Der Jüngling - Fjodor Michailowitsch Dostojewski - E-Book

Der Jüngling E-Book

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Beschreibung

Arkadij Dolgorukij, ein zorniger junger Mann, unehelicher Sohn eines erfolglosen Gutsbesitzers, will nach oben. Wie schon in "Der Idiot" macht Dostojewski auch in "Der Jüngling" einen gesellschaftlichen Außenseiter zur Hauptperson. Arkadij steckt voller spinnerter "Ideen", die er alle enthusiastisch versucht umzusetzen, nur um doch immer wieder zu scheitern. Seine Reise durch das verkommene, aus den Fugen geratene St. Petersburg führt zur Katastrophe. Null Papier Verlag

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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Jüngling

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Jüngling

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hermann Röhl EV: Berlin, 1915 2. Auflage, ISBN 978-3-954183-88-3

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Au­tor und Werk

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Drit­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Schluß

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

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Das Buch

Ar­ka­dij Dol­goru­kij, ein zor­ni­ger jun­ger Mann, un­ehe­li­cher Sohn ei­nes er­folg­lo­sen Guts­be­sit­zers, will nach oben.

Wie schon in »Der Idi­ot« macht Do­sto­jew­ski auch in »Der Jüng­ling« einen ge­sell­schaft­li­chen Au­ßen­sei­ter zur Haupt­per­son. Ar­ka­dij steckt vol­ler spin­ner­ter »Ide­en«, die er alle en­thu­sias­tisch ver­sucht um­zu­set­zen, nur um doch im­mer wie­der zu schei­tern.

Sei­ne Rei­se durch das ver­kom­me­ne, aus den Fu­gen ge­ra­te­ne St. Pe­ters­burg führt zur Ka­ta­stro­phe.

Autor und Werk

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski (geb. 11. No­vem­ber 1821 in Mos­kau; gest. 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg) gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten rus­si­schen Schrift­stel­ler.

Fjo­dor Do­sto­jew­ski war das zwei­te Kind von Michail An­dre­je­witsch Do­sto­jew­ski und Ma­ria Fjo­do­row­na Netscha­je­wa. Er hat­te zwei Brü­der und drei Schwes­tern. Die Fa­mi­lie ent­stamm­te ver­arm­tem Adel; der Va­ter war Arzt. Nach dem Tod sei­ner Mut­ter, 1837, ließ sich Do­sto­jew­ski mit sei­nem Bru­der Michail in St. Pe­ters­burg nie­der, wo er von 1838 bis 1843 Bau­in­ge­nieur­we­sen stu­dier­te. 1839 soll sein Va­ter auf dem hei­mi­schen Land­gut durch Leib­ei­ge­ne er­mor­det wor­den sein.

Do­sto­jew­ski war zwei­mal ver­hei­ra­tet. Sei­ne ers­te Ehe mit der Wit­we Ma­ria Dmi­tri­jew­na Isa­je­wa en­de­te 1864 nach sie­ben Jah­ren mit dem Tod Ma­ri­as und war kin­der­los. Sei­ne zwei­te Frau war Anna Gri­gor­jew­na Snit­ki­na. Aus der am 15. Fe­bru­ar 1867 ge­schlos­se­nen Ehe, die bis zu Do­sto­jew­skis Tod an­dau­er­te, gin­gen vier Kin­der her­vor, von de­nen je­doch nur zwei das Er­wach­se­nen­al­ter er­reich­ten.

Do­sto­jew­ski be­gann 1844 mit den Ar­bei­ten zu sei­nem 1846 ver­öf­fent­lich­ten Erst­lings­werk »Arme Leu­te«. Mit des­sen Er­schei­nen wur­de er schlag­ar­tig be­rühmt; die zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik fei­er­te ihn als Ge­nie. 1847 trat er dem re­vo­lu­tio­nären Zir­kel bei. 1949 de­nun­zier­te man ihn, und er wur­de zum Tode ver­ur­teilt. Ei­gent­lich hät­te er am 22. De­zem­ber 3. Ja­nu­ar 1850 durch ein Er­schie­ßungs­kom­man­do hin­ge­rich­tet wer­den sol­len. Erst auf dem Richt­platz be­gna­dig­te Zar Ni­ko­laus I. ihn zu vier Jah­ren Ver­ban­nung und Zwangs­ar­beit in Si­bi­ri­en, mit an­schlie­ßen­der Mi­li­tär­dienst­pflicht. In der Haft in Omsk wur­de bei Do­sto­jew­ski zum ers­ten Mal Epi­lep­sie dia­gno­s­ti­ziert.

1854 trat er sei­ne Mi­li­tär­pflicht im Rah­men sei­ner Ver­ban­nung in Se­mei (Se­mi­pa­la­tinsk) an; 1856 wur­de er zum Of­fi­zier be­för­dert. Nach sei­ner Hei­rat 1857 und schwe­ren epi­lep­ti­schen An­fäl­len be­an­trag­te er sei­ne Ent­las­sung aus der Ar­mee, die je­doch erst 1859 be­wil­ligt wur­de, so­dass Do­sto­jew­ski nach St. Pe­ters­burg zu­rück­keh­ren konn­te.

1859, noch zur Zeit sei­ner si­bi­ri­schen Ver­ban­nung, ent­stand sein Ro­man »On­kel­chens Traum«, un­mit­tel­bar vor den »Auf­zeich­nun­gen aus ei­nem To­ten­haus« (1860).

Ge­mein­sam mit sei­nem Bru­der grün­de­te er die Zeit­schrift »Zeit« (Wremja), in der im dar­auf fol­gen­den Jahr sein Ro­man »Er­nied­rig­te und Be­lei­dig­te« er­schi­en.

Be­reits 1863 je­doch fiel die Zeit­schrift der Zen­sur zum Op­fer und wur­de ver­bo­ten. In der 1860er Jah­ren reist Do­sto­jew­ski mehr­mals durch Eu­ro­pa.

1863 spiel­te er zum ers­ten Mal Rou­let­te. 1864 star­ben in kur­z­er Fol­ge Do­sto­jew­skis ers­te Frau, sein Bru­der und sein Freund Apol­lon Gri­gor­jew; die Nach­fol­ge­zeit­schrift der »Zeit«, die »Epo­che«, muss­te er aus Geld­man­gel ein­stel­len.

1865 ver­spiel­te er beim Rou­let­te in der Spiel­bank in Wies­ba­den sei­ne Rei­se­kas­se. Im Mit­tel­punkt sei­nes 1866 er­schie­ne­nen Ro­mans »Der Spie­ler« steht ein Rou­let­te­spie­ler. Im sel­ben Jahr er­schi­en der ers­te der großen Ro­ma­ne, durch die Do­sto­jew­skis Werk Teil der Welt­li­te­ra­tur wur­de: »Schuld und Süh­ne« (oder auch in der Neu­über­set­zung: »Ver­bre­chen und Stra­fe«).

Kurz nach sei­ner zwei­ten Ehe­schlie­ßung, 1867, nach dem Zu­sam­men­bruch der mit sei­nem Bru­der ge­grün­de­ten zwei­ten Zeit­schrift ins Aus­land, um sich dem Zu­griff sei­ner Gläu­bi­ger zu ent­zie­hen. Er wohn­te län­ge­re Zeit in Dres­den.

Erst 1871 kehr­te er wie­der nach Russ­land zu­rück. Ent­ge­gen der weit­ver­brei­te­ten An­nah­me, Do­sto­jew­ski habe große Be­trä­ge am Rou­let­te­tisch ver­lo­ren, war er ein Spie­ler mit ge­rin­gen Ein­set­zen, der oft ta­ge­lang mit dem Geld ei­nes ge­ra­de ver­pfän­de­ten Klei­des sei­ner Frau spiel­te.

1868 er­schi­en sein zwei­tes Groß­werk, »Der Idi­ot«, die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft schei­tert.

Zu sei­nem Ende hin ver­lief das Le­ben Do­sto­jew­skis in ru­hi­ge­ren Bah­nen. Er ver­fass­te sei­ne bei­den letz­ten großen Wer­ke, den Ro­man »Der Jüng­ling« -- in der Neu­über­set­zung »Ein grü­ner Jun­ge« -- und schließ­lich den Ro­man »Die Brü­der Ka­ra­ma­sow«, den er in den 1860er Jah­ren, also in der Zeit der Ent­ste­hung von »Schuld und Süh­ne«, be­gon­nen hat­te und der die Ent­wick­lung der rus­si­schen Ge­sell­schaft bis in die 1880er Jah­re be­han­deln soll­te.

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski starb am 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg an ei­nem Lun­gen­em­phy­sem; an sei­nem Be­gräb­nis nah­men 60.000 Men­schen teil. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Tich­wi­ner Fried­hof des Alex­an­der-New­ski-Klos­ters.

Erster Teil

Erstes Kapitel

I

Ich habe dem Dran­ge nicht wi­der­ste­hen kön­nen, mich hin­zu­set­zen und die­se Ge­schich­te mei­ner ers­ten Schrit­te auf der Le­bens­bahn auf­zu­zeich­nen, ob­wohl es ei­gent­lich nicht nö­tig wäre. Aber ei­nes weiß ich ganz ge­nau: um mei­ne gan­ze Le­bens­ge­schich­te zu schrei­ben, wer­de ich mich nie­mals mehr hin­set­zen, und wenn ich hun­dert Jah­re alt wer­den soll­te. Man muß doch gar zu sehr in sich selbst ver­liebt sein, um von sich selbst zu schrei­ben, ohne sich zu schä­men. Ich ent­schul­di­ge mich nur da­mit, daß ich nicht in der Ab­sicht schrei­be, in der es alle an­de­ren tun, näm­lich um vom Le­ser ge­lobt zu wer­den. Wenn ich mich plötz­lich dazu ent­schlos­sen habe, al­les, was mir im letz­ten Jahr be­geg­net ist, ein­ge­hend nie­der­zu­schrei­ben, so habe ich es in­fol­ge ei­nes in­ne­ren Be­dürf­nis­ses ge­tan: einen so star­ken Ein­druck hat al­les Ge­sche­he­ne auf mich ge­macht. Ich wer­de nur die Er­eig­nis­se ver­zeich­nen und al­les frem­de Bei­werk, na­ment­lich schrift­stel­le­ri­sche Fi­nes­sen, mög­lichst ver­mei­den; so ein Schrift­stel­ler schreibt drei­ßig Jah­re lang und weiß zu­letzt gar nicht, wozu er ei­gent­lich so lan­ge ge­schrie­ben hat. Ich aber bin kein Schrift­stel­ler und will kein Schrift­stel­ler sein, und ich wür­de es für eine Un­schick­lich­keit und für eine Ge­mein­heit hal­ten, wenn ich das In­ners­te mei­ner See­le und mei­ne bes­ten Emp­fin­dun­gen auf den Bü­cher­markt schlepp­te. Zu mei­nem Ver­druß ahnt mir aber, daß es doch wohl nicht ganz ohne Schil­de­rung von Emp­fin­dun­gen und ohne Re­fle­xio­nen (viel­leicht so­gar von tri­via­ler Art) ab­ge­hen wird: so sit­ten­ver­der­bend wirkt auf den Men­schen eine jede li­te­ra­ri­sche Tä­tig­keit, auch wenn er sie nur für sich aus­übt. Die Re­fle­xio­nen aber wer­den viel­leicht so­gar einen sehr tri­via­len Ein­druck ma­chen, weil das, was man selbst für wert­voll hält, in den Au­gen ei­nes Frem­den leicht wert­los er­scheint. Aber las­sen wir das al­les ab­ge­tan sein! Nun habe ich doch eine Vor­re­de ge­schrie­ben; wei­ter soll aber nichts mehr in die­sem Gen­re vor­kom­men. Zur Sa­che also, ob­gleich nichts schwie­ri­ger ist, als zur Sa­che zu kom­men -- viel­leicht auf al­len Ge­bie­ten.

II

Ich fan­ge an, das heißt, ich möch­te mei­ne Auf­zeich­nun­gen mit dem 19. Sep­tem­ber vo­ri­gen Jah­res be­gin­nen, also ge­nau an dem Tag mei­ner ers­ten Be­geg­nung mit...

