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Im Kampf mit sich selbst – Dostojewskis Blick in die menschliche Seele In diesem Roman schildert Dostojewski die Gedankenwelt eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich freiwillig in die Isolation zurückgezogen hat und aus einem »Kellerloch« heraus seine Gedanken über das Leben und die Gesellschaft reflektiert. Ein verbitterter und widersprüchlicher Mensch analysiert die absurden und dunklen Seiten des Menschseins und hinterfrägt die gängigen Vorstellungen von Glück, Moral und Vernunft. Das Werk, das 1864 erschien, gilt als ein tiefgründiges Psychogramm menschlicher Widersprüche. Dostojewski thematisiert den inneren Konflikt zwischen Rationalität und Emotion, Freiheit und Selbstzerstörung, Stolz und Verzweiflung und lässt seine Figur radikal mit gesellschaftlichen Normen brechen. »Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist; nur deshalb.« Fjodor Michailowitsch Dostojewski Erleben Sie das Lesen dieser besonderen Bücher neu oder entdecken Sie diese wunderbaren Werke für sich! Dostojewski bei nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT
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Seitenzahl: 227
Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
ISBN/EAN: 978-3-95870-711-5
1. Auflage
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
Cover: Selbstportrait von Carl Joseph Begas (1794-1845),Gestaltung: nexx verlag gmbh, 2024
www.nexx-verlag.de
Fjodor Michailowitsch Dostojewski, am 11. November 1821 in Moskau geboren, wuchs in einer Familie auf, die zwar gebildet war, aber in bescheidenen Verhältnissen lebte. Nach dem frühen Tod seiner Eltern begann er ein Studium an der Militärschule in St. Petersburg, entschied sich dann aber bald, sich der Literatur zu widmen.
Seine literarische Karriere begann mit dem Roman »Arme Leute« vielversprechend, sein späteres Leben war jedoch gezeichnet von persönlichen Turbulenzen: 1849 wurde er wegen seiner Beteiligung an einem revolutionären Zirkel verhaftet und zum Tode verurteilt, eine Strafe, die in letzter Minute in Zwangsarbeit und Verbannung nach Sibirien umgewandelt wurde. Diese Erfahrung prägte ihn tief und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf seine späteren Werke.
Nach seiner Begnadigung kehrte Dostojewski nach Russland zurück und setzte seine schriftstellerische Karriere fort. Er schrieb einige seiner bedeutendsten Werke, darunter »Schuld und Sühne«, »Der Idiot«, »Die Dämonen« und »Die Brüder Karamasow«. Diese Romane sind für ihre tiefgründige psychologische Analyse und ihre philosophischen Erkundungen menschlicher Fragen wie Schuld, Reue, Moral, Freiheit und der Suche nach Gott bekannt.
Dostojewskis Einfluss auf moderne Autoren ist weitreichend. Seine ausgefeilte psychologische Darstellung von Charakteren und seine Erkundung existenzieller Themen haben Generationen von Schriftstellern inspiriert. Autoren wie Franz Kafka, Albert Camus und James Joyce haben Dostojewskis Fähigkeit bewundert, den inneren Konflikt und die moralische Ambivalenz im Menschen darzustellen. Sein Werk hat auch maßgeblich zur Entwicklung des psychologischen Romans beigetragen.
Dostojewskis Literatur spiegelt die Turbulenzen seiner eigenen Zeit wider, bleibt jedoch aufgrund ihrer universellen Themen zeitlos relevant. Sein Erbe lebt in der modernen Literatur weiter, indem es Autoren herausfordert, sich mit den komplexesten Aspekten der menschlichen Natur auseinanderzusetzen und literarische Formen zu erkunden, die neue Bedeutungen und Perspektiven offenbaren.
Joachim FeserVerleger
Ich bin ein kranker Mann ... Ich bin ein schlechter Mann. Ich besitze nichts Anziehendes.
