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Stephanie Scheck

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2006
Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Universität Kassel (Fachbereich Sozialwesen), Veranstaltung: Recht der Familie und Jugendhilfe, Sprache: Deutsch, Abstract: Immer wieder erschüttern und berühren uns tragische Fälle von Kindeswohlgefährdung, -vernachlässigung und -tötung. Da werden Stimmen laut, die Jugendämter würden tatenlos zusehen, wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen, sie verhungern lassen oder gar totschlagen. Haben die Jugendämter richtig gehandelt, sind sie rechtzeitig eingeschritten, hätten andere Hilfen nicht im Vorfeld greifen, Eltern unterstützt oder Hilferufe richtig gedeutet werden müssen? Was kann gegen derart grausamen Umgang mit Kindern und zum Schutz für sie getan werden? All diese Fragen haben ihre Daseinsberechtigung, wenn man sich Fälle wie den des kleinen Pascals, der im Jahr 2003 in Saarbrücken einem Kinderschänderring zum Opfer fiel, anschaut. Auch der Fall des einjährigen Marcels Anfang 2005 in Kassel, der aufgrund von Misshandlung an einem Schädelbruch starb, sorgte vor allem in den Medien für viel Aufsehen und lies die Frage nach dem Schutz und einem rechtzeitigen Eingreifen der Jugendämter wiederholt aufkommen. Hieran wird deutlich, dass es erhebliche Unsicherheiten im Umgang mit Handlungsstandards, aber auch gesetzlichen Grundlagen im Fall von Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und -missbrauch gibt. Dem soll nun unter anderem das am 01.10.2005 in Kraft getretene Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz - KICK) entgegenwirken. Zu Beginn dieser Ausarbeitung soll die Entwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts kurz vorgestellt werden. Es soll dann am Beispiel des Falls Marcel ein Einstieg in das Thema der Kindesvernachlässigung und -misshandlung gegeben werden. Die entwicklungspsychologischen Aspekte des Kindeswohls, d.h. was braucht ein Kind und Jugendlicher, um zu einem psychisch und physisch gesundem Menschen heranzuwachsen und was sind Indikatoren für eine Gefährdung, sind als Fragestellung unerlässlich. Anschließend sollen die wichtigsten rechtlichen Grundlagen der Beziehung Kind - Eltern - Staat erläutert und ihr Zusammenspiel verdeutlicht werden. Auch die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe und die Einbeziehung aller Beteiligten und Betroffenen müssen betrachtet werden. Welche konkreten Änderungen ergibt die Einführung von KICK und wie wirken sich diese auf die Handlungsmöglichkeiten der SozialarbeiterInnen aus? Auch deren Pflichten- und Garantenstellung als Fachkräfte beim Jugendamt, besonders im Aufgabenbereich des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), sollen untersucht werden.

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.
2. Die Entwicklung des Jugendhilferechts.
2.1 Von der Armenhilfe zur Erziehungshilfe.
2.2 Vom RJWG zum KJHG mit KICK.
3. Der Fall Marcel.
4. Zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
4.1 Entwicklungspsychologische Aspekte.
4.2 Soziologische Aspekte.
4.3 Indikatoren für eine Gefährdung des Kindeswohls.
5. Die Beziehung Kind - Eltern - Staat.
5.1 Kindeswohl.
5.2 Elternrecht.
5.3 Staatliches Wächteramt.
5.4 Die Garantenstellung.
6. Die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe.
6.1 Die Hilfen zur Erziehung.
6.2 Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.
6.3 Der Schutzauftrag.
7. KICK.
7.1 Die Änderungen durch KICK.
7.1.1 Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
7.1.2 Die Neufassung der Regelung der Inobhutnahme
7.1.3 Die Neuerungen der Datenschutzbestimmungen
7.2 KICK in der Praxis.
8. Die Handlungsmöglichkeiten des SA/SP.
9. Fazit zum Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung.
10. Literatur- und Quellenverzeichnis.
11. Anhang.
12. Abkürzungsverzeichnis

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Page 4

1. Einleitung

Immer wieder erschüttern und berühren uns tragische Fälle von Kindeswohlgefährdung, -vernachlässigung und -tötung. Da werden Stimmen laut, die Jugendämter würden tatenlos zusehen, wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen, sie verhungern lassen oder gar totschlagen. Haben die Jugendämter richtig gehandelt, sind sie rechtzeitig eingeschritten, hätten andere Hilfen nicht im Vorfeld greifen, Eltern unterstützt oder Hilferufe richtig gedeutet werden müssen? Was kann gegen derart grausamen Umgang mit Kindern und zum Schutz für sie getan werden?

