Aus zwei Weltteilen - Friedrich Gerstäcker - E-Book

Aus zwei Weltteilen E-Book

Friedrich Gerstäcker

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Inhalt: Zivilisation und Wildnis Die Wolfsglocke Heimweh und Auswanderung Die Ahnung Schwarz und Weiß Der Freischütz Kalifornischer Mietzwang Berlin und das Schauspielhaus im Belagerungszustand Herr Schultze Der Deutsche und sein Kind Schicksale einer Nacht Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange Die Otterjagd Die Tochter des Riccarees Curtis' Brautfahrt Ein Versuch zur Ansiedlung oder Wie's dem Herrn v. Sechingen im Urwald gefiel Der wunderbare Traum Die Bärenjagd an der Bayou Meter in Arkansas Die Menagerie im Urwalde Coverbild: fatistok/Shutterstock.com

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Friedrich Gerstäcker

Aus zwei Weltteilen

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

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Inhalt:

Zivilisation und Wildnis

Die Wolfsglocke

Heimweh und Auswanderung

Die Ahnung

Schwarz und Weiß

Der Freischütz

Kalifornischer Mietzwang

Berlin und das Schauspielhaus im Belagerungszustand

Herr Schultze

Der Deutsche und sein Kind

Schicksale einer Nacht

Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange

Die Otterjagd

Die Tochter des Riccarees

Curtis’ Brautfahrt

Ein Versuch zur Ansiedlung oder Wie’s dem Herrn v. Sechingen im Urwald gefiel

Der wunderbare Traum

Die Bärenjagd an der Bayou Meter in Arkansas

Die Menagerie im Urwalde

 

Coverbild: fatistok/Shutterstock.com

 

 

Zivilisation und Wildnis

Im westlichen Teile des Squatterstaates Missouri, unfern vom Flusse gleichen Namens, dem „Roaring River“, oder rauschenden Strom, und etwa nur zwanzig englische Meilen von der östlichen Grenze des „indianischen Territoriums“ entfernt, wo nördlich die Kickapoos und südlich von ihnen die Delawaren durch die Regierung der Vereinigten Staaten ihre Wohnsitze angewiesen bekommen hatten, lag ein kleines, unscheinbares Waldstädtchen, in früherer Zeit wohl nur der ergiebigen Bleiminen wegen gegründet, jetzt aber, da vielleicht bessere Adern und besser gelegene entdeckt worden, auch wieder von einem großen Teil der ersten Ansiedler verlassen.

Das Städtchen selbst bestand eigentlich nur aus einer einzigen Straße und darin sich gegenüber liegenden zwölf oder vierzehn Häusern, von denen das umfangreichste das Meeting- oder Bethaus, das wohnlichst eingerichtete das des Händlers oder Krämers und das kleinste, einfachste das einer armen Witwe, Mrs. Rowland, war, die hier mit ihrer Pflegetochter Rosy still und zurückgezogen, aber auch von allen Nachbarn geliebt und geachtet lebte.

Da sich übrigens meine kleine Erzählung gerade um diese Personen dreht, so ist es vielleicht dem Leser lieb, gleich von vornherein und mit so kurzen Worten wie möglich das zu erfahren, was zur Verständigung des Ganzen nötig ist, und was er nun einmal überhaupt wissen muss.

Mrs. Rowland war die älteste Ansiedlerin im ganzen Orte, und zwar hatte ihr Mann hier die ersten Bleiminen auf einem Jagdzug entdeckt und mitten unter damals feindlichen Indianern als kühner Pionier und Vorzügler der Zivilisation die Arbeit begonnen.

Aber nicht warnen ließ er sich durch das Schicksal tausend anderer, die vor ihm den roten Sohn der Wälder in seiner Heimat aufgesucht und durch Übermut gereizt. Auf seine Kraft und geschickte Führung der Büchse vertrauend, trotzte er jeder Gefahr, die ihm vom Feinde oder Gegner drohen konnte, und – fiel. Ein Häuptling der Delawaren war von ihm beleidigt worden – wenige Tage später hörte er morgens dicht bei seiner Hütte den Lockton einer Truthenne, er nahm seine Büchse, um die vermeintlich leichte Beute zu erlegen, und – kehrte nie mehr zurück. Der Ton musste eine Schlinge der listigen Wilden gewesen sein – wenige Minuten später überfielen die dunklen entsetzlichen Gestalten das jetzt unbeschützte Haus, und als die unglückliche Frau aus ihrer Ohnmacht, in die sie der erste Schreck geworfen, erwachte, lag sie vor den qualmenden Überresten ihrer Hütte unter einem Baum, und ihr Sohn, ihr einziges, liebes Kind, war verschwunden.