Ich glaube, ich bin leberleidend. Zwar verstehe ich nicht das Geringste von meiner Krankheit und weiß nicht genau, was eigentlich an mir krank ist. Ich mache keine Kur und habe es nie getan, obwohl ich vor der medizinischen Wissenschaft und den Ärzten Respekt habe. Außerdem bin ich sehr abergläubisch, zumindest habe ich Respekt vor der medizinischen Wissenschaft. (Ich besitze genügend Bildung, um nicht abergläubisch zu sein, und bin es trotzdem.) Nein, dass ich keine Medikamente einnehme, geschieht aus Bosheit. Das wird Ihnen gewiss nicht verständlich sein. Na, aber mir ist es verständlich. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wem ich denn eigentlich in diesem Fall mit meiner Bosheit einen Tort antun will; ich weiß recht wohl, dass ich auch die Ärzte nicht dadurch kränken kann, dass ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß besser als jeder andere, dass ich damit nur mir selbst schade und sonst niemandem. Aber dennoch: wenn ich gegen meine Krankheit nichts tue, dann geschieht das aus Bosheit. Meine Leber ist krank; nun, mag sie noch kränker werden!
Ich lebe schon lange in dieser Weise, schon zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig. Ich bekleidete früher ein Amt; aber jetzt habe ich keins. Ich war ein boshafter Beamter. Ich war grob und fand darin mein Vergnügen. Da ich keine Bestechungsgelder annahm, musste ich mich wenigstens durch Grobheit entschädigen. (Ein misslungenes Bonmot; aber ich streiche es nicht heraus. Ich schrieb es hin in der Meinung, es werde sehr geistreich herauskommen; aber jetzt, da ich einsehe, dass ich nur in widerwärtiger Weise großtun wollte, streiche ich es absichtlich nicht heraus!)
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Sowohl der Autor der Aufzeichnungen als auch die Aufzeichnungen selbst sind natürlich frei erfunden. Jedoch sind solche Personen wie der Verfasser dieser Aufzeichnungen in unserer Gesellschaft nicht nur möglich, sondern sie müssen sogar existieren als Folge der Umstände, unter denen sich unsere Gesellschaft gebildet hat. Ich wollte dem Leserpublikum einen Charakter aus der erst kürzlich vergangenen Zeit in etwas anschaulicherer Weise vor Augen führen, als das gewöhnlich geschieht. Er ist ein Vertreter der noch lebenden Generation. In diesem Fragment, das den Titel »Das Dunkel« führt, präsentiert er sich selbst und seine Anschauungen und möchte gewissermaßen die Gründe verständlich machen, warum er in unserer Mitte aufgetreten ist und hat auftreten müssen. In dem nächsten Fragment werden dann die wirklichen »Aufzeichnungen« dieses Mannes über einige seiner Erlebnisse folgen.
Anmerkung des Verfassers
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Sobald an meinen Schreibtisch Bittsteller mit Anfragen traten, sah ich sie zähneknirschend an und empfand einen unersättlichen Genuss, wenn es mir gelang, meinen Mitmenschen Angst einzujagen. Und das gelang fast immer. Es war eben größtenteils ein schüchternes Völkchen, wie Bittsteller nun einmal sind. Aber unter den flotten jungen Leuten konnte ich besonders einen Offizier nicht leiden. Er wollte sich einfach nicht fügen und rasselte abscheulich mit dem Säbel. Wegen dieses Säbels habe ich mit ihm anderthalb Jahre lang Krieg geführt. Endlich trug ich den Sieg davon. Er hörte auf, mit dem Säbel zu rasseln. Übrigens begab sich das noch in meiner Jugend. Aber wissen Sie, meine Herren, worüber ich mich am allermeisten erboste? Gerade darin bestand der ganze Verdruss, gerade darin lag die größte Gemeinheit, dass ich mir in jedem Augenblick, sogar im Moment des stärksten Hasses schmählich bewusst war, dass ich kein boshafter und schon gar kein jähzorniger Mann bin, dass ich nur ganz umsonst Spatzen erschrecke und mich damit tröste. Und sollte ich schäumen vor Wut, dann reiche man mir ein Püppchen oder gebe mir ein Tässchen Tee mit Zucker, und ich glaube, ich würde mich völlig beruhigen. Ich würde sogar ganz gerührt sein, obwohl ich nachher sicher auf mich selbst wütend wäre und vor Scham ein paar Monate lang an Schlaflosigkeit litte. Das ist eben meine Art.