All diese Fragen haben ihre Daseinsberechtigung, wenn man sich Fälle wie der der kleinen sechs Monate alten Lydia im Jahr 1994, die in Folge von grober Vernachlässigung an Unterernährung gestorben ist oder den des kleinen Pascals, der im Jahr 2003 in Saarbrücken einem Kinderschänderring zum Opfer fiel, anschaut. Auch der Fall des einjährigen Marcels Anfang 2005 in Kassel, der aufgrund von Misshandlung an einem Schädelbruch starb, sorgte vor allem in den Medien für viel Aufsehen und lies die Frage nach dem Schutz und einem rechtzeitigen Eingreifen der Jugendämter wiederholt aufkommen.

Hieran wird deutlich, dass es erhebliche Unsicherheiten im Umgang mit Handlungsstandards, aber auch gesetzlichen Grundlagen im Fall von Kin-desmisshandlung, -vernachlässigung und -missbrauch gibt. Es besteht auch "(…) nicht in jeder Hinsicht Klarheit bezüglich der Pflichtenstellung der zuständigen Fachkräfte (...), auch nicht hinsichtlich der Aufgabenstellung des Jugendamts in diesem Zusammenhang, sowohl juristisch wie auch fachlich-methodisch (...)".1

1DIJuF,Schutz und Hilfe,S. 12

Page 5

Dem soll nun unter anderem das am 01.10.2005 in Kraft getretene Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz - KICK) entgegenwirken. Auch bildeten sich mehrfach Kommissionen, wie z.B. in Saarbrücken. Diese hielt ihren Schlussbericht als Saarbrücker Memorandum unter dem Titel "Verantwortlich handeln - Schutz und Hilfe bei Kindeswohlgefährdung" fest.

Die vorliegende Arbeit soll der Thematik des Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung nachgehen.

Sie soll sich mit dem Kindeswohl, dem Elternrecht und der Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft über diese zu wachen, beschäftigen. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit es möglich ist, gefährdeten Kindern, insbesondere als SozialarbeiterIn, zu helfen und sie vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Wie kann ein Hilfeverlauf, gerade in Bezug auf den neuen § 8a SGB VIII, dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, aussehen?

Hierbei soll auch untersucht werden, dass nicht nur der Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht als Mittel und Instrument zum Schutz des Kindeswohls und als letzte Handlungsmöglichkeit, sondern vor allem auch die Hilfen für das Kind und die Eltern, die schon im Vorfeld geleistet werden müssen, um einer Kindeswohlgefährdung erst gar keinen Anlass zu geben, betrachtet werden müssen.

Was sind die Aufgaben der Jugendhilfe und wie kann sie nicht nur gezielt Kinder vor einer Gefährdung schützen, sondern Eltern soweit stärken, dass diese Hilfen annehmen und umsetzen und es nicht zu einer Herausnahme des Kindes aus der Familie kommt.

Zu Beginn dieser Arbeit soll die Entwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts kurz vorgestellt werden. Es soll dann am Beispiel des Falls Marcel ein Einstieg in das Thema der Kindesvernachlässigung und -misshandlung gegeben werden.

Page 6

Die entwicklungspsychologischen Aspekte des Kindeswohls, d.h. was braucht ein Kind und Jugendlicher, um zu einem psychisch und physisch gesundem Menschen heranzuwachsen und was sind Indikatoren für eine Gefährdung, sind als Fragestellung unerlässlich.