Umsonst durchwühlte sie den ganzen langen Tag mit blutenden, verbrannten Fingern die qualmenden Trümmer ihrer friedlichen Heimat, nicht einmal die Gebeine fand sie, um den Überresten des Kindes ein Grab zu gewähren.

Halb wahnsinnig floh sie damals, allein und schutzlos, durch den Wald der meilenweit entfernten nächsten Hütte zu und zog später in ihrem hoffnungslosen Schmerz nach St. Louis zu einer da wohnenden Schwester.

Hier lebte sie vierzehn lange Jahre in stiller Zurückgezogenheit; wenn aber auch die Zeit den Schmerz gelindert hatte, so vergaß sie doch nie und nimmer die teuern Lieben, die ihr durch Mörderhand entrissen worden, und das besonders ließ ihr weder Ruhe noch Rast, dass sie nie Gewissheit von des Kindes Tod erhalten. Wenn sie der Überzeugung auch Raum geben musste, ihr Gatte sei als Opfer indianischer Rache gefallen, so konnte sie sich weder wachend noch träumend des Gedankens erwehren, wie der Knabe, vielleicht nur geraubt, vielleicht entflohen, verirrt gewesen und von anderen Farmern – Reisenden möglicherweise – aufgenommen sei.

Als sie daher von der Gründung des kleinen Städtchens Boonville hörte, das spätere Bleisucher kaum eine Viertelstunde von ihrem früheren Wohnorte angelegt, da beschloss sie, weil ihre Schwester indessen auch gestorben war und sie nun doch allein auf der Welt stand, mit deren hinterlassener Stieftochter, einem lieben, holden, damals zwölfjährigen Kinde, nach Boonville zu übersiedeln. Dort war sie wenigstens in der Nähe jener Stelle, auf der sie fast alles verloren, was ihr auf Erden lieb und teuer gewesen, und dort, meinte sie, müsse auch, wenn je, ihre Hoffnung erfüllt werden.

Sechs volle Jahre waren aber wieder verflossen, ohne dass sie auch nur eine Spur des Verlorenen gefunden, und wenngleich alle Bewohner des kleinen Ortes, mit dem Schicksal der armen Mutter bekannt, sich die größte Mühe gegeben hatten, ihre Nachforschungen zu unterstützen, so schien doch alles umsonst – der Verschwundene blieb verschwunden, und die arme alte Frau siechte endlich mit mehr und mehr abnehmenden Körperkräften dem Grabe zu, nach dem sie sich ja auch, besonders in den letzten Jahren, als dem einzigen Ort, die Ihren wiederzufinden, so heiß und brünstig gesehnt.

Es war ein freundlicher, sonniger Abend im August; von Nordosten her wehte ein kühler, labender Luftzug, und vor den Türen der einzelnen Wohnungen, teils im Schatten fruchtbeladener Hickories, nicht selten auch von Töpfen mit qualmendem Rauch umgeben, um die etwas lästigen Moskitos zu verscheuchen, saßen hier und da die Bewohner von Boonville – die Frauen mit irgendeiner Nadelarbeit beschäftigt, von der sie nur manchmal aufstanden, um nach dem innen am Kamin brodelnden Abendessen zu schauen, und die Männer im Dolcefarniente an Holzstücken schnitzelnd oder auch auf ein über die freie Erde hingebreitetes Büffelfell müßig ausgestreckt.