Wenn ich vorhin sagte, ich sei ein boshafter Beamter gewesen, so habe ich damit gelogen, aus Bosheit gelogen. Einfach aus Mutwillen habe ich die Bittsteller und den Offizier so behandelt, aber in Wirklichkeit konnte ich nie boshaft werden. Ich war mir fortwährend vieler, sehr vieler der Bosheit entgegengesetzter Elemente in meinem Innern bewusst. Ich fühlte, dass in mir unzählig viele solche Elemente steckten. Ich wüsste, dass sie mein Leben lang in mir gewesen waren und nach außen drängten; aber ich ließ sie nicht heraus, nein, ich ließ sie nicht heraus, absichtlich nicht. Sie peinigten mich bis zum Schamgefühl, erzeugten Krämpfe und wurden mir schließlich ganz zuwider, schrecklich zuwider! Sie werden doch nicht etwa glauben, meine Herren, dass ich jetzt Ihnen gegenüber Reue ausspreche, Sie um Verzeihung bitte? Ich bin überzeugt, dass Sie das glauben ... Übrigens kann ich Ihnen versichern, dass es mir ganz gleichgültig ist, wenn Sie das glauben ...
Dass ich nicht verstanden habe, boshaft zu werden, ist nicht das Einzige: Ich habe überhaupt nicht verstanden, etwas zu werden, weder boshaft noch gutmütig, weder ein Schuft noch ein Ehrenmann, weder ein Held noch ein Wurm. Jetzt aber lebe ich im Kellerloch und halte mich selbst zum Narren mit dem boshaften, wirkungslosen Trost, dass ein verständiger Mensch überhaupt nichts Ernsthaftes werden kann – das ist nur einem Dummkopf möglich. Ja, ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muss in erster Linie charakterlos sein; dazu ist er moralisch verpflichtet; ein charakterfester Mensch dagegen, ein Mann der Tat, ist in erster Linie ein beschränktes Wesen. Das ist die Überzeugung, zu der ich in meinem vierzigjährigen Leben gelangt bin. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt; und vierzig Jahre sind schon das ganze Leben; das ist das höchste Greisenalter. Länger als vierzig Jahre zu leben ist unanständig, gemein, unmoralisch. Wer lebt denn länger als vierzig Jahre? Antworten Sie offen und ehrlich! Ich will Ihnen sagen, wer länger lebt: nur Dummköpfe und Taugenichtse. Das sage ich allen alten Herren ins Gesicht, all diesen respektablen, silberhaarigen. wohlparfümierten alten Herren! Der ganzen Welt sage ich das ins Gesicht! Ich habe ein Recht, so zu reden, weil ich selbst bis zum sechzigsten Jahr leben werde. Bis zum siebzigsten werde ich leben! Bis zum achtzigsten werde ich leben ... Warten Sie, lassen Sie mich erst Atem holen ...
Sie denken gewiss, meine Herren, ich wolle Sie zum Lachen bringen? Aber auch darin haben Sie sich geirrt. Ich bin überhaupt kein so lustiger Mensch, wie Sie vielleicht glauben; übrigens, wenn Sie, gereizt durch dieses ganze Geschwätz (und ich merke schon, dass Sie gereizt sind), auf den Einfall kommen, mich zu fragen, wer ich eigentlich sei, so will ich Ihnen darauf antworten: Ich besitze den Rang eines Kollegienassessors. Ich bin im Staatsdienst tätig gewesen, um mein täglich Brot zu haben (einzig und allein deshalb), und als mir im vorigen Jahr ein entfernter Verwandter testamentarisch sechstausend Rubel hinterließ, nahm ich sofort den Abschied und siedelte mich in diesem meinem dunklen Stübchen an. Gewohnt habe ich in diesem Kellerloch auch schon vorher; aber jetzt habe ich mich hier fest angesiedelt. Es ist eine jämmerliche, garstige Behausung am Stadtrand. Meine Aufwärterin ist eine alte Bauernfrau, die vor lauter Dummheit boshaft ist und außerdem unangenehm riecht. Man sagte mir, das Petersburger Klima werde mir schaden, und für meine bescheidenen Mittel sei das Leben in Petersburg zu teuer. Ich weiß das alles, besser als diese erfahrenen, weisen Ratgeber. Aber trotzdem bleibe ich in Petersburg; ich werde nicht aus Petersburg wegziehen! Das wer de ich deswegen nicht tun, weil ... Ach was! Es ist ja völlig gleich gültig, ob ich wegziehe oder nicht.
Übrigens: Wovon kann ein ordentlicher Mensch mit dem größten Vergnügen sprechen?
Antwort: von sich.
Nun, dann werde ich also von mir sprechen.
Ich möchte Ihnen jetzt erzählen, meine Herren (ob Sie nun Lust haben, es anzuhören, oder nicht), warum ich nicht einmal ein Wurm zu werden geschafft habe. Ich sage Ihnen allen Ernstes, dass ich oftmals den Wunsch hatte, ein Wurm zu werden. Doch auch dessen bin ich nicht gewürdigt worden. Ich versichere Ihnen mit aller Bestimmtheit, meine Herren, dass zuviel Erkenntnis eine Krankheit ist, eine wirkliche, reguläre Krankheit. Für den Bedarf der Menschen wäre eine gewöhnliche menschliche Erkenntnis völlig ausreichend, das heißt die Hälfte oder ein Viertel der Portion, die auf einen geistig entwickelten Menschen unseres unglücklichen neunzehnten Jahrhunderts entfällt, der obendrein noch das doppelte Unglück hat, in Petersburg zu wohnen, jener Stadt, wo das abstrakte Denken am meisten von allen Städten der Welt betrieben wird. (Es gibt Städte, in denen abstrakt gedacht wird, und solche, in denen das nicht geschieht.) Ganz ausreichend wäre zum Beispiel der Wissensschatz, mit dem alle Männer des unmittelbaren praktischen Handelns leben. Ich möchte wetten, Sie glauben, dass ich das alles aus Prahlsucht schreibe, um über die Männer des praktischen Lebens zu witzeln und außerdem mit meinem schlechten Ton zu renommieren, und dass ich gleichsam wie dieser Offizier mit dem Säbel rassele. Aber, meine Herren, wer kann denn auf seine Krankheiten stolz sein und gar noch mit ihnen renommieren?
Doch was rede ich da! Das tun ja alle; gerade auf ihre Krankheiten sind sie stolz, und ich vielleicht in höherem Maße als die anderen. Wir wollen darüber nicht streiten:
Ich gebe zu, dass mein Einwand absurd war. Dennoch bin ich fest überzeugt, dass nicht nur sehr viel Erkenntnis, sondern sogar jede Erkenntnis eine Krankheit ist. Dabei bleibe ich. Aber lassen wir auch dieses Thema ein Weilchen beiseite! Sagen Sie mir, bitte, einmal Folgendes: Wie ging es zu, dass ich gerade in dem Augenblick, ja, gerade in demselben Augenblick, in dem ich am fähigsten war, die Feinheiten »alles Schönen und Erhabenen- zu erkennen, wie man sich bei uns einmal ausdrückte, wie ging es zu, dass ich da so garstige Dinge nicht nur dachte, sondern auch tat, Dinge, wie sie ... na ja, kurz gesagt, Dinge, die zwar vielleicht alle Menschen begehen, die mir aber, wie absichtlich, gerade dann passierten, wenn ich am klarsten erkannte, dass man sie überhaupt nicht tun dürfe? Je mehr ich das Gute und all dieses »Schöne und Erhabene« erkannte, umso tiefer versank ich im Untergrund und umso fester blieb ich in ihm stecken.
Aber der wichtigste Zug bestand darin, dass sich das alles in meinem Innern nicht zufällig abspielte, sondern als ob es gewissermaßen so sein müsste. Als wäre das mein normaler Zustand und keineswegs eine Krankheit, eine sittliche Verderbtheit, sodass mir schließlich die Lust verging, gegen diese sittliche Verderbtheit anzukämpfen. Und schließlich glaubte ich fast (vielleicht glaubte ich es tatsächlich), dass dies wirklich mein normaler Zustand sei. Aber zuerst, am Anfang, wie viel Qualen hatte ich bei diesem Kampf auszustehen! Ich dachte nicht, dass es anderen ebenso ginge, und verbarg daher mein Leben lang diesen Vorgang wie ein Geheimnis. Ich schämte mich (ja, vielleicht schäme ich mich auch jetzt noch); es kam so weit, dass ich bisweilen eine Art geheimen, unnatürlichen, gemeinen Genusses darin empfand, beispielsweise in einer besonders ekelhaften Petersburger Nacht in meinen »Kellerloch« zurückzukehren und mir mit Gewalt dessen bewusst zu werden, dass ich auch jetzt wieder eine Schändlichkeit begangen hätte, eine nie wieder rückgängig zu machende Schändlichkeit, und dann deswegen innerlich an mir herum zu nagen, herum zu sägen, herum zu saugen, bis die Bitterkeit sich schließlich in eine Art schmählicher, nichtswürdiger Süße verwandelte und zuletzt in einen wirklichen Genuss! Ja, in einen Genuss, in einen Genuss! Ich bleibe dabei. Ebendeswegen habe ich hiervon zu sprechen angefangen, weil ich gerne zuverlässig wissen möchte, ob auch bei anderen ein solcher Genuss vorkommt, Ich werde Ihnen den Zusammenhang erklären: Der Genuss rührte hier gerade daher, dass man die eigene Erniedrigung besonders klar erkannte und empfand, dass man bis an die Grenze gelangt sei, dass diese Handlungsweise schändlich sei, aber doch eben nicht anders sein könne, dass man keinen Ausweg mehr habe und niemals ein anderer Mensch werde, und selbst wenn noch Zeit zu einer eigenen Umwandlung und der Glaube daran geblieben seien, dass man doch zu einer solchen Umwandlung keine Lust haben würde, und wenn man Lust dazu hätte, auch dann nichts ausrichten würde, weil es vielleicht tatsächlich nichts gäbe, in das man sich umwandeln könnte. Die Hauptsache aber und der letzte Schluss ist, dass sich dies alles nach den normalen, einfachsten Gesetzen der gesteigerten Erkenntnis und aufgrund des Beharrungsvermögens vollzieht, das direkt auf diesen Gesetzen beruht; infolgedessen aber ist nicht nur eine Umwandlung unmöglich, sondern man richtet einfach überhaupt nichts aus. Zum Beispiel ergibt sich aus der gesteigerten Erkenntnis der Satz: »Du hast recht; du bist ein Schuft« – als ob es für einen Schuft ein Trost wäre, wenn er nunmehr selbst die Empfindung hat, dass er tatsächlich ein Schuft ist! Aber genug ... Ach, ich habe da viel zusammengeschwatzt; und was habe ich deutlich gemacht? Wodurch wird hierbei der Genuss erklärt? Doch ich werde mich schon verständlich machen. Ich werde die Sache schon zu Ende führen! Zu diesem Zweck habe ich ja auch die Feder zur Hand genommen ...
Ich besitze zum Beispiel eine gewaltige Eigenliebe. Ich bin misstrauisch und empfindlich wie ein Buckliger oder ein Zwerg; aber ungelogen, es gab bei mir Augenblicke, wo ich, wenn mir jemand eine Ohrfeige gegeben hätte, mich vielleicht sogar darüber gefreut hätte. Ich rede in vollstem Ernst: Sicherlich hätte ich verstanden, auch darin einen eigenartigen Genuss zu finden, selbstverständlich den Genuss der Verzweiflung; doch gerade in der Verzweiflung liegen die stärksten Genussempfindungen, besonders, wenn man die Ausweglosigkeit seiner Lage bereits sehr genau erkennt. Hier aber, bei der Ohrfeige, da erdrückt einen direkt die Erkenntnis, zu was für einem Schmutzfleck man zerrieben worden ist. Die Hauptsache aber ist dies: Wie man es auch ansieht, stets ergibt sich, dass in erster Linie immer ich selbst an allem schuld bin, und zwar, was das schmerzlichste ist, schuldlos schuldig bin, sozusagen nach den Naturgesetzen. Erstens trage ich deswegen Schuld, weil ich klüger bin als alle meine Mitmenschen, (Ich habe mich von jeher für klüger als meine Mitmenschen gehalten und mich manchmal, glauben Sie mir, sogar deswegen geschämt. Wenigstens habe ich mein Leben lang gleichsam zur Seite geblickt und den Leuten nie gerade in die Augen sehen können.) Ferner trage ich insofern Schuld: selbst wenn ich Großmut besäße, so würde doch die Erkenntnis seiner Nutzlosigkeit meine eigenen Qualen nur vermehren. Ich würde sicherlich mit meinem Großmut nichts anzufangen wissen; ich könnte damit weder verzeihen, weil der Beleidiger mich vielleicht nach den Naturgesetzen geschlagen hat und man den Naturgesetzen nichts zu verzeihen hat, noch könnte ich damit vergessen, weil es doch immer eine Beleidigung bleibt, mag sie auch nach den Naturgesetzen erfolgt sein. Und endlich, selbst wenn ich überhaupt nicht großmütig sein wollte, sondern vielmehr den Wunsch hätte, mich an dem Beleidiger zu rächen, so würde ich mich doch an niemandem und für nichts rächen können, weil ich mich bestimmt nicht dazu entschließen könnte, etwas zu unternehmen, selbst, wenn das möglich wäre. Warum würde ich mich nicht zur Tat entschließen? Darüber möchte ich ein paar Worte gesondert sagen.
Wie geht es denn zum Beispiel bei Menschen zu, die es verstehen, sich zu rächen und, ganz allgemein, sich ihrer Haut zu wehren? Sobald das Rachegefühl sie erfasst, bleibt in ihnen außer diesem Gefühl nichts übrig. Ein solcher Mann stürmt geradewegs auf das Ziel los, wie ein wütender Stier mit gesenkten Hörnern, und höchstem eine Mauer kann ihn vielleicht aufhalten. (Apropos: Solche Leute, das heißt die Männer des unmittelbaren praktischen Handelns, »passen« einfach vor einer Mauer. Für sie ist die Mauer nicht ein Widerstand, wie zum Beispiel für uns denkende und folglich nichtstuende Menschen; auch nicht ein Vorwand, um auf dem Weg umzukehren, ein Vorwand, an den unsereiner gewöhnlich selbst nicht glaubt, über den er sich aber immer sehr freut. Nein, sie »passen« in aller Aufrichtigkeit. Die Mauer hat für sie etwas Beruhigendes; sie gibt für sie in sittlicher Hinsicht den endgültigen Ausschlag; ja, sie legen ihr wohl gar eine mystische Bedeutung bei ... Aber auf die Mauer komme ich später noch zurück.) Nun also, sehen Sie, einen solchen Mann des unmittelbaren Handelns halte ich für den wahren, den normalen Menschen, wie ihn die zärtliche Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebevoll auf der Erde erzeugte. Ich beneide solchen Mann so stark, dass ich grün und gelb werde. Er ist dumm; darüber streite ich mit ihnen nicht; aber vielleicht muss der normale Mensch auch dumm sein; woher soll man das wissen? Vielleicht ist das sogar sehr hübsch. Und ich bin von der Richtigkeit dieses, sagen wir, Verdachts aus einem bestimmten Grund umso mehr überzeugt; denn wenn man zum Beispiel den Gegemack des normalen Menschen nimmt, das heißt den verstärkt erkennenden Menschen, der natürlich nicht aus dem Schoß der Natur, sondern aus der Retorte hervorgegangen ist (das streift schon an Mystizismus, meine Herren; aber das gehört mit zu meinem Verdacht), dann »passt« dieser Retortenmensch manchmal dermaßen vor seinem Gegensatz, dass er trotz all seiner gesteigerten Erkenntnis sich selbst ganz aufrichtig für eine Maus und nicht für einen Menschen hält. Mag er auch eine Maus mit gesteigerter Erkenntnis sein; aber er ist doch eben nur eine Maus, und dort ist ein Mensch, folglich ... und so weiter. Und was die Hauptsache ist: Er hält sich ja von selbst für eine Maus, von selbst; niemand hat ihn darum ersucht das ist ein wichtiger Punkt. Betrachten wir jetzt die Maus in ihrem Handeln! Setzen wir zum Beispiel den Fall, dass sie ebenfalls beleidigt ist (und sie wird fast immer beleidigt) und sich ebenfalls rächen will. Hass sammelt sich in ihr vielleicht noch mehr an als in dem »homme de la nature et de la verite«. Der hässliche, gemeine Wunsch, dem Beleidiger Böses mit Bösem zu vergelten, kann sie vielleicht noch heftiger peinigen als den »homme de la nature et de la verite«, weil dieser seiner angeborenen Dummheit zufolge die Rache ganz einfach für eine Handlung der Gerechtigkeit hält, während die Maus durch ihre gesteigerte Erkenntnis der Ansicht ist, dass von Gerechtigkeit dabei nicht die Rede sei. Es kommt nun schließlich zum Handeln selbst, zum eigentlichen Racheakt. Die unglückliche Maus hat außer der ursprünglichen Garstigkeit schon durch Fragen und Zweifel so viele andere Garstigkeiten zusammengetragen und an die eine Frage so viele unlösbare Fragen angeknüpft, dass sich ganz von selbst um sie herum so etwas wie verhängnisvolle Jauche ansammelt, eine Art von stinkendem Schmutz, bestehend aus ihren Zweifeln und Gemütserregungen und schließlich auch aus dem Speichel, der auf sie von den Männern des unmittelbaren praktischen Handelns hernieder regnet, die als Richter und Diktatoren feierlich um sie herumstehen und sie lauthals auslachen. Selbstverständlich hat sie noch die Möglichkeit, mit einer geringschätzigen Bewegung ihres Pfötchens die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen und mit dem Lächeln einer fingierten Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schimpflich in ihr Mauseloch zu schlüpfen. Dort in ihrem hässlichen, übelriechenden Kellerloch vergräbt sich unsere beleidigte, misshandelte, verlachte Maus ganz unverzüglich in einen äußerst kalten, boshaften und vor allen Dingen lebenslänglichen Groll. Vierzig Jahre lang wird sie sich ununterbrochen an die ihr angetanen Beleidigung bis auf die geringsten, schmählichsten Einzelheiten erinnern, dabei jedes Mal von sich aus noch schmählichere Einzelheiten hinzufügen und sich auf diese Weise mit den Erfindungen ihrer eigenen Fantasie anstacheln und verhöhnen. Sie wird sich ihrer Erinnerung und ihrer Fantasie schämen und sich dennoch alles ins Gedächtnis zurückrufen, alles durchmustern, sich Nichtgeschehenes ausdenken mit der Begründung, das hätte sich doch auch noch zutragen können, und wird nichts verzeihen. Vielleicht wird sie sich auch rächen, aber nur bei einzelnen Gelegenheiten, in kleinlicher Weise, hinter dem Ofen hervor, inkognito, ohne selbst an ihr Recht auf Rache oder anderen Erfolg zu glauben, und im Voraus wissend, dass sie selbst an all ihren Racheversuchen hundertmal mehr zu leiden hat als der, an dem sie sich rächt, dieser aber wird sich an der Bissstelle vielleicht nicht einmal kratzen. Auf ihrem Sterbebett wird sie sich wieder an alles erinnern, samt den Zinsen, die sich mit der Zeit angesammelt haben, und ... Aber gerade in dieser kalten, widerwärtigen halben Verzweiflung, in diesem halben Glauben, in diesem Verfahren, sich vor Leid ganz bewusst für vierzig Jahre in einer elenden Höhle lebendig zu begraben, in dieser mittels der gesteigerten Erkenntniskraft wahrgenommenen und dennoch zum Teil zweifelhaft bleibenden Ausweglosigkeit der Lage, in diesem Gift unbefriedigter, ins Innerste eingegangener Wünsche, in diesem Fieber des Hin- und Herschwankens, der für alle Zeit gefassten Entschlüsse und der Reue, die sich einen Augenblick darauf wieder einstellt – darin liegt ja eben die Quelle des seltsamen Genusses, von dem ich sprach. Er ist von einer solchen Subtilität und manchmal so schwer zu erkennen, dass einigermaßen beschränkte Leute oder sogar einfache Leute mit starken Nerven von ihm nicht die Spur verstehen. »Vielleicht verstehen auch diejenigen nichts davon«, fügen Sie Ihrerseits schmunzelnd hinzu, »die niemals Ohrfeigen bekommen haben«, und Sie deuten mir auf diese Art in höflicher Form an, dass ich in meinem Leben vielleicht ebenfalls eine Ohrfeige aus Erfahrung kenne und daher als Sachverständiger spreche. Ich möchte wetten, dass Sie das meinen. Aber beruhigen Sie sich, meine Herren, ich habe keine Ohrfeigen bekommen, obwohl es mir völlig gleichgültig ist, wie Sie darüber denken. Vielleicht bedauere ich sogar selbst, dass ich in meinem Leben nur wenig Ohrfeigen ausgeteilt habe. Aber genug; kein Wort mehr von diesem Thema, das Sie so außerordentlich interessiert. Ich fahre ruhig fort, von