Aufzeichnungen - Elias Canetti - E-Book

Aufzeichnungen E-Book

Elias Canetti

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Beschreibung

Elias Canettis seit 1942 gefu?hrte Aufzeichnungen – stets präzise, oft quer gedachte Gedanken in scharf geschliffener Sprache – sind sein intellektuelles Tagebuch und galten ihm selbst als das Wichtigste in seinem Werk. Als Seitenstu?cke seines Hauptwerks "Masse und Macht" bu?ndeln sie die großen Themen seines Lebens. Hier sind alle von ihm selbst publizierten bzw. zur Publikation vorbereiteten Aufzeichnungen versammelt, darunter auch die der Bände "Die Provinz des Menschen", "Das Geheimherz der Uhr", "Die Fliegenpein" und "Nachträge aus Hampstead".

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Impressum

ISBN 978–3–446–25342–1

Geschrieben 1942–1994; Erstveröffentlichung 1965–1999

Text nach Band IV und V der Canetti-Werkausgabe

© 2015, 2016 Elias Canetti Erben Zürich, Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung: S. Fischer Verlag / www.buerosued.de

Cover: Elias Canettis mit seinen Bleistiften, Zürich 1977

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Über das Buch

Elias Canettis seit 1942 geführte Aufzeichnungen – stets präzise, oft quer gedachte Gedanken in scharf geschliffener Sprache – sind sein intellektuelles Tagebuch und galten ihm selbst als das Wichtigste in seinem Werk. Als Seitenstücke seines Haupt-Buches Masse und Macht bündeln sie die großen Themen seines Lebens. Hier sind alle von ihm selber publizierten Aufzeichnungen versammelt, darunter auch die der Bände Die Provinz des Menschen, Das Geheimherz der Uhr, Die Fliegenpein und Nachträge aus Hampstead.

Elias Canetti

Aufzeichnungen

1942–1985

Die Provinz des Menschen

Das Geheimherz der Uhr

Vorbemerkung

Dieser Band enthält, in zwei Teilen, Aufzeichnungen der Jahre 1942–1985. Vierundvierzig Jahre eines bewußten Lebens sind eine lange Zeit. Es lag mir daran, eine Auswahl aus dieser ganzen Periode zu treffen und vorzulegen. Wie immer diese Jahre waren – und ich habe ihre Schrecken, die ich als meine eigenen empfand, nie verschwiegen –, ich habe dankbar dafür zu sein, daß ich sie wach erlebt habe. Wenn eine solche Rechenschaft vielleicht etwas erratisch erscheint, so ist sie in jedem Satz ihrem Augenblick nah und enthält die Wahrheit immerhin eines Menschen.

Wie es zu diesen Aufzeichnungen kam, möchte ich in wenigen Worten sagen. Die Konzentration auf ein einziges Werk, ›Masse und Macht‹, von dem ich wußte, daß es mich vielleicht noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde, und eine Art Verbot, mit dem ich jede andere und besonders jede rein literarische Arbeit belegt hatte, erzeugten einen Druck, der mit der Zeit gefährliche Ausmaße annahm. Es war unerläßlich, ein Ventil dagegen zu schaffen, und ich fand es, Anfang 1942, in den Aufzeichnungen. Ihre Freiheit und Spontaneität, die Überzeugung, daß sie nur für sich bestanden und keinem Zwecke dienten, die Verantwortungslosigkeit, mit der ich sie nie wieder las und nichts an ihnen änderte, retteten mich vor einer fatalen Erstarrung.

Allmählich wurden sie zu einer unentbehrlichen täglichen Übung. Ich spürte, daß ein besonderer Teil meines Lebens in sie ging. Es entstanden viele Bände davon, und was hier vorliegt, ist eine schmale Auswahl.

Erst im Jahr 1959 brachte ich es über mich, das Manuskript jenes Buches, das ich als mein Lebenswerk betrachtete, abzuschließen. Es ist nicht zu verwundern, daß in die Aufzeichnungen auch späterer Jahre viel eingeflossen ist, was sich darauf bezieht.

Doch den Charakter eines Ventils hatten sie nun längst verloren. Sie entstanden nicht mehr unter dem Druck einer Aufgabe, die schwer auf mir gelastet hatte. Wenn mir früher oft war, als müsse ich ohne die Aufzeichnungen ersticken, hatten sie jetzt ihr eigenes unantastbares Recht.

Viele haben versucht, ihr Leben in seinem geistigen Zusammenhang zu fassen, und die, denen es gelungen ist, werden schwerlich veralten. Ich würde mir wünschen, daß manche es auch in seinen Sprüngen verzeichnen. Es scheint, daß die Sprünge eher allen zugehören, jeder kann sich ohne Umstände holen, was ihn trifft. Der Verlust einer vordergründigen Einheitlichkeit, bei einem solchen Unternehmen unvermeidbar, ist kaum zu bedauern, denn die eigentliche Einheit eines Lebens ist eine geheime, und sie ist dort am wirksamsten, wo sie sich unabsichtlich verbirgt.

Die Provinz des Menschen

1942

Es wäre hübsch, von einem gewissen Alter ab, Jahr um Jahr wieder kleiner zu werden und dieselben Stufen, die man einst mit Stolz erklomm, rückwärts zu durchlaufen. Die Würden und Ehren des Alters müßten trotzdem dieselben bleiben, die sie heute sind; so daß ganz kleine Leute, sechs- oder achtjährigen Knaben gleich, als die weisesten und erfahrensten gelten würden. Die ältesten Könige wären die kleinsten; es gäbe überhaupt nur ganz kleine Päpste; die Bischöfe würden auf Kardinäle und die Kardinäle auf den Papst herabsehen. Kein Kind mehr könnte sich wünschen, etwas Großes zu werden. Die Geschichte würde an Bedeutung durch ihr Alter verlieren; man hätte das Gefühl, daß Ereignisse vor dreihundert Jahren sich unter insektenähnlichen Geschöpfen abgespielt hätten, und die Vergangenheit hätte das Glück, endlich übersehen zu werden.

Das Wort Freiheit dient dazu, eine wichtige, vielleicht die wichtigste Spannung auszudrücken. Immer will man weg, und wenn es keinen Namen hat, wohin man will, wenn es unbestimmt ist und man keine Grenzen darin sieht, so nennt man es Freiheit.

Der räumliche Ausdruck für diese Spannung ist der heftige Wunsch, eine Grenze zu überschreiten, so als ob sie nicht vorhanden wäre. Die Freiheit im Fliegen erstreckt sich für das alte, das mythische Gefühl bis hinauf zur Sonne. Die Freiheit in der Zeit ist die Überwindung des Todes, und man ist es sogar schon zufrieden, wenn man ihn weiter und weiter wegschiebt. Die Freiheit unter den Dingen ist die Auflösung der Preise, und der ideale Verschwender, ein sehr freier Mann, wünscht sich nichts so sehr als einen unaufhörlichen und durch keine Regel bestimmten Wechsel der Preise, ihr richtungsloses Auf und Ab, wie vom Wetter bestimmt, unbeeinflußbar und nicht einmal wirklich vorauszusehen. Es gibt keine Freiheit ›zu etwas‹, ihre Gnade und ihr Glück ist die Spannung des Menschen, der sich über seine Schranken hinwegsetzen will, und immer sucht er sich für diesen Wunsch die bösesten Schranken aus. Einer, der töten will, hat es mit den furchtbaren Drohungen zu tun, die das Verbot des Tötens begleiten, und hätten ihn diese Drohungen nicht so sehr gequält, er hätte sich gewiß mit glücklicheren Spannungen geladen. – Der Ursprung der Freiheit liegt aber im Atmen. Aus jeder Luft konnte jeder ziehen, und die Freiheit des Atmens ist die einzige, die bis zum heutigen Tage nicht wirklich zerstört worden ist.

Nur ein Bild kann einem ganz gefallen, aber nie ein Mensch. Der Ursprung der Engel.

Wie rasch hat das Fliegen, dieser uralte, kostbare Traum, jeden Reiz, jeden Sinn, seine Seele verloren. So erfüllen sich die Träume, einer nach dem anderen, zu Tode. Kannst du einen neuen Traum haben?

Wie unfaßbar bescheiden sind die Menschen, die sich einer einzigen Religion verschreiben! Ich habe sehr viele Religionen, und die eine, die ihnen übergeordnet ist, bildet sich erst im Laufe meines Lebens.

Man sieht die Gedanken ihre Hände aus dem Wasser strecken, man glaubt, sie rufen um Hilfe; wie das täuscht, sie leben unten innig und sehr vertraut miteinander, man probiere es doch nur und ziehe einen einzeln heraus!