Nur der Stuhl vor der Tür des Händlers war leer, denn Madame schaffte und arbeitete mit feuergerötetem Angesicht vor dem geräumigen Kamin der Küche, während Zacharias Smith zwei fremde Indianer bediente, die vor kurzer Zeit mit ihren Fellbündeln und Wildbret in das Städtchen gekommen waren, um hier ihre nötigsten Bedürfnisse, wie Pulver, Messer, Blechbecher und – Whisky, gegen das Erbeutete einzutauschen.

Es waren ein paar Krieger vom Stamme der Kickapoos, wenn der Name Krieger überhaupt noch einem Paar der miserabelst aussehenden Subjekte indianischer Rasse beigelegt werden konnte. Die schmutzigen wollenen und zerrissenen Decken, die sie um sich herumgeschlagen, verhüllten kaum notdürftig ihre Blöße, und das Haar hing ihnen, nicht mehr bloß in der einzelnen stolzen Skalplocke prangend, nein, unbeschnitten, aber auch ungekämmt, wild und wirr, an manchen Stellen wie eine Pferdemähne, von Kletten zu festem Zopf zusammengehalten, um den braunen Nacken.

Der eine trug ein Hemd – aber ob das einst aus weißem Stoff oder buntem Kattun bestanden, ließ sich wahrlich nicht mehr erkennen; das Blut des erlegten Wildes hatte eine Art Kruste darüber gelegt, die nur auf der Schulter durch das Tragen der ziemlich schweren unbehilflichen Büchse unterbrochen schien – ihre Leggins waren mit Stücken roher Haut geflickt, und ihre Mokkasins sahen aus, als ob sie jeden Augenblick auseinanderfallen wollten. Ein Gürtel, aus Hickoryrinde gedreht, hielt ihre Leggins um die Hüften fest, wie ebenso das kleine Skalpiermesser und eine kurze Schilfpfeife, und die ausdruckslosen, trägen Züge der schmutzigen Gesichter heiterten sich erst wieder auf, als sie in des Händlers Laden die rotbestrichenen Whiskyfässer sahen.

Der Handel war sehr einfach und deshalb bald abgeschlossen – das, was sie an Pulver notdürftig haben mussten, ließen sie sich geben und füllten es in ihre Hörner, den Rest aber verlangten sie natürlich in „Uiski“, und damit kauerten sie sich gleich an Ort und Stelle in eine Ecke des Ladens zwischen Salz- und Mehlfässer nieder und begannen ohne weitere Vorbereitung ihr Festmahl.

Sie hatten nur einen Becher mit, und der eine schaute mit weit aufgerissenen, fast aus ihren Höhlen tretenden Augen zu, als der andere das gelbe Feuerwasser aus der erhaltenen Flasche in diesen einsprudeln ließ – sein breiter Mund verzog sich zu einem noch breiteren Grinsen, und zwei Reihen blendend weißer Zähne wurden sichtbar. Die eine Hand streckte er dabei schon wie unwillkürlich nach dem Göttertrank aus, und ein leises, gurgelndes Lachen wurde laut, als sein Gefährte den Becher zuerst an die Lippen hob. Das Lächeln verlor sich aber, die Mundwinkel zogen sich wieder zusammen, wenn auch die Lippen getrennt blieben, und das Auge nahm einen mehr starren, ängstlichen Ausdruck an, als der Freund, gar nicht mehr freundschaftlich, in nicht endendem Zug mit dem Blechmaß zu verwachsen schien.

„Ugh!“, sagte da endlich – nach langem, langem Genusse absetzend –der erste Trinker und schaute, über das Gefäß hinüber, den Gefährten an; dessen Züge aber heiterten sich jetzt urplötzlich wieder auf – er streckte die Hand aus, ergriff den Becher, den er selbst nicht wieder losließ, als jener ihn erst aufs Neue füllte, und schien nun seinerseits reichliche und volle Rache an dem nehmen zu wollen, der seine Erwartung vorher auf so peinliche Folter gespannt.

So tranken sie abwechselnd, jeder bei dem Genusse des anderen mit atemloser Angst das Abnehmen des verführerischen Giftes beobachtend, jeder, wenn die Reihe an ihn kam, seine früheren Gefühle in dem einen, alles andere ausschließenden Bewusstsein seiner Seligkeit vergessend. Und vor ihnen auf dem Ladentisch, das rechte heraufgezogene Knie mit seinen beiden Händen gefasst, den Körper, um das Gleichgewicht zu behaupten, etwas zurückgebeugt und die vergnügt lächelnden Augen fest auf das zechende Paar geheftet, saß der Händler Zacharias Smith und hatte allem Anschein nach seine herzliche Freude über dasselbe.