Anschließend sollen die wichtigsten rechtlichen Grundlagen der Beziehung Kind - Eltern - Staat erläutert und ihr Zusammenspiel verdeutlicht werden. Auch die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe und die Einbeziehung aller Beteiligten und Betroffenen müssen betrachtet werden. Welche konkreten Änderungen ergibt die Einführung von KICK und wie wirken sich diese auf die Handlungsmöglichkeiten der SozialarbeiterInnen aus? Auch deren Pflichten- und Garantenstellung als Fachkräfte beim Jugendamt, besonders im Aufgabenbereich des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), sollen untersucht werden.

2. Die Entwicklung des Jugendhilferechts

Zuerst waren es die Kirchen, die im frühen Mittelalter Einrichtungen der Armenpflege schufen, in denen auch Kindern und Jugendlichen geholfen wurde.

Anders als früher, wo es noch allein die Kirche war, ist es heute Aufgabe des Staates und auch der Gesellschaft, das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu begleiten und zu sichern.

Im Folgenden soll nun ein Einblick in die Geschichte des Jugendhilferechts gegeben werden, um die Entwicklung der Gesetzgebung zum Kinder- und Jugendhilfegesetz im System des Sozialstaats zu verdeutlichen.

2.1 Von der Armenhilfe zur Erziehungshilfe

Im Mittelalter schufen die Kirchen als erste Institutionen Einrichtungen der Armenpflege. Im Zuge der Reformation wurden diese kirchlichen Einrichtungen jedoch aufgehoben und die Armen- und Krankenpflege wurde von

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den Reichsstädten organisiert. Die Hilfe für die Jugend war für den Staat aber eher eine Eingriffsverwaltung und somit ordnungspolizeiliche Aufgabe. Die ARMENPOLIZEI2holte die Jugendlichen von der Strasse und brachte sie in Zwangseinrichtungen der Armenpflege. Vermeintlich, um sie vor Gefahren zu schützen, wohl aber eher, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Mit sozialpädagogischen Zielsetzungen hatte dies wenig überein; diese ging eher von Privatleuten aus.

August Hermann Francke, der Ende des 17. Jahrhunderts seine Stiftung u.a. mit einem Waisenhaus begründete, war einer der Vorreiter der sozialpädagogischen Zielsetzung. Aus dieser Zeit weiterhin und heute noch bedeutend zu nennen ist auch das RAUE HAUS3von Johann Hinrich Wichern (1833), welches als Vorläufer der heutigen Erziehungsheime gilt. Auch Friedrich Wilhelm August Fröbel, der 1840 den ersten deutschen Kindergarten gründete, wurde zum Inbegriff der pädagogischen Arbeit. Der Gesetzgeber selbst wurde mit dem REGULATIVÜBER DIEBESCHÄFTIGUNGJUGENDLICHERARBEITERIN DENFABRIKEN4(1839) und der Regelung über die Zwangserziehung strafmündiger Kinder zum ersten Mal im Gebiet der Jugendhilfe tätig. "Beide Regelungen hatten jedoch weniger die Erziehung des Kindes zum Ziel, vielmehr die Sicherung des Rekrutennachwuchses durch eine gesunde Jugend und im Falle der Zwangserziehung den Schutz der Bürger vor Straftaten von Kindern."5Die Gesetzgebungskompetenz der Bundesstaaten für die Kinder- und Ju-gendfürsorge regelte die Reichsverfassung von 1871. Erziehung und Hilfen zur Berufsausbildung gehörten nur vereinzelt zu den gesetzlichen Aufgaben der Armenpflege. Zu dieser gehörten auch die Waisenpflege, die Aufsicht über Ziehkinder (Pflegekinder) und die Vormundschaft in Form der Berufs-und Amtsvormundschaft. Erst das Preußische Gesetz für die Fürsorgeerziehung Minderjähriger ersetzte erstmals 1900 das Wort Zwangserziehung durch Fürsorge. Dieses wurde u.a. zur Grundlage des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG).