Aber wenn ich so ge­ra­de da­mit her­aus­käme, wem ich be­geg­ne­te, ehe noch je­mand ir­gend et­was weiß, so wür­de das ab­ge­schmackt sein; ich glau­be so­gar, daß die­ser gan­ze Ton ab­ge­schmackt ist: ob­wohl ich mir fest vor­ge­nom­men, habe, nicht nach li­te­ra­ri­schen Fi­nes­sen zu trach­ten, bin ich doch von der ers­ten Zei­le an in die­ses Fahr­was­ser hin­ein­ge­ra­ten. Au­ßer­dem ist, wie es scheint, zum ver­nünf­tig Schrei­ben der blo­ße Wunsch, es zu tun, noch nicht aus­rei­chend. Ich be­mer­ke fer­ner, daß es sich wohl in kei­ner eu­ro­päi­schen Spra­che so schwer schreibt wie im Rus­si­schen. Ich habe das, was ich hier so­eben nie­der­ge­schrie­ben habe, jetzt noch ein­mal durch­ge­le­sen und fin­de, daß ich weit klü­ger bin, als ich in dem Ge­schrie­be­nen er­schei­ne. Wo­her kommt es, daß bei ei­nem klu­gen Men­schen das, was er sagt, weit düm­mer ist als das, was un­aus­ge­spro­chen in ihm zu­rück­bleibt? Ich habe das wäh­rend die­ses gan­zen ver­häng­nis­vol­len letz­ten Jah­res an mir auch beim münd­li­chen Um­gang mit an­de­ren zu wie­der­hol­ten Ma­len be­merkt und mich sehr dar­über ge­är­gert.

Ob­gleich ich mit dem 19. Sep­tem­ber be­gin­nen will, möch­te ich doch erst ein paar Wor­te dar­über her­set­zen, wer ich bin, wo ich vor­her ge­lebt hat­te und wie es so­mit an je­nem Vor­mit­tag des 19. Sep­tem­ber in mei­nem Kopf teil­wei­se aus­sah, da­mit die nach­fol­gen­den Er­eig­nis­se dem Le­ser und viel­leicht auch mir selbst ver­ständ­li­cher sind.

III

Ich habe das Gym­na­si­um ab­sol­viert und ste­he jetzt schon im ein­und­zwan­zigs­ten Le­bens­jahr. Mein Fa­mi­li­enna­me ist Dol­goru­kij, und mein le­gi­ti­mer Va­ter ist Ma­kar Iwa­now Dol­goru­kij, ein ehe­ma­li­ger Leib­ei­ge­ner der Herr­schaft Wer­si­low. Auf die­se Wei­se bin ich in le­gi­ti­mer Ehe ge­bo­ren, ob­wohl ich ein ent­schie­den il­le­gi­ti­mer Sohn bin und mei­ne Her­kunft nicht dem ge­rings­ten Zwei­fel un­ter­liegt. Das ging fol­gen­der­ma­ßen zu:

Vor zwei­und­zwan­zig Jah­ren be­such­te der Guts­be­sit­zer Wer­si­low (das näm­lich ist mein Va­ter), der da­mals fünf­und­zwan­zig Jah­re alt war, sein Gut im Gou­ver­ne­ment Tula. Ich ver­mu­te, daß er zu je­ner Zeit noch sehr cha­rak­ter­los war. Es ist merk­wür­dig, daß die­ser Mann, der seit mei­ner frü­he­s­ten Kind­heit einen sol­chen Ein­druck auf mich ge­macht und einen so ge­wal­ti­gen Ein­fluß auf mei­ne gan­ze see­li­sche Ent­wick­lung aus­ge­übt hat und viel­leicht durch sei­ne Per­sön­lich­keit noch auf lan­ge Zeit hin­aus für mei­ne Zu­kunft be­stim­mend ge­we­sen ist, daß die­ser Mann auch jetzt noch in sehr vie­ler Hin­sicht für mich ein voll­stän­di­ges Rät­sel ge­blie­ben ist. Aber da­von spä­ter. Das läßt sich nicht so von vorn­her­ein er­zäh­len. Von die­sem Mann wer­de ich oh­ne­hin in mei­nem Heft fort­wäh­rend zu re­den ha­ben.

Er war da­mals, das heißt im Al­ter von fünf­und­zwan­zig Jah­ren, ge­ra­de Wit­wer ge­wor­den. Er war mit ei­ner Frau ver­hei­ra­tet ge­we­sen, die zwar den höchs­ten Ge­sell­schafts­krei­sen an­ge­hör­te, aber nicht sehr reich war, ei­ner ge­bo­re­nen Fa­na­rio­to­wa, und hat­te von ihr einen Sohn und eine Toch­ter. Mei­ne Nach­rich­ten über die­se so früh von ihm ge­gan­ge­ne Gat­tin sind nur sehr un­voll­stän­dig und in mei­nem Ma­te­ri­al nicht so ohne wei­te­res zu fin­den, und auch vie­les von Wer­si­lows pri­va­ten Le­bens­ver­hält­nis­sen ist mir un­be­kannt ge­blie­ben, so stolz, hoch­mü­tig, ver­schlos­sen und ge­ring­schät­zig be­nahm er sich fast im­mer ge­gen mich, ob­gleich er mich zu­zei­ten durch sein so­zu­sa­gen de­mü­ti­ges We­sen mir ge­gen­über in Er­stau­nen ver­setz­te. Ich er­wäh­ne je­doch zur Cha­rak­te­ri­sie­rung im vor­aus, daß er im Lau­fe sei­nes Le­bens drei Ver­mö­gen durch­ge­bracht hat und so­gar sehr be­trächt­li­che, im gan­zen über vier­hun­dert­tau­send Ru­bel und viel­leicht noch mehr. Jetzt be­sitzt er na­tür­lich nicht eine Kope­ke...

Er kam da­mals, Gott weiß warum, auf sein Gut, we­nigs­tens drück­te er sich mir ge­gen­über in der Fol­ge­zeit so aus. Sei­ne klei­nen Kin­der hat­te er, wie das so sei­ne Ge­wohn­heit war, nicht bei sich, son­dern zu Ver­wand­ten ge­bracht; so be­han­del­te er sei­ne Kin­der sein gan­zes Le­ben lang, so­wohl die le­gi­ti­men als auch die il­le­gi­ti­men. Das Ge­sin­de auf die­sem Gut war sehr zahl­reich; dar­un­ter be­fand sich auch der Gärt­ner Ma­kar Iwa­now Dol­goru­kij. Ich möch­te hier ein­fü­gen, um es ein für al­le­mal ab­zu­tun: sel­ten hat sich wohl je­mand über sei­nen Fa­mi­li­enna­men so ge­är­gert, wie ich es mein gan­zes Le­ben lang ge­tan habe. Das war na­tür­lich dumm von mir, aber ich tat es doch. Je­des­mal, wenn ich in eine Schu­le ein­trat oder mit Leu­ten zu­sam­men­kam, de­nen zu ant­wor­ten, ich nach mei­nem Le­bensal­ter ver­pflich­tet war, wie­der­hol­te sich das­sel­be: je­der Leh­rer, je­der Er­zie­her, je­der In­spek­tor, je­der Pope, je­der, den man sich nur den­ken kann, hielt es, nach­dem er nach mei­nem Fa­mi­li­enna­men ge­fragt und ge­hört hat­te, daß ich Dol­goru­kij hei­ße, für nö­tig hin­zu­zu­fü­gen:

»Fürst Dol­goru­kij?«

Und je­des­mal muß­te ich all die­sen mü­ßi­gen Fra­gern ant­wor­ten:

»Nein, ein­fach Dol­goru­kij.«

Die­ses ein­fach brach­te mich schließ­lich bei­na­he um den Ver­stand. Ich be­mer­ke da­bei als Ku­rio­si­tät, daß ich mich an kei­ne ein­zi­ge Aus­nah­me er­in­ne­re: alle stell­ten sie jene Fra­ge. Man­chen war die Sa­che of­fen­bar ganz egal, und ich weiß auch in der Tat nicht, was für ein In­ter­es­se je­mand dar­an ha­ben konn­te. Aber alle frag­ten sie so, alle ohne Aus­nah­me. Und wenn der Fra­ger dann ge­hört hat­te, daß ich ein­fach Dol­goru­kij sei, maß er mich ge­wöhn­lich mit ei­nem stump­fen, gleich­gül­ti­gen Blick, wel­cher be­kun­de­te, daß er selbst nicht wuß­te, warum er ge­fragt hat­te, und ging weg. Am be­lei­di­gends­ten wa­ren der­ar­ti­ge Fra­gen von sei­ten der Schul­ka­me­ra­den. Denn wie geht es da­bei zu, wenn ein Schü­ler einen Neu­en be­fragt? Der ängst­li­che, ver­le­ge­ne Neue ist am ers­ten Tag sei­nes Ein­tritts in die Schu­le (was für eine es auch sein mag) das all­ge­mei­ne Op­fer: man be­fiehlt ihm dies und je­nes, hän­selt ihn und be­han­delt ihn wie einen Be­dien­ten. Da stellt sich so ein ge­sun­der, wohl­ge­nähr­ter Ben­gel ge­ra­de vor sein Op­fer hin und mus­tert die­ses eine Wei­le mit stren­gem, hoch­mü­ti­gem Blick. Der Neue steht schwei­gend vor ihm da, sieht ihn, wenn er nicht fei­ge ist, von der Sei­te an und war­tet, was da kom­men wird.

»Wie heißt du mit Fa­mi­li­enna­men?«

»Dol­goru­kij.«

»Fürst Dol­goru­kij?«

»Nein, ein­fach Dol­goru­kij.«

»Soso, ein­fach Dol­goru­kij! Du Schafs­kopf!«

Und er hat recht: es kann nichts Düm­me­res ge­ben, als Dol­goru­kij zu hei­ßen, ohne Fürst zu sein. Die­se Dumm­heit schlep­pe ich ohne Schuld mit mir her­um. In spä­te­rer Zeit, als ich schon an­fing, mich sehr dar­über zu är­gern, gab ich auf die Fra­ge: »Bist du Fürst?« im­mer zur Ant­wort: »Nein, ich bin der Sohn ei­nes Guts­knechts, ei­nes ehe­ma­li­gen Leib­ei­ge­nen.«

Und spä­ter, als mei­ne Wut schon den höchs­ten Grad er­reicht hat­te, ant­wor­te­te ich auf die Fra­ge: »Sind Sie Fürst?« in fes­tem Ton: »Nein, ein­fach Dol­goru­kij, der il­le­gi­ti­me Sohn mei­nes ehe­ma­li­gen Guts­herrn, des Herrn Wer­si­low.«

Ich hat­te mir die­se Ant­wort schon in der sechs­ten Klas­se des Gym­na­si­ums aus­ge­dacht, und ob­wohl ich bald zu der fes­ten Über­zeu­gung ge­lang­te, daß sie dumm war, hör­te ich doch nicht gleich da­mit auf. Ich er­in­ne­re mich, daß ein Leh­rer -- üb­ri­gens war er der ein­zi­ge -- fand, ich sei »von rach­süch­ti­gen, frei­heit­li­chen Ide­en er­füllt«. Im all­ge­mei­nen aber wur­de die­se schrof­fe Ant­wort mit ei­ner für mich be­lei­di­gen­den Nach­denk­lich­keit auf­ge­nom­men. Schließ­lich sag­te ein mit ei­ner be­son­ders schar­fen Zun­ge be­gab­ter Mit­schü­ler, mit dem ich etwa nur ein­mal im Jahr ein Ge­spräch führ­te, zu mir mit er­reg­ter Mie­ne, aber ein we­nig zur Sei­te bli­ckend:

»Sol­che Ge­füh­le ma­chen Ih­nen na­tür­lich Ehre, und Sie ha­ben ohne Zwei­fel al­len Grund, dar­auf stolz zu sein; aber an Ih­rer Stel­le wür­de ich mich doch mei­ner il­le­gi­ti­men Her­kunft nicht zu sehr rüh­men... aber Sie set­zen da­bei ja ge­ra­de­zu ein Ge­sicht auf, als ob Sie Na­mens­tag fei­er­ten!«

Seit­dem hör­te ich auf, mich des­sen zu rüh­men, daß ich il­le­gi­tim bin.

Ich wie­der­ho­le: es ist sehr schwer, rus­sisch zu schrei­ben: da habe ich nun gan­ze drei Sei­ten dar­über voll­ge­schrie­ben, wie ich mich le­bens­läng­lich über mei­nen Fa­mi­li­enna­men ge­är­gert habe, und da­bei ist der Le­ser si­cher­lich, schon zu der Schluß­fol­ge­rung ge­langt, ich sei eben dar­über är­ger­lich, daß ich kein Fürst, son­dern ein­fach Dol­goru­kij bin. Mich dar­über noch ein­mal zu äu­ßern und mich zu recht­fer­ti­gen, wür­de un­ter mei­ner Wür­de sein.

IV

Un­ter die­sem zahl­rei­chen Guts­ge­sin­de also war auch ein Mäd­chen, und die­ses war eben acht­zehn Jah­re alt, als der fünf­zig­jäh­ri­ge Ma­kar Dol­goru­kij auf ein­mal die Ab­sicht aus­sprach, es zu hei­ra­ten. Ehen des Guts­ge­sin­des wur­den zur Zeit der Leib­ei­gen­schaft be­kannt­lich nur mit Er­laub­nis der Herr­schaft ge­schlos­sen und manch­mal ge­ra­de­zu auf An­ord­nung der­sel­ben. In der Nähe des Gu­tes wohn­te da­mals die Tan­te; das heißt, sie war nicht mei­ne Tan­te, son­dern selbst Guts­be­sit­ze­rin; aber ich weiß nicht, warum -- nicht nur ich, alle nann­ten sie le­bens­läng­lich die Tan­te, ganz all­ge­mein die Tan­te, und so wur­de sie auch in der Fa­mi­lie Wer­si­low ge­nannt, mit der sie in Wirk­lich­keit kaum ver­wandt war. Es war dies Tat­ja­na Paw­low­na Prut­ko­wa. Da­mals be­saß sie noch selbst in je­nem Gou­ver­ne­ment und Kreis fünf­und­drei­ßig See­len. Sie ver­wal­te­te nicht ei­gent­lich das etwa fünf­hun­dert See­len um­fas­sen­de Gut Wer­si­lows, son­dern führ­te nur als Nach­ba­rin die Auf­sicht, und die­se Auf­sicht war, wie ich ge­hört habe, nicht schlech­ter als die ei­nes ge­lern­ten Ver­wal­ters. Üb­ri­gens ge­hen mich ihre ge­schäft­li­chen Kennt­nis­se hier nichts an; ich will nur hin­zu­fü­gen -- und ich wei­se da­bei je­den Ge­dan­ken an Schmei­che­lei und Gunst­buh­le­rei zu­rück --, daß die­se Tat­ja­na Paw­low­na ein edel­den­ken­des und so­gar ein ori­gi­nel­les We­sen war.

Und ge­ra­de sie stand den Hei­rats­ab­sich­ten des fins­te­ren Ma­kar Dol­goru­kij (er soll da­mals ein fins­te­res We­sen ge­habt ha­ben) nicht nur nicht ent­ge­gen, son­dern re­de­te ihm viel­mehr da­bei aus ir­gend­ei­nem Grund noch au­ßer­or­dent­lich zu. Sof­ja An­dre­jew­na (die acht­zehn­jäh­ri­ge Guts­magd, also mei­ne Mut­ter) war schon seit ei­ni­gen Jah­ren el­tern­los; ihr ver­stor­be­ner Va­ter, eben­falls Guts­knecht, wel­cher Ma­kar Dol­goru­kij sehr hoch­schätz­te und ihm ir­gend­wie zu Dank ver­pflich­tet war, hat­te, wie man er­zähl­te, sechs Jah­re vor­her auf sei­nem To­ten­bett, eine Vier­tel­stun­de vor sei­nem letz­ten Atem­zug, so daß man es nö­ti­gen­falls als Ir­re­re­den hät­te auf­fas­sen kön­nen, wenn er nicht oh­ne­dies als Leib­ei­ge­ner rechts­un­fä­hig ge­we­sen wäre, Ma­kar Dol­goru­kij zu sich ru­fen las­sen und vor dem gan­zen Ge­sin­de und in Ge­gen­wart des Geist­li­chen, in­dem er auf sei­ne Toch­ter wies, laut und in ein­dring­li­chem Ton zu ihm ge­sagt: »Zieh sie auf und hei­ra­te sie!« Das hat­ten alle ge­hört. Was Ma­kar Iwa­now an­langt, so weiß ich nicht, in wel­cher Ge­sin­nung er sie spä­ter hei­ra­te­te, das heißt, ob mit großem Ver­gnü­gen oder nur, um da­mit eine Pf­licht zu er­fül­len. Das wahr­schein­lichs­te ist, daß er den Ein­druck völ­li­ger Gleich­gül­tig­keit mach­te. Er war ein Mensch, der es schon da­mals ver­stand, sich zu »prä­sen­tie­ren«. Nicht, daß er ein großer Bi­bel­ken­ner oder be­son­ders be­le­sen ge­we­sen wäre (ob­gleich er die gan­ze Ord­nung des Got­tes­diens­tes aus­wen­dig kann­te und na­ment­lich mit den Le­bens­be­schrei­bun­gen meh­re­rer Hei­li­gen Be­scheid wuß­te, al­ler­dings mehr vom Hö­ren­sa­gen); auch nicht, daß er so eine Art Klug­schwät­zer un­ter dem Ge­sin­de ge­we­sen wäre, son­dern er leg­te ein­fach eine große Hart­nä­ckig­keit, manch­mal so­gar Wa­ge­mut an den Tag, re­de­te mit Selbst­be­wußt­sein, nahm sein Ur­teil nie zu­rück und führ­te schließ­lich »einen ach­tungs­vol­len Le­bens­wan­del«, wie er sich selbst wun­der­li­cher­wei­se aus­drück­te. Von der Art war da­mals sein We­sen. Na­tür­lich hat­te er sich all­ge­mei­ne Ach­tung er­wor­ben, aber doch konn­te ihn, wie ge­sagt wird, nie­mand lei­den. Das än­der­te sich, als er von dem Ge­sin­de weg­ge­gan­gen war: nun er­in­ner­te man sich sei­ner wie ei­nes Hei­li­gen, der viel zu lei­den ge­habt hat­te. Das ist mir zu­ver­läs­sig be­kannt.

Was den Cha­rak­ter mei­ner Mut­ter an­langt, so hat­te Tat­ja­na Paw­low­na sie bis zu ih­rem acht­zehn­ten Le­bens­jahr bei sich be­hal­ten, trotz der drin­gen­den Ratschlä­ge des Ver­wal­ters, sie nach Mos­kau in die Leh­re zu ge­ben, und hat­te ihr eine ge­wis­se Bil­dung zu­kom­men las­sen, das heißt, sie im Nä­hen, im Zuschnei­den, in an­stän­di­gem, mäd­chen­haf­tem Be­neh­men und so­gar ein we­nig im Le­sen un­ter­wie­sen. Zu schrei­ben hat mei­ne Mut­ter nie­mals leid­lich ver­stan­den. In ih­ren Au­gen war die Ehe mit Ma­kar Iwa­now schon längst ab­ge­mach­te Sa­che, und sie fand, daß al­les, was da­mals mit ihr ge­sch­ah, sehr gut und vor­treff­lich sei; zum Trau­al­tar ging sie mit der ru­higs­ten Mie­ne, die man in sol­chen Fäl­len über­haupt nur ha­ben kann, so daß Tat­ja­na Paw­low­na selbst sie da­mals einen Fisch nann­te. Al­les dies über den da­ma­li­gen Cha­rak­ter mei­ner Mut­ter habe ich von Tat­ja­na Paw­low­na selbst ge­hört. Wer­si­low kam auf das Gut ge­ra­de ein hal­b­es Jahr nach die­ser Ehe­schlie­ßung.

V

Ich will nur sa­gen, daß ich nie­mals habe in Er­fah­rung brin­gen oder in be­frie­di­gen­der Wei­se kom­bi­nie­ren kön­nen, wie ei­gent­lich das Ver­hält­nis zwi­schen ihm und mei­ner Mut­ter be­gon­nen hat. Ich bin durch­aus be­reit zu glau­ben, was er mir im vo­ri­gen Jahr ver­si­chert hat, und zwar un­ter star­kem Er­rö­ten, ob­wohl er über alle die­se Din­ge mit der un­ge­zwun­ge­nen Mie­ne des »geis­tig hoch­ste­hen­den« Man­nes sprach: daß eine Lieb­schaft über­haupt nicht statt­ge­fun­den habe und al­les sich so ge­macht habe. Ich glau­be durch­aus, daß es sich so ge­macht hat, und der rus­si­sche Aus­druck »so« ist ein al­ler­liebs­ter Aus­druck, aber den­noch hät­te ich im­mer gern ge­wußt, aus wel­chen An­fän­gen sich die­ses Ver­hält­nis der bei­den hat her­aus­bil­den kön­nen. Ich selbst habe alle die­se Ge­mein­hei­ten bis­her ge­haßt und wer­de sie le­bens­läng­lich has­sen. Das Mo­tiv mei­ner Wiß­be­gier­de ist in der Tat durch­aus nicht etwa scham­lo­se Neu­gier. Ich be­mer­ke noch, daß ich mei­ne Mut­ter bis zum vo­ri­gen Jahr fast gar nicht ge­kannt habe; ich wur­de zu Wer­si­lows grö­ße­rer Be­quem­lich­keit, wo­von ich üb­ri­gens spä­ter noch spre­chen wer­de, schon in mei­ner frü­hen Kind­heit zu frem­den Leu­ten ge­ge­ben, und da­her kann ich mir gar kei­ne Vor­stel­lung ma­chen, wie sie da­mals aus­ge­se­hen ha­ben mag. Wenn sie nun gar nicht so be­son­ders schön ge­we­sen ist, wo­durch konn­te sich dann ein sol­cher Mensch, wie es Wer­si­low da­mals war, zu ihr hin­ge­zo­gen füh­len? Die­se Fra­ge ist für mich in­so­fern von Wich­tig­keit, als sich die­ser Mensch da­bei von ei­ner sehr in­ter­essan­ten Sei­te prä­sen­tiert. Des­we­gen also wer­fe ich die Fra­ge auf, und nicht aus mo­ra­li­scher Ver­derbt­heit. Er selbst, die­ser fins­te­re, ver­schlos­se­ne Mensch, sag­te mir ein­mal mit je­ner lie­bens­wür­di­gen Treu­her­zig­keit, die er, so­bald er es für nö­tig hielt, Gott weiß wo­her nahm (es war, als zöge er sie aus der Ta­sche), er selbst hat mir ge­sagt, er sei da­mals noch ein »sehr dum­mer jun­ger Hund« ge­we­sen, und zwar nicht ei­gent­lich mit sen­ti­men­ta­lem Ein­schlag, son­dern ein­fach so; er hät­te da­mals eben erst »An­ton Go­re­my­ka« und »Po­lin­ka Sachs« ge­le­sen, zwei Li­te­ra­tur­pro­duk­te, die auf die da­mals her­an­wach­sen­de Ge­ne­ra­ti­on eine au­ßer­or­dent­lich er­zie­he­ri­sche Wir­kung aus­ge­übt hät­ten. Er füg­te hin­zu, er sei viel­leicht ge­ra­de in­fol­ge der Lek­tü­re des »Ant­ton Go­re­my­ka« da­mals auf sein Gut ge­fah­ren, und sag­te das in vol­lem Ernst. In wel­cher Art moch­te die­ser »dum­me jun­ge Hund« mit mei­ner Mut­ter an­ge­knüpft ha­ben? Ich habe mir so­eben leb­haft vor­ge­stellt, daß, wenn ich auch nur einen ein­zi­gen Le­ser ha­ben soll­te, die­ser ge­wiß über mich lacht als über einen ganz ko­mi­schen jun­gen Men­schen, der sich sei­ne dum­me Un­schuld be­wahrt hat und sich auf Re­fle­xio­nen und Ur­tei­le über Din­ge ein­läßt, von de­nen er nichts ver­steht. Ja, ich ver­ste­he in der Tat noch nichts da­von, be­ken­ne das aber ganz und gar nicht mit ei­nem Ge­fühl des Stol­zes, da ich weiß, wie dumm sich eine sol­che Uner­fah­ren­heit bei ei­nem zwan­zig­jäh­ri­gen Schlaps aus­nimmt. Nur möch­te ich die­sem Le­ser sa­gen, daß er selbst nichts ver­steht und ich ihm das be­wei­sen kann. Al­ler­dings weiß ich nichts von den Wei­bern und will auch nichts von ih­nen wis­sen, weil ich zeit mei­nes Le­bens auf sie pfei­fen wer­de und mir das fest vor­ge­nom­men habe. Aber ich weiß doch si­cher, daß man­che Frau den Mann durch ihre Schön­heit oder durch sonst et­was in ei­nem Au­gen­blick be­zau­bert, wäh­rend man eine an­de­re ein hal­b­es Jahr lang stu­die­ren muß, ehe man er­kennt, was an ihr ist, und daß, um eine sol­che Frau zu durch­schau­en und lieb­zu­ge­win­nen, es nicht aus­reicht, se­hen zu kön­nen und ein­fach zu al­lem be­reit zu sein, son­dern man au­ßer­dem auch noch ei­ner be­son­de­ren Be­ga­bung be­darf. Da­von bin ich über­zeugt, ob­wohl ich nichts weiß, und wenn das Ge­gen­teil der Fall wäre, so müß­te man alle Frau­en mit ei­nem­mal auf die Stu­fe ge­wöhn­li­cher Haus­tie­re hin­ab­drücken und sie nur in die­ser Stel­lung bei sich hal­ten; viel­leicht wür­den das vie­le sehr gern tun.

Ich weiß durch Mit­tei­lun­gen von ver­schie­de­nen Sei­ten her po­si­tiv, daß mei­ne Mut­ter kei­ne Schön­heit war, ob­gleich ich ein da­mals an­ge­fer­tig­tes Por­trät von ihr, das ir­gend­wo exis­tiert, nicht ge­se­hen habe. Sich auf den ers­ten Blick in sie zu ver­lie­ben, war also nicht mög­lich. Zum Zweck ei­nes blo­ßen Amü­se­ments könn­te sich Wer­si­low eine an­de­re aus­su­chen, und eine sol­che war da, noch dazu eine un­ver­hei­ra­te­te, näm­lich das Stu­ben­mäd­chen An­tis­sa Kon­stan­ti­now­na Sa­po­s­h­ko­wa. Ein Mensch aber, der mit dem An­ton Go­re­my­ka im Kopf auf sein Gut kam und der dann auf Grund sei­nes Rechts als Guts­herr die Hei­lig­keit der Ehe von auch nur ei­nem ein­zi­gen Leib­ei­ge­nen ver­letz­te, der hät­te sich doch stark vor sich selbst schä­men müs­sen, denn ich wie­der­ho­le es: von die­sem An­ton Go­re­my­ka hat er noch vor ei­ni­gen Mo­na­ten, also zwan­zig Jah­re nach je­nen Er­eig­nis­sen, in durch­aus erns­tem Ton ge­spro­chen. Und die­sem An­ton wur­de ja nur ein Pferd weg­ge­nom­men, hier aber die Ehe­frau! Es muß also et­was Be­son­de­res statt­ge­fun­den ha­ben, wes­we­gen denn auch Ma­de­moi­sel­le Sa­po­s­h­ko­wa das Spiel ver­lor (mei­ner An­sicht nach war es für sie ein Ge­winn). Ich habe ihm im vo­ri­gen Jahr mit all die­sen Fra­gen ein paar­mal zu­ge­setzt, so­bald es mög­lich war, mit ihm ein Ge­spräch zu füh­ren (denn das war nicht im­mer mög­lich), und habe be­merkt, daß er trotz sei­ner welt­män­ni­schen Hal­tung und ob­wohl er zwan­zig Jah­re äl­ter ist als ich, doch Aus­flüch­te mach­te. Aber ich ließ nicht lo­cker, und we­nigs­tens mur­mel­te er ein­mal mit je­ner Mie­ne vor­neh­mer Ge­ring­schät­zung, die er sich oft mir ge­gen­über er­laub­te, einen son­der­ba­ren Ge­dan­ken vor sich hin: mei­ne Mut­ter sei eine je­ner Schutz­lo­sen ge­we­sen, die man nicht ei­gent­lich lieb­ge­win­ne -- im Ge­gen­teil, durch­aus nicht --, son­dern ge­wis­ser­ma­ßen be­dau­re; ob we­gen ih­rer De­mut oder wes­halb sonst, das wis­se nie je­mand; aber die­ses Be­dau­ern hal­te län­ger an, und man füh­le sich da­durch ge­bun­den... »Mit ei­nem Wort, mein Lie­ber, die Sa­che ge­stal­tet sich manch­mal so, daß man nicht wie­der los­kommt.« Das hat er zu mir ge­sagt, und wenn es tat­säch­lich so zu­ge­gan­gen ist, so kann ich nicht glau­ben, daß er da­mals ein so dum­mer jun­ger Hund ge­we­sen ist, wie er zu je­ner Zeit ge­we­sen zu sein an­gibt. Das muß­te ich doch aus­spre­chen.

Üb­ri­gens ver­si­cher­te er mir bei dem­sel­ben Ge­spräch, mei­ne Mut­ter habe ihn aus »Un­ter­wür­fig­keit« ge­liebt: es fehl­te nur noch, daß er be­haup­te­te, sie habe es ge­mäß ih­rer Pf­licht als Leib­ei­ge­ne ge­tan! Er hat ge­lo­gen, um der Sa­che ein schö­nes Män­tel­chen um­zu­hän­gen, ge­lo­gen ge­gen sein Ge­wis­sen und ge­gen Ehre und An­stand!

Al­les dies habe ich na­tür­lich zum Lob mei­ner Mut­ter ge­sagt, je­doch habe ich be­reits er­klärt, daß ich von ih­rem da­ma­li­gen We­sen gar kei­ne Kennt­nis habe. Wohl aber ken­ne ich die in ih­rer Um­ge­bung herr­schen­den stren­gen An­schau­un­gen, in de­nen sie von klein auf her­an­wuchs und dann ihr gan­zes Le­ben über ver­harr­te. Und trotz­dem ge­sch­ah das Un­glück. Bei die­ser Ge­le­gen­heit muß ich mich kor­ri­gie­ren: ich bin in die Wol­ken hin­auf ge­flo­gen und habe ver­ges­sen, eine Tat­sa­che zu be­rich­ten, die ich viel­mehr hät­te ganz an die Spit­ze stel­len sol­len: näm­lich die Sa­che be­gann bei ih­nen ge­ra­des­wegs mit dem Un­glück. (Ich hof­fe, der Le­ser wird sich nicht so an­stel­len, als ver­stän­de er nicht so­gleich, wo­von ich rede.) Kurz, es be­gann bei ih­nen ganz in guts­herr­li­cher Ma­nier, ob­wohl Ma­de­moi­sel­le Sa­po­s­h­ko­wa über­gan­gen war. Aber hier will ich mich ver­tei­di­gen und von vorn­her­ein be­mer­ken, daß ich mir ganz und gar nicht wi­der­spre­che. Denn wo­von in al­ler Welt konn­te da­mals ein sol­cher Mensch wie Wer­si­low mit ei­ner sol­chen Per­son wie mei­ner Mut­ter re­den, so­gar im Fall un­bän­di­ger Lie­be? Lie­der­li­che Men­schen ha­ben mir ge­sagt, daß der Mann, wenn er mit ei­ner Frau zu­sam­men­kommt, sehr oft völ­lig still­schwei­gend be­ginnt, was na­tür­lich der Gip­fel der Un­ge­heu­er­lich­keit und Ekel­haf­tig­keit ist; den­noch hät­te Wer­si­low, auch wenn er es ge­wollt hät­te, mit mei­ner Mut­ter wohl nicht an­ders an­fan­gen kön­nen. Konn­te er etwa da­mit be­gin­nen, ihr Po­lin­ka Sachs zu er­klä­ren? Und über­dies wird der Sinn der bei­den wohl gar nicht auf die rus­si­sche Li­te­ra­tur ge­rich­tet ge­we­sen sein; viel­mehr ha­ben sie nach sei­ner ei­ge­nen Mit­tei­lung (er re­de­te ein­mal et­was of­fe­ner) sich in den Win­keln ver­steckt, ein­an­der auf den Trep­pen er­war­tet und sind wie Bäl­le mit ro­ten Ge­sich­tern aus­ein­an­der­ge­fah­ren, wenn je­mand vor­bei­kam, und der »des­po­ti­sche Guts­be­sit­zer« hat vor der nied­rigs­ten Scheu­er­magd ge­zit­tert, trotz all sei­ner Rech­te den Leib­ei­ge­nen ge­gen­über. Aber wenn das Ver­hält­nis auch in der bei Guts­her­ren üb­li­chen Art be­gon­nen hat­te, so ge­stal­te­te es sich doch nach­her ganz an­ders, und es läßt sich da­für im Grun­de kei­ne Er­klä­rung ge­ben. Die Sa­che er­scheint ei­nem so­gar im­mer dunk­ler. Schon al­lein die zeit­li­che Aus­deh­nung, die die Lie­be der bei­den ge­won­nen hat, bil­det ein Rät­sel, denn die ers­te Voraus­set­zung bei sol­chen Men­schen wie Wer­si­low ist doch die, daß sie das be­tref­fen­de Weib so­fort wie­der ver­las­sen kön­nen, so­bald das Ziel er­reicht ist. Aber hier kam es an­ders. Mit ei­ner hüb­schen, leicht­fer­ti­gen Guts­magd zu sün­di­gen (aber mei­ne Mut­ter war nicht leicht­fer­tig), das war für einen lie­der­li­chen »jun­gen Hund« (und sie wa­ren alle lie­der­lich, alle ohne Aus­nah­me, so­wohl die Fort­schritt­ler als auch die Re­ak­tio­näre) nicht nur et­was Er­laub­tes, son­dern ge­ra­de­zu ein Ding der Not­wen­dig­keit, be­son­ders in An­be­tracht sei­ner ro­man­ti­schen Stel­lung als jun­ger Wit­wer und sei­nes mü­ßig­gän­ge­ri­schen Le­bens. Aber sich für das gan­ze Le­ben zu ver­lie­ben, das war denn doch ein star­kes Stück. Daß er sie wirk­lich so lan­ge ge­liebt hat, da­für kann ich mich nicht ver­bür­gen, aber daß er sie sein gan­zes Le­ben lang mit sich her­um­schlepp­te, ist si­cher.

Ich habe zwar nach vie­lem ge­fragt, aber ich muß be­mer­ken, daß ich ei­ne Fra­ge, die wich­tigs­te, nicht ge­wagt habe, mei­ner Mut­ter ge­ra­de­zu vor­zu­le­gen, ob­wohl ich ihr im vo­ri­gen Jah­re so nahe ge­kom­men bin und über­dies als plum­per, un­dank­ba­rer jun­ger Hund, in der Mei­nung, mei­ne El­tern hät­ten mir ge­gen­über ei­ne Schuld auf sich ge­la­den, mit ihr nicht die ge­rings­ten Um­stän­de mach­te. Die Fra­ge war fol­gen­de: wie hat­te sie, die schon ein hal­b­es Jahr lang ver­hei­ra­tet war und noch ganz, gleich ei­ner kraft­lo­sen Flie­ge, im Ban­ne der Vor­stel­lun­gen von der Hei­lig­keit der Ehe stand, sie, die ih­ren Ma­kar Iwa­no­witsch wie einen Gott ver­ehr­te, wie hat­te sie in gan­zen vier­zehn Ta­gen sich bis zu ei­ner sol­chen Sün­de ver­lie­ren kön­nen? Mei­ne Mut­ter war ja doch kein lie­der­li­ches Frau­en­zim­mer! Viel­mehr will ich jetzt gleich vor­aus­schi­cken, daß man sich eine rei­ne­re See­le, als sie auch nach­her le­bens­läng­lich ge­we­sen ist, nur schwer vor­stel­len kann. Er­klä­ren kann man sich ihr Ver­hal­ten viel­leicht da­mit, daß sie ohne Be­sin­nung ge­han­delt hat, das heißt, nicht in dem Sin­ne, wie es heut­zu­ta­ge die Ad­vo­ka­ten von ih­ren Mör­dern und Die­ben be­haup­ten, son­dern un­ter der Ein­wir­kung je­nes star­ken Ge­fühls, das bei ei­ner ge­wis­sen Her­zen­sein­falt des Op­fers in ver­häng­nis­vol­ler, tra­gi­scher Wei­se zur Herr­schaft ge­langt. Wie kann man es wis­sen; viel­leicht hat sie sich sterb­lich ver­liebt in... die Fas­son sei­nes Rockes, in sei­nen Pa­ri­ser Schei­tel, in sei­ne fran­zö­si­sche Auss­pra­che, ob­wohl sie von die­ser Spra­che kei­ne Sil­be ver­stand, in eine Ro­man­ze, die er zum Kla­vier sang, in ir­gend et­was, was sie noch nie ge­se­hen und ge­hört hat­te (und er hat­te ein sehr schö­nes Äu­ße­res), und sich dann gleich­zei­tig bis zur Be­wußt­lo­sig­keit in den gan­zen Men­schen ver­liebt mit­samt der Rock­fas­son und den Ro­man­zen. Ich habe mir sa­gen las­sen, daß das mit den Guts­mäd­chen zur Zeit der Leib­ei­gen­schaft manch­mal vor­ge­kom­men ist, und ge­ra­de mit den an­stän­digs­ten. Ich habe da­für Ver­ständ­nis, und ein Schuft ist, wer das ein­zig aus der Leib­ei­gen­schaft und der »Un­ter­wür­fig­keit« er­klä­ren will! Also ist es doch mög­lich, daß die­ser jun­ge Mensch ge­nug Ver­füh­re­ri­sches an sich hat­te, um ein bis da­hin so rei­nes We­sen, und vor al­len Din­gen ein We­sen, das so ganz an­ders ge­ar­tet war als er und aus ei­ner ganz an­de­ren Welt, ei­nem ganz an­de­ren Bo­den stamm­te, zu be­zau­bern und ins of­fe­ne Ver­der­ben zu rei­ßen. Denn daß sie ins Ver­der­ben ge­ris­sen war, das hat mei­ne Mut­ter, wie ich hof­fe, ihr le­be­lang ein­ge­se­hen; nur als sie je­nen Schritt tat, wird sie gar nicht an das Ver­der­ben ge­dacht ha­ben; aber so geht es im­mer mit die­sen »Schutz­lo­sen«: sie wis­sen, daß es ihr Ver­der­ben ist, und sprin­gen doch hin­ein.

Nach­dem die bei­den ihre Sün­de be­gan­gen hat­ten, beich­te­ten sie sie so­gleich. Er hat mir in geist­vol­ler Art er­zählt, daß er an der Schul­ter von Ma­kar Iwa­no­witsch, den er ei­gens aus die­sem An­laß zu sich auf sein Zim­mer habe kom­men las­sen, ge­schluchzt habe, und sie -- sie lag in die­sem Au­gen­blick halb be­wußt­los in ih­rer ärm­li­chen Kam­mer...

VI

Aber ge­nug von sol­chen Fra­gen und häß­li­chen Ein­zel­hei­ten! Nach­dem Wer­si­low mei­ne Mut­ter von Ma­kar Iwa­now los­ge­kauft hat­te, fuhr er als­bald weg und schlepp­te sie seit­dem, wie ich schon oben ge­schrie­ben habe, bei­na­he über­all mit sich her­um, mit Aus­nah­me der Fäl­le, wo er für län­ge­re Zeit weg­reis­te; dann über­ließ er sie meis­tens der Ob­hut der Tan­te, das heißt der oben er­wähn­ten Tat­ja­na Paw­low­na Prut­ko­wa, die sich in sol­chen Fäl­len im­mer ein­stell­te. So wohn­ten die bei­den zu­sam­men in Mos­kau, so wohn­ten sie zu­sam­men auf ver­schie­de­nen an­de­ren Gü­tern und in an­de­ren Städ­ten, so­gar im Aus­land und zu­letzt in Pe­ters­burg. Von al­le­dem will ich noch spä­ter re­den, oder es ist auch nicht der Mühe wert. Ich will nur sa­gen, daß ich ein Jahr nach der Tren­nung von Ma­kar Iwa­no­witsch zur Welt kam, noch ein Jahr spä­ter mei­ne Schwes­ter, und wie­der zehn oder elf Jah­re spä­ter ein kränk­li­cher Kna­be, mein jüngs­ter Bru­der, der nach ei­ni­gen Mo­na­ten starb. Die bei der Ge­burt die­ses Kin­des aus­ge­stan­de­nen Qua­len mach­ten der Schön­heit mei­ner Mut­ter ein Ende; so ist mir we­nigs­tens er­zählt wor­den: sie be­gann schnell zu al­tern und zu krän­keln.

Aber die Be­zie­hun­gen zu Ma­kar Iwa­no­witsch wur­den doch nicht ab­ge­bro­chen. Wo Wer­si­low und mei­ne Mut­ter sich auch be­fan­den, moch­ten sie nun ein paar Jah­re an ei­nem Ort woh­nen oder um­her­rei­sen, Ma­kar Iwa­no­witsch ließ un­ter al­len Um­stän­den »der Fa­mi­lie« Nach­richt von sich zu­ge­hen. Es bil­de­te sich ein son­der­ba­res Ver­hält­nis her­aus, das zum Teil einen ganz fei­er­lich-erns­ten Cha­rak­ter hat­te. Im Le­ben der Herr­schaf­ten hät­te ein sol­ches Ver­hält­nis zwei­fel­los einen ko­mi­schen Bei­ge­schmack ge­habt, das weiß ich; aber hier war das nicht der Fall. Brie­fe schick­te er zwei­mal im Jahr, nicht öf­ter und nicht sel­te­ner, und die­se Brie­fe wa­ren sich un­ter­ein­an­der au­ßer­or­dent­lich ähn­lich. Ich habe sie ge­se­hen; sie ent­hal­ten sehr we­nig Per­sön­li­ches, son­dern nach Mög­lich­keit nur fei­er­li­che Benach­rich­ti­gun­gen über ganz uni­ver­sel­le Er­eig­nis­se und fei­er­li­che Be­kun­dun­gen ganz uni­ver­sel­ler Emp­fin­dun­gen, wenn man sich so über Emp­fin­dun­gen aus­drücken kann: Benach­rich­ti­gun­gen in ers­ter Li­nie von sei­nem Ge­sund­heits­zu­stand, dann Er­kun­di­gun­gen nach dem Ge­sund­heits­zu­stand der Emp­fän­ger, dar­auf gute Wün­sche, fei­er­li­che Emp­feh­lun­gen und Se­gens­sprü­che -- das war al­les. Gera­de die­se All­ge­mein­heit und Un­per­sön­lich­keit des In­halts scheint von den An­ge­hö­ri­gen die­ser Ge­sell­schafts­schicht für den ver­stän­digs­ten Ton und für die feins­te Ver­kehrs­form ge­hal­ten zu wer­den. »Un­se­rer lieb­wer­ten und ver­ehr­ten Gat­tin Sof­ja An­dre­jew­na sen­de ich un­se­re er­ge­bens­te Emp­feh­lung«... »Un­se­ren lie­bens­wür­di­gen Kin­dern sen­de ich un­sern ewig un­zer­stör­ba­ren vä­ter­li­chen Se­gen.« Die Kin­der wur­den sämt­lich mit Na­men auf­ge­zählt, in der Rei­hen­fol­ge, wie sie hin­zu­ge­kom­men wa­ren; auch ich war da­bei. Ich füge noch die Be­mer­kung hin­zu, daß Ma­kar Iwa­no­witsch denn doch so klug war, »Sei­ne Hoch­ge­bo­ren den hoch­ver­ehr­ten Herrn An­drej Pe­tro­witsch« nie­mals sei­nen »Wohl­tä­ter« zu nen­nen, ob­wohl er sich ihm un­fehl­bar in je­dem Brief ganz er­ge­benst emp­fahl, ihn um sei­ne Huld bat und ihm den Se­gen Got­tes wünsch­te. Die Ant­wort­schrei­ben an Ma­kar Iwa­no­witsch wur­den je­des­mal als­bald von mei­ner Mut­ter ab­ge­sandt und wa­ren im­mer in ge­nau der­sel­ben Art ab­ge­faßt. Wer­si­low be­tei­lig­te sich an die­sem Brief­wech­sel selbst­ver­ständ­lich nicht. Ma­kar Iwa­no­witsch schrieb von den ver­schie­dens­ten En­den Ruß­lands her, aus Städ­ten und Klös­tern, in de­nen er manch­mal lan­ge Auf­ent­halt nahm. Er war ein so­ge­nann­ter ewi­ger Pil­ger ge­wor­den. Nie­mals bat er um et­was; da­für er­schi­en er mit Si­cher­heit alle drei Jah­re ein­mal zu Hau­se zum Be­such und kehr­te dann ge­ra­des­wegs bei mei­ner Mut­ter ein, die -- es traf sich im­mer so -- eine ei­ge­ne Woh­nung hat­te, ge­trennt von der Woh­nung Wer­si­lows. Da­von wer­de ich spä­ter noch zu spre­chen ha­ben; hier be­mer­ke ich nur noch, daß Ma­kar Iwa­no­witsch sich nicht etwa im Sa­lon auf den So­fas her­um­re­kel­te, son­dern sich be­schei­den ir­gend­wo in ei­nem Käm­mer­chen ein­quar­tier­te. Er blieb nicht lan­ge, nur etwa fünf Tage oder eine Wo­che.

Ich habe ver­ges­sen zu sa­gen, daß er sei­nen Fa­mi­li­enna­men Dol­goru­kij au­ßer­or­dent­lich lieb­te und auf ihn den größ­ten Wert leg­te. Selbst­ver­ständ­lich war das eine lä­cher­li­che Dumm­heit. Das dümms­te da­bei war, daß ihm sein Fa­mi­li­enna­me ge­ra­de des­we­gen ge­fiel, weil es Fürs­ten Dol­goru­kij gibt. Eine son­der­ba­re, ganz ver­dreh­te Auf­fas­sung!

Wenn ich ge­sagt habe, die gan­ze Fa­mi­lie sei im­mer zu­sam­men ge­we­sen, so habe ich mich selbst­ver­ständ­lich aus­ge­nom­men. Ich war ge­wis­ser­ma­ßen ein Aus­ge­sto­ße­ner und war schon fast un­mit­tel­bar nach mei­ner Ge­burt bei frem­den Leu­ten un­ter­ge­bracht wer­den. Aber das war nicht in ir­gend­ei­ner be­son­de­ren Ab­sicht ge­sche­hen, son­dern hat­te sich ein­fach von selbst so er­ge­ben. Mei­ne Mut­ter war, als sie mich zur Welt ge­bracht hat­te, noch jung und schön, und da­her brauch­te er sie not­wen­dig, und ein klei­ner Schrei­hals wäre in die­ser Hin­sicht hin­der­lich ge­we­sen, na­ment­lich auf Rei­sen. So kam es denn, daß ich bis zu mei­nem zwan­zigs­ten Le­bens­jahr mei­ne Mut­ter fast gar nicht zu se­hen be­kom­men habe, nur zwei- oder drei­mal flüch­tig. Schuld dar­an war nicht etwa Man­gel an Ge­fühl bei mei­ner Mut­ter, son­dern Wer­si­lows Hoch­mut an­de­ren Men­schen ge­gen­über.

VII

Jetzt von et­was ganz an­de­rem.