So schweigsam und verdrossen die beiden Wilden aber auch im Anfang gewesen waren, so munter wurden sie jetzt, als ihnen der Feuertrank erst durch die Adern rollte und in diesen mit seinem scharfen, zuerst allerdings belebenden Geist in ihre Köpfe stieg. Sie fingen an, kleine Bruchstücke von Kriegsliedern zu singen, lobten wahrscheinlich –denn Smith verstand ihre Sprache nur sehr unvollkommen – ihre eigenen vortrefflichen und unübertroffenen Eigenschaften, und es schien überhaupt, als ob ihre tolle Lustigkeit in dem Verhältnis stiege, wie die Flut in der zwischen ihnen stehenden oder vielmehr immer hin und her gehenden Flasche ebbte.

„Ugh!“, rief endlich der eine, als er eben wieder seinen Becher füllen wollte und nun zu seinem Entsetzen fand, dass die Flasche, die er gerade erst gegen das Licht gehoben und welche danach wohl noch anderthalb Becher halten musste, kaum einen guten Schluck mehr hergab. „Was das? Uiski drin und kommt nicht aus?“

Er drehte, während sich der andere neugierig und bestürzt zu ihm hinüberbog, die Flasche um und entdeckte hier zu seiner ihm nichts weniger als angenehmen Überraschung die eingedrückte Höhlung.

„Wah!“, rief er erstaunt aus. „Groß Loch hier – weißer Mann hat groß Loch in Flasche – ugh – schlecht – Indianer kriegt Flasche voll – in Loch nichts.“

„Ugh – schlecht!“, stimmte der andere bei und bezeugte durch ein den Gaumenlaut begleitendes Kopfnicken, dass er vollkommen derselben Meinung und ebenso mit der getanenen Äußerung einverstanden sei.

Der Händler erwiderte: „Ei, Indianer, da sieh dir nur all die anderen Flaschen an – das Loch ist in allen; sie halten nun einmal so ihr Maß und sind danach eingerichtet; wäre das Loch nicht, würde die ganze Flasche kleiner sein.“

„Ist nicht nötig“, brummte der Sprecher wieder. „Weißer Mann hat Felle gekriegt, ganz – bloß Kugelloch drin – Kugelloch kann wieder gemacht werden – weißer Mann muss das Loch auch machen!“ Und er hielt, in deutlicher Erklärung dessen, was er meinte, dem Händler die Flasche verkehrt hin, damit dieser solcherart und gewissenhaft das Versäumte nachholen könne.

„Ha, ha, ha!“, lachte der aber. „Das ist eine verdammt komische Zumutung – wie käm’ ich denn dazu, oben und unten einzuschenken – ihr habt ohnedies beide gerade so viel in euch hineingegossen, wie ihr bequemerweise tragen könnt.“

„Schad’t nichts“, brummte der zweite Indianer und deutete dabei auf die Flasche. „Loch wieder machen!“

„Ei nun, wenn ihr’s nicht anders wollt“, lachte der Händler und sprang, nach der Flasche greifend, von dem Ladentisch, „so kommt mir’s auf die paar Tropfen auch nicht an – hier, Kickapoo – halt denn einmal die Flasche – aber steh fest – Donnerwetter, Bursche, dir ist ja der Trunk schon jetzt in den Kopf gestiegen, und willst noch immer mehr haben?“

„Schad’t nichts“, grinste der Wilde; „sehr gut, mehr – viel besser Wort wie weniger – weniger schlechtes Wort.“

„Also auch nicht weniger heiß – weniger Hunger – weniger Durst?“, lachte Smith, während er sich zum Fass niederbog.