2vgl. Kunkel,Grundlagen des Jugendhilferechts,S. 9

3vgl. ebd., S. 9

4vgl. Kunkel,Grundlagen des Jugendhilferechts,S. 10

5ebd., S. 10

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Auf dem Deutschen Jugendfürsorgetag wurde im September 1918 dann eine reichseinheitliche Regelung der öffentlichen Jugendfürsorge gefordert: "(...) der deutsche Jugendfürsorgetag hält die Errichtung von Jugendämtern in Stadt und Land als Träger der öffentlichen Jugendfürsorge für unerlässlich."6

2.2 Vom RJWG zum KJHG mit KICK

1922 wurden zum ersten Mal die öffentlichen Hilfeleistungen für Kinder, Jugendliche und Familien im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) geregelt. Auch damals musste sich schon mit dem Problem der Widersprüchlichkeit von Hilfe und Kontrolle auseinandergesetzt werden. Diese rührten zu jener Zeit aber eher aus den rechtlichen Traditionen des Armen-, Polizei- und Ordnungsrechts her. Die Regelungen des RJWG waren sehr stark von obrigkeitsstaatlichem Denken geformt und an Kontroll-und Eingriffsbefugnissen ausgerichtet. Es war im Wesentlichen ein Jugend-fürsorgegesetz. Dennoch wurde das Recht auf Erziehung erstmals als gesellschaftliche Aufgabe gesetzlich verankert.7

Auch das 1961 in Kraft getretene Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) stattete das Jugendamt noch mit einer Kontroll- und Eingriffsbefugnis aus. Dieses orientierte sich allerdings schon mehr an den Aufgaben der Unterstützung und den Hilfen für Eltern und ihre Kinder. Seine Mängel bestanden u.a. darin, dass Eingriffe bei sozialer Auffälligkeit überwiegten, ein Bedarfsangebot zur allgemeinen Förderung der Jugend nicht sichergestellt war, Beratungs-und Unterstützungsangebote nicht ausreichten und die Rechtsposition des Minderjährigen ungenügend waren.8Des Weitern sah man durch andere Lebensumstände von Familien, wie u.a. vermehrte Erziehungsprobleme und

6ebd.

7vgl. Mörsberger/Restemeier,Helfen mit Risiko,S. 24

8vgl. Fieseler/Herborth,Recht der Familie und Jugendhilfe,S. 120

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eine hohe Scheidungsrate, das JWG als unzeitgemäß und verbesserungswürdig an.9

Am 01.01.1991 trat in den alten Bundesländern das VIII. Sozialgesetzbuch, das KJHG, in Kraft.10Somit wurde "(…) der rechtliche Handlungsrahmen der Kinder- und Jugendhilfe eindeutig als ein Auftrag zu präventiven Sozialleistungen ausgestaltet."11Die Verfassungsnormen versichern die Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Eltern und somit ihren Vorrang. Die staatliche Gemeinschaft ist aber zugleich auch zum WÄCHTER12bestellt. Die Eltern sind jedoch mit Abwehrrechten gegenüber staatlicher Einflussnahme und Ansprüchen auf sozialstaatliche Leistungen ausgestattet. Diese sollen sie in ihre Pflichtenstellung gegenüber ihrem Kind, auch in Krisensituationen, stärken.

Auch das KJHG wurde seit Inkrafttreten immer wieder verändert bzw. ergänzt, da sich in der Praxis einzelne Auslegungen und Umsetzungen des Gesetzes als schwierig erwiesen und zu Unsicherheiten geführt haben. Letzte wichtige Änderungen wurden mit dem am 01.10.2005 in Kraft getretenen Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) vorgenommen.

Dieses soll vor allem auf eine Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen bei Gefahren für ihr Wohl hinzielen. Insbesondere mit der Neuschaffung des § 8a SGB VIII, dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung.

9vgl. ebd.

10am 03.10.1990 in den neuen Bundesländern

11Mörsberger/Restemeier,Helfen mit Risiko,S. 24

12vgl. ebd., S. 25

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3. Der Fall Marcel

Als Einstieg in die Thematik dieser Arbeit, dem Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung, soll nun der Fall des kleinen Marcel aus Kassel vorgestellt werden. Die folgenden Informationen sind der damaligen Tagespresse zu entnehmen.13

Sieben Jahre Haft für den 25-jährigen Vater wegen Totschlags und ein Jahr und neun Monate auf Bewährung, auf drei Jahre ausgesetzt, für die 34jährige Mutter wegen fahrlässiger Tötung. So lautet das Urteil für die Eltern des kleinen Marcel vor dem Kasseler Landgericht. Der Vater muss sich außerdem aufgrund seiner Alkoholkrankheit einer Entziehungstherapie unterziehen. Die Mutter muss 230 Stunden gemeinnützige Arbeit bei der Stadt Kassel leisten.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Vater seinen Sohn in der Nacht des 05.01.2005 getötet hat. Marcels Kopf wurde mit massiver Kraft gegen einen Gegenstand geschlagen. Er starb daraufhin an einem Schädelbruch. Marcels Eltern feierten den Geburtstag des Vaters in einem Schrebergarten, während der einjährige Junge in der Wohnung alleine war. Der stark angetrunkene Vater verließ gegen 23 Uhr die Feier. Die Mutter blieb noch weitere vier Stunden auf der Feier.

Der Vater sei nach Hause gegangen, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach den Jungen nörgelnd in seinem Bettchen vorgefunden habe, er aber seine Ruhe haben wollte. Die Tat sei somit nicht geplant gewesen, sondern situationsbedingt geschehen.

Im Urteil ist die verminderte Schuldfähigkeit des Vaters berücksichtigt worden. Nicht, weil er Alkohol und Drogen vor der Tat konsumiert hat, sondern, weil er alkohohlkrank sei. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Mutter zum Tod ihres Kindes beigetragen hat. Sie hätte wissen müssen, dass der Vater unter Alkoholeinfluss nicht hätte mit dem Jungen allein gelassen

13Quellenangaben unter 10. Literatur- und Quellenverzeichnis

Page 11

werden dürfen, da so eine Gefahr von ihm ausgehe. Sie habe somit durch Unterlassen zum Tod ihres Sohnes beigetragen.

Die Einsicht der Mitschuld habe sich aber für die Mutter strafmildernd ausgewirkt. Ein psychologischer Sachverständiger bescheinigte der erneut schwangeren fünffachen Mutter eine Persönlichkeitsstörung.

Ältere Verletzungen, die bei der von der Kasseler Staatsanwaltschaft ange-forderten Obduktion entdeckt wurden, wie Blutergüsse, ältere Knochenbrüche und verletzte innere Organe, zeugen davon, dass der Junge über längere Zeit massiv misshandelt wurde. Da diese Misshandlungen den Eltern nicht nachgewiesen werden konnten, wurden diese auch nicht angeklagt. Die zuständige Staatsanwaltschaft will in Revision gehen, da sie die vom Richter genannte Einsicht der Mutter nicht habe erkennen können. Dieses Urteil, so Staatsanwalt Jan Uekermann, werde der Sache nicht gerecht.

Dieser Fall hat auch Diskussionen über die Rolle des Jugendamtes ausgelöst. Die Nachbarn der Familie erstatteten Anzeige gegen die Behörde und die zuständige Dezernentin.14Die Ermittlungen gegen beide wurden später eingestellt.

Nachbarn hätten dem Jugendamt einen anonym Brief zukommen lassen und auf die misslichen Zustände hingewiesen. Sie hätten ihm mitgeteilt, dass der einjährige Junge oft tagsüber allein gelassen worden sei, selten an die frische Luft käme und sein gesundheitlicher Zustand aufgrund einer möglichen Unterentwicklung bedenklich sei. Sie fragten sich, ob der Junge ausreichend Nahrung bekäme. Zudem lebten mehrere Katzen und Hunde in der Wohnung, so die Nachbarn.

Der zuständige Mitarbeiter des Jugendamtes erstellte nach Eingang des Briefes sofort eine Gefahrenmeldung. Diese ruhte jedoch erst einmal, da man, so der Leiter des Jugendamtes, keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung und somit auch keine akute Gefährdung sah.

14Interview der HNA mit der Jugenddezernentin im Anhang unter I. (S. 101)