Ei­nen Mo­nat vor­her, das heißt einen Mo­nat vor dem 19. Sep­tem­ber, faß­te ich in Mos­kau den Ent­schluß, mich von all den Mei­ni­gen los­zu­sa­gen und voll­stän­dig in mei­ner Idee auf­zu­ge­hen. Ich schrei­be ab­sicht­lich hin: »in mei­ner Idee auf­zu­ge­hen«, weil die­ser Aus­druck mei­nen Haupt­ge­dan­ken, das Ziel, für das ich auf der Welt bin, ziem­lich voll­stän­dig be­zeich­net. Was das für eine Idee ist, da­von wird spä­ter noch sehr viel zu spre­chen sein. In der Ein­sam­keit mei­nes lang­jäh­ri­gen, träu­me­ri­schen Mos­kau­er Le­bens hat­te sich die­se Idee schon in der sechs­ten Gym­na­si­al­klas­se in mei­nem Kopf ge­bil­det und mich seit­dem wohl kei­nen Au­gen­blick ver­las­sen. Sie ver­schlang mein gan­zes Le­ben. Ich hat­te auch vor­her mich oft Träu­me­rei­en hin­ge­ge­ben und gleich von mei­ner Kind­heit an in je­nem be­wuß­ten Traum­land ge­lebt; aber als die­se wich­tigs­te, al­les ver­schlin­gen­de Idee in mei­nem Kopf auf­ge­taucht war, hat­ten mei­ne Träu­me­rei­en an Kraft ge­won­nen, eine be­stimm­te Form an­ge­nom­men und sich aus tö­rich­ten zu ver­stän­di­gen ent­wi­ckelt. Das Gym­na­si­um war den Träu­me­rei­en nicht hin­der­lich ge­we­sen; es war eben­so­we­nig der Idee hin­der­lich. Ich füge je­doch hin­zu, daß ich im letz­ten Schul­jahr nur ein schlech­ter Schü­ler war, wäh­rend ich bis zur sie­ben­ten Klas­se im­mer zu den ers­ten ge­hört hat­te; es war dies die Fol­ge eben je­ner Idee, die Fol­ge ei­nes viel­leicht un­rich­ti­gen Schlus­ses, den ich aus ihr ge­zo­gen hat­te. Auf die­se Wei­se war nicht das Gym­na­si­um der Idee hin­der­lich, son­dern die Idee dem Gym­na­si­um. Sie er­wies sich auch für das Uni­ver­si­täts­stu­di­um hin­der­lich. Als ich das Gym­na­si­um ab­sol­viert hat­te, nahm ich mir so­gleich vor, nicht nur mit al­len mei­nen An­ge­hö­ri­gen voll­stän­dig zu bre­chen, son­dern nö­ti­gen­falls auch mit der gan­zen Welt, ob­wohl ich da­mals erst zwan­zig Jah­re alt war. So schrieb ich denn durch die an­ge­mes­se­ne Mit­tels­per­son an die an­ge­mes­se­ne Stel­le in Pe­ters­burg, man möge mich künf­tig­hin völ­lig in Ruhe las­sen, mir kein Geld mehr zu mei­nem Un­ter­halt schi­cken und mich mög­lichst ganz ver­ges­sen (das heißt, selbst­ver­ständ­lich falls man sich mei­ner über­haupt noch er­in­ne­re), und zum Schluß teil­te ich mit, daß ich »um kei­nen Preis« die Uni­ver­si­tät be­zie­hen wür­de. Ich stand vor fol­gen­dem un­aus­weich­li­chem Di­lem­ma: ent­we­der muß­te ich mir den Be­such der Uni­ver­si­tät und den wei­te­ren Aus­bau mei­ner Bil­dung ver­sa­gen, oder ich muß­te die sonst so­fort mög­li­che Um­set­zung der »Idee« in die Tat noch um vier Jah­re hin­aus­schie­ben. Ich ent­schied mich, ohne zu schwan­ken, für die Idee, von de­ren Rich­tig­keit ich wie von der ei­nes ma­the­ma­ti­schen Lehr­sat­zes über­zeugt war. Wer­si­low, mein Va­ter, den ich erst ein ein­zi­ges Mal in mei­nem Le­ben als zehn­jäh­ri­ger Kna­be ge­se­hen hat­te (und der in die­sem einen Au­gen­blick einen star­ken Ein­druck auf mich ge­macht hat­te), Wer­si­low for­der­te mich in Beant­wor­tung mei­nes Brie­fes, der üb­ri­gens nicht an ihn ge­rich­tet ge­we­sen war, selbst in ei­nem ei­gen­hän­di­gen Schrei­ben auf, nach Pe­ters­burg zu kom­men, und stell­te mir eine pri­va­te An­stel­lung in Aus­sicht. Die­se Auf­for­de­rung von sei­ten ei­nes tro­ckenen, stol­zen, mir ge­gen­über hoch­mü­ti­gen und nach­läs­si­gen Man­nes, der mich in die Welt ge­setzt, mich zu frem­den Leu­ten ge­ge­ben, mich gar nicht ken­nen­ge­lernt und dies nie­mals auch nur be­reut hat­te (wer weiß, viel­leicht hat­te er von mei­nem Da­sein über­haupt nur eine un­kla­re, dunkle Vor­stel­lung, da sich spä­ter her­aus­stell­te, daß auch das Geld für mei­nen Un­ter­halt in Mos­kau nicht von ihm, son­dern von an­de­ren ge­zahlt wor­den war), die Auf­for­de­rung von Sei­ten die­ses Man­nes, sage ich, der sich so plötz­lich mei­ner er­in­ner­te und mich ei­nes ei­gen­hän­di­gen Schrei­bens wür­dig­te, die­se mir schmei­chel­haf­te Auf­for­de­rung ent­schied mein Schick­sal. In sei­nem Brief­chen (es war nur eine knap­pe Sei­te klei­nen For­mats) ge­fiel mir selt­sa­mer­wei­se un­ter an­de­rem be­son­ders, daß er des Uni­ver­si­täts­stu­di­ums mit kei­nem Wort Er­wäh­nung tat, mich nicht bat, mei­nen Ent­schluß zu än­dern, mir kei­ne Vor­wür­fe mach­te, weil ich nicht stu­die­ren woll­te, kurz, kei­ne vä­ter­li­chen Re­dens­ar­ten von der üb­li­chen Art mach­te, und da­bei war ge­ra­de dies von sei­ner Sei­te in­so­fern häß­lich, als es sei­ne Gleich­gül­tig­keit mir ge­gen­über noch stär­ker zu­ta­ge tre­ten ließ. Ich ent­schloß mich, hin­zu­fah­ren, auch des­halb, weil dies mei­nem Haupt­plan nicht hin­der­lich war. ›Ich will se­hen, was dar­aus wird‹, dach­te ich, ›je­den­falls bin­de ich mich an sie nur für eine ge­wis­se Zeit, viel­leicht nur für ganz kur­ze Zeit. So­wie ich aber se­hen soll­te, daß die­ser wenn auch nur kon­ven­tio­nel­le und un­be­deu­ten­de Schritt mich doch von mei­nem Haupt­plan ent­fernt, wer­de ich so­gleich mit ih­nen bre­chen, al­les im Stich las­sen und mich in mein Ge­häu­se zu­rück­zie­hen.‹ Gera­de­so sag­te ich zu mir: in mein Ge­häu­se! ›Ich wer­de mich wie eine Schild­krö­te in mei­nem Ge­häu­se ver­ber­gen‹, die­ser Ver­gleich ge­fiel mir sehr. ›Ich wer­de nicht mehr al­lein sein‹, fuhr ich in mei­nen Über­le­gun­gen fort, wäh­rend ich die­se gan­zen letz­ten Tage in Mos­kau wie be­täubt um­her­ging, ›ich wer­de jetzt nie mehr al­lein sein wie bis­her so vie­le schreck­li­che Jah­re hin­durch: ich wer­de jetzt mei­ne Idee ha­ben, der ich nie­mals wer­de un­treu wer­den, nicht ein­mal, wenn ich an al­len Men­schen dort Ge­fal­len fän­de und sie mich glück­lich mach­ten und ich mit ih­nen so­gar zehn Jah­re zu­sam­men leb­te!‹ Aber, wie ich im vor­aus be­mer­ke, ge­ra­de die­se Emp­fin­dung, ge­ra­de die­se Zwie­späl­tig­keit mei­ner schon in Mos­kau fest­ge­leg­ten Plä­ne und Zie­le, eine Zwie­späl­tig­keit, de­ren ich mir in Pe­ters­burg je­der­zeit be­wußt blieb (denn ich weiß nicht, ob es in Pe­ters­burg einen Tag ge­ge­ben hat, den ich mir nicht als den end­gül­ti­gen Ter­min an­ge­setzt hät­te, um mit ih­nen zu bre­chen und da­von­zu­ge­hen), die­se Zwie­späl­tig­keit, sage ich, war wohl eine der Haup­t­ur­sa­chen der vie­len Un­vor­sich­tig­kei­ten, Schänd­lich­kei­ten, ja Ge­mein­hei­ten und na­tür­lich auch Dumm­hei­ten, die ich in die­sem Jahr be­gan­gen habe.

Na­tür­lich, ich be­kam auf ein­mal einen Va­ter, den ich vor­her noch nie ge­habt hat­te. Die­ser Ge­dan­ke be­rausch­te mich ge­ra­de­zu, so­wohl wäh­rend der Rei­se­vor­be­rei­tun­gen in Mos­kau, als auch wäh­rend ich dann im Zug saß. Daß er mein Va­ter war, schi­en mir da­bei noch nicht das wich­tigs­te, und von Zärt­lich­kei­ten war ich kein Freund, aber wie war es mög­lich ge­we­sen, daß die­ser Mensch mich nicht hat­te ken­nen wol­len und mich ge­de­mü­tigt hat­te, wäh­rend ich die­se gan­zen Jah­re über mich gleich­sam in Träu­men an ihn an­ge­saugt hat­te (wenn man sich bei Träu­men so aus­drücken kann)? In al­len mei­nen Träu­me­rei­en, von mei­ner Kind­heit an, hat­te ich mich mit ihm be­schäf­tigt, mei­ne Ge­dan­ken hat­ten sich um ihn ge­dreht, er war im­mer der de­fi­ni­ti­ve End­punkt ge­we­sen. Ich weiß nicht, ob ich ihn ge­haßt oder ge­liebt habe, aber er hat­te mit sei­ner Per­sön­lich­keit alle mei­ne Ge­dan­ken an die Zu­kunft, alle mei­ne Spe­ku­la­tio­nen auf das Le­ben an­ge­füllt -- und das war ganz von selbst ge­kom­men, zu­gleich mit mei­nem Heran­wach­sen.

Zu mei­ner Abrei­se von Mos­kau trug auch noch ein mäch­ti­ger Um­stand bei, eine Ver­lo­ckung, die schon drei Mo­na­te vor der Abrei­se (also zu ei­ner Zeit, wo von Pe­ters­burg noch gar nicht die Rede war) mein Herz hat­te hö­her schla­gen las­sen! Ich fühl­te mich nach je­nem un­be­kann­ten Ozean schon des­halb hin­ge­zo­gen, weil ich ohne wei­te­res als Herr­scher auf ihn hin­aus­fah­ren konn­te, so­gar als Herr über frem­de Schick­sa­le, und über die Schick­sa­le von was für Men­schen! Aber nur groß­mü­ti­ge, nicht des­po­ti­sche Ge­füh­le wall­ten in mei­nem In­nern, das schi­cke ich vor­aus, da­mit mei­ne Wor­te nicht zu falschen Auf­fas­sun­gen An­laß ge­ben. Zu­dem konn­te Wer­si­low den­ken (falls er mich über­haupt für wert hielt, sei­ne Ge­dan­ken auf mich zu rich­ten), da kom­me so ein jun­ger Bur­sche, der eben das Gym­na­si­um durch­ge­macht habe, ein Jüng­ling, und bli­cke die Welt mit er­staun­ten Au­gen an. Aber da­bei kann­te ich be­reits sein gan­zes Ge­heim­nis und hat­te ein sehr wich­ti­ges Schrift­stück in Hän­den, für das er (jetzt weiß ich das be­reits zu­ver­läs­sig) meh­re­re Jah­re sei­nes Le­bens hin­ge­ge­ben ha­ben wür­de, wenn ich ihm da­mals das Ge­heim­nis ent­deckt hät­te. Ich mer­ke üb­ri­gens, daß ich Rät­sel auf­ge­ge­ben habe. Ohne Tat­sa­chen kann man Ge­füh­le nicht schil­dern. Über­dies wird von al­le­dem am ge­ge­be­nen Ort noch ge­nug und über­ge­nug die Rede sein; dar­um habe ich ja auch zur Fe­der ge­grif­fen. Aber so zu schrei­ben wie jetzt eben, das nimmt sich wie Phan­tas­te­rei oder Wol­ken­ne­bel aus.

VIII

Um nun end­lich de­fi­ni­tiv zum 19. Sep­tem­ber zu kom­men, will ich nur noch in al­ler Kür­ze und so­zu­sa­gen im Vor­über­ge­hen be­mer­ken, daß ich sie alle, das heißt Wer­si­low, mei­ne Mut­ter und mei­ne Schwes­ter (die letz­te­re sah ich zum ers­ten­mal in mei­nem Le­ben), in sehr be­dräng­ten Ver­hält­nis­sen vor­fand: sie wa­ren fast bet­tel­arm oder stan­den doch un­mit­tel­bar vor völ­li­ger Ar­mut. Ich hat­te da­von schon in Mos­kau ge­hört, aber doch nicht al­les ge­ahnt, was ich nun mit ei­ge­nen Au­gen sah. Ich war von klein auf ge­wöhnt ge­we­sen, mir die­sen Men­schen, die­sen »mei­nen künf­ti­gen Va­ter«, bei­na­he mit ei­ner Art von Glo­ri­en­schein vor­zu­stel­len, und konn­te ihn mir gar nicht an­ders den­ken als über­all auf dem ers­ten Platz. Wer­si­low hat­te bis­her nie mit mei­ner Mut­ter in ein und der­sel­ben Woh­nung ge­wohnt, son­dern ihr im­mer eine be­son­de­re ge­mie­tet; al­ler­dings hat­te er das nur aus den in sol­chen Krei­sen üb­li­chen ge­mei­nen »An­stands­rück­sich­ten« ge­tan. Aber jetzt wohn­ten sie alle zu­sam­men in ei­nem Holz­häus­chen, in ei­ner Sei­ten­stra­ße des Sem­jo­now­skij Polk. Alle ihre Sa­chen wa­ren be­reits ver­setzt, so daß ich mei­ner Mut­ter ohne Wer­si­lows Wis­sen mei­nen heim­li­chen Schatz, sech­zig Ru­bel, gab. Ich sage: mei­nen heim­li­chen Schatz, denn die­se Sum­me hat­te ich mir von mei­nem Ta­schen­geld, das mir im Be­trag von fünf Ru­beln mo­nat­lich ver­ab­folgt wur­de, im Lau­fe von zwei Jah­ren zu­sam­men­ge­spart; be­gon­nen hat­te ich mit dem Spa­ren gleich am ers­ten Tag, als mir mei­ne »Idee« ge­kom­men war, und dar­um durf­te Wer­si­low von die­sem Geld kei­ne Sil­be wis­sen. Da­vor zit­ter­te ich.