Von der Balance zwischen Wissen und Nichtwissen hängt es ab, wie weise einer wird. Das Nichtwissen darf am Wissen nicht verarmen. Für jede Antwort muß – in der Ferne und scheinbar gar nicht in Zusammenhang damit – eine Frage aufspringen, die früher geduckt schlief. Wer viel Antworten hat, muß noch mehr Fragen haben. Der Weise bleibt ein Kind sein Leben lang, und die Antworten allein machen Boden und Atem dürr. Das Wissen ist Waffe nur für den Mächtigen, der Weise verachtet nichts so sehr wie Waffen. Er schämt sich nicht seines Wunsches, noch mehr Menschen zu lieben, als er kennt; und nie wird er sich hochmütig absondern von denen allen, über die er nichts weiß.

In den besten Zeiten meines Lebens glaube ich immer, ich mache Platz, noch mehr Platz in mir, da schaufle ich Schnee weg, dort hebe ich ein Stück eingesunkenen Himmel hoch, es gibt überflüssige Seen, ich lasse sie abrinnen – die Fische rette ich –, zugewachsene Wälder, ich jage Scharen von neuen Affen in sie hinein, es ist alles voller Bewegung, nur Platz ist nie genug, ich frage nie: wofür, ich fühle nie: wofür; ich muß ihn nur immer wieder, und weiter, machen, und solange ich das kann, verdiene ich mein Leben.

Daß dieses Gesicht es bis zu diesem Krieg gebracht hat, und wir haben es nicht vertilgt! Und wir sind Millionen, und die Erde wimmelt von Waffen, Munition wäre da für dreitausend Jahre, und dieses Gesicht ist noch immer hier, über uns weit ausgespannt, die Fratze der Gorgo, und wir im Morden alle versteinert.

Am ehesten gleichen wir Kegeln. In Familien stellt man uns auf, es sind ungefähr neun. Kurz und hölzern stehen wir da, mit den Mitkegeln wissen wir nichts anzufangen. Der Schlag, der uns niederwerfen soll, ist lange vorgebahnt; blöde warten wir ab; im Falle reißen wir so viele Mitkegel um, als wir nur können, es ist der Schlag, den wir ihnen weitergeben, die einzige Berührung, die wir ihnen in einem raschen Dasein gönnen. Es heißt, daß man uns wieder aufstellt. Doch wenn dem so ist, so sind wir im neuen Leben genau dasselbe, nur unter den neun, in der Familie, haben wir Platz gewechselt, selbst das nicht immer, und hölzern und blöde warten wir wieder auf den alten Schlag.

Mein größter Wunsch ist es zu sehen, wie eine Maus eine Katze bei lebendem Leibe frißt. Sie soll aber auch lange genug mit ihr spielen.

Die Tage werden unterschieden, aber die Nacht hat einen einzigen Namen.

Er hat die herzlosen Augen eines über alles Geliebten.

Über das Beten. – Das Beten als die wirksamste und gefährlichste Form der Wiederholung. Der einzige Schutz dagegen ist, daß es mechanisch wird, wie bei Priestern und Gebetsmühlen. Ich begreife nicht, wie sich Menschen vornehmen können, bei jedem ihrer zahllosen Gebete die nötige Innigkeit aufzubringen. Die Kraft aller Menschen zusammengerechnet wäre nicht groß genug für das Gebetsgeplapper eines einzigen, der diesem Laster verfallen ist.

Der Infantilismus des Betens: Man betet um das, was man ohnehin bekommt, statt um das Unerreichbare.

Wenn es schon ohne das Beten nicht ginge, so wäre es besser, man hätte sich an viele und sehr verschiedene Götter zu wenden. Es käme einem dann die Übung in der Verwandlung zugute, die für das Beten unerläßlich wäre.

Wem es Ernst damit wäre, der müßte zu einem einzigen Gebet viele Wochen lang erst Mut fassen.

Ihren Gott können sie wie Brot in den Mund nehmen. Sie können ihn, sooft sie wollen, nennen, rufen und erklären. Sie zerkauen seinen Namen, sie schlucken seinen Leib. Dann sagen sie noch, es gäbe für sie nichts Höheres als Gott. Viele Beter habe ich im Verdacht, daß sie von Gott allerhand zu ergattern suchen, was sie ja nicht weitergeben wollen, und zwar bevor es ein anderer ergattert hat. Das Komische daran ist, daß sie alle dasselbe wollen, nämlich die gemeinste Notdurft des Lebens, und dann doch zusammen beten. Sie gleichen auch darin einem Haufen von Bettlern, der sich zusammen, ein lästiger, frecher Schwarm, auf einen einzigen Fremden stürzt.

Wenn ich auch glauben könnte, so könnte ich noch lange nicht beten. Das Beten würde mir immer als die unverschämteste Belästigung Gottes erscheinen, als die eigentlich ekelhafteste Sünde, und ich würde für jedes Gebet eine lange Zeit der Buße einschalten.

Manchmal glaube ich, die Sätze, die ich höre, seien dreitausend Jahre vor meinem Dasein von anderen für mich ausgehandelt worden. Höre ich genauer hin, so werden sie immer älter.

Die Ahnungen der Dichter sind die vergessenen Abenteuer Gottes.

Ihr hohen Worte, ihr Blicke zur Sonne, ihr Küsse von Stern zu Sternen, ihr eitlen Gewitter, ihr prahlerisch hüpfenden Blitze, es werden Vögel zärtlich singen, wenn die Menschen einander gänzlich ausgerottet haben. Und sie werden sich nach uns sehnen, und die Spottvögel unter ihnen werden unsere Gespräche noch lange bewahren.

Man müßte die Menschen durch ein jährliches Fest dazu erziehen, das Bestohlenwerden zu ertragen. Es dürfte nichts geben, auf das die Mysten dieses Festes nicht Hand legen könnten, keine Kostbarkeit, keinen Gegenstand der allerheiligsten Erinnerung. Es dürfte nie etwas zurückgegeben werden. Schutzmaßregeln vor dem Ausbruch des Festes müßten auf das strengste verboten sein. Es wäre auch nicht erlaubt, den weiteren Schicksalen und Verwendungen der vermißten Gegenstände nachzugehen. Menschen allein, die jüngsten wie die ältesten, wären von dem Los des Gestohlenwerdens auszunehmen. Vielleicht bekämen sie so etwas von dem Wert zurück, den die Dinge ihnen genommen haben. Den Jammer mancher Unglücklicher nach solchen Saturnalien kann man sich vorstellen; aber er wäre beinah gutzumachen, indem sie selber die Frist des Festes ausgiebig nützen. Der Besitz würde viel von seiner Gottähnlichkeit und Ewigkeit verlieren. In der verbleibenden, ehrbaren Zeit des Jahres hätte ein Mensch neben Gekauftem und Geschenktem auch Gestohlenes in seinem Haus zu dulden, und nur dieses allein wäre sakrosankt, nämlich vor weiteren Diebstählen beim nächsten Fest sicher.

Der Mensch hat die Weisheit all seiner Vorfahren zusammengenommen, und seht, welch ein Dummkopf er ist!

Der Beweis ist das Erb-Unglück des Denkens.

Das Wissen hat die Tendenz, sich zu zeigen. Geheimgehalten, muß es sich rächen.

Es steht nicht in Gottes Macht, einen einzigen Menschen vom Tode zu erretten. Das ist die Einigkeit und Einzigkeit Gottes.

Das äußere Gehaben von Menschen ist so vieldeutig, daß man sich nur geben muß, wie man ist, um völlig unerkannt und verborgen zu leben.

Ein Krieg spielt sich immer so ab, als wäre die Menschheit auf den Begriff der Gerechtigkeit noch überhaupt nie gekommen.

Durch die Geschichte wird etwas anderes bewahrt als durch alle früheren Formen der Überlieferung. Es ist schwer zu bestimmen, was; am ehesten kommt sie einem vor wie eine fixierte Blutrache der Massen, aber aller Massen, und ebendas ist es auch, was sie richtet. Die Geschichte sorgt für die Verewigung aller Religionen, Nationen und Klassen. Denn selbst die Friedlichsten unter ihnen haben einmal irgendwem Blut abgezapft, und die Geschichte schreit es getreulich zum Himmel. Vieles ist gegen sie versucht worden, aber man entkommt ihr nicht. Sie ist die Riesenschlange, welche die Welt gefangenhält. Ein uralter Vampir, saugt sie jedem jungen Menschen das Blut aus dem Hirn. Es ist nicht zu ertragen, wie sie in vielen verschiedenen Sprachen genau dasselbe kommandiert. Die schändlichsten Glaubensformen, deren sich jeder schämen müßte, hält sie am Leben, indem sie ihr Alter beweist. Es war ihr noch niemand zu Dank verpflichtet, bis auf manche dünnen Priester, und die wären es ohne sie leichter geworden. Man wird einwenden, daß sie die Erde einer Vereinheitlichung sehr nahe gebracht hat, aber um welchen Preis, und ist sich denn die Erde schon einig? Mir scheint es so, als wäre die Geschichte früher einmal besser oder zumindest harmloser gewesen: damals als sie noch von Zeit zu Zeit verlorenging. Heute ist sie mit den Ketten der Schrift für immer an sich gebunden. Sie bietet den falschesten, verlogensten und niedrigsten Dokumenten die künftigen Jahrhunderte. Es kann keiner heute einen Vertrag abschließen, ohne daß man es noch in tausend Jahren weiß. Es kann keiner unbemerkt auf die Welt kommen; zumindest wird er in einer Statistik mitgezählt. Es kann keiner denken, es kann keiner atmen, die Geschichte verpestet seinen reinen Hauch, und sie dreht ihm das Wort im Hirn herum. Wie mächtig müßte der Herakles sein, der sie erstickt! Leichter als sie wird sich selbst der Tod überwinden lassen, und erste und einzige Nutznießerin eines Sieges über ihn wird wieder nur sie sein.

Die Menschheit als Ganzes wird sich nie wieder bescheiden können.

Man braucht Jahre, um die Liebe eines Menschen zu zerstören; aber kein Leben ist lang genug, diesen Mord, was ist mehr ein Mord, zu beklagen.

Das Gesetz der Entsprechungen im psychischen Leben: Man kann einem anderen nichts tun, sei es noch so heimlich, ohne daß einem das Entsprechende selbst geschieht. Es wäre möglich, daß die Vergeltung schon in der Form unserer Handlungen mit enthalten ist.

Der Gedanke an eine zukünftige Religion, von der wir jetzt gar nichts wissen, hat etwas unsagbar Quälendes.

Im Gebrauch ihrer Lieblingswendungen und -worte sind die Menschen geradezu unschuldig. Sie ahnen nicht, wie sie sich verraten, wenn sie am harmlosesten daherplappern. Sie glauben, daß sie ein Geheimnis verschweigen, wenn sie von anderen Dingen reden, doch siehe da, aus den häufigsten Wendungen baut sich plötzlich ihr Geheimnis drohend und düster auf.

Der niedrigste Mensch: der, dem alle Wünsche erfüllt worden sind.

Gott selbst hat Adam und Eva die Schlange auf den Leib gehetzt, und alles hing davon ab, daß sie ihn nicht verriet. Dieses giftige Tier hat Gott bis heute die Treue gehalten.

Molières Tod: Er kann das Spielen nicht aufgeben, die großen Rollen, in denen er auftritt, und der Beifall, den sie bei der Theatermenge finden, bedeuten ihm zuviel. Seine Freunde bitten ihn wiederholt, vom Spielen abzulassen, aber er weist ihre gutgemeinten Ratschläge zurück. Noch am Tage seines Todes erklärt er, er könne die Schauspieler nicht um ihren Verdienst bringen. In Wirklichkeit geht es ihm um den Beifall der Theatermenge, es scheint, daß er ohne diesen überhaupt nicht leben mag. Da ist es nun merkwürdig, wie am Tage seines Begräbnisses eine feindliche Menge sich vor seinem Hause ansammelt, das Negativ zu jener Menge im Theater. Sie besteht aus kirchlich Gesinnten; aber als ob sie wüßte, daß sie auf eine geheimnisvolle Weise mit jener klatschenden Menge zusammenhängt, läßt sie sich durch Geld, das man unter sie wirft, zerstreuen: Es ist das zurückgezahlte Eintrittsgeld.

Die verschiedenen Sprachen, die einer haben müßte: eine für seine Mutter, die er später nie wieder spricht; eine, die er nur liest und nie zu schreiben wagt; eine, in der er betet und von der er kein Wort versteht; eine, in der er rechnet, und alles Geldliche gehört ihr; eine, in der er schreibt (aber keine Briefe); eine, in der er reist, in dieser kann er auch seine Briefe schreiben.

Die Tatsache, daß es verschiedene Sprachen gibt, ist die unheimlichste Tatsache der Welt. Sie bedeutet, daß es für dieselben Dinge verschiedene Namen gibt; und man müßte daran zweifeln, daß es dieselben Dinge sind. Hinter aller Sprachwissenschaft verbirgt sich das Bestreben, die Sprachen auf eine zurückzuführen. Die Geschichte vom Turm zu Babel ist die Geschichte des zweiten Sündenfalls. Nachdem die Menschen ihre Unschuld und das ewige Leben verloren hatten, wollten sie kunstvoll bis in den Himmel wachsen. Erst hatten sie vom falschen Baum genossen, jetzt erlernten sie seine Art und Weise und wuchsen stracks hinauf. Dafür wurde ihnen das genommen, was sie nach dem ersten Sündenfall noch behalten hatten: die Einheitlichkeit der Namen. Gottes Tat war die teuflischste, die je begangen wurde. Die Verwirrung der Namen war die Verwirrung seiner eigenen Schöpfung, und es ist nicht einzusehen, wozu er überhaupt noch etwas aus der Sintflut rettete.

Wenn die Menschen vom Leben und Treiben in ihnen auch nur die leiseste und unverbindlichste Ahnung hätten, würden sie vor vielen Worten und Redensarten zurückschaudern wie vor Gift.

Immer wenn man ein Tier genau betrachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch, der drin sitzt, macht sich über einen lustig.

Über das Drama. – Es wird mir langsam klar, daß ich im Drama etwas verwirklichen wollte, was aus der Musik stammt. Ich habe Konstellationen von Figuren wie Themen behandelt. Der Hauptwiderstand, den ich gegen die ›Entwicklung‹ von Charakteren empfand (so als wären sie wirkliche, lebende Menschen), erinnert daran, daß auch in der Musik die Instrumente gegeben sind. Sobald man sich einmal für dieses oder jenes Instrument entschieden hat, hält man daran fest, man kann es nicht, während ein Werk abläuft, in ein anderes Instrument umbauen. Etwas von der schönen Strenge der Musik beruht auf dieser Klarheit der Instrumente.

Die Zurückführung der dramatischen Figur auf ein Tier läßt sich mit dieser Auffassung sehr wohl vereinen. Jedes Instrument ist ein ganz bestimmtes Tier oder zumindest ein eigenes und wohlabgegrenztes Geschöpf, das mit sich nur auf seine Weise spielen läßt. Im Drama hat man die göttliche und über alle anderen Künste erhabene Möglichkeit, neue Tiere, also neue Instrumente, neue Geschöpfe zu erfinden, und je nach ihrer thematischen Fügung eine immer wieder andersgeartete Form.

Es gibt also unerschöpflich viele Arten von Dramen, solange es neue ›Tiere‹ gibt. Die Schöpfung, sei es, daß sie erschöpft, sei es, daß der geschwinde Mensch sie überholt hat, wird so ganz buchstäblich ins Drama verlegt.

Man hätte nachzuweisen, wie sehr die Oper das Drama verwirrt hat. Das Musikdrama ist der unsauberste und widersinnigste Kitsch, der je ersonnen wurde. Das Drama ist eine ganz eigene Art von Musik und verträgt sie als Zusatz nur selten und spärlich. Auf keinen Fall sind Instrumente mit handelnden Figuren in Einklang zu bringen, oder die Figuren werden allegorisch, und dramatisch ganz bedeutungslos; es sind nur noch Fabeltiere, die da agieren; indem die Musik alles wird, kommt es auf das Drama gar nicht mehr an.

Es hilft nichts, man kann sich Chöre vorsingen, Kannibalen bestaunen, an einem Baumstamm zweihundert Jahre zurückklettern, man kann den Monat für einen Verrückten verriegeln, in harmlosen Kreuzheeren, eine Eisenhandlung am Leib, nach Palästina pilgern, Buddha anhören, Mohammed beschwichtigen, Christus glauben, eine Knospe bewachen, eine Blüte malen, eine Frucht verhindern, und man kann: der Sonne nachgehen, sobald sie sich verdoppelt; Hunde zum Miauen dressieren, Katzen zum Bellen, einem Hundertjährigen seine sämtlichen Zähne wiederschenken, Wälder pflücken, Glatzen wässern, Kühe kastrieren, Ochsen melken, man kann, wenn alles zu leicht ist (man ist so rasch mit allem fertig), die Sprache der Neandertaler erlernen, Schiwas Arme stutzen, Brahmas Köpfe von den veralteten Veden entleeren, die nackten Weddahs kleiden, den Chorgesang der Engel in Gottes Himmeln hindern, Laotse antreiben, Konfuzius zum Vatermord anstiften, Sokrates den Schierlingsbecher aus der Hand, die Unsterblichkeit aus dem Munde schlagen, man kann – aber es hilft nichts, nichts hilft, es gibt keine Tat, es gibt keinen Gedanken außer einem: Wann ist das Morden zu Ende?

O ein Hörrohr, ein feines Hörrohr, die Generale im Mutterleib zu agnoszieren!

Nie haben die Menschen weniger von sich gewußt als in diesem ›Zeitalter der Psychologie‹. Sie können nicht stillhalten. Sie fahren ihren eigenen Verwandlungen davon. Sie warten sie nicht ab, sie nehmen sie vorweg, sie sind lieber alles andere, als was sie sein könnten. Im Auto fahren sie durch die Landschaften ihrer eigenen Seele, und da sie nur bei den Benzin-Stationen halten, glauben sie, daß sie daraus bestehen. Ihre Ingenieure bauen sonst nichts: Was sie essen, riecht nach Benzin. Sie träumen in schwarzen Tümpeln.