den Leuten mit starken Nerven zu sprechen, die für eine gewisse Feinheit des Genusses kein Verständnis haben. Diese Herren brüllen zwar in manchen Fällen wie die Stiere, und das bringt ihnen immerhin sogar die größte Ehre ein; aber, wie ich bereits sagte, angesichts der Unmöglichkeit beruhigen sie sich sofort. Denn die Unmöglichkeit, das ist eine steinerne Mauer! Was ist das für eine steinerne Mauer? Nun, selbstverständlich die Naturgesetze, die Resultate der Naturwissenschaften, die Mathematik. Wenn man dir zum Beispiel beweist, dass du vom Affen abstammst, dann hat es keinen Zweck, die Stirn zu runzeln; nimm die Sache hin, wie sie ist. Und wenn man dir beweist, dass ein einziges Gramm deines eigenen Fettes dir eigentlich teurer sein muss als hunderttausend dir ähnliche Wesen und dass dieses Resultat mit allen sogenannten Tugenden und Pflichten und anderen Albernheiten und vorgefassten Meinungen endgültig aufräumt, dann nimm auch das hin; da ist weiter nichts zu machen; denn zwei mal zwei ist vier, lehrt die Mathematik. Versuche einmal, diesen Satz zu widerlegen!
»Erlauben Sie«, ruft man uns zu; »dagegen kann man sich nicht auflehnen: Das ist so sicher wie zwei mal zwei vier ist! Die Natur fragt Sie nicht; sie kümmert sich nicht um Ihre Wünsche; sie kümmert sich nicht darum, ob Ihnen ihre Gesetze gefallen oder nicht. Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch alles, was aus ihr resultiert. Eine Mauer ist eben eine Mauer ...« und so weiter und so weiter. Herrgott, aber was scheren mich die Gesetze der Natur und der Mathematik, wenn mir diese Gesetze und der Satz »Zwei mal zwei ist vier – aus irgendwelchem Grund missfallen? Selbstverständlich werde ich gegen eine solche Mauer nicht mit der Stirn anrennen, wenn ich tatsächlich nicht die Kraft habe, sie einzurennen: aber ich werde mich mit ihr auch nicht einzig und allein deswegen versöhnen, weil sie aus Stein ist und meine Kraft ihr gegen über nicht ausreicht.
Als ob eine solche Steinmauer wirklich eine Beruhigung wäre und wirklich etwas auch nur einigermaßen Versöhnliches enthielte, bloß, weil sie eine Art von »Zwei mal zwei ist vier« ist! Oh Absurdität der Absurditäten! Etwas ganz anderes ist es, alles zu verstehen, alles zu erkennen, alle Unmöglichkeiten und steinernen Mauern; sich mit keiner dieser Unmöglichkeiten und steinernen Mauern auszusöhnen, wenn einem eine solche Aussöhnung widerstrebt; über die zwingendsten logischen Kombinationen zu der widerwärtigen Schlussfolgerung aus jenem ewigen Thema zu gelangen, dass man sogar an der steinernen Mauer gewissermaßen selbst schuld sei, obwohl es wiederum bis zur Evidenz klar ist, dass man überhaupt nicht daran schuld ist; und infolgedessen schweigend und mit ohmnächtigem Zähneknirschen wollüstig in Untätigkeit zu erstarren, indem man den Gedanken ausspinnt, dass man somit nicht einmal Grund habe, auf jemanden böse zu sein, und dass kein Objekt zu finden sei und vielleicht nie zu finden sein werde und dass hier Unterschiebung, betrügerisches Kartenmischen. Falschspielerei stattfinde und dass hier einfach ein ekelhafter Zustand vorliege – man weiß nicht, was es eigentlich ist und wer die Schuld trägt, aber trotz all dieser Unklarheiten und Betrügereien schmerzt es einen doch, und je unklarer es einem ist, desto mehr schmerzt es!
»Hahaha! Wenn Sie so denken, werden Sie auch im Zahnschmerz einen Genuss finden!«, rufen Sie mir lachend zu.