Die­se Bei­hil­fe war nur ein Trop­fen auf einen hei­ßen Stein. Mei­ne Mut­ter ar­bei­te­te, und mei­ne Schwes­ter nahm gleich­falls Näh­ar­beit an; Wer­si­low da­ge­gen ging mü­ßig, be­trug sich lau­nen­haft und hat­te eine Men­ge sei­ner frü­he­ren, ziem­lich kost­spie­li­gen Ge­wohn­hei­ten bei­be­hal­ten. Er murr­te ge­wal­tig, be­son­ders über das Mit­ta­ges­sen, und sein gan­zes Be­neh­men war völ­lig des­po­tisch. Aber mei­ne Mut­ter, mei­ne Schwes­ter, Tat­ja­na Paw­low­na und die gan­ze aus ei­ner Men­ge von Frau­ens­per­so­nen be­ste­hen­de An­dro­ni­kow­sche Fa­mi­lie (An­dro­ni­kow war ein drei Mo­na­te vor­her ver­stor­be­ner Bü­ro­vor­ste­her, der ne­ben sei­nem Amt Wer­si­lows Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten be­sorgt hat­te) ver­ehr­ten ihn an­däch­tig wie einen Fe­tisch. Ich hat­te mir so et­was gar nicht vor­stel­len kön­nen. Ich be­mer­ke, daß er neun Jah­re vor­her un­ver­gleich­lich ele­gan­ter ge­we­sen war. Ich habe be­reits ge­sagt, daß er in mei­nen Träu­me­rei­en mit ei­ner Art Glo­ri­en­schein um­ge­ben war, und da­her konn­te ich es nicht be­grei­fen, wie er in ei­ner Zeit von nicht mehr als neun Jah­ren so hat­te al­tern und sich zu sei­nem Nach­teil ver­än­dern kön­nen; das stimm­te mich so­fort trau­rig und flö­ßte mir Mit­leid und Scham ein. Sein An­blick war ei­ner der pein­lichs­ten Ein­drücke, die ich gleich nach mei­ner An­kunft hat­te. Üb­ri­gens war er noch durch­aus kein al­ter Mann, er war erst fünf­und­vier­zig Jah­re alt; bei ge­naue­rer Be­trach­tung fand ich in sei­ner im­mer noch schö­nen Er­schei­nung so­gar et­was An­zie­hen­de­res, als das, was in mei­ner Erin­ne­rung haf­te­te. Es war jetzt we­ni­ger äu­ße­rer Glanz, we­ni­ger Vor­nehm­heit als da­mals vor­han­den, aber das Le­ben hat­te die­sem Ge­sicht einen viel in­ter­essan­te­ren Aus­druck als frü­her auf­ge­prägt.

In­des­sen bil­de­te die Ar­mut nur den zehn­ten oder zwan­zigs­ten Teil sei­nes Miß­ge­schicks, und ich wuß­te das nur zu gut. Au­ßer der Ar­mut lag noch et­was sehr viel Erns­te­res vor -- um gar nicht da­von zu re­den, daß er im­mer noch Hoff­nung hat­te, einen Erb­schaftspro­zeß zu ge­win­nen, den er schon vor ei­nem Jahr ge­gen die Fürs­ten So­kols­kij an­ge­strengt hat­te; es war da­her nicht un­mög­lich, daß er in al­ler­nächs­ter Zeit ein Gut im Wer­te von sech­zig­tau­send, viel­leicht so­gar noch mehr Ru­beln er­hielt. Ich habe schon oben ge­sagt, daß die­ser Wer­si­low in sei­nem Le­ben drei Erb­schaf­ten durch­ge­bracht hat­te, und da war es nun mög­li­cher­wei­se wie­der eine Erb­schaft, die ihm aus der Klem­me half! Die ge­richt­li­che Ent­schei­dung stand un­mit­tel­bar be­vor. Im Hin­blick dar­auf war ich auch her­ge­reist. Al­ler­dings gab ihm auf die blo­ße Hoff­nung hin nie­mand Geld, so daß er nir­gends wel­ches bor­gen konn­te; sie muß­ten da­her einst­wei­len aus­hal­ten.

Aber Wer­si­low ging auch zu nie­man­dem hin, ob­wohl er manch­mal den gan­zen Tag fort­blieb. Es war schon mehr als ein Jahr her, daß man ihn aus der vor­neh­men Ge­sell­schaft aus­ge­sto­ßen hat­te. Die­se Af­fä­re war mir trotz all mei­ner Be­mü­hun­gen in der Haupt­sa­che un­klar ge­blie­ben, ob­wohl ich schon einen gan­zen Mo­nat lang in Pe­ters­burg wohn­te. War Wer­si­low schul­dig oder nicht? Das war für mich eine wich­ti­ge Fra­ge, und eben­des­we­gen war ich her­ge­reist! Alle hat­ten sich von ihm ab­ge­wandt, un­ter an­de­ren auch alle ein­fluß­rei­chen, vor­neh­men Leu­te, mit de­nen Be­zie­hun­gen zu un­ter­hal­ten er sein gan­zes Le­ben lang be­son­ders gut ver­stan­den hat­te, und zwar war dies ge­sche­hen in­fol­ge von Gerüch­ten über eine sehr ge­mei­ne und (was in den Au­gen der »vor­neh­men Ge­sell­schaft« das al­ler­schlimms­te war) auf­se­hen­er­re­gen­de Hand­lung, die er vor mehr als ei­nem Jahr in Deutsch­land be­gan­gen ha­ben soll­te; es hieß so­gar, er habe da­mals all­zu öf­fent­lich eine Ohr­fei­ge er­hal­ten, und zwar ge­ra­de von ei­nem der Fürs­ten So­kols­kij, habe aber nicht mit ei­ner For­de­rung zum Duell geant­wor­tet. So­gar sei­ne Kin­der (die le­gi­ti­men), der Sohn und die Toch­ter, hat­ten sich von ihm los­ge­sagt und wohn­ten von ihm ge­trennt. Al­ler­dings hat­ten der Sohn und die Toch­ter durch die Fa­mi­lie Fa­na­rio­tow und durch den al­ten Fürs­ten So­kols­kij (Wer­si­lows ehe­ma­li­gen Freund) Ver­kehr mit den höchs­ten Krei­sen. Üb­ri­gens fand ich, wäh­rend ich ihn die­sen gan­zen Mo­nat lang auf­merk­sam be­ob­ach­te­te, in ihm einen hoch­mü­ti­gen Men­schen, der nicht von der Ge­sell­schaft aus ih­rem Kreis aus­ge­schlos­sen war, son­dern viel­mehr sei­ner­seits die Ge­sell­schaft weg­ge­jagt hat­te, -- eine so selbst­be­wuß­te Mie­ne mach­te er. Aber hat­te er ein Recht, eine sol­che Mie­ne zu ma­chen? Das war’s, wor­über ich mich auf­reg­te! Ich muß­te un­be­dingt in kür­zes­ter Frist die vol­le Wahr­heit er­fah­ren; denn ich war her­ge­reist, um über die­sen Men­schen das Ur­teil zu fäl­len. Ich hielt mei­ne Macht noch vor ihm ver­bor­gen, aber ich muß­te ihn ent­we­der an­er­ken­nen oder ihn gänz­lich von mir sto­ßen. Das letz­te­re wäre mir gar zu schmerz­lich ge­we­sen, und die­ser Ge­dan­ke be­rei­te­te mir Qua­len. Ich will nun end­lich ein vol­les Ge­ständ­nis ab­le­gen: die­ser Mensch war mir teu­er!

Vor­läu­fig leb­te ich mit ih­nen in ein und der­sel­ben Woh­nung, ar­bei­te­te und be­herrsch­te mich nur mit Mühe so weit, daß ich nicht grob wur­de. Ja, es ge­lang mir nicht ein­mal, mich so weit zu be­herr­schen. Ob­wohl ich schon einen Mo­nat bei ih­nen leb­te, kam ich mit je­dem Tag mehr zu der Über­zeu­gung, daß ich es ab­so­lut nicht fer­tig­brach­te, mich mit der Bit­te um end­gül­ti­ge Auf­klä­rung an ihn zu wen­den. Der stol­ze Mensch stand ge­ra­de­zu als ein Rät­sel vor mir, das mich in tiefs­ter See­le be­lei­dig­te. Er be­nahm sich ge­gen mich so­gar lie­bens­wür­dig und scherz­te mit mir, aber mir wä­ren Streit und Zank lie­ber ge­we­sen als die­se Scher­ze. Alle mei­ne Ge­sprä­che mit ihm tru­gen im­mer den Cha­rak­ter ei­ner ge­wis­sen Zwei­deu­tig­keit, oder, ein­fa­cher ge­sagt, er be­dien­te sich da­bei ei­nes ei­gen­tüm­lich spöt­ti­schen To­nes. Er nahm mich nach mei­ner An­kunft aus Mos­kau gleich von vorn­her­ein nicht für voll. Ich konn­te nicht be­grei­fen, warum er das tat. Al­ler­dings er­reich­te er da­durch, daß ich in sein In­ners­tes nicht hin­ein­schau­en konn­te; aber ich selbst hät­te mich nicht dazu er­nied­rigt, ihn zu bit­ten, daß er ernst mit mir um­ge­hen möch­te. Au­ßer­dem hat­te er ge­wis­se wun­der­ba­re, un­wi­der­steh­li­che Ma­nie­ren an sich, ge­gen die ich nicht auf­kam. Kurz ge­sagt, er be­han­del­te mich wie einen ganz grü­nen Jun­gen, was ich kaum er­tra­gen konn­te, ob­gleich ich ge­wußt hat­te, daß es so ge­sche­hen wür­de. In­fol­ge­des­sen hör­te ich selbst auf, ernst zu spre­chen, und war­te­te das Wei­te­re ab; ja, ich re­de­te über­haupt fast gar nicht mehr. Ich war­te­te auf je­mand, des­sen An­kunft in Pe­ters­burg es mir er­mög­li­chen soll­te, end­gül­tig die Wahr­heit zu er­fah­ren; das war mei­ne letz­te Hoff­nung. Je­den­falls be­rei­te­te ich mich dar­auf vor, end­gül­tig mit ih­nen zu bre­chen, und traf dazu schon alle Maß­nah­men. Mei­ne Mut­ter tat mir leid, aber... »ent­we­der er oder ich« -- die­se Al­ter­na­ti­ve woll­te ich ihr und mei­ner Schwes­ter stel­len. So­gar den Tag hat­te ich schon fest­ge­setzt; vor­läu­fig aber ging ich in mei­nen Dienst.

Zweites Kapitel

I

An die­sem 19. Sep­tem­ber soll­te ich auch mein ers­tes Ge­halt für den ers­ten Mo­nat mei­ner Pe­ters­bur­ger Tä­tig­keit in mei­ner »pri­va­ten« Stel­lung er­hal­ten. We­gen die­ser Tä­tig­keit hat­te man mich nicht vor­her ge­fragt, son­dern mich ein­fach hin­ge­tan, ich glau­be, gleich am ers­ten Tag nach mei­ner An­kunft. Das war sehr rück­sichts­los, und es wäre fast mei­ne Pf­licht ge­we­sen, ge­gen eine sol­che Be­hand­lung zu pro­tes­tie­ren. Die­se Stel­le war im Hau­se des al­ten Fürs­ten So­kols­kij. Aber gleich da­mals zu pro­tes­tie­ren, das hät­te den so­for­ti­gen Bruch mit ih­nen be­deu­tet, und ob­gleich mich das durch­aus nicht schreck­te, so wäre es doch der Er­rei­chung mei­ner ei­gent­li­chen Zie­le hin­der­lich ge­we­sen, und da­her hat­te ich die Stel­le einst­wei­len still­schwei­gend an­ge­nom­men, wo­bei ich durch die­ses Still­schwei­gen mei­ne Wür­de wahr­te. Er­klä­rend will ich hier gleich zu An­fang be­mer­ken, daß die­ser Fürst So­kols­kij, ein rei­cher Mann und Ge­heim­rat, in kei­ner Wei­se mit je­nen Mos­kau­er Fürs­ten So­kols­kij ver­wandt war (ei­ner schon seit Ge­ne­ra­tio­nen gänz­lich ver­arm­ten Fa­mi­lie), mit de­nen Wer­si­low pro­zes­sier­te. Sie führ­ten nur den glei­chen Na­men. Nichts­de­sto­we­ni­ger in­ter­es­sier­te sich der alte Fürst sehr für sie und moch­te be­son­ders einen von die­sen Fürs­ten, so­zu­sa­gen das Ober­haupt der Fa­mi­lie, einen jun­gen Of­fi­zier, gut lei­den. Wer­si­low hat­te noch vor kur­z­em auf die ge­schäft­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten die­ses al­ten Man­nes einen großen Ein­fluß aus­ge­übt und war sein Freund ge­we­sen, ein son­der­ba­rer Freund, da der be­dau­erns­wer­te Fürst, wie ich wahr­nahm, eine ge­wal­ti­ge Angst vor ihm hat­te, nicht nur zu der Zeit, als ich ein­trat, son­dern, wie es schi­en, im­mer, wäh­rend der gan­zen Dau­er der Freund­schaft. Üb­ri­gens hat­ten sie ein­an­der schon lan­ge Zeit nicht mehr ge­se­hen; die ehr­lo­se Hand­lung, de­ren Wer­si­low be­schul­digt wur­de, be­traf ge­ra­de die Fa­mi­lie des Fürs­ten; aber da war plötz­lich Tat­ja­na Paw­low­na als Hel­fe­rin er­schie­nen, und durch ihre Ver­mitt­lung war ich bei dem al­ten Fürs­ten un­ter­ge­bracht wor­den, der einen »jun­gen Mann« als Hil­fe in sei­nem Ar­beits­zim­mer wünsch­te. Da­bei hat­te sich her­aus­ge­stellt, daß er den leb­haf­ten Wunsch hat­te, Wer­si­low einen Ge­fal­len zu er­wei­sen, so­zu­sa­gen den ers­ten Schritt zur Ver­söh­nung zu tun; und Wer­si­low hat­te es er­laub­t. Der alte Fürst hat­te die­se An­ord­nung in Ab­we­sen­heit sei­ner Toch­ter, ei­ner ver­wit­we­ten Ge­nerä­lin, ge­trof­fen, die ihm die­sen Schritt ge­wiß nicht er­laubt hät­te. Aber hier­von spä­ter, jetzt be­mer­ke ich nur, daß die­ses merk­wür­di­ge Be­neh­men ge­gen­über Wer­si­low mir einen star­ken und für Wer­si­low güns­ti­gen Ein­druck mach­te. Mein Ge­dan­ke war die­ser: wenn das Ober­haupt der be­lei­dig­ten Fa­mi­lie im­mer noch vor Wer­si­low Ach­tung hegt, dann muß doch das Ge­re­de über eine von Wer­si­low be­gan­ge­ne Ge­mein­heit ab­surd oder we­nigs­tens zwei­fel­haft und un­si­cher sein. Eben die­ser Um­stand hat­te mich auch mit dazu ver­an­laßt, ge­gen die Über­nah­me die­ser Stel­lung nicht zu pro­tes­tie­ren; in­dem ich sie an­trat, hoff­te ich näm­lich, dies al­les zu über­prü­fen.