Es gibt keine unheimlichere Vorstellung als die der verlassenen, von den Menschen verlassenen Erde. Man neigt dazu, zu denken, daß sie auswandern, schon damit sie ihre Erinnerung an die Erde mitnehmen. Sie dürften es nie wieder so schön haben wie hier. Mit weitreichenden Instrumenten müßte es für sie möglich sein, die Erde noch zu betrachten, ohne aber zu erkennen, was auf ihr wirklich vorgeht. Sie würden begreifen, was sie verloren haben, eine unerschöpfliche Heimat, und die falsche Religion, der sie diesen Verlust zuzuschreiben haben, hätten sie dann schon, viel zu spät, gegen eine andere vertauscht. Es ist anzunehmen, daß diese neue Religion die richtige wäre; wäre sie rechtzeitig gekommen, sie hätte die Erde für die Menschen gerettet.

Es ist geraten, die Götter zu versuchen, je öfter, um so besser, und man lasse sie keinen Augenblick in Frieden. Sie schlafen zuviel und lassen den Menschen auf dem Floß seiner sterbenden Brüder allein.

Die Toten nähren sich von Urteilen, die Lebenden von Liebe.

Kein Dummkopf und kein Fanatiker wird mir je die Liebe nehmen für alle, denen die Träume beschattet und beschnitten wurden. Der Mensch wird noch alles und ganz werden. Die Sklaven werden die Herren erlösen.

Die ›Erschlagenen‹ – wie großartig das noch klang, wie offen, wie breit und mutig: die ›Erstickten‹, die ›Zerquetschten‹, die ›Verkohlten‹, die ›Geplatzten‹, wie klingt das geizig, als hätte es nichts gekostet!

Man hat kein Maß mehr, für nichts, seit das Menschenleben nicht mehr das Maß ist.

Ein Mann macht sich daran, alle Blätter der Welt zu zählen. Das Wesen der Statistik.

Er stahl mir das linke Ohr. Ich nahm ihm das rechte Aug. Er versteckte mir vierzehn Zähne. Ich nähte ihm die Lippen zu. Er sott meinen Hintern gar. Ich stülpte ihm das Herz um. Er aß meine Leber. Ich trank sein Blut. – Krieg.

Ein Kampf, der nicht mit geistigen Waffen allein geführt wird, ekelt mich. Der tote Gegner bezeugt nichts als seinen Tod.

Ich will keine Furcht einflößen, es gibt nichts in der Welt, dessen ich mich so sehr schäme. Lieber verachtet sein als gefürchtet.

Er geht unter die Soldaten: Er will nicht mehr wissen, was geschieht; er will nicht mehr wissen, was er tut.

Auf der Friedenskonferenz wird beschlossen, Europa die gerechte Chance zu geben, die es sich in einem schweren und langjährigen Kriege verdient hat. Es soll alles von gleichauf beginnen. Um das möglich zu machen, wird eine interterritoriale Flotte von Bombern gebildet, welche alle Städte, die durch Zufall noch stehen, vernichtet.

Gott ist der größte Hochmut des Menschen; und wenn er ihn gesühnt hat, wird er nie einen größeren Hochmut finden.

Die Ehrenstellen sind für die Schwachsinnigen; es ist besser, man lebt in Schande als in Ehren; nur keine Würden; Freiheit um jeden Preis, zum Denken. Die Ehren werden einem wie Wandteppiche um Augen und Ohren gehängt; wer sieht noch; wer hört noch; in Ehren ersticken die Träume, und die guten Jahre verdorren.

Sein Geld hebt er in seinem Herzen auf, die Schläge zählen es.

Er will in die satte und wunderbare Welt wiederkehren, wenn niemand mehr stirbt und die Menschen ihre Kriege durch Ameisen, die sehr human sind, austragen lassen.

Der Dichter ist wohl der Mensch, der, was früher war, spürt, um, was sein wird, vorauszusagen. Er leidet also nicht wirklich, er erinnert sich nur; und er tut nichts, weil er es erst voraussagen muß.

Es hat immer etwas Anrüchiges, wenn man sich einem Glauben verschreibt, den sehr viele vor einem schon geteilt haben. Es liegt darin mehr Resignation, als sich in menschliche Worte fassen läßt. Der Glaube ist eine Fähigkeit des Menschen, die sich erweitern läßt, und jeder, der es vermag, sollte zu dieser Erweiterung etwas beitragen.

Die Stimmen der Menschen sind Gottes Brot.

Es ist merkwürdig, wenn ein Orientale in einem Engländer zum Vorschein kommt. Als ich einem solchen staunenswürdigen Engländer kürzlich begegnete, dachte ich, es sei ein Irrtum und der Orientale werde wieder zergehen. Dann aber sah ich, wie er zunahm, und er wurde ganz gewichtig, beinahe ein Buddha. Einem solchen Manne bleibt nichts anderes übrig, als an die Seelenwanderung zu glauben, wie fände er sich sonst in seiner englischen Situation zurecht.

Als Orientale zeigt er sich in folgendem: Er sitzt gern ruhig auf seinem Fleck, und er läßt sich diese Ruhe nicht als Faulheit beschimpfen; denn man kann durch sie zu großer Weisheit gelangen. Er läßt sich gerne von Frauen anbeten; eine neue Frau, der er begegnet, macht ihm Eindruck, obwohl er schon viele andere kennt; eine schließt die andere nicht aus; und er scheut sich gar nicht, sein Wohlgefallen zu zeigen. Sobald er spürt, daß er einen damit nicht verletzt, gibt er eigenartige und destruktive Gedanken über Gott von sich, Produkte seines Sitzens, die ihm originell erscheinen, auch wenn er sie in Indien gehört hat; für England sind sie es noch immer.

Er ist ungenau; Namen, Daten und Orte wirft er leicht durcheinander. Er weiß es, und es ist ihm gleichgültig. Beziehungen sind leer und haben nichts zu bedeuten; auf das, was er für den tieferen Sinn seines Satzes hält, kommt es allein an. Nun sind die englischen Menschen von Genauigkeit krank; Unpünktlichkeit ist die zweitgrößte Sünde und rangiert gleich hinter Mord; beim Rasieren darf kein Haar übersehen werden; die Minuten eines Besuches sind gezählt, bevor er begonnen hat; der Zaun um einen Besitz ist heilig; ein Buch besteht aus einer Anzahl von Buchstaben; niemand lügt. Es ist leicht, sich vorzustellen, wie dieser Orientale in seinem betonten Phlegma für alle Genauigkeit von seinen englischen Landsleuten absticht.

Auch seine Freundlichkeit hat eine andere Färbung. Er lobt jeden einzelnen Menschen, von dem die Rede ist, nicht so laut zwar, aber gewiß so überschwenglich wie ein Südländer. Die lächerlichste Person ist wunderbar, vorbildlich und erhaben. Er spricht Leute mit Titeln an, die ihnen erwünscht sein könnten. Aber ohne daß er eigentlich ironisch ist – es fehlt ihm jede Schärfe –, läßt er doch spüren, wie wenig wichtig Titel sind. Sein Verlangen nach ewigem Frieden ist voll von einem Bedauern darüber, daß er bald nicht mehr dasein wird, er ist herzkrank; und er schämt sich nicht, von seiner Krankheit zu sprechen; in der ausführlichen Weise, wie er es tut, verrät sich besonders jenes Bedauern. Er möchte, daß man sein krankes Herz bewundert, und staunen soll man, weil er immer noch ›schöpferisch‹ arbeitet, er schreibt. Von den Tätigkeiten des Menschen ist das Schreiben gewiß die ruhigste, dem Orientalen also angemessen, der es mit übereinandergeschlagenen Beinen, in würdevoller Haltung, auf einer kleinen Tafel, mit kleinen runden Bewegungen vor sich gehen läßt. Wäre er noch wirklich ein Engländer, er würde sich hüten zu erwähnen, daß er ein Herz besitzt, geschweige denn ein krankes, und was er schreibt, das hätte er schamhaft verschlossen.

Wen man schlafen sah, den kann man nie mehr hassen.

Der Mensch ist in seine Waffen verliebt. Wie soll man dagegen ankommen? – Waffen müßten so sein, daß sie sich des öfteren und ganz unerwartet gegen den richten, der sie gebraucht. Ihr Schrecken ist zu einseitig. Es genügt nicht, daß der Feind mit gleichen Mitteln operiert. Die Waffe selbst müßte ein launisches und unberechenbares Leben haben, und die Menschen müßten sich vor dem Gefährlichen in ihrer Hand mehr fürchten als vor dem Feind.

Von allen Religionen des Menschen ist der Krieg die zäheste; aber auch sie läßt sich auflösen.

Wenn ihr nackt gegeneinander antreten müßtet, würde euch das Schlachten schwerer fallen. – Die mörderischen Uniformen.

Der Gottesglaube hat etwas für sich, das schwer wiegt: Man glaubt an die Existenz eines Wesens, das nicht zu töten ist, auch durch die bösesten Bemühungen nicht.

In der Dunkelheit wiegen die Worte doppelt.

Es ist heute schon unwahr, daß die Affen dem Menschen näher stehen als andere Tiere. Lange Zeit mögen wir uns nicht viel von ihnen unterschieden haben; damals waren sie uns nahe verwandt; heute haben wir uns durch unzählige Verwandlungen so weit von ihnen entfernt, daß wir nicht weniger von Vögeln an uns haben als von Affen.

Um zu verstehen, wie wir zu Menschen geworden sind, wäre es gewiß am wichtigsten, die imitativen Anlagen der Affen zu untersuchen. Hier hätten Experimente einen ganz eigenen Sinn. Wir müßten sie mit Tieren lange zusammen halten, die ihnen früher nicht bekannt gewesen sein können, und sorgfältig registrieren, wie sich ihr Verhalten von dem dieser Tiere beeinflussen läßt. Wir müßten die Tiere ihrer Umgebung wechseln, in wechselnder Reihenfolge. Wir müßten sie manchmal, nach solchen starken Eindrücken, ganz sich selbst überlassen. Mit vielen Versuchen dieser Art würde sich der leere Begriff der Imitation etwas füllen lassen, und man käme vielleicht darauf, daß es dabei immer schon um eine Verwandlung ging, nicht bloß um ›Anpassung‹, und daß die ›Anpassung‹ bloß das Resultat halb geglückter ungeschickter Verwandlungen war.

Bei Menschen selbst lassen sich diese Vorgänge am besten im Mythus und im Drama studieren. Der Traum, in dem sie immer schon da waren, bietet viel weniger Präzision und erlaubt zu willkürliche Deutungen. Der Mythus ist nicht nur schöner, er ist für die Zwecke einer solchen Untersuchung auch nützlicher, denn er bleibt konstant. Seine Fluidität ist eine interne, er zerrinnt einem nicht unter den Händen. Wo er gespielt wird, kehrt er immer auf dieselbe Weise wieder. Er ist das Beständigste, das Menschen überhaupt hervorzubringen vermögen; kein Gerät ist sich im Laufe der Jahrtausende so sehr gleichgeblieben wie manche Mythen. Ihre Heiligkeit schützt, ihre Darstellung verewigt sie, und wer die Menschen mit einem Mythus zu erfüllen vermag, hat mehr ausgerichtet als der kühnste Erfinder.

Das Drama ist von allen Möglichkeiten des Menschen, sich zusammenzufassen, die am wenigsten verlogene.

Wann immer es den Engländern schlechtgeht, packt mich eine Bewunderung für ihr Parlament. Es ist wie eine leuchtend und tönend gemachte Seele, ein stellvertretendes Modell, in dem sich vor aller Augen abspielt, was sonst geheim bleiben würde. Zu der Freiheit, von der sie immer reden, dazu haben sich die Menschen hier eine unbekannte Freiheit erworben: die, politische Vergehen öffentlich zu beichten und eine Absolution dafür zu bekommen, die von einem irdischen Körper abhängig ist. Es gibt hier eine Möglichkeit, Machthaber anzugreifen, die in der Welt ihresgleichen sucht. Sie sind darum nicht weniger Machthaber; von ihren Entscheidungen hängt wirklich alles ab; sie haben wohl das starke Bewußtsein, das dazu gehört, aber nicht die Aufgeblasenheit, denn die wird ihnen durch das Parlament sehr gründlich verleidet. Sechshundert Ehrgeizige bewachen einander auf das genaueste; Schwächen können nicht verborgen bleiben; Stärken fallen ins Gewicht, solange sie Stärken sind. Alles spielt sich vor aller Öffentlichkeit ab; man wird unaufhörlich quotiert. Aber man kann auch, mitten im täglichen Trubel, abseits stehen und warnen. Der Prophet, wenn er nur Geduld genug hat, kann hier warten. Er lernt sich so ausdrücken, daß die Welt ihn versteht. Überhaupt ist die Klarheit aller Äußerungen, die hier vorgebracht werden, erste Voraussetzung zu ihrer Wirksamkeit. So verwickelt das wirkliche Spiel um die Macht dann ist – nach außen hin geht es um wohlabgegrenzte Forderungen und Einsätze.

Es gibt nichts Merkwürdigeres als dieses Volk, wie es seine wichtigsten Angelegenheiten auf rituelle, sportliche Weise erledigen läßt und nicht abgeht davon, selbst wenn ihm das Wasser am Halse steht.

Der Roman soll keine Eile haben. Früher konnte auch die Eile in seine Sphäre gehören, jetzt hat sie der Film aufgenommen; an ihm gemessen muß der eilige Roman immer unzulänglich bleiben. Der Roman, als Geschöpf ruhigerer Zeiten, mag etwas von dieser alten Ruhe in unsere neue Hastigkeit tragen. Er könnte vielen Leuten als eine Zeitlupe dienen; er könnte zum Verharren reizen; er könnte die leeren Meditationen ihrer Kulte ersetzen.

Er hat den Witz seiner Schlechtigkeit, die Vergeßlichkeit seines Alters, die Beschränktheit seines Geschlechts und die Brutalität seines Berufs: ein großer General.

Ich hasse die ewige Bereitschaft zur Wahrheit, die Wahrheit aus Gewohnheit, die Wahrheit aus Pflicht. Die Wahrheit sei ein Gewitter, und wenn sie die Luft gereinigt hat, ziehe sie vorüber. Die Wahrheit soll einschlagen wie ein Blitz, anders hat sie keine Wirkung. Wer sie kennt, soll sich vor ihr fürchten. Die Wahrheit darf nie der Hund des Menschen werden, wehe dem, der ihr pfeift. Man führe sie nicht an der Leine, man führe sie nicht im Munde. Man füttere sie nicht, man messe sie nicht; man lasse sie in ihrem furchtbaren Frieden wachsen. Selbst Gott hat sich zu vertraulich mit der Wahrheit zu schaffen gemacht, und daran ist er erstickt.

Der Mensch ist so ewig, als es ihm um das Ewige zu tun ist – wenn er nicht darin ertrinkt.

Die Tiere ahnen es nicht, daß wir sie benennen. Oder sie ahnen es doch, und dann ist es darum, daß sie uns fürchten.

Es stirbt sich zu leicht. Man müßte viel schwerer sterben.

Ein Land der unbegrenzten Ewigkeit: Man muß tagelang gehen, bis man auf einen stößt, der den kleinen Finger leise rührt; sonst sitzen alle stumm und ägyptisch herum.

Die Engländer haben ihre Gesetze nicht niedergeschrieben, sie tragen sie an sich herum.

In England magern die Worte ab.

Es wird noch Juden geben müssen, wenn der letzte Jude ausgerottet ist.

Die größte Gefahr, vor der ein Mensch mit zunehmendem Bewußtsein sich zu hüten hat, ist der rasche Wechsel des Lichts, unter dem ihm Dinge und Überzeugungen immer mehr erscheinen. Es wird alles flüssig; das Flüssigste wird sichtbar; man ist mit nichts am Ende; jede Mauer hat ihre Pforte, es ist immer noch etwas dahinter; dieselben Blumen bieten sich in neuen Farben; die granitharte Straße erweicht sich zu Lehm. Man kann zwanzig Jahre etwas sehr Bestimmtes gewollt haben, und im größeren Bewußtsein will man es nicht mehr. Was man häßlich fand, entpuppt sich zu vielfachen, schönen Gestalten: Sie zerrinnen nach einem leichten und schimmernden Tanz. Es wird alles möglich, die Mißbilligung schwach, das Urteil biegt sich wie ein Halm unterm Wind; die Knochen dehnen sich zu beliebiger Länge, ein Gedanke hat so viel Blut, als man will; und der Mensch, der alles geworden ist, ist auch zu allem fähig.

Wieviel Gegenstände mußten von Menschen erst verfertigt worden sein, damit es zu einer Philosophie des Materialismus kommen konnte.

Swifts zentrales Erlebnis ist die Macht. Er ist ein verhinderter Machthaber. Seine satirischen Angriffe stehen für Todesurteile. In seinem Leben waren sie ihm versagt, sie sind in seine Satire geraten. So ist diese im eigentlichsten Sinne des Wortes die furchtbarste, die einem Schriftsteller je zu Gebote stand.

Er bildet Königreiche nach, er bildet Königreiche um, die Höfe gehen ihm nicht aus dem Kopf. Immer stellt er höhnisch dar, wie Höfe sich ihre Reiche einrichten; und immer läßt er fühlen – es ist das einzige, was er fühlen läßt –, wieviel besser er sie einrichten könnte.

Das Tagebuch an Stella ist darum einzigartig, weil es nackt und ungeschminkt mit nur wenigen falschen Prätentionen den geistigen Menschen zeigt, der mitten im erbarmungslosen Zwei-Parteien-System seiner Zeit auf Macht aus ist, und der sie nicht haben kann, weil er dieses System zu genau durchschaut.

Diese Wurmseelen, wie sollen sie begreifen, daß es darauf ankommt, das Geld zu verachten, auch wenn man es braucht!

Man freut sich über Wünsche, die anderen in Erfüllung gehen, besonders wenn man selber nichts dazu getan hat: als gäbe es doch unsichtbar Wohlwollen und Gehör, wer weiß wo.

Handle so, wie du nie wieder handeln könntest.

Der Erfolgreiche hört nur noch Händeklatschen. Sonst ist er taub.

Alle vergangene Herrschaft der Welt, alle Verachtung, Unterdrückung, Unterjochung hat sich im kranken Herzen eines einzigen Mannes konzentriert, ihm, dem umgekehrten Sündenbock, ist die Erde zugefallen, und er straft sie für ihre ganze Geschichte.

Ich habe noch nie von einem Menschen gehört, der die Macht attackiert hat, ohne sie für sich zu wollen, und die religiösen Moralisten sind darin die ärgsten.

Das monströse Leben der Hunde untereinander: Der Kleinste kann an den Größten heran, und unter Umständen kommt es zu Jungen. Viel eher als wir leben die Hunde unter Ungeheuern und Zwergen, die aber noch ihresgleichen sind und dieselbe Sprache haben. Was kann ihnen alles begegnen! Welche grotesken Gegensätze suchen sich nicht zu paaren! Wie fürchten sie sich, wie fühlen sie sich vom Bösesten angezogen! Und immer ihre Götter in der Nähe, immer ein Pfiff und der Rückzug in die strengere Welt der symbolischen Lasten. Es sieht oft so aus, als sei das ganze religiöse Wesen, das wir uns ausgemalt haben, mit Teufeln, Zwergen, Geistern, Engeln und Göttern dem realen Dasein der Hunde entnommen. Sei es, daß wir unsere mannigfaltigen Gläubigkeiten an ihnen dargestellt haben, sei es, daß wir erst Menschen sind, seit wir Hunde halten – auf jeden Fall können wir an ihnen ablesen, was wir selber eigentlich treiben, und es ist anzunehmen, daß die meisten Herren für dieses dumpfe Wissen mehr Dankbarkeit haben als für die Götter, die sie im Munde führen.

Die Musik ist schon darum der beste Trost, weil sie nicht neue Worte macht. Selbst wenn sie zu Worten gesetzt ist, überwiegt ihre eigene Magie und löscht die Gefahr der Worte. Am reinsten ist sie aber doch, wenn sie für sich spielt. Man glaubt ihr unbedingt, denn ihre Versicherung ist eine der Gefühle. Ihr Ablauf ist freier als alles, was sonst menschenmöglich scheint, und in dieser Freiheit liegt die Erlösung. Je dichter bewohnt die Erde wird und je maschinenmäßiger die Gestaltung des Lebens, um so unentbehrlicher muß die Musik werden. Es wird eine Zeit kommen, in der man nur noch durch sie den engen Maschen der Funktionen entschlüpfen wird, und sie als ein mächtiges und unbeeinflußtes Reservoir der Freiheit zu belassen, muß als die wichtigste Aufgabe des künftigen Geisteslebens gelten. Die Musik ist die wahrhafte lebende Geschichte der Menschheit, von der wir sonst nur tote Teile haben. Man braucht aus ihr nicht zu schöpfen, denn sie ist immer schon in uns da, und es genügt, schlicht zu hören, da man sonst vergeblich lernt.

Was ein Tiger ist, weiß ich wirklich erst seit dem Gedicht von Blake.

Die Wunder als kümmerliche Reste der alten kraftstrotzenden Verwandlungen.

Jeder Dummkopf kann den kompliziertesten Geist, wann immer er Lust hat, verstören.

Das Versprechen der Unsterblichkeit genügt, um eine Religion auf die Beine zu stellen. Der bloße Befehl zum Töten genügt, um drei Viertel der Menschheit auszurotten. Was wollen die Menschen? Leben oder sterben? Sie wollen leben und töten, und solange sie das wollen, werden sie sich mit den unterschiedlichen Versprechen auf Unsterblichkeit begnügen müssen.

Manche Sätze geben ihr Gift erst nach Jahren her.

Was dem Armen die Hoffnung, ist dem Reichen der Erbe.

Glaube keinem, der immer die Wahrheit spricht.

Erfolg, das Rattengift des Menschen, ganz wenige kommen davon.

Der Zweifel macht sich mehr vor als der Glaube.

Jede Sprache hat ihr eigenes Schweigen.

Auf alle Fälle haben die gesiegt, die die Welt in die seelische Struktur des Krieges zurückgezwängt haben. Sie können lange zugrunde gehen, alle, bis auf den letzten: Sie hinterlassen den Krieg und die nächsten Kriege.

1943

Seit es Krieg ist, sind Gedanken und Sätze kurz geworden, dem Ton der Befehle angepaßt. Man will alles, nur nicht verlängern und fortsetzen, was in dieser Zeit entstanden ist. Man möchte es wie Maschinengewehrschüsse hinter sich lassen. Niemand weiß, wer nach Hause kommt, und niemand weiß, wo er zu Hause sein wird. So läßt man sich in keinem Satze zu breit nieder und streift viele wie Blätter am Weg. Die Zeitung, ›in der jeden Tag was anderes steht‹, und der Funkbericht sind die Affen des Augenblicks; wenn man sie auf einem Baum bemerkt, sind sie schon auf den nächsten gesprungen. Der Methusalem des Krieges wird einen Tag alt, normale Existenzen zählen nach Stunden. Es soll vorgekommen sein, daß einer nicht mehr weiß, wofür er den Augenblick zuvor gekämpft hat; und manche sagen, daß hunderttausend Tote das klarste Ziel verstellen. Nicht überall schwimmen die Leichen auf willigen Flüssen davon; die fahrbaren Kremationsküchen sind oft verspätet. Die wohlzementierten Schädeltürme der Tataren waren empfehlenswerter; sie boten reiche Aussicht. Aber die Experimente zur Verwertung von toten Herzen und Därmen haben Fortschritte gemacht; es ist nicht ausgeschlossen, daß man eigene Leichen durch die der Feinde zum Leben zurückrufen wird, und dann hätten Kriege ihren tieferen und bis heute nur von seinen Propheten vorausgeahnten Sinn. Man hatte es in der Deutung so kolossaler Vorgänge nicht allzuweit gebracht; aber schon die Zahlen sprechen dafür, daß es sich um eminent lebenswichtige Vorgänge handeln muß, denn würden Millionen Menschen umsonst sterben? Und gerne sterben gehen und stolz darauf sein und sich um den Vorrang dabei reißen? Immer sind es die Zahlen, die den Zweifler beschämen. Der Mensch stirbt nicht gerne. Im Krieg stirbt er zu Millionen. Also müssen Kriege etwas Besonderes zu bedeuten haben, und man verstand es vielleicht nur nicht, die Leichen des Feindes gehörig auszuschroten. Es wurde die Kopfjagd verlacht, und man spottete über Kannibalen. Aber in diesen Kindern der Natur steckt ein gesunder Kern, und so wie sie sich auf Heilkräuter und Gifte verstehen, werden sie gewiß wohl wissen, und jedenfalls besser als wir, warum sie gerade Feinde fressen müssen. Eines ist ihnen nicht abzusprechen: Sie sind konsequent, und die lächerliche Sentimentalität unserer Pseudokultur hat sie nicht dazu gebracht, ein Herz zu verschmähen, bloß weil es das eines Menschen ist, ganz im Gegenteil, sie ziehen es tierischen Herzen vor.

In der Geschichte ist viel zuwenig von Tieren die Rede.

Der Neandertaler denkt: es wird immer Kriege geben, auch in dreihundert Millionen Jahren; er kann schon bis zur Million zählen.

Sag dich von allen los, die den Tod hinnehmen. Wer bleibt dir übrig?

Gottes Verlassenschaft ist vergiftet.

Die Zukunft, die sich in jedem Augenblick verändert.

Eine Schar von hochschwangeren Frauen; ihnen entgegen fahren Lastwagen, Tanks, Lastwagen, Tanks, mit präzis gerüsteten Soldaten besetzt. Die Wagen sind vorüber; die Frauen, mitten auf der Straße, beginnen zu singen.

Der Krieg ist so ordentlich, daß die Leute ganz heimisch werden darin.

Seit sie auf Sesseln sitzen und an Tischen essen, führen sie längere Kriege.

Die Toten haben vor den Lebenden Angst. Die Lebenden aber, die es nicht wissen, fürchten die Toten.

Alle alten Grenzen der Erde, seit es Menschen gibt, und eine Kommission, die darüber wacht, ob sie es wirklich sind: die Grenz-Akademie. Ein Lexikon der Grenzen, das von Auflage zu Auflage verbessert wird. Eine Schätzung der Kosten dieser Grenzen. Die Helden, die dafür gestorben sind, und ihre Nachkommen, die ihnen die Grenze unterm Grab wegziehen. Mauern an falschen Stellen, und wo sie eigentlich zu errichten wären, wenn sie nicht längst schon woanders stehen müßten. Die Uniformen toter Grenzbeamter und der Unfug auf schwierigen Pässen, ewige Übertretungen, Verschiebungen und unverläßliches Gerölle. Das anmaßende Meer; unkontrollierbare Würmer; Vögel von Land zu Land, Vorschlag zu ihrer Ausrottung.

Die Wissenschaft hat sich verraten, indem sie sich zum Selbstzweck gemacht hat. Sie ist zur Religion geworden, zur Religion des Tötens, und sie will weismachen, daß von den traditionellen Religionen des Sterbens zu dieser Religion des Tötens ein Fortschritt ist. Man wird die Wissenschaft sehr bald unter die Herrschaft eines höheren Antriebs bringen müssen, der sie zur Dienerin herabdrückt, ohne sie zu zerstören. Für diese ihre Unterjochung ist nicht mehr viel Zeit übrig. Sie gefällt sich als Religion und beeilt sich, die Menschen auszurotten, bevor man den Mut hat, sie zu entthronen. So ist Wissen wirklich Macht, aber rasend gewordene und schamlos angebetete Macht; ihre Anbeter begnügen sich mit Haaren oder Schuppen von ihr; wenn sie nichts anderes ergattern können, mit den Abdrücken ihrer schweren künstlichen Füße.

Die alten Reiseberichte werden so kostbar sein wie die größten Werke der Kunst; denn heilig war die unbekannte Erde, und sie kann es nie wieder sein.

Der Teufel war sehr schädlich, weil er so harmlos war und die Menschen in trügerische Sicherheit gewiegt hat.

Vor dem Zusammenbruch in Deutschland hausierten Händler mit Bildern des Führers, die von selber in Flammen aufgingen, wenn man ihnen in die Augen sah.

Viele einfache Menschen fragen einen: »Glauben Sie, wird der Krieg bald zu Ende sein?«, und wenn man unbefangen antwortet: »Ja, sehr bald«, bemerkt man plötzlich, erst will man es gar nicht glauben, wie Angst und Entsetzen sich über ihre Züge ausbreiten. Sie schämen sich dessen ein wenig und wissen immer so viel, daß sie sich aus Gründen der Menschlichkeit zu freuen hätten. Aber der Krieg hat ihnen Brot und reichlichen Verdienst gebracht, manchen zum erstenmal im Leben, anderen seit Jahren endlich wieder, und so ist es, daß ein einziges Gefühl sie peinigt: Wenn es nur noch eine Weile dauert, wenn es nur noch nicht zu Ende ist! Ganze Völker, bis in die untersten Schichten, sind zu Kriegsgewinnern geworden, mit allen Reaktionen zur Welt, die zu einem solchen gehören. Wenn ich sagen müßte, was mich während dieses Krieges mit der größten Verzweiflung erfüllt hat, so ist es dieses tägliche Erlebnis: der Krieg als Brotbringer und Sicherheit.

Die leidenschaftlichen Schmeichler sind die unglücklichsten aller Menschen. Es packt sie von Zeit zu Zeit ein wilder und unberechenbarer Haß gegen das Geschöpf, das sie lange beschmeichelt haben. Sie haben diesen Haß nicht in ihrer Gewalt; um keinen Preis der Welt können sie ihn bezähmen; sie geben ihm nach wie ein Tiger seinem Blutgelüste. Es ist ein erstaunlicher Anblick: Der Mensch, der früher nur Worte blindester Anbetung für sein Opfer hatte, nimmt jedes von ihnen in ebenso übertriebener Beschimpfung zurück. Er vergißt nichts, was den anderen je gefreut haben könnte. Mitten in der wahnwitzigen Wut geht er die Liste seiner alten Süßigkeiten durch und übersetzt genau in die Sprache des Hasses.

Was soll einem Mut machen, von allem was man betrachtet, wenn nicht die Betrachtung selbst?

Man soll auch die schlimmsten Taten der Toten nicht verschweigen, so sehr ist es ihnen darum zu tun, auf jede Weise fortzuleben.

Es ist eine Zeit, die sich durch neue Dinge und gar keine neuen Gedanken auszeichnet.

Das Kühnste am Leben ist, daß es den Tod haßt, und verächtlich und verzweifelt sind die Religionen, die diesen Haß verwischen.

Wenn ein Rat, den ich zu geben hätte, ein technischer Rat, den Tod auch nur eines einzigen Menschen zur Folge hätte, könnte ich mir kein Recht mehr auf mein Leben zubilligen.

Die ›Kultur‹ wird aus den Eitelkeiten ihrer Förderer zusammengebraut. Sie ist ein gefährlicher Liebestrank, der vom Tode ablenkt. Der reinste Ausdruck der Kultur ist ein ägyptisches Grab, wo alles vergeblich herumsteht, Geräte, Schmuck, Nahrung, Bilder, Skulptur, Gebete, und der Tote ist doch nicht am Leben.

Man kann die Bibel nicht ohne Empörung und nicht ohne Verlockung lesen. Was macht sie nicht aus den Menschen, Schurken, Heuchler, Despoten, und was macht man nicht gegen sie! Sie ist das würdige Bild und Vorbild der Menschheit, ein großartiges Wesen, anschaulich und heimlich zugleich, sie ist der wahre Turm zu Babel, und Gott weiß es.

Die eigentliche Kunst also wäre es zu lieben, ohne den zugehörigen Haß zu speichern.

Man hat es sich im Humanismus zu leicht gemacht; man wußte noch fast nichts; die ernsthafte Bemühung galt im Grunde einer einzigen Tradition. Aber wenn nichts von dieser Bewegung übrigbleiben sollte als der Name, der sie bezeichnet, wäre sie heilig; und die Wissenschaft, die sie heute viel weiter und wissender fortsetzt, ihre eigentliche Erbin, die Anthropologie, trägt einen zwar verwandten, aber um wieviel weniger zuversichtlichen Namen!

Es gibt Bücher, die man zwanzig Jahre bei sich hat, ohne sie zu lesen, die man immer in der Nähe hält, die man von Stadt zu Stadt und Land zu Land mitnimmt, sorgfältig verpackt, auch wenn sehr wenig Platz da ist, und vielleicht blättert man darin, wenn man sie aus dem Koffer hebt; doch hütet man sich sorgfältig, auch nur einen Satz vollständig zu lesen. Dann, nach zwanzig Jahren, kommt ein Augenblick, da man plötzlich, wie unter einem sehr hohen Zwang, nichts anderes tun kann, als gerade so ein Buch von Anfang zu Ende und in einem Zuge aufzunehmen: Es wirkt wie eine Offenbarung. Nun weiß man, warum man so viel Wesens damit gemacht hat. Es mußte lange bei einem liegen; es mußte reisen; es mußte Raum einnehmen; es mußte eine Last sein; und jetzt ist es ans Ziel seiner Reise gelangt, jetzt enthüllt es sich, jetzt erleuchtet es die zwanzig verflossenen Jahre, die es stumm mit einem gelebt hat. Es könnte nicht so viel sagen, wenn es nicht die ganze Zeit über stumm gewesen wäre, und welcher Idiot würde zu behaupten wagen, daß immer dasselbe drinstand.

Vielleicht verachte ich das Tun bloß darum so sehr, weil ich mir wünsche, daß jede kleinste Handlung ihre allgemeine Bedeutung hat, ihren Schatten auf eine ganz bestimmte Weise wirft und Erde und Himmel zugleich bedeckt. Das wirkliche Tun des Menschen aber hat sich atomisiert, und sie müssen einander gewaltsam stoßen, damit sie merken, daß jeder von ihnen etwas tut. Welche Leere zwischen ihnen! Welche heftige Demütigung! Welch sinnloses Toben aller! Denn sie werden von außen geheizt und toben immer rascher. Ihr erstes Gebot ist: Tu, und es ist schon beinahe gleichgültig, was. Man könnte denken, es sei die rasend gewordene Hand, die sie von einer Tat zur anderen hetzt; und wirklich haben ihre Füße immer weniger zu bedeuten. Man könnte ihnen allen zugleich die Hände abhacken lassen; aber es ist zu befürchten, daß sie dann mit der Nase auf Knöpfe drücken würden, nicht weniger gefährliche Knöpfe. Sie tun, und was sie tun, ist nichtig; und weil es nichtig ist, ist es schlecht. Sie rechnen zwar mit einem kurzen Leben, aber nicht einmal der Augenblick ist ihnen heilig. Für eine Tat geben sie jedes fremde Leben her, und oft das eigene. Sie sind die Papageien der Götter und beraten sich mit ihnen über Taten; irgendeine ist den Göttern immer genehm, am liebsten das Töten. Aus dem Ritual des Opferns sei eine ganze weise Literatur hervorgewachsen; und so wäre selbst die Weisheit eine Tochter der Tat. Es gibt viele von ihnen, die das glauben, und für noch mehr ist der Krieg an die Stelle des Opferns getreten: Das Gemetzel ist kostbarer und dauert länger. Es ist durchaus möglich, daß das Tun vom Töten überhaupt nicht mehr zu trennen ist; und falls die Erde nicht in Herrlichkeit untergehen will, müßten sich die Menschen dann das Tun ganz abgewöhnen. O daß sie endlich mit gekreuzten Beinen vor ihren verfallenen Häusern säßen, geheimnisvoll genährt, vom Atmen und vom Träumen; und einen Finger nur rührten, um eine Fliege zu verscheuchen, deren Emsigkeit sie stört, weil sie an die alte, die überwundene, die beschämende Zeit erinnert, die Zeit der Atome und des Tuns.

Die Geschichte verachtet den, der sie liebt.

Es ist nicht auszudenken, wie gefährlich die Welt ohne Tiere sein wird.

Tausendjährige Reiche hat es gegeben: des Plato, des Aristoteles, des Konfuzius.

Welche Last kann der Geist wieder abschütteln, wieviel vergessen, daß er es nie wieder weiß, und kann er etwas vergessen, als hätte er es nie gewußt?

Den Historikern sind die Kriege wie heilig, diese brechen, heilsame oder unvermeidliche Gewitter, aus der Sphäre des Übernatürlichen in den selbstverständlichen und erklärten Lauf der Welt ein.

Ich hasse den Respekt der Historiker vor Irgendetwas, bloß weil es geschehen ist, ihre gefälschten, nachträglichen Maßstäbe, ihre Ohnmacht, die vor jeder Form von Macht auf dem Bauche liegt. Diese Höflinge, diese Schmeichler, diese immer interessierten Juristen! Man möchte die Geschichte so zerschneiden, daß ihre Fetzen unauffindbar sind, selbst für einen ganzen Bienenstock von Historikern. Die geschriebene Geschichte, mit ihrer impertinenten Manier, alles zu verteidigen, macht die ohnehin verzweifelte Situation der Menschheit um alle verlogenen Überlieferungen verzweifelter. Jeder findet in diesem Arsenal seine Waffen, es ist offen und unerschöpflich. Mit rostigem alten Plunder, der drin friedlich beisammenlag, schlägt man draußen aufeinander los. Dann geben die toten Parteien einander die Hand, zum Zeichen der Versöhnung, und gehen in die Geschichte ein. Das rostige Zeug, das die Ehre hatte, wird von den Historikern, diesen Samaritern, am Felde aufgelesen und ins Zeughaus zurückgetragen. Sie sind sorgfältig darauf bedacht, keinen Blutfleck wegzuwischen. Seit die Menschen, in deren Adern er floß, tot sind, ist jeder vertrocknete Blutstropfen heilig.

Jeder Historiker hat eine alte Waffe, an der er besonders hängt, und macht sie zum Zentrum seiner Geschichte. Da steht sie nun aufgerichtet, stolz, als wäre sie ein Symbol der Fruchtbarkeit, und in Wahrheit ein kalter, versteinerter Mörder.

Seit einiger Zeit, es ist noch gar nicht so lange her, haben es die Historiker hauptsächlich auf Papier abgesehen. Aus Bienen sind sie Termiten geworden und verdauen nur noch Zellulose. Sie sehen ab von allen Farben der Bienenzeit, blind, in verdeckten Kanälen, denn sie hassen das Licht, machen sie sich an ihr altes Papier heran. Sie lesen nicht, sie essen es, und was sie von sich geben, wird von anderen Termiten wieder gefressen. In ihrer Blindheit sind die Historiker natürlich zu Sehern geworden. Keine Vergangenheit kann abstoßend und verhaßt genug gewesen sein, daß sich nicht irgendein Historiker irgendeine Zukunft nach ihr vorstellen würde. Ihre Predigten, wie sie glauben, bestehen aus alten Tatsachen, ihre Prophezeiungen, lange bevor sie eintreffen können, sind schon bewährt. Außer Papier lieben sie auch Steine, die sie aber nicht genießen und nicht verdauen. Sie ordnen sie nur zu immer neuen Ruinen an und ergänzen, was fehlt, in hölzernen Worten.

Die Menschen danach beurteilen, ob sie die Geschichte akzeptieren oder sich ihrer schämen.

Man wird keine unbekannten Gegenstände mehr finden. Man wird sie machen müssen, wie trostlos!

So allein sein, daß man keinen mehr übersieht, keinen, nichts.

Das Studium der Macht, wenn man es genau meint, hat die größten Gefahren. Man nimmt falsche Ziele hin, weil sie inzwischen längst erreicht und überholt worden sind. Großmut und Würde bewegen einen dazu, dort zu verzeihen, wo man am wenigsten verzeihen dürfte. Die Mächtigen und die es werden wollen, in allen ihren Verkleidungen, bedienen sich der Welt, und Welt ist für sie, was sie vorfinden. Es bleibt ihnen keine Zeit, etwas ernsthaft in Frage zu stellen. Was einmal Massen erzeugt hat, muß ihnen zu ihren eigenen Massen verhelfen. So suchen sie die Geschichte ab nach jeder Weide, und wo immer es wieder fett werden könnte, da lassen sie sich eilig nieder. Alte Reiche oder Gott, Krieg oder Frieden, eins wie das andere bietet sich ihnen an, und sie wählen danach, was sie geschickter handhaben können. Es ist kein wirklicher Unterschied zwischen den Mächtigen; wenn Kriege eine Zeitlang gedauert haben und die Gegner sich um ihres Sieges willen einander angleichen müssen, wird das plötzlich klar. Es ist alles Erfolg, und überall ist Erfolg dasselbe. Geändert hat sich nur eines: Die wachsende Zahl der Menschen hat zu wachsenden Massen geführt. Was sich irgendwo auf der Erde entlädt, entlädt sich überall; keine Vernichtung ist mehr abzugrenzen. Die Mächtigen aber mit ihren alten Zwecken leben noch in ihrer alten beschränkten Welt. Sie sind die eigentlichen Provinzialen und Dörfler dieser Zeit; es gibt nichts Weltfremderes als den Realismus von Kabinetten und Ministern, außer dem der Diktatoren, die sich für noch realistischer halten. Im Kampf gegen erstarrte Glaubensformen haben die Aufklärer eine Religion unangetastet gelassen, die von allen die widersinnigste ist: die Religion der Macht. Es gab zwei Arten, sich zu ihr zu stellen: Die eine, auf lange Sicht die gefährlichere von beiden, zog es vor, von ihr nicht zu sprechen, sie still auf traditionelle Weise weiter zu üben, durch die unerschöpflichen und leider unsterblichen Vorbilder aus der Geschichte gestärkt. Die andere, viel aggressiver, verherrlichte sich erst, bevor sie in Aktion trat; sie deklarierte sich öffentlich als Religion, an Stelle der sterbenden Religionen der Liebe, die sie mit Kraft und Witz verhöhnte. Sie verkündete: Gott ist Macht, und wer immer kann, sein Prophet.

Die Macht steigt auch denen zu Kopf, die keine haben, doch verraucht sie hier rascher.

Ich kann nicht bescheiden werden; es brennt mich zuviel; die alten Lösungen zerfallen; zu den neuen ist noch nichts getan. So fange ich denn an, überall zugleich, als hätte ich hundert Jahre vor mir. Aber werden andere, wenn meine wenigen wirklichen Jahre um sind, mit diesen rohen Ahnungen etwas anfangen können? Ich kann mich nicht bescheiden: Die Beschränkung auf etwas Einzelnes, als ob es alles wäre, ist zu verächtlich. Ich will alles in mir fühlen, bevor ich es denke. Ich brauche eine lange Geschichte, damit die Dinge in mir heimisch werden, bevor ich sie mit Gerechtigkeit anblicken darf. Sie sollen in mir heiraten und Kinder und Enkelkinder haben, und an diesen will ich sie prüfen. Hundert Jahre? Hundert lumpige Jahre! Ist das zuviel für eine ernste Absicht?

Die Früheren lachen mich aus. Ihnen genügt es, daß ihre Gedanken sich fest in den Schwanz beißen. Sie glauben, damit haben sie etwas wirklich begriffen, und es ist doch nur ihr einzelner eigener Gedanke, der sich schon wieder in den Schwanz beißt! Je öfter er es tut, um so richtiger, denken sie, ist er, und wenn er sich gar nährt von seinem eigenen Leib, dann schnappen sie über vor Entzücken. Ich aber lebe in der einzigen Angst, daß meine Gedanken zu früh stimmen, und auch darum lasse ich ihnen Zeit, ihre ganze Falschheit zu entlarven oder sich wenigstens zu häuten.

Man möchte jeden Menschen in seine Tiere auseinandernehmen und sich mit diesen dann gründlich und begütigend ins Einvernehmen setzen.