„Nein, nein!“, rief der Kickapoo, und seine Augen verschlangen schon jeden einzelnen Tropfen, der ihnen noch zugemessen wurde. „Immer mehr Durst – Durst viel gut – sehr viel gut!“

Das „Loch“ hatte freilich nicht so viel gegeben, als die beiden erwartet haben mochten; denn sie hielten den Inhalt, nachdem sie ihn vorher in den Becher ausgeschüttet, lange Zeit zwischen sich und schwatzten viel und eifrig in ihrer eigenen Sprache miteinander; endlich aber leerten sie ihn doch, und als der Händler hiernach unerbittlich blieb, ihnen noch mehr auszufüllen, holte einer von ihnen ein kleines zusammengerolltes Päckchen aus seiner Decke vor, das er aufwickelte und ein fein gegerbtes Otterfell zum Vorschein brachte.

Es war augenscheinlich, sie hatten dieses im Anfang nicht um Whisky hingeben, sondern vielleicht irgend andere Bedürfnisse, vielleicht für die Squaw daheim, die derlei Arbeiten auch verfertigen, eintauschen wollen. Die furchtbare Gier aber, die der rote Sohn der Wälder – einmal verführt – nach dem für ihn so verderblichen Genuss des Feuerwassers nährt und hegt, ließ den Kampf, den in ihrer Brust wahrscheinlich jetzt noch das bessere Gefühl bekämpfte, einen sehr kurzen sein.

Der Indianer warf das Fell, das der Amerikaner sorgfältig prüfte, auf den Ladentisch und verlangte im Anfang „halbe Flasche Uiski – nachher anderes“ – dafür; sie wollten nur einen Teil des anvertrauten Gutes vertrinken. Mit dem Genuss stieg aber auch die Gier danach, und Becher nach Becher voll ließen sie sich von dem kopfschüttelnden und keineswegs ganz damit einverstandenen Krämer nachgießen, bis auch der letzte Cent vertrunken und die unersättlichen Kehlen dennoch mehr verlangten.

„Mehr Uiski!“, lallte jetzt der eine mit stieren, glanzlosen Augen und streckte den einen Arm mit der Flasche dem Amerikaner entgegen, während er mit dem andern den schwankenden Körper am Ladentisch zu stützen suchte. „Mehr Uiski – Fell eine Flasche mehr wert.“

„Ihr bekommt keinen Whisky mehr!“, sagte aber, und zwar auf das Bestimmteste, der Händler; denn er fürchtete nicht mit Unrecht den wilden, zügellosen Geist seiner Gäste, der sich, so friedlich sie auch im nüchternen Zustande sein mochten, im trunkenen nur zu oft die Bahn brach und dann zu allem Schlimmen fähig war. „Ihr zwei habt mehr getrunken, als sechsen zuträglich gewesen wäre, und es ist besser jetzt, ihr legt euch ein paar Stunden aufs Ohr, um euern Rausch auszuschlafen.“

„Rausch? Ausschlafen?“, lallte der Ältere der beiden, indem er die Flasche am Hals ergriff und in die Ecke schleuderte, dass sie in tausend Scherben zerbrach. „Hahahaha! Weißer Mann – mehr, Po-co-mo-con nüchtern wie junges Waschbär – weißer Mann, trunken – wackelt hin und her wie junge Birke – hahaha – mehr Uiski – Blassgesicht – mehr Uiski – bei Gott!“

„Ihr bekommt keinen Tropfen mehr“, sagte der Händler und deutete nach der zerschmetterten Flasche. „Seid ihr gute Indianer? Tun das gute Indianer? Tun das nüchterne Waschbären? Packt eure Siebensachen zusammen, und ich will euch nebenan in mein Warenhaus bringen, da könnt ihr bis zum Morgen ausschnarchen, und morgen Früh sollt ihr dann auch noch jeder einen Becher voll auf den Weg haben – seid ihr damit zufrieden?“

„Ja!“, sagte der Ältere. „Ja, sehr gut, Becher voll, sehr gut – aber gleich trinken – dann morgen, morgen andern.“

„Du bist gescheit – nein, schlaft nur erst aus“, lautete die Antwort.

„Go to hell!“, knurrte jetzt gereizt der Jüngere. „Bleichgesicht – betrügt roten Mann – Bleichgesicht tut nichts umsonst.“

„Würde schon Uiski geben“, lallte der andere schluckend, „wenn wüsste – hick – wenn wüsste, was ich weiß – hick!“

„Möglich!“, sagte Smith lakonisch.

„Nich möglich!“, rief, durch die Ruhe des Weißen gereizt, der Indianer. „Nich – hick – nich möglich, gewiss! Indian weiß großes Geheimnis für weißen Mann, dam you – hick – großes Geheimnis von Konzas – hick – aber Uiski, mehr Uiski.“

„No, you d’ont!“, lachte der Händler, der nichts anders glaubte, als der Wilde machte ihm hier etwas weis, um nur noch einen Becher voll Whisky herauszupressen. „Du behältst dein Geheimnis und ich meinen Whisky, das wird das Gescheiteste sein.“

„Dam you!“, brummte der Wilde. „Ihr gebt ganz Fass voll – hick – vor Geheimnis – weißer Mann – hick – ugh – ganz zwei Fass voll – hick –weißer Mann unter Indian – ugh – sieht gut – hick – sieht gut aus – hick – großer Krieger – hick – hahahaha – wohl auch Fass voll wert – hick?“

Der Jüngere, der doch nicht so ganz trunken sein mochte als sein älterer Gefährte und vielleicht eine Art Ahnung hatte, wie jener durch sein Schwatzen sie beide in Unannehmlichkeiten verwickeln könne, ergriff seinen Arm und suchte ihn fortzuziehen; der aber stieß ihn mit mürrischem Fluch von sich.

„Dam you! – Mehr Uiski – huih!“ Und sein gellender Schlachtschrei tönte die ganze Straße hinab, sodass die Kinder im Spielen aufhörten und die Einzelnen, die in dem mehr und mehr anbrechenden Abend noch draußen vor den Türen weilten, überrascht die Köpfe hoben, um dem unheimlichen Ton, der vielleicht bei manchem gar trübe Erinnerungen ins Gedächtnis zurückrief, zu lauschen.

Smith war aber auch aufmerksam geworden – ein Weißer unter den Indianern als Indianer – denn etwas Ähnliches schien unfehlbar die wirre Rede anzudeuten – er wusste selbst nicht, woher es kam, aber fast unwillkürlich zuckte ihm der Gedanke an Mrs. Rowland durch den Kopf, und er beschloss jetzt, jedenfalls dieser Spur so rasch wie möglich zu folgen.

„Hallo, Indian – ist das wahr, was du da sprichst?“, redete er diesen an und trat, um den Ladentisch herum, auf ihn zu.

„Aha“, grinste die Rothaut, „hat Po-co-mo-con recht? Hick – Bleichgesicht gäb’ ganz Fass voll – hick – für – hick – für Geschichte – hier Becher.“

Smith füllte kopfschüttelnd den Becher aus einem auf dem Ladentisch stehenden Krug und schaute dabei forschend und von der Seite den Indianer an – der aber hatte des Guten schon zu viel getan – mit gläsernen Augen und mattem Lächeln hob er das Gefäß noch einmal an die Lippen – aber er vermochte schon nicht mehr zu schlucken.

„Hick!“, lallte er, und der Whisky strömte über seine braune Brust und das blutige Hemd. „Hick – weißer Mann, gut – hick – Uiski besser – hick – sehr bes – ser – hick!“

Und der Becher entfiel seiner Hand – Po-co-mo-con tat einen Schritt vor, um sich im Gleichgewicht zu halten, glitt auf dem nassen Boden aus und wäre, hätte ihn der Händler nicht noch gefasst, auf die Erde niedergeschlagen. Aber an Rede-und-Antwort-stehen durfte er an diesem Abend nicht mehr denken, selbst der Jüngere schien so trunken, oder stellte sich wenigstens so, um vielleicht den Fragen zu entgehen, dass auf eine vernünftige Antwort bei allen beiden nicht mehr zu hoffen war.

Smith also tat das Einzige, was er unter diesen Umständen tun konnte – er schleppte die Bewusstlosen, da es unterdessen überhaupt fast dunkel geworden, ohne Weiteres in ein neben seiner Wohnung leer stehendes kleines Gebäude, das er zugleich mit als Warenlager benutzte, warf sie hier auf eine Partie Hirsch- und Bärenhäute, die in der einen Ecke ausgebreitet lagen, und verließ sie hier hinter vorsichtig verschlossener Tür mit dem festen Entschluss, sie am nächsten Morgen nicht eher ziehen zu lassen, bis sie auf das Genaueste gebeichtet hätten, wie es mit dem Weißen unter den Indianern stand und ob sich die Sache wirklich so verhielt, wie er jetzt noch glaubte.

Als aber der nächste Morgen kam und Smith mit dem Frühesten in der Absicht hinüberging, seine Gefangenen zu wecken, fand er zu seinem unbegrenzten Erstaunen das Nest schon leer und von den Indianern keine Spur, ja bei näherer Untersuchung ergab sich sogar, dass sie durch eine Ecke des niedern Daches, wohin sie auf den rauen Balken leicht gelangen konnten, ausgebrochen seien und ihm zwei vortrefflich geräucherte Hirschkeulen, für die er erst gestern per Stück einen silbernen Vierteldollar bezahlt, als Zehrung mitgenommen hatten.

Der Verlust der Keulen schmerzte ihn aber am Wenigsten; sie hatten getrunken, und er würde ihnen auch gern zu essen, ja die Keulen vielleicht mit auf den Weg gegeben haben, wenn er nur gewusst hätte, wie es mit dem „Geheimnis“ stand. Der Wunsch blieb aber Wunsch, und wenn er auch im ersten Augenblick an eine Verfolgung dachte, so gab er den Gedanken gleich wieder als unausführbar auf; denn dass die Wilden sich alle Mühe geben würden, keine Fährten zu hinterlassen, ließ sich denken.

Was aber nun tun? Smith zerschnitzte in allem Brüten und Nachdenken ein paar Stücke Holz, die ihm bei ruhigem Blut einen ganzen Tag vorgehalten hätten, und kam immer noch zu keinem Resultat. Sollte er Mrs. Rowland etwas von der gefundenen Spur sagen, ohne ihr eine Gewissheit geben zu können? Es wäre grausam gegen die arme alte Frau gewesen, die nachher in vielleicht nicht einmal befriedigter Hoffnung vergangen wäre.

Ließe sich außerdem auch nicht denken, dass der lügnerische Wilde doch am Ende nur ein Märchen erfunden haben konnte, um noch einen Schluck Whisky zu erpressen? Aber der andere, sein jüngerer Gefährte, war augenscheinlich bestürzt geworden, als der ältere das Thema berührte – ha! Da ging ein Mann vorüber, der ihm, gerade hierin, gar nicht erwünschter hätte kommen können.

„Heda, Tom – oh, Tom!“, rief er, rasch in die Tür tretend.

„Hallo, Smith, was gibt’s so früh?“, nickte ihm der Angerufene freundlich hinüber. „Guten Morgen! Schon ausgeschlafen?“ Er ging zu dem Hause hinüber und blieb in der Tür, auf seine Büchse gestützt, stehen.

Tom Fairfield war eine kräftige, edle Gestalt, ein echter Hinterwäldler, Jäger mit Leib und Seele, und nie zufriedener, als wenn er draußen in seinem Wald einer Fährte folgen oder eine Falle stellen konnte. Er schien auch jetzt wieder unterwegs, trug die Büchse in der Hand, den leichten spanischen Packsattel und Zaum auf der Schulter, um sein Pferd draußen im Busch zu suchen, er hatte die wollene Decke übergeschnallt, um da zu lagern, wo ihn die Nacht gerade überraschen würde.

„Hört, Tom“, sagte aber Smith mit einem weit ernsthafteren Gesicht, als das sonst seine Sache war, und zog dabei den jungen Mann in den Laden herein. „Ihr seid doch mit Rowlands gut bekannt – nun, braucht nicht rot zu werden, mein Junge – hier, nehmt einmal einen Schluck, es ist Dogwood und Cherry Bitteres, und wird Euch in dem Tau heute Morgen guttun – das ganze Städtchen weiß ja doch, dass Ihr Rosy auf unmenