Paris«

Jungkoch auf Jobsuche

Fataler Fehler

Von unsichtbarer Hand geleitet

200 Kilo Sauerkraut täglich

Ich brenne darauf, Neues zu lernen

Willkommen in der Vergangenheit

Wie ein König

So klein ist die Welt

Ein Erfolg jagt den anderen

Gefühlskarussell

Kurzes Glück

»Au revoir Paris, mon amour!«

Hochzeit mit Hindernissen

Das Fass läuft über

Kein Aprilscherz

Alte Normen

Tötende Blicke

Dornröschenschlaf

Fortuna ist uns wohlgesonnen

Hamburg, die Stadt der Zukunft

Wer nichts wagt, der nichts gewinnt

Der Dom, der keine Kirche ist

Das ist ungenießbar

Feuertaufe

Heute ist dein Glückstag

Schneedesaster in Hamburg

Zwei Seiten einer Medaille

Küche brennt – alle raus!

Das Leben geht weiter

Berufliche Weiterentwicklung

Im Bann des Großmeisters

Erst geben, dann empfangen

Alles, was das Herz begehrt

Wettlauf von Zeit, Präzision und Exzellenz

Das Unfassbare geschieht

Fischmarkt - ein Fest der Sinne

Geheime Hummer-Aktion

Wie Schuppen von den Augen

Es gibt nichts, was es nicht gibt

Totales Blackout

Nichts ist mehr wie vorher

Damit ist Schluss

Grundbedürfnisse eines Menschen

Anders als geplant

Unausweichliche Entscheidung

Erster Michelin-Stern in Hamburg

Zu viel Arbeit – zu wenig Bezahlung

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Aufgeben ist keine Option

Die Chance packen

Ein Tag, den ich nie vergesse

Legen Sie los

Unter den Besten der Besten

Ich glaube an dich

Im Krill-Rausch

Vom Sternekoch zum Schüler

Meisterschule in Hamburg

Meisterprüfung

Totaler Kontrollverlust

Crest Hotel am Stadtpark: Food-Cost-Spezialist

Eine neue Ära beginnt

»Goodbye and have a nice day«

Wer zahlt, bestimmt

Leichter gesagt als getan

Wem es nicht passt, der kann gehen

Lektion fürs Leben

Außer Spesen nichts gewesen

Fisch-Papst

Das Glück streckt mir die Hand aus

Reichshof – Traditionsbetrieb in Hamburg

Jahreswechsel mit Folgen

Glück im Unglück

Die skurrile Aufnahmeprüfung

Zurück zur Brigadeküche

Im Universum der Gastronomie

Loyalität siegt

Elfriede lebt auf

Hochexplosiver Moment

Gratwanderung zwischen Tradition und Innovation

Mission im hohen Norden

Alle Mann festhalten

Familienferien auf Föhr

Sich selbst treu bleiben

Mit Udo Lindenberg ist immer was los

Es braucht Ethik und klare Werte

Als Gastdozent gefragt

Ausnahmezustand: Zerreißprobe in der Familie

Geld ist nicht alles, doch mit Geld lebt es sich leichter

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Wiederholung des Schicksals

Machtlos ausgeliefert

Suche in die falsche Richtung

Gift für eine Beziehung

Ausnahmezustand

Vernichtende Diagnose: David gegen Goliath

Das Schicksal ist mir wohlgesonnen

Volle Pulle voraus

Raus aus der Unterdrückung – rein in die Selbstständigkeit

Plötzlich schachmatt

Vernichtende Diagnose

Aufgeben ist keine Option

Kampf gegen Goliath

Neuer Aufwind in den Segeln

Zurück als Lehrer

Neue Aussichten

Den Erfolg ernten andere

Gut Ding will Weile haben

Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum

Es gibt für mich kein Zurück!

Geduld macht sich bezahlt – oder auch nicht?

Der Schein trügt

Aufgeben oder Weitermachen

Erfolg hat seinen Preis

Ins kalte Wasser springen

Blütezeit

Verheerende Wendung

So geht es nicht weiter

punkt.genau

Unerwartete Begegnung

Das hatten wir noch nie

Ein rauschendes Fest

Alles hat einmal ein Ende

Ich stehe auf

EPILOG

Die Liebe zur Kochkunst

Wie alles begann

Am 12. Januar 2023 besuchte ich unseren Familienfreund Erich Häusler. Nach einem köstlichen Abendessen ›à la Erich Häusler‹ sagte er plötzlich: »Vor einigen Jahren hast du mich ermutigt, meine Lebenserfahrungen aufzuschreiben.«

Ich erinnerte mich gut daran. Seine außergewöhnliche Resilienz hatte mich stets beeindruckt. In meinem Beruf bin ich mit vielen Lebensgeschichten in Berührung gekommen und weiß, wie wertvoll es ist, diese zu bewahren. Doch was dann geschah, überraschte mich. Er reichte mir einen Ordner und fragte: »Ich habe einen Anschlag auf dich vor! Wärst du bereit, meine Biografie zu schreiben?«

Am 24. Februar 2023 entschied ich mich, diese Herausforderung anzunehmen. Eine spannende literarische Reise begann.

Ich danke Erich Häusler für sein Vertrauen und die gelungene Zusammenarbeit während des Schreibprozesses.

Ich wünsche allen, die dieses Buch lesen, viel Vergnügen und Inspiration.

Fatima Dyduch Tissafi

»Unsichtbare Wegweiser«

Patrick Diehr, Inhaber & Geschäftsführer DIE KOCHfabrik GmbH, Hamburg

Es ist eine besondere Fügung des Lebens, wenn uns Menschen begegnen, die uns auf unserem Weg begleiten und prägen. Sie sind wie unsichtbare Wegweiser, die uns leiten, stärken und ermutigen, auch wenn wir es erst viel später erkennen.

Für mich ist Erich genau das: mein Mentor. Jemand, der mir während meiner Lehrzeit begegnet ist und der mich dazu ermutigt hat, mein Potenzial zu entfalten. Denn manchmal reicht ein einziger Satz, um uns zu zeigen, dass wir mehr sind, als wir glauben: »Bleib am Ball, Junge, aus dir wird mal was!«

Ich erinnere mich noch ganz genau an Erichs Worte und hatte damals schon das Gefühl, dass dieser Moment bedeutungsvoll für meine Zukunft werden sollte. Gerade hatte ich als 15-jähriger Lehrling meine erste Seezunge filetiert und mit Kräutersauce und tournierten Kartoffeln zubereitet. Für seinen Zuspruch und seine Fähigkeit, mir den Glauben an mich selbst zu schenken, bin ich Erich für immer dankbar. Er hat nicht nur meine kulinarischen Fähigkeiten geformt, sondern auch meinen Blick auf die Welt und meine Einstellung zu Herausforderungen. Wäre er Schreinermeister gewesen, wäre ich heute sicherlich ein guter Tischler. Aber glücklicherweise war mein Vorbild Koch, und ich konnte meine Leidenschaft zu meinem Beruf machen. Als Köche kreieren wir nicht nur Gerichte, sondern inspirieren Menschen und berühren Herzen.

PROLOG

Ich liege erschüttert und gelähmt im Bett, als 1988 der Präsident in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul der Welt zuruft: »Ich erkläre die Spiele von Seoul für eröffnet.« Mit diesen Worten wird die 24. Olympiade der modernen Zeitrechnung feierlich eröffnet. Das Olympiafeuer wird entzündet, und 2.400 weiße Tauben steigen als Boten des Friedens in den Himmel auf.

Ich gehöre nicht zu den rund 3 Milliarden Menschen, die voller Spannung und Sportgeist die Eröffnungszeremonie im Fernsehen mitverfolgen. An diesem dramatischen 17. September erlebe ich im wahrsten Sinne des Wortes, wie mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Ich sehe keine Friedenstauben, sondern einen Himmel schwarzer Schauerwolken über mir zusammenbrechen.