Jene Tat­ja­na Paw­low­na spiel­te da­mals, als ich sie in Pe­ters­burg traf, eine ei­gen­tüm­li­che Rol­le. Ich hat­te sie fast ganz ver­ges­sen und in kei­ner Wei­se er­war­tet, daß sie eine so be­deut­sa­me Stel­lung in­ne­hät­te. Sie war frü­her drei- oder vier­mal wäh­rend mei­nes Auf­ent­hal­tes in Mos­kau mit mir in Berüh­rung ge­kom­men und war Gott weiß wo­her in ir­gend je­man­des Auf­trag je­des­mal er­schie­nen, wenn ich ir­gend­wo un­ter­ge­bracht wer­den muß­te -- bei mei­nem Ein­tritt in das schlech­te Pen­sio­nat des Herrn Touchard, und dann zwei und ein hal­b­es Jahr dar­auf bei mei­nem Über­gang auf das Gym­na­si­um und mei­ner Un­ter­brin­gung bei dem un­ver­geß­li­chen Ni­ko­lai Sem­jo­no­witsch. Nach ih­rer An­kunft be­schäf­tig­te sie sich je­des­mal den gan­zen Tag mit mir, re­vi­dier­te mei­ne Wä­sche und mei­ne Klei­der, fuhr mit mir nach dem Kus­nez­kij Most und in die Stadt, kauf­te mir al­les Not­wen­di­ge und brach­te, kurz ge­sagt, mei­ne ge­sam­te Aus­rüs­tung bis auf das letz­te Schreib­käst­chen und Fe­der­mes­ser­chen in Ord­nung; da­bei ranz­te sie mich die gan­ze Zeit über an, schalt mich, mach­te mir Vor­wür­fe, ex­ami­nier­te mich und stell­te mir an­de­re Kna­ben aus ih­rer Be­kannt­schaft und Ver­wandt­schaft (für mich rei­ne Phan­ta­sie­ge­bil­de), die alle an­geb­lich viel bes­ser wa­ren als ich, als Mus­ter hin; ja, sie kniff und puff­te mich so­gar ge­hö­rig, und das so­gar mehr­mals und so, daß es weh tat. Hat­te sie mich aus­ge­stat­tet und an mei­ner neu­en Stel­le un­ter­ge­bracht, so ver­schwand sie für ei­ni­ge Jah­re spur­los. Und so war sie auch jetzt gleich nach mei­ner An­kunft er­schie­nen, um mir wie­der ein Un­ter­kom­men zu ver­schaf­fen. Sie war eine klei­ne, ma­ge­re Per­son mit ei­nem spit­zen Vo­gelnäs­chen und schar­fen Vo­gel­äug­lein. Ge­gen­über Wer­si­low war sie von ei­ner skla­vi­schen Dienst­fer­tig­keit und ver­ehr­te ihn wie einen Papst, aber aus wirk­li­cher Über­zeu­gung. Bald aber be­merk­te ich mit Er­stau­nen, daß sie ge­ra­de­zu über­all und bei al­len Men­schen be­kannt war und vor al­lem über­all und von al­len Men­schen hoch­ge­schätzt wur­de. Der alte Fürst So­kols­kij be­nahm sich ge­gen sie un­ge­wöhn­lich re­spekt­voll; eben­so sei­ne Fa­mi­lie; eben­so die­se stol­zen Kin­der Wer­si­lows; eben­so die Fa­na­rio­tows, -- und da­bei leb­te Tat­ja­na Paw­low­na von Näh­ar­beit und vom Wa­schen fei­ner Spit­zen und mach­te Hand­ar­bei­ten für Lä­den. Ich und sie ge­rie­ten gleich beim ers­ten Wort mit­ein­an­der in Streit, weil sie sich so­gleich ein­fal­len ließ, mich wie frü­her, vor sechs Jah­ren, an­zu­ran­zen; seit­dem zank­ten wir uns täg­lich; aber das hin­der­te uns nicht, manch­mal freund­schaft­li­che Ge­sprä­che mit­ein­an­der zu füh­ren, und ich muß ge­ste­hen, daß sie mir ge­gen Ende des Mo­nats zu ge­fal­len an­fing; ich glau­be, we­gen ih­res selb­stän­di­gen Cha­rak­ters. Üb­ri­gens sag­te ich ihr nichts da­von.

Ich durch­schau­te so­fort, daß man mir die Stel­le bei die­sem al­ten, kran­ken Herrn nur des­halb über­trug, da­mit ich für sei­ne Un­ter­hal­tung sorg­te, und daß dar­in mein gan­zer Dienst be­ste­hen wür­de. Na­tür­lich er­schi­en mir das ent­wür­di­gend, und ich woll­te schon so­gleich die nö­ti­gen Maß­nah­men er­grei­fen; aber sehr bald rief die­ser alte Son­der­ling eine un­er­war­te­te Emp­fin­dung in mir her­vor, eine Art Mit­leid, und am Ende des Mo­nats fühl­te ich mich in merk­wür­di­ger Wei­se ihm zu­ge­tan, je­den­falls hat­te ich die Ab­sicht, ihm grob zu kom­men, auf­ge­ge­ben. Üb­ri­gens war er nicht mehr als sech­zig Jah­re alt. Es war mit ihm eine auf­se­hen­er­re­gen­de Ge­schich­te pas­siert. Vor an­dert­halb Jah­ren hat­te er plötz­lich einen An­fall ge­habt; er war ir­gend­wo hin­ge­reist und un­ter­wegs geis­tes­krank ge­wor­den, so daß dar­aus eine Art Skan­dal ent­stan­den war, über den in Pe­ters­burg viel ge­re­det wur­de. Wie es in sol­chen Fäl­len Sit­te ist, wur­de er so­fort ins Aus­land ge­schafft, aber fünf Mo­na­te dar­auf er­schi­en er plötz­lich wie­der, und zwar voll­stän­dig ge­sund, wenn er auch den Dienst quit­tier­te. Wer­si­low ver­si­cher­te al­len Erns­tes (und mit be­mer­kens­wer­tem Ei­fer), daß eine Geis­tes­stö­rung bei ihm über­haupt nicht vor­ge­le­gen habe, son­dern nur ein ner­vö­ser An­fall. Die­ser Ei­fer Wer­si­lows fiel mir gleich auf. Üb­ri­gens will ich be­mer­ken, daß auch ich bei­nah der­sel­ben An­sicht war. Der alte Fürst zeig­te höchs­tens manch­mal einen zu sei­nen Jah­ren nicht recht stim­men­den Leicht­sinn, was frü­her, wie man sag­te, nicht der Fall ge­we­sen war. Es hieß, er habe frü­her ir­gend­wo und ir­gend­wie gute Ratschlä­ge ge­ge­ben und sich ein­mal bei ei­nem ihm er­teil­ten Auf­trag be­son­ders aus­ge­zeich­net. Ob­wohl ich ihn schon einen gan­zen Mo­nat kann­te, hät­te ich nicht ge­glaubt, daß er als Rat­ge­ber je­mals von be­son­de­rer Stär­ke ge­we­sen wäre. Man hat­te an ihm be­merkt (ob­gleich ich es nicht be­merkt hat­te), daß sich bei ihm nach je­nem An­fall eine be­son­de­re Nei­gung her­aus­ge­bil­det hat­te, mög­lichst bald zu hei­ra­ten, und glaub­te, daß er in die­sen an­dert­halb Jah­ren schon mehr­mals habe zur Aus­füh­rung die­ser Idee schrei­ten wol­len. Da­von hat­te man in der Ge­sell­schaft Kennt­nis, und es fan­den sich auch In­ter­es­sen­ten. Aber da die­se Nei­gung den In­ter­es­sen ge­wis­ser Per­so­nen in der Um­ge­bung des Fürs­ten sehr we­nig ent­sprach, so wur­de der alte Mann von al­len Sei­ten arg­wöh­nisch be­wacht. Sei­ne ei­ge­ne Fa­mi­lie war nur klein; er war schon seit zwan­zig Jah­ren Wit­wer und hat­te nur eine ein­zi­ge Toch­ter, jene ver­wit­we­te Ge­ne­ra­lin, die jetzt täg­lich aus Mos­kau er­war­tet wur­de, eine jun­ge Per­son, vor de­ren ener­gi­schem Cha­rak­ter er un­zwei­fel­haft Angst hat­te. Aber er hat­te eine Un­men­ge ver­schie­de­ner ent­fern­ter Ver­wand­ter, na­ment­lich von Sei­ten sei­ner ver­stor­be­nen Frau, die sämt­lich bei­na­he Bett­ler wa­ren, und au­ßer­dem eine Mas­se von Pfle­ge­söh­nen und Pfle­ge­töch­tern, die alle vie­le Wohl­ta­ten von ihm emp­fan­gen hat­ten, nun auf einen klei­nen An­teil in sei­nem Te­sta­ment hoff­ten und da­her alle die Ge­ne­ra­lin bei der Beauf­sich­ti­gung des al­ten Man­nes un­ter­stütz­ten. Er hat­te über­dies von Ju­gend auf eine Son­der­bar­keit an sich, ich weiß nur nicht, ob ich sie lä­cher­lich fin­den soll oder nicht: arme Mäd­chen zu ver­hei­ra­ten. Er gab sich schon seit fünf­und­zwan­zig Jah­ren da­mit ab, sol­che Mäd­chen zu ver­hei­ra­ten, teils ent­fern­te Ver­wand­te, teils Stief­töch­ter ir­gend­wel­cher Vet­tern sei­ner Frau, teils Pa­ten­kin­der; so­gar die Toch­ter sei­nes Por­tiers hat­te er ver­hei­ra­tet. Er nahm sie zu­erst, wenn sie noch ganz klein wa­ren, zu sich ins Haus, zog sie auf, hielt ih­nen Gou­ver­nan­ten und Fran­zö­sin­nen, ließ sie dann die bes­ten Lehr­an­stal­ten be­su­chen und ver­hei­ra­te­te sie schließ­lich, wo­bei er ih­nen eine Mit­gift gab. Die­ser gan­ze Schwarm um­dräng­te ihn fort­wäh­rend. Die Pfle­ge­töch­ter be­ka­men na­tür­lich, nach­dem sie ver­hei­ra­tet wa­ren, wie­der Töch­ter, und auch alle die­se streb­ten da­nach, eben­falls Pfle­ge­töch­ter zu wer­den; über­all muß­te er Pate ste­hen; zu sei­nem Na­mens­tag er­schi­en die­se gan­ze Ge­sell­schaft, um zu gra­tu­lie­ren, und das al­les mach­te ihm das größ­te Ver­gnü­gen.