»Sie werden nie wieder laufen können!«, höre ich die Worte des Arztes, als er in mein Zimmer zur Visite kommt. »Sie werden Ihr Leben lang behindert bleiben, es tut mir leid. Wir haben während der OP alles getan, was möglich war!«

Seine Worte dringen in mich ein wie ein unbarmherziger Bohrer in eine harte Betonmauer. Doch bevor sie sich tief in mein Hirn bohren, entgegne ich bestimmt: »Ich werde wieder laufen können!« Und ich wiederhole voller Überzeugung: »Ich werde wieder laufen können!«

Unnachgiebig, doch mit einem kurzen Hauch von Mitgefühl, zieht er schweigend die Decke von meinen Füßen weg und fordert mich auf: »Dann bewegen Sie doch bitte die Zehen.«

Ich schaue auf meine Füße und verstehe die Welt nicht mehr. Ich gebe ihnen den Befehl, sich zu bewegen, doch nichts passiert. Das kann doch nicht sein! Das ist unmöglich! Ich sehe meine Füße, aber ich spüre sie nicht. Bestürzt höre ich mich ängstlich und verzweifelt zum Arzt sagen: »Ich bin gelähmt. Ich kann mich nicht bewegen! Was haben sie gemacht?«

Als die Fackel des Olymps das Stadion bei der Eröffnungsfeier in Seoul erreicht, ist es die dunkelste Stunde meines Lebens. Ich bin im Schock und weine bitterlich. In Seoul wissen alle Beteiligten: 16 Tage lang wird die Flamme die Athleten an den olympischen Geist appellieren. Das Feuer erinnert an Apollon, der in der Antike als Sonnengott verehrt wurde. In der griechischen Mythologie wird ihm die Kraft zugeschrieben, mit seinem strahlenden, klärenden Licht die Welt von Übel, Dunkelheit und Krankheit zu reinigen. Seine Kraft – im olympischen Feuer versinnbildlicht – mahnt zu sportlichem Wettkampf und Fairness, wenn um die 237 Goldmedaillen gerungen wird.

An jenem Samstag, den 17. September 1988, entscheide ich mich, den Kampf gegen die vernichtende Diagnose aufzunehmen. »Ich werde wieder laufen können!«, so mein fester Entschluss.

Kindheit – Hoffnungszeichen der Nachkriegszeit

Da bin ich

Klein, zart, abhängig und neugierig auf das Leben. Die Kriegsschauer und Schrecken liegen noch in der Luft, als ich 1946 das Licht der Welt erblicke – das gleiche Jahr, in dem die berühmten Bregenzer Festspiele ihre Geburtsstunde haben. Nur ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg.

Es ist ein Jahr voller Widersprüche in der österreichischen Stadt Bregenz am Bodensee: überall sichtbare Spuren des Krieges, des Leids, aber auch der Hoffnung. Menschen, gezeichnet von den Strapazen und Entbehrungen, kommen aus der Gefangenschaft zurück. Darunter mein Vater und mein Onkel. Menschen, hungrig nach Kultur und Musik, die voller Sehnsucht den Klängen des ersten Festspieles lauschen. Menschen wie ich, die weder Gestern noch Morgen kennen und im gleichmäßigen Rhythmus ganz im Heute versunken die ersten Atemzüge machen. Als ich von meiner Mutter in warme Kissen gehüllt, unter einen duftenden Nadelbaum, bunt mit Kugeln geschmückt und mit Silberlametta behängt, gelegt werde, ist Freude und Hoffnung in der Luft. Die achtstündige schwere Geburt scheint vergessen zu sein. Es ist ein klirrend kalter und schneereicher Dezember in Bregenz. Der Heilige Abend steht bevor.

»Eine schöne Bescherung, ein Christkind ein Geschenk des Himmels«, ruft Onkel Josef, mein späterer Taufpate, entzückt.

Wir wohnen in einem einfachen Zuhause bei Oma und Opa. Es stehen zwei Kühe und drei Ziegen im Stall. Milch und Fleisch ist garantiert, und niemand in der Familie muss Hunger leiden. Essen wird im Topf oder in der Pfanne zubereitet. Es wird einfach auf den Tisch gestellt. Alle essen mit dem Löffel oder der Gabel direkt aus dem Topf.

Heute am Festtag stellt Oma nach und nach die Hähnchen auf den Tisch. In der Wohnküche gibt es einen Laufstall unter einem Lampenschirm mit Glühbirne. Die Lampe ist auf 4 Ziegelsteine gestellt, so können sich die 20 Küken wärmen und munter unter dem Licht tummeln. Meine Eltern sind glücklich. Sie haben zwar noch kein Einkommen und sind mittellos, doch heute fühlen sie sich reich und stolz. Sie sind stolz, einen Sohn zu haben, mich Erich, dessen Abenteuer des Lebens an dem heutigen 21.12.1946 beginnt.

Ich will ein guter Junge sein

Die Nachkriegsjahre sind geprägt von Aufbau, Arbeit und dem Streben nach einem besseren Leben. Meine Eltern sind sehr fleißig, sparsam und wissen, was richtig und falsch ist – sie kennen es nicht anders.

Nach einer kurzen Ausbildung ist mein Vater Lehrer in einer Dorfschule nahe Bregenz. Meine Mutter, gelernte Säuglingsschwester, ist eine hingebungsvolle und gehorsame Frau und sorgt für unser Wohl. Ich fühle mich behütet, doch am liebsten bin ich inmitten der Natur. Von Klein auf beobachte ich alles, was kriecht, kreucht, blüht, quakt und singt. Das Leben ist spannend. Ich entdecke schon bald, wie viel spannender es ist, es mit jemandem zu teilen.

1950, in dem Jahr, in dem der Bau des Festspielhauses in Bregenz beginnt und die erste Seilbahn auf den Pfänder – einen bekannten Aussichtspunkt der Region – eröffnet wird, bekomme ich einen Bruder. Die Stadt und ihre Bewohner befinden sich in Aufbruchstimmung. Auch ich spüre Euphorie, als meine Mutter mir eines Tages mitteilt: »Erich, du bekommst ein Geschwisterchen.«

Ich bin stolz wie Oskar. Mit 4 Jahren sage ich am Tag seiner Geburt: »Ich bin dein Beschützer!«

Ich bestaune den kleinen Wolfgang und sehe ihn ununterbrochen an. Keiner darf ihm zu nahe kommen. Eines Tages nehme ich meinen Mut zusammen und spaziere mit dem Kinderwagen ins nächste Dorf. »Hör mal, Wolfgang, wie wunderbar die Vöglein singen«, sage ich zu ihm. In mein Glück versunken, werde ich durch eine laute Stimme von der anderen Straßenseite aus meinen Gedanken gerissen.

»Du bist doch der Sohn des Lehrers.« Große Aufregung um mich herum, kein liebliches Vogelgezwitscher mehr. Die Nachbarin ist sichtlich ungehalten, belehrt mich, dass ich nie weglaufen darf, reißt mir den Kinderwagen aus der Hand und bringt mich und Wolfgang pflichtbewusst nach Hause.

»Mach das nie wieder!«, belehrt mich mein Vater verärgert. Ich wollte Wolfgang doch nur beschützen und ihm die Landschaft sowie die Vögelein zeigen. Ab diesem Tag darf ich nicht mehr alleine mit ihm spazieren gehen.

An einem regnerischen Nachmittag will ich Mama helfen. Ich nehme eine Dose Nivea-Creme von der Kommode und verstreiche sie vorsichtig und voller Tatendrang über das ganze Gesicht meines Bruders. Mama macht dies jeden Tag, dann muss sie es heute nicht mehr tun. Ich bin stolz und überzeugt, dass Mama sich freut. Leider ist weder sie noch mein Vater glücklich darüber. Einige Wochen später starte ich einen dritten Versuch. Vorsichtig und konzentriert schneide ich Wolfgang seine erste Lockenpracht ab. Ich verstehe weder Mamas entsetztes Gesicht, als ich ihr mein Werk zeige, noch verstehe ich, dass auch das nicht gut ist. Mama schneidet mir ja auch die Haare. Ich lerne zu gehorchen und mich anzupassen. Ich will ein guter Junge sein.

Papa ist der Lehrer – ich kann nicht weg

Ich komme in die öffentliche Volksschule und bin stolz. Endlich kann ich zeigen, dass ich ein guter Junge bin. Die Schule ist kostenlos. Ich bin der Einzige in der Klasse, der 24 Stunden seinen Lehrer um sich hat. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet.

In der Nachkriegszeit gibt es aus Mangel an qualifizierten Lehrern eine Form von Gesamtschule. Bis zu vier Klassen mit Schülern unterschiedlichen Alters tummeln sich am ersten Schultag in einem Klassenzimmer. Ein Lehrer unterrichtet alle Fächer von Lesen, Rechnen, Sport bis hin zu den Naturwissenschaften. Ob ein Lehrer mit Schlägen die Schüler bestrafen darf, weiß in dieser Zeit keiner so recht. Schaden soll es nicht, so die allgemeine Volksmeinung.

Ich freue mich auf meinen ersten Schultag. Papa ist mein Lehrer, und mein Schulweg dauert nur eine Minute, weil wir beim Schulhaus wohnen. Andere Kinder müssen viele Kilometer zu Fuß laufen. Ich bin privilegiert, so sagen meine Mitschülern. Im ersten Schuljahr gibt es viel zu beobachten und nachzuahmen, mit all den Schülern unterschiedlichen Alters in einer Klasse. Ich vermisse die freie Zeit in der Natur, die zirpenden Grillen, die gackernden Hühner, aber es macht mir Spaß, das ABC zu lernen und mit einem Griffel auf die Schiefertafel zu schreiben. Ich will besonders schön schreiben, dann hat Papa Freude. Ich sitze mit meinen Kameraden im Schulflur und übe die Buchstaben.

»Jetzt will ich das Einmaleins üben«, sage ich zu meinem Nachbarn, und wir stehen auf und gehen in das Klassenzimmer. Dort übt eine Gruppe am Rechenbrett mit Perlen, und eine andere Gruppe auf der gegenüberliegenden Seite liest laut vor. Mir gefällt es, von einer Gruppe zur nächsten zu gehen. Das finde ich aufregend. Es gibt so viel zu lernen und zu entdecken.

Eines Morgens möchte ich zu Hause bleiben. Ich habe Angst, in die Schule zu gehen. Ich möchte wieder zu Oma und Opa, dort ist es schön. Das leise Wimmern und Schluchzen von gestern vernehme ich nach wie vor in meinen Ohren. Ich sehe, wie Papa in der Mitte des Klassenzimmers steht. Er sieht aus wie ein Riese, mein Blick ist ängstlich auf ihn gebannt. Mein gleichaltriger Freund muss ihm die Hände hinhalten. Es gibt 10 Tatzen mit dem Rohrstock auf den Handrücken. Ich schaue zu und empfinde bei jedem Schlag zuckende Schmerzen, als ob mir diese Schläge gelten. Ich möchte weglaufen, aber Papa ist der Lehrer. Ich kann nicht weg!

Ein Ort, wo ich frei bin

Wenn Papa zum Stock greift, vergesse ich alles. Ich spüre, wie ich die Kontrolle über die Situation verliere, dann kann ich weder rechnen noch schreiben. Innerhalb von Sekunden ist alles verschwunden.

Aus innerer Not heraus finde ich einen Ort, wo Papa nicht hinkommt. Wenn ich träume, kann nur ich dort hin und fühle ich mich da sicher. »Hör auf, zu träumen!« ist ein Satz, den ich immer öfter höre.

Ich bin wieder einmal in meine Tagträume versunken, als ich von unserer Wohnstube aus nahe am Waldrand ein riesiges Wildschwein aus dem Wald auf unser Haus zurasen sehe. Es läuft durch den Garten am Gebäude vorbei und auf der anderen Seite mit voller Wucht durch den Naturzaun hindurch bis in die Moorwiese. Dort verschwindet es in meinem geliebten Moor. Auf der Moorwiese blühen Sumpfdotterblumen, Trollblumen und Schwertlilien. Oft pflücke ich für Mama einen Wiesenblumenstrauß, denn sie liebt die bunten Sommerblumen.

An einem warmen Sommertag beobachte ich an einem Wegrand die Insekten auf den Blumen und sehe neben mir plötzlich eine Schlange eingerollt in der Sonne liegen. »Mama, schau mal, die Schlange«, rufe ich ihr zu. Sie rennt in Windeseile zu mir, reißt mich fort und ruft erschrocken: »Die darfst du niemals anfassen!«

»Aber Opa hat mir doch eine Schlange auf den Bauch gelegt. Er hat gesagt, sie ist harmlos«, erwidere ich.

Mama erklärt mir: »Das war eine Blindschleiche, aber dies ist eine giftige Kreuzotter.« Von diesem Tag an fürchte ich mich vor jeder Schlange. Trotzdem bleibt Opa mein bester Lehrer. Ich verbringe viel Zeit mit ihm. Er erklärt mir die verschiedenen Tiere. Schmetterlinge, Käfer, Eidechsen und Insekten. Er begeistert mich mit seinem Wissen über die Tiere und die Natur.

Von Oma lerne ich viel über die Blumen, Sträucher und Bäume. Wenn die Beerenfrüchte reif sind, zeigt sie mir, wie sie gepflückt werden. Ich bin glücklich, alles zu erforschen und auszuprobieren.

Mit der Zeit fange ich an zu erkennen, dass die Natur neben den vielen schönen auch gefährliche Seiten hat. Als meine kleine Freundin Herta vom Bauernhof eines Tages eine Schachtel getrockneter Zwetschenkerne mitbringt, sitzen wir auf der Steintreppe der Schule und schlagen diese mit einem Stein auf, um an die Nüsse zu gelangen. »Hm, die schmecken aber gut«, sage ich zu Herta. Nach dem Genuss einiger Kerne fühle ich mich elend, mir ist schlecht und ich verliere das Bewusstsein. Mama sieht zufällig aus dem Fenster, wie ich ohnmächtig zu Boden sinke. Sie eilt sofort herbei und ruft einen Arzt. Kurze Zeit später wache ich in meinem Bett auf und habe starke Kopfschmerzen. Der Arzt diagnostiziert eine Blausäurevergiftung, die ich glimpflich überstehe. Ich esse nie wieder Zwetschgenkerne. Doch mein Forscherdrang bleibt unersättlich. Alles ergründe ich mit Neugier und Leidenschaft. Doch den Folgen bin ich mir oftmals nicht bewusst. So wie an jenem Donnerstag, als ich in der Pause ein nasses Gummiband an eine brennende Glühbirne drücke. Die Glühbirne zerplatzt vor meinem Gesicht in 1000 Scherben und Splitter. Glücklicherweise bin ich nicht verletzt. Doch die Schelte meines Papas empfinde ich als ebenso heftig wie das Zerplatzen der Glühbirne. Wenn die Angst in eine Kinderseele Einzug hält, breitet sie sich aus wie ein Spinnennetz. So war es bei mir.

Traumata der Kindheit

Bregenz ist Teil der französischen Besatzungszone. Die Bevölkerung ist zunächst nicht begeistert von der Vorstellung, unter einer ausländischen Macht zu leben. Im Laufe der Zeit verbessern sich die Beziehungen zwischen den Franzosen und der Bevölkerung. Die Soldaten bemühen sich, beim Wiederaufbau zu helfen und Hand anzulegen, wo Hilfe gebraucht ist. Manchmal greifen sie zu ungewöhnlichen Mitteln, die mich zutiefst traumatisieren.

An einem warmen Maitag sehe ich viele Soldaten in Tarnanzügen mit Mulis. Der Altreuteweg führt an Omas Haus vorbei. Jeder Soldat hält sich am Schwanz eines Mulis fest, um sich den steilen Weg zum Pfänder hochziehen zu lassen. Aus der Ferne höre ich die hell klingenden Kirchenglocken. Sie vermögen es nicht, die gequälten Laute der Esel zu übertönen. »Ihr Tierquäler!«, schreie ich die Soldaten erbost an. »Lasst sofort die Tiere los!« In diesem Moment richtet einer der Franzosen drohend sein Gewehr auf mich und ruft: »Fous le camp petit Bastard!« (Verschwinde, kleiner Bastard). Verzweifelt und voller Angst renne ich um mein Leben.

Einige Wochen später, ich bin gerade mit meinen Freunden in Gedanken versunken auf dem Heimweg vom Baden im Bodensee, höre ich eine laute Männerstimme schreien: »Hände hoch!« Vor uns steht ein Soldat. Er richtet sein Gewehr auf uns und wird begleitet von einer Gruppe Soldaten, die plötzlich hinter den angrenzenden Schützengräben hervorstürmen. Wir sind umringt. Vor Schreck bleiben wir wie angewurzelt stehen. Nach einigen Sekunden, die mir wie Stunden vorkommen, lachen uns die Männer laut aus, und der Soldat lässt sein Gewehr sinken. In einem aggressiven Ton droht er: »Faites attention les enfants!« (Passt bloß auf, ihr Kinder.)

Ich vergesse niemals, wie wir voller Angst und ohne anzuhalten nach Hause rennen. Diese Schreckensbilder sind für immer in mich eingebrannt. Noch heute empfinde ich eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber Krieg, Gewalt und aufgezwungenem Gehorsam.

Mama muss stark sein

Die wirtschaftliche und politische Lage entwickelt sich in Bregenz und Vorarlberg langsam, aber stetig. Es ist eine Zeit des Wiederaufbaus und der Erneuerung. Um die Region auf eigene Beine zu stellen, werden das Straßennetz ausgebaut, Häuser renoviert und der Tourismus als Wirtschaftszweig entdeckt. Die Schönheit der Landschaft, die Sauberkeit der Luft und das kulturelle Angebot tragen dazu bei, dass sich Bregenz zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum entwickelt. Obwohl es viele Herausforderungen gibt, zeigt die Bevölkerung Entschlossenheit und Gemeinschaftssinn, um eine neue Zukunft zu gestalten.

Von dieser Aufbruchstimmung sind auch meine Eltern erfasst. Meine Großeltern mütterlicherseits verfügen über ein ansehnliches Grundstück. Sie verteilen an jedes ihrer drei Kinder einen Bauplatz. Es entsteht eine Familien-Straßensiedlung: Im ersten Haus wohnen Oma und Opa, auf dem angrenzenden Grundstück bauen meine Tante Else und Onkel Josef ein neues Haus. Meiner Mama wird das Grundstück im Tobel am Tannenbach zugewiesen, wo das Haus unserer Familie entstehen soll. Dorthin führt nur ein schmaler Feldweg mitten in der Natur zu einem nach Wiesenblumen duftenden Feld. Es existiert keine Straße, sie muss noch gebaut werden. Ein Traumplatz für mich. Wolfgang und ich sind in dieser Zeit viel bei Oma und Opa, denn meine Eltern sind bis aufs Äußerste gefordert, um einen straßenähnlichen Zugang zum Baugrundstück zu schaffen und die Kellerräume auszuheben. Dank ihres eisernen Willens und der beharrlichen Disziplin sind sie an jedem Wochenende und in der Ferienzeit mit dem Straßen- und Hausbau beschäftigt. Viele Entbehrungen sind der Preis, die sie für ihre enormen Leistungen zahlen.

Mein jüngerer Bruder leidet oft an schweren Anfällen von Atemnot und läuft blau an. Meine Eltern sind ratlos, und kein Arzt ist zur Stelle. Verzweifelt sehe ich meinen Vater, wie er ihn an den Füßen festhält und ihn kopfüber heftig schüttelt – meistens hilft diese robuste Behandlung. Als meine Mama erfährt, dass sie mit dem dritten Kind schwanger ist, weiß sie, dass es nur einen Weg gibt, um die zahlreichen Herausforderungen mit dem Hausbau und der Familie zu meistern. Sie muss stark sein!

Ich bin schockverliebt

Die beschwerliche Zeit des Wiederaufbaus nach den harten Kriegsjahren bringen ungeahnte Kräfte in meiner Mutter zum Vorschein. Gegen die Hingabe einer Mutter für ihre Kinder scheint nichts bedeutsam – außer der Zukunft! Sie ist der Leuchtturm in unserer Familie und schenkt uns Licht und Wärme, wo und wann immer sie kann. Ich bin ein braves, dankbares Kind. Ich fühle, empfinde und erlebe die Liebe und den Schutz meiner Mutter intensiv. Oft hält sie meinen Kopf an ihren schwangeren Bauch: »Komm, Erich, willst du dein Geschwisterchen mal hören?«

Ich bin aufgeregt und vergesse zu atmen, denn ich will nichts überhören. Als ich leises Rauschen höre und einen leichten Stoß gegen mein Ohr spüre, bin ich begeistert. Ich bin sofort schockverliebt, obwohl ich meine Schwester noch nicht sehe.

Ursula kommt an einem Donnerstag als Hausgeburt zur Welt. Nach dem chinesischen Sternzeichen ist sie, so wie J. F. Kennedy, Anne Frank, Audrey Hepburn und viele andere, im Jahr der Schlange geboren. Es heißt, es sind stolze Menschen. Mit meinen sieben Jahren pflücke ich an diesem warmen Septembertag einen bunten Strauß Wiesenblumen; die gelben Trollblumen gefallen mir besonders. Auf dem Weg zurück nach Hause hüpft mein Herz, und ich freue mich, bald mein stolzes Schwesterchen sehen zu können.

Die Haustür ist offen und ich höre aufgeregte und glückliche Stimmen: »Was für ein hübsches Mädchen!« Ich laufe in das Zimmer meiner Mama, die Hebamme begrüßt mich freundlich, und ich sehe das kleine Baby, mein Schwesterchen, in den Armen meiner Mutter. »Oh, wie süß! Und sie hat schon dunkle Haare«, sage ich entzückt, als ich sie sehe.

In diesem Moment bin ich, wie bereits bei meinem jüngeren Bruder Wolfgang, stolz wie Oskar. »Für dich, Mama, dass du mir Ursula geschenkt hast!«, sage ich und reiche ihr dankbar meinen bunten Spätsommerstrauß. Ich bin das glücklichste Kind der Welt!

Schreckensfahrt mit Papa

Mein Vater fühlt sich wie ein König, wenn er auf seinem Motorrad sitzt. Am hinteren Sitz dämpfen die zwei Sprungfedern an den Seiten die Erschütterungen beim Fahren ab. Der Sitz hat einen Griff zum Festhalten. Oft fährt Papa nach der Arbeit mit seinem geliebten Puch-Motorrad zum Grundstück nach Bregenz. Er liebt diese Fahrten von der Schule zum Altreuteweg. Endlich ein Gefühl von Freiheit! Wir drei Kinder bringen Leben in die Familie. Jeden Tag gibt es etwas Neues zu entdecken und zu erkunden. Das Leben ist intensiv, auch für unsere Eltern. Nach dem Motto Erst die Arbeit, dann das Vergnügen geht der Bau zügig voran. Ihre Nerven liegen oft blank, und sie arbeiten bis zur Erschöpfung. Papa scheint nur noch von einer Idee besessen zu sein, schnell ins neue Zuhause einziehen zu wollen, ungeachtet der körperlichen Grenzen, die bei einer solchen Dauerbelastung spürbar werden.

Es regnet ununterbrochen, als der Keller des Hauses endlich ausgehoben ist. Auf dem Lehmboden bildet sich in Kürze eine Art See, da das Wasser nicht absickern kann. Bereits nach einigen Tagen tummeln sich Kaulquappen und zappelnde Mückenlarven im seichten Wasserbecken. Normalerweise ist dies ein wahres Naturspektakel für mich, und ich kann stundenlang dem Treiben zuschauen. Doch heute ist alles anders.

Nach dem Frühstück ruft mich mein Vater zu sich und sagt bestimmt: »Erich, wir fahren nach Bregenz zum Grundstück.« Ich weiß, dass Papa keinen Widerspruch duldet. Ich hasse diese Fahrten auf dem Motorrad abgrundtief. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mitfahren muss. Papa hilft mir, auf dem hinteren Sitz Platz zu nehmen, und fährt los. Voller Angst halte ich mich verkrampft am Haltegriff fest. Wir tragen keine Helme, und der Wind weht mir um meine Ohren.

»Nicht so schnell, Papa!«, rufe ich ängstlich und spüre, wie sich kalter Schweiß auf meiner Stirn bildet. Das Unheil bahnt sich an, denn ein Lkw missachtet die Vorfahrt. Es geht alles sehr schnell. Als mein Vater die Gewalt über das Motorrad verliert, fliege ich im hohen Bogen auf die Straße. Wie ferngesteuert richte ich mich auf und laufe zurück. Ich bin im Schock! Papa reißt seine Augen weit auf und sieht dem flüchtenden Lkw nach. Gott sei Dank sind wir unverletzt, doch diese Schreckensfahrt sitzt noch lange in meinen Knochen.

Angst vor dem betrunkenen Opa

Schon 1949 ist im Grundgesetz festgelegt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Aber die Wirklichkeit sieht in den 1950er-Jahren anders aus. Die Frau muss alles in ihrer Macht stehende tun, um die Ehe am Laufen zu halten und über die Vergehungen des Mannes hinwegzusehen. Ansonsten – so die Volksmeinung – ist der gesellschaftliche und wirtschaftliche Ruin vorprogrammiert. Dem tüchtigen Mann steht es zu, nach harter Arbeit am freien Sonntag zu entspannen, auch wenn die Familie eine schwere Bürde trägt.

Als ich heute am Sonntag aufwache, ist Opa gut gelaunt. Ich bin gerade bei meinen Großeltern und höre, wie er sich von Oma mit den Worten verabschiedet. »Bis später, ich gehe jetzt in die Herz-Jesu-Kirche und treffe mich nach der Messe noch mit Freunden.«

Auch in vielen anderen Familien gehen die Männer am Sonntag ihren sogenannten gesellschaftlichen Verpflichtungen nach: Kirchenbesuch mit anschließendem Herrenstammtisch im Wirtshaus. Die Frauen kümmern sich um die Kinder und bereiten das Mittagessen vor. Meist warten sie zum Essen vergeblich auf die Herren des Hauses. Opa ist vermutlich nach der Wandlung leise aus der Kirche geschlichen, um sich mit seinen drei Freunden zu treffen. Im Wirtshaus wird gelacht, geredet, diskutiert, politisiert und getrunken. Erst ein, dann zwei, dann zehn Gläser. Laut singend und schaukelnd torkeln die Freunde oftmals über die Feldwege heimwärts. Da sie sturzbetrunken sind, finden sie den Weg nicht mehr nach Hause.

So ist es auch an diesem Sonntag, als ich Opa und seine Freunde schlafend vor sich hin schnarchend an der Straßenseite im Gras finde. Ich traue mich nicht, auf dem Weg an ihnen vorbeizugehen. Oma weiß, was sie in solchen Momenten zu tun hat. Sie verschließt die Fensterläden und betet, dass es nicht allzu heftig wird, wenn ihr Ehemann zurückkommt. Sie weiß, was ihr blüht, wenn die Tür nicht verschlossen ist. Jähzornig und unberechenbar schlägt Opa auf sie ein. Einmal schmettert er mit einer schweren Eisenkette laut gegen die Tür und brummt unverständliche und beleidigende Wortfetzen vor sich her. Mir machen solche Bilder Angst. Wenn ich könnte, würde ich Oma beschützen.

Ich erinnere mich an ein Erlebnis, als Opa betrunken am ersten Weihnachtstag in die Stube stürzt. Ein großer Tannenbaum, festlich geschmückt mit Kugeln, Engelshaar und Lametta, steht ihm im Weg. Er stößt ihn um, Chaos und Aufregung ist die Folge. Wir Kinder sind eingeschüchtert, haben panische Angst und sind entsetzt. Nüchtern ist Opa ein Herz und eine Seele.

Ich begreife in dieser Zeit, dass Alkohol den Charakter verändert, und schwöre mir, niemals Alkohol zu trinken und so zu werden, wie ich den Opa im betrunkenen Zustand erlebe.

Eng, bedrückend, lebensfeindlich

Der autoritäre Erziehungsstil jener Zeit ist durch eine starke hierarchische Ordnung in der Familie geprägt. An der Spitze steht der Vater. Er stellt die Regeln auf, übt Kontrolle aus, bestraft Fehlverhalten und hat die alleinige Entscheidungsgewalt in allen Lebenslagen. Dabei stellt er hohe Anforderungen an Kind und Frau, welche diesen zu folgen haben. Das Männerbild, welches mir von meinem Opa und Vater vermittelt wird, hinterlässt tiefe Spuren in mir. Ich bin noch in der Volksschule und kenne es nicht anders.

Mein Vater ist mein Lehrer. Statt mir die Freude am Lernen zu vermitteln, bringt er mir bei, zu gehorchen, zu parieren und zu lernen. Lob und Ermutigung erhalte ich von meinem Papa nie. Wozu auch? Das könnte mich verweichlichen, so seine Überzeugung, die er selbst von seinen Eltern übernommen hat.

Obwohl meine Noten am Ende jedes Schuljahres in der Volksschule gut sind, bin ich unglücklich. Es liegt eine schwere Last auf meinen Schultern. Der Druck und die Schulangst wachsen von Tag zu Tag. Ich habe Angst, zu versagen. Ich habe Angst, den Erwartungen nicht gerecht zu werden und zu enttäuschen. Dem Vater werde ich nie gerecht, so mein kindliches Gefühl der Ohnmacht. Früh lerne ich, nach Perfektion und Unfehlbarkeit zu streben, doch leichter fühle ich mich dadurch nicht. Selbst Mama kuscht und widerspricht nie.

Es scheint also richtig zu sein. Ich fühle mich wie ferngesteuert. Papa ist der, der das Sagen hat, und was er sagt, ist das Allerheiligste. Schließlich verdient er das Geld. Wenn es am Ersten des Monats die Lohntüte gibt, kauft Papa ein und verteilt die Brötchen und die abgezählten Wurst- und Käsescheiben an uns Kinder.

Am Sonntag gibt es Hähnchen, und wir Kinder bekommen die Flügelstücke zum Abnagen. Fleisch gibts nur einmal in der Woche – Fleischwurst mit Zwiebeln in Soße oder Geschnetzeltes mit Reis. Fast täglich gibt es Stopfer, entweder mit Apfelmus oder salzig. Stopfer ist ein in Wasser gekochter, gequollener Grieß, der danach in der Pfanne geröstet wird. Typisch für die Region Vorarlberg. Irgendwann meckere ich über das langweilige Gericht und bekomme eine gehörige Standpauke dafür. Ich bin undankbar und aufmüpfig, das duldet der Herr Lehrer nicht.

Wenn wir Kinder im Bett sind, wird er von Mama bekocht. Der köstliche Bratengeruch des Fleischs duftet aus der Küche und zieht in unser Kinderzimmer. Uns läuft das Wasser im Mund zusammen. Enttäuscht schlafen wir irgendwann ein.

Das tue ich alles aus Liebe zu dir

Geborgenheit und Trost braucht jedes Kind, um nicht zu verkümmern. In einer Zeit der Strenge und Autorität ist dies lebenserhaltend. Mama hat nicht viel zu sagen; sie soll uns erziehen, so die Regel in unserem Hause. Geborgenheit und Trost finde ich bei Oma und Mama. Ohne die Geschichten von Mama, die sie uns vor dem Zubettgehen vorliest, hätte ich nicht zu Träumen gelernt. Sie schafft es, mich in eine Welt voller Geschichten und Märchen einzuführen, die meine Fantasie und meinen Glauben an das Gute stärkt. Dies brauche ich wie die Luft zum Atmen. Mein Mitgefühl für die Tiere und meine Neugier für die prachtvolle Pflanzenwelt kann ich nur fern vom strengen Blick meines Vaters entwickeln. So wie auch meine Mutter nur dann aus voller Kehle klangvolle Schlager singen kann, wenn Papa außer Haus ist.

Eines Nachmittags sind wir Kinder mit Mama vergnügt in der Stube und hören Radio. Mama beginnt laut mitzusingen, als Papa plötzlich früher als geplant nach Hause kommt. »Mach sofort diese verwerfliche Musik aus! Wie kommst du dazu, vor den Kindern diese abtrünnigen Lieder mitzusingen?«, schäumt er vor Wut, als er die Stube betritt.

Wir erstarren, in Bruchteilen von Sekunden kippt die fröhliche in eine frostige Stimmung. Er dreht das Radio aus. Die melodischen Klänge von Peter Alexanders Das tue ich alles aus Liebe zu dir verklingen schlagartig. Zucht und Ordnung hat in der häuslichen Stube zu herrschen, so die Regel. Eng, kalt und lebensfeindlich empfinde ich diese Atmosphäre.

Als Kind werde ich früh mit dem Tod konfrontiert. Mit knapp acht Jahren sehe ich, wie Opa beim Hinausgehen auf den Weg wie ein Sack umfällt. Er ist ohnmächtig, und ein Arzt weist ihn ins Krankenhaus ein. Ein Herzinfarkt wird diagnostiziert – er ist gerade 63 Jahre alt. Ein Jahr später verstirbt Opa unerwartet – ein Schlaganfall mit Todesfolge. Plötzlich merke ich, das Leben ist endlich und Opa kommt nie mehr zurück. Er wird in der Leichenkapelle auf dem Friedhof aufgebahrt. Als ich ihn mit Oma besuche, liegt er wie eine Wachsfigur da, ein zarter Schleier bedeckt sein Gesicht. Oma verabschiedet sich, indem sie den Schleier beiseiteschiebt und Opa auf die Stirn küsst. Sie fordert mich auf, dasselbe zu tun. Ich verweigere mich. Opa ist für mich in diesem Zustand fremd und nicht mehr von dieser Welt. Oma verzeiht mir das nie.

Der andere Opa, Papas Vater, verstirbt ein Jahr später an Gelbsucht – auch mit erst 64 Jahren. An ihn habe ich wenig Erinnerung. Er war Schlossermeister, ein großer, stattlicher Mann mit dunklen, vollen Haaren und einem gezwirbelten, buschigen Schnauzbart. Ich sehe, dass er im Flur aufgebahrt ist. Viele Kerzen brennen, und bunte Blumen sind in großer Fülle um den Sarg platziert.

Ich habe Angst, den toten Opa zu berühren. Die Stimmung im Schein der Kerzen berührt mich unangenehm. Ich spüre eine aufsteigende Kälte in mir, die mich erschreckt.

Die Häusler-Oma ist mir sehr nahe. Eine kleine, gedrungene, eher unbeholfene, aber sehr gutmütige Frau. Sie behütet uns Kinder, wenn Mama mal im Krankenhaus oder zur Kur nach Bad Gastein ist.

Die Kunst der Improvisation

Das Jahr 1954 ist in vielerlei Hinsicht ein bewegtes Jahr. Der erste Mercedes Benz 300 SL Flügeltürer und der Jaguar D-Typ kommen auf den Markt. Die Geburtsstunde des Rock ’n’ Rolls beginnt, als Elvis die Weltbühne betritt, und es entsteht das berühmteste Bild des Jahrhunderts von Marilyn Monroe mit ihrem fliegenden Cocktailkleid über den Lüftungsschacht. Und wir sind stolze neue Hausbesitzer am Altreuteweg.

Endlich ist es so weit! Meine Eltern und wir drei Kinder beziehen nach den Sommerferien 1954 den Rohbau unseres neuen Hauses. Viele harte Monate liegen hinter uns. Die Küche ist fertig und ein Matratzenlager im Erdgeschoss dient zum Schlafen für alle. Toilettenpapier wird aus Zeitungspapier in handgerechte Stücke geschnitten und mit einer Schnur gebündelt. Papa wird von der Dorfschule nach Bregenz versetzt, und ich absolviere das 4. Schuljahr in der Volksschule in der Belruptstraße. Immer noch halte ich dem Druck meines Vaters und Lehrers stand und bin ein Glanzschüler mit vielen Einsen im Zeugnis.

In diesem Jahr ist ein strenger, schneereicher Winter. Wir haben uns angewöhnt, mit der Einfachheit zurechtzukommen, und ich lerne früh zu improvisieren. Doch die Kälte zerrt an den Nerven. Es ist einer der kältesten Winter, an die ich mich erinnern kann. Die Lawinenkatastrophe, die Vorarlberg in diesem Jahr heimsucht, gehört zu den Schlimmsten, die diese Region erlebt hat. Oft haben wir kein fließendes Wasser, weil die Wasserrohre eingefroren sind. In der Nacht ist die warme Atemluft die einzige Wärmequelle im kalten Erdgeschoss, da nur in der Küche der Herd mit Holz und Kohle befeuert wird.

Nach und nach beziehen wir die anderen Zimmer. Fast alle sind noch ohne Dämmung und Innenverschalung, sodass man die Balken des Fachwerks sehen kann. Mein Vater füllt die Zwischenräume der Balken über mehrere Jahre mit Schlackenbeton aus und verschalt sie dann endgültig. Eine harte, irrsinnige Knochenarbeit. Doch meine Eltern sind froh, dass sie die Schlacke von der Maggi-Fabrik in Bregenz umsonst abholen können. Die Schlacke-Ablage in Bregenz verfügt über einen eigenen Bahnzugang zu den Fabrikhallen.

Der penetrante und durchdringende Geruch von Maggi liegt mir noch heute in der Nase. Mit der Zeit ist es wohnlich und gemütlich in unserm Heim. Mama hat einen grünen Daumen, und ich erfreue mich im Garten an jedem Blümchen, das seinen Blütenkelch zur Sonne streckt. Sie pflanzt auch Gemüse und Kartoffeln für uns an.

Papa ist künstlerisch sehr begabt. Nach dem Hausbau kann er sich endlich wieder dem Malen zuwenden. Wenn mein Vater früh morgens mit der Staffelei unterwegs ist, kommt er nachmittags mit dem Bild nach Hause und fragt nach unserer Meinung. Kritik hört er nicht gerne. Er ist grantig und verstimmt, wenn Mama das Bild nicht gefällt.

Es muss alles nach seiner Pfeife tanzen. Um Punkt 12 Uhr muss das Mittagessen auf dem Tisch stehen. Nach dem Essen gibt es italienischen Mokka, ein Nickerchen und eine Zigarette, und um 14 Uhr gehts dann ab in die Schule. Denn ein unpünktlicher Lehrer ist in seinen Augen kein brauchbarer Lehrer!

Gehorsam – das oberste Gebot

Gehorsam ist das oberstes Gebot, und wehe dem, der es bricht. Als Sohn meines Vaters lerne ich Pünktlichkeit, Strebsamkeit und Gehorsam. Alles Tugenden, die zur damaligen Zeit nicht infrage gestellt wurden. Sogar an Festtagen und in den Ferien gibt es in unserer Familie keine Ausnahme.

Es ist wieder einmal Weihnachten. Unter dem Tannenbaum liegen kleine, bunt verpackte Päckchen. Sie sehen schön aus, aber meine kindliche Freude und die meiner Geschwister ist gedämpft. Durch die Größe der Päckchen ahne ich bereits, was sich darunter verbirgt. Bestimmt ist es wieder ein Buch, das Papa ausgesucht hat, denke ich still, als ich das Päckchen in die Hand nehme und vorsichtig auspacke. Was sonst, wir bekommen an Weihnachten immer Bücher geschenkt. Augenblicklich spüre ich den steigenden Druck und die Unlust, die sich in mir ausbreitet.

»Danke«, sage ich zu meinen Eltern emotionslos.

»Freust du dich denn nicht? Das ist ein interessantes Buch, und ich bin schon gespannt, was du mir darüber erzählen wirst«, höre ich meinen Vater sagen. Mir ist schlagartig klar, dass ich wieder keine Zeit haben werde, mit meinen Freunden in den Weihnachtsferien zu spielen.

Am 1. Weihnachtsfeiertag sitzen wir alle in der Wohnstube und lesen mit gesenkten Köpfen die geschenkten Bücher. Jedes Kind wird nacheinander aufgefordert, die Handlung und den Inhalt der Geschichten zu erzählen. Papa will schließlich wissen, ob wir sie wirklich gelesen haben. Wieder einmal beuge ich mich gehorsam dem Druck und der Schikane. Und kurze Zeit später stimmen meine Eltern das deutsche Weihnachtslied an, welches wir jedes Jahr singen: »Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind. Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus, geht auf allen Wegen mit uns ein und aus …« Ich singe inbrünstig und laut mit. Das habe ich in der Kirche gelernt. Wenn der Pfarrer ein Lied anstimmt, heißt es für alle: mitsingen!

Am Palmsonntag gehe ich zur Erstkommunion in unserer katholischen Kirche. Vom Pfarrer wird mir die Hostie auf die Zunge gelegt zum Zeichen der Reinheit ohne Sünden. Es ist sehr feierlich, und ich halte eine lange, mit Dekor verzierte, brennende Kerze. Die darf ich als Andenken mit nach Hause nehmen. Wir Kinder sind festlich gekleidet. Der erste Anzug und Hemd mit Mascherl oder Krawatte. Ab heute heißt es, jeden Sonntag zur Kirche zu gehen und möglichst oft zu beichten und zu kommunizieren. Ich lerne die zehn Gebote auswendig, und es wird mir das Beichten für den Nachlass der Sünden erklärt. Allerdings begreife ich nicht, wann und wo ich in Gedanken gesündigt habe. Da müsste ich meinen Vater, den Lehrer, fragen. Der Pfarrer weiß es auch! Als ich als Ministrant vergessen habe, die Glöckchen zu klingeln, schaut er mich strafend an und zischt durch seine zusammengepressten Lippen: »Klingle jetzt, du Träumer!«

Mit Miniholzsarg durch die Straßen

Die Familie wird zum Dreh- und Angelpunkt in einer zunehmend wachsenden bürgerlichen Bildungsschicht in der Region. Lehrer, Pfarrer, Polizisten und all jene Berufe mit Vorbildcharakter sind ein Garant für die Vermittlung der »richtigen« Werte und des »sittsamen« Verhaltens – so die allgemeine Volksmeinung. Es gehört zum guten Ton, dass in einer gutbürgerlichen Familie musiziert wird. So ist es auch in unserer Familie. Meine Eltern entscheiden ohne meine Zustimmung, dass ich Geige lernen soll. »Du bist musikalisch«, bestimmen sie ohne weitere Erklärung. Als Leihgabe bekomme ich eine dreiviertel Geige, und sie schicken mich zur Lehrerin, Grete Urbanek.

»Erich ist so ein gehorsamer und braver Schüler«, sagt sie zu meinem Vater, als sie ihn nach einigen Wochen auf der Straße trifft. In jedem Halbjahr gibt es in der Musikschule Noten. »So ist es richtig, Junge, weiter so«, sagt mein Vater, als er voller Zufriedenheit und Stolz die Eins für Musik in meinem Zeugnis sieht.

Ich bin jedoch unglücklich und möchte lieber Gitarre spielen lernen. Doch Frau Urbanek ist eine liebenswerte Dame, und ich will sie nicht enttäuschen. Wieder einmal beuge ich mich den Erwartungen der anderen. »Sie ist ja nett und ich lerne das Notenlesen und die Takte«, sage ich mir, auch wenn ich von meinen Worten nicht überzeugt bin, denn ich hasse es, Noten zu lernen.

Für mich gleicht der Geigenkasten einem Miniholzsarg, der meine Träume und Wünsche in sich begräbt. Meine Mitschüler lachen mich aus und verspotten mich, wenn ich auf dem Weg zur Musikschule bin. Ich fühle mich gemobbt. »Du bist halt was Besseres, du verwöhntes Söhnchen«, rufen mir die Mitschüler hinterher. Trotz allem mache ich mit der Zeit große Fortschritte. Das Geigenspielen im Orchester und an den Festgottesdiensten zu Weihnachten und Ostern macht mir inzwischen Spaß. Auch die Matineeaufführungen am Sonntag im Theater in Bregenz sind Highlights für mich. Meine Eltern sind stolz.

Eines Tages schenken mir meine Eltern eine ganze Geige. Sie haben für das Instrument viel Geld bei einem berühmten Geigenbauer in Vorarlberg bezahlt. Die neue Geige gleicht einer Stradivari. Sie ist schön und klangvoll. Trotz meiner anfänglichen Abneigung spiele ich insgesamt elf Jahre Geige. Ich lerne, dass nicht alles schlecht ist, was ich anfänglich verachtete. Ich lerne aber auch, dass ein lang gehegter Traum wie ein Vulkan wieder zum Leben erwachen kann. Und so geschieht es! Mein vergrabener Traum, einmal Gitarre zu spielen, ist wieder lebendig. Insgeheim leihe ich mir von einem Freund eine Wandergitarre aus, übe die ersten Barré-Griffe und singe Schlager dazu. Natürlich alles im Versteck. Mein Lehrer darf es nicht wissen, aber meine Freunde bewundern mich, und ich fühle mich großartig. Wie gut ist es, seinen Träumen zu vertrauen und sie nicht zu vergessen.

Jugendzeit – Aufbruch

Pinkfarbener Plastikumschlag

Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag, an dem ich zufällig meinen Onkel Emil in der Stadt treffe. Heute weiß ich, dass es kein Zufall war. Denn ich bin zutiefst davon überzeugt und habe es erfahren, dass unerwartete Begegnungen unser Leben schlagartig verändern können. Manchmal braucht es nur einen Funken, um ein Feuer zu entfachen. Mein Onkel ist der Funken, der in mir das Feuer entfacht! Doch auf den Moment, bis das Feuer brennt, muss ich noch einige Jahre warten.

»Erich, wir haben beschlossen, dich auf das humanistische Gymnasium zu schicken. Deine Noten sind gut«, teilen mir meine Eltern mit, als ich mit meinen Freunden zum Baden gehen will.

Ich nehme die Entscheidung zur Kenntnis, ohne zu ahnen, was dies heißt, denn ich bin gerade einmal elf Jahre alt. Leider hat das Gymnasium nichts mit der antiken Vorstellung gemeinsam. Das Gymnasion im alten Griechenland war ein Übungsplatz für Leibesübungen. Später wandelte es sich zu einem Versammlungsort für Philosophen. Erst danach entstand der Begriff Gymnasium – eine Lehranstalt, wie wir sie heute kennen.

Mein erster Schultag im Gymnasium lässt mich schnell erahnen, dass weder die körperliche noch die geistige Schulung im Zentrum steht, vielmehr die monotone, wortgetreue Repetition von Lehrinhalten, die der zuständige Lehrer zu vermitteln beauftragt ist.

Das Fach Latein beginnt für mich zu einer regelrechten Qual zu werden. An dem Tag, an dem ich die grammatikalischen Fälle dieser toten Sprache für eine Klassenarbeit repetiere, fühle ich mich sterbenselend.

Bei meinem Vater, dem unfehlbare Lehrer, schrillen die Alarmglocken, als er von seinem Freund, Dr. Reichard, meinem Lateinlehrer, vernimmt: »Erich hat weder Interesse noch begreift er die lateinische Sprache.«

Mein Vater ist erschüttert. Nun bin ich sein Opfer, an dem er seine im Eigenstudium erworbenen Kenntnisse erprobt. Er hofft, dass sein Heimunterricht meine Lage verändert – leider ohne Erfolg. Ich bin paralysiert und blockiert; meine schulischen Leistungen fallen in den Keller. Bei der letzten Übersetzungsarbeit gibt es erneut ein ungenügend. Wenn wir eine Klassenarbeit zurückbekommen, ist es für mich ein Horror. Mein Heft hat einen pinkfarbenen Plastikumschlag, den mir meine Mutter eingebunden hat, damit es sich nicht so schnell abnutzt. Wenn Herr Reichard die Hefte aus seiner Aktentasche nimmt und auf sein Pult legt, sehe ich schon von Weitem, an welcher Position meines liegt. Die beste Arbeit liegt ganz oben. Dieser Schüler bekommt eine Tafel Milka-Schokolade. Zu diesen Glücklichen zähle ich während meiner Schulzeit nie.

Die schlechteste Arbeit liegt ganz unten. Es ist mein pinkfarbenes Heft. Ich weiß, was dies heißt. Wie üblich muss jede zurückgegebene Arbeit von einem Elternteil unterschrieben werden. Normalerweise unterschreibt Mama meine Arbeiten, aber diesmal ist sie gerade im Krankenhaus. Am Nachmittag schleiche ich um das Krankenhaus, um Zugang zu meiner Mutter zu finden. Jedoch haben Kinder ohne Begleitung von Erwachsenen keinen Zutritt, und so verwerfe ich meinen Plan, Mama um ihre Unterschrift zu bitten.

Der Zeitdruck, den ich empfinde, ist unerträglich: Was mache ich nur? Morgen muss ich die Arbeit unterschrieben Herrn Reichard abgeben, wiederholen sich meine verzweifelten Gedanken wie eine regelmäßig tickende Uhr, ohne einen Ausweg aus meiner misslichen Lage zu finden. Meine Angst vor der Strafe des Vaters steigert sich ins Unermessliche, sodass ich zu einem Plan greife, über dessen Konsequenzen ich mir in diesem Moment nicht bewusst bin. Der einzige Ausweg, den ich sehe, ist, die Unterschrift meines Vaters zu fälschen, um mich von diesem übermäßigen Druck zu befreien. An diesem Abend übe ich die Unterschrift so lange, bis sie der seinen gleicht.

Erschöpft nach einer fast schlaflosen Nacht gebe ich das Heft am nächsten Morgen mit der gefälschten Unterschrift ab. Allerdings vergesse ich vor lauter Aufregung, den Aufgabenzettel mit den Korrekturen ins Heft zu kleben. Die Katastrophe ist vorprogrammiert, denn wenn jemand vergisst, den Zettel hineinzulegen, gibt es für die ganze Klasse eine Stunde Nachsitzen.

Als mein Lehrer die Stimme hebt, weiß ich, dass es kein Zurück gibt: »Wo ist dein Aufgabenblatt?«

»Ich habe es vergessen«, erwidere ich kleinlaut.

Ohne weiter Notiz von mir zu nehmen, wendet er sich hämisch an die Mitschüler: »Ihr wisst, wem ihr es zu verdanken habt, nach dem Unterricht nachzusitzen?«

Am liebsten würde ich mich in Luft auflösen, als ich die entrüsteten Augen meiner Mitschüler von allen Seiten auf mich gerichtet spüre.

»Eurem Mitschüler Erich! Es scheint mir nur recht und billig, wenn ihr ihm Klassenprügel verabreicht«, fährt Herr Reichard fort.

Ich traue meinen Ohren nicht und beschließe, nach dem Unterricht in die Toilette zu verschwinden und dort zu warten, bis alle fort sind. Nach einer gefühlten Ewigkeit nehme ich einen großen Umweg von der Schule nach Hause und komme ohne Prügel vor dem Abendessen an.

Schlimmer kann es nicht werden

Alles wird nur noch schlimmer. Meine Mama muss länger als erwartet im Krankenhaus bleiben. Beim Elternsprechtag legt Dr. Reichhart meinem Vater die missratene Lateinarbeit vor und sagt in mitleidigem Ton: »Du weißt ja, wie es um die Lateinnote bestellt ist. Du hast sie selbst unterschrieben.«

Ohne auf Papas Antwort zu warten, auf die er lange hätte warten können, da mein Vater erstarrt, bietet er ihm freundschaftlich an: »Ich kann Erich einige Stunden Nachhilfeunterricht geben, wenn du willst. Vielleicht hilft das.«

Mein Vater glaubt zu wissen, was mir hilft. Ich leide schon den ganzen Tag an chronischen Magenschmerzen. Als er vom Elternsprechtag in die Küche kommt, fordert er mich auf, mit ihm in den Waschkeller zu gehen. Ich folge ihm wie ein treues Schaf seinem Hirten. Als ich die steile Treppe zum Keller hinuntergehe, ahne ich, dass dies nichts Gutes verheißt. Im Waschkeller zieht mein Vater den kurzen Wasserschlauch vom Hahn ab, und bevor ich realisiere, was passiert, peitscht er damit wie vom Teufel besessen auf mich ein und faucht: »Du Unterschriftenfälscher, du beschmutzt meinen Namen! Na warte, Bürschchen, ich werde dir zeigen, was sich gehört.«

Ich halte instinktiv die Hände über dem Kopf, kauere auf dem Betonboden in Embryostellung auf dem Ablaufsieb des Waschkellers und verliere nahezu die Besinnung. Während pausenlos die Schläge auf meinen Körper prasseln, empfinde ich keinerlei Schmerzen. Mit jedem Schlag werde ich abgestumpfter und fühle mich verletzt. Die seelische Qual ist so groß, dass ich ihm lautstark die Worte entgegen schmettere: »Schlag mich doch tot, dann habe ich es hinter mir!«

In diesem Moment erwacht mein Vater aus seiner schäumenden Wut. Augenblicklich hört er auf, unkontrolliert auf mich einzuschlagen, und brüllt in hilfloser Verzweiflung: »Einen Monat Hausarrest und ab jetzt Nachhilfe bei Dr. Reichhart!«

Insgesamt gehe ich nur zwei Stunden zu der Nachhilfe bei meinem Erzfeind. Meine Eltern geben mir das Geld auf die Hand, um jede Stunde bar zu bezahlen. Die weiteren geplanten Nachhilfestunden schwänze ich permanent. Egal, welche Konsequenz das für mich hat. Von dem Geld kaufe ich meiner Mama Kakteen, verbunden mit der Lüge, ich habe sie von einem Freund geschenkt bekommen. Kakteen als Symbol für verletzte Liebe. Meine Liebe ist so stark verletzt und die seelischen Wunden so tief in mir eingegraben, dass ich an diesem Tag meinen Vater verliere. Seit dem Vorkommnis im Waschkeller ist das Vertrauen in meinen Vater gestorben. Das zerbrochene Verhältnis zu ihm zeigt sich Wochen später in einer solchen Intensität, die nur aus dem Trauma der vergangenen Geschehnisse zu verstehen ist.

An einem sonnigen Sommertag in den Schulferien begleitet mich mein Vater zum Bodensee, um mir das Schwimmen beizubringen. »Halte dich an meinem Rücken fest, ich gehe langsam ins Wasser«, so seine Anweisung.

Wie auf Befehl kralle ich mich mit all meinen Kräften an ihm fest. Als mir das Wasser bis zum Hals steht und ohne Erbarmen meinen Mund erreicht, verschlucke ich mich elend und zappele. Ich kralle mich an Papas Hals fest wie ein Ertrinkender, der um sein Leben bangt. Ich schlucke Wasser. Es kommt mir aus den Ohren und der Nase raus und ich erlebe erstmals Todesangst.

Sofort bricht mein Vater den Versuch ab und stammelt: »Wie dumm bist du! Willst du, dass wir beide ertrinken? Wie kannst du mich so würgen? Stell dich gefälligst nicht so an!«

Nach mehreren weiteren Versuchen beendet er die Schwimmaktion. Schlotternd und voller Panik steige ich aus dem Wasser. Ich beschließe, mir das Schwimmen selbst beizubringen.

Ich kann ihn nicht riechen

Der Geruchssinn ist der älteste Sinn, der schon im Mutterleib geprägt wird. Er ist der einzige Sinn, der einen direkten Zugang zum Zentrum der Erinnerungen und der Emotionen im Gehirn hat, zum sogenannten Hippocampus und zum limbischen System. In der Evolution hat er sich noch vor dem Sehen und Hören entwickelt. Das Sprichwort, jemanden nicht riechen zu können, kann ich nur bestätigen.

Nachdem meine Mutter aus der Klinik zurück ist und sieht, wie meine Unbeschwertheit und Fröhlichkeit von Tag zu Tag mehr verkümmern, sucht sie tatkräftig nach einer Lösung. Über die Vorkommnisse im Waschkeller verlieren wir in der Familie kein Wort. Ich weiß nicht, ob Papa es ihr erzählt hat. In meiner kindlichen Unschuld beschließe ich, den Nachmittag aus meinem Leben zu streichen. Natürlich ohne Erfolg, wie sich bei der Schwimmaktion gezeigt hat.

Als ich meinen Eltern erzähle, dass die Nachhilfestunden bei meinem Erzfeind Dr. Reichart ohne Aussicht auf Erfolg sind und ich da niemals mehr hingehen möchte, sorgt Mama dafür, dass ich einen neuen Nachhilfelehrer für Latein bekomme. Schnell wird mir klar, dass ich auch ihn nicht riechen kann! Bereits auf dem Weg zu ihm wird mir schlecht und ich fühle mich unwohl. In seiner Wohnung stinkt es muffig, es ist dunkel, ihm tropft ständig die Nase, welche er mit einem feuchten Taschentuch regelmäßig abzuwischen versucht. Und er hat zottige, fettige Haare. Den ekelig penetranten Geruch, der von ihm ausgeht, kann ich in meiner Erinnerung noch heute identifizieren.

Dessen ungeachtet bestehe ich Latein in diesem Jahrgang knapp. Meine stetig wachsende Schulangst nimmt jedoch keineswegs ab. Im Gegenteil: Im neuen Schuljahr kommt als weiteres Fach die Sprache Altgriechisch hinzu. Das gibt mir den Rest und ich kapituliere. Mein Körper sucht nach einem Ventil, sich von dem permanenten Stress zu befreien. Zunächst bekomme ich eine schwere Mumpserkrankung und bin dann mit einer Gastritis ans Bett gefesselt. Ich erhole mich nur langsam. Obwohl alle Anzeichen dafürsprechen, dass die Schule nicht die Richtige für mich ist, gibt es für mich keinen Ausweg aus dem Dilemma. Mein Vater besteht darauf, dass ich das Schuljahr wiederhole.

Nach 4-jähriger Tortur scheide ich schlussendlich aus dem humanistischen Gymnasium aus und komme in die Abschlussklasse der Hauptschule. Meine Mutter sucht nach allen erdenklichen Mitteln, um mir bei der geistigen Entfaltung zu helfen. Eines Tages überredet sie mich zu einer Walnuss-Kur. »Erich, ich bin überzeugt, das hilft dir! Ich habe gelesen, dass die Kur die Nerven beruhigt. Sie fördert die Lernkonzentration und das Lernverhalten.«

Am 1. August, kurz vor Schulbeginn in der Hauptschule, fange ich mit einer geschälten Walnuss an. Jeden Tag kommt eine weitere Nuss hinzu, insgesamt 31 Tage lang. Im kommenden Monat zählt die ganze Prozedur rückwärts. Nach der zweimonatigen Kur kann ich keine Nuss mehr sehen, riechen, geschweige denn essen. Ein Intelligenzschub hat ebenfalls nicht stattgefunden.

In der Hauptschulklasse muss ich mich glücklicherweise weder mit Latein noch Griechisch herumschlagen. Nun heißt es, Geschichte nachzuholen. Ich kenne zwar die römische und griechische Geschichte, aber ich habe keine Ahnung vom 1. und 2. Weltkrieg. Das Rechnen fällt mir in der Hauptschule plötzlich sehr schwer. Bislang hatte ich im Gymnasium die Rechenarten verstanden. Mein Vater ruft mich in sein Arbeitszimmer. Er versucht, mir die Dreisatzrechnung beizubringen, und ich verstehe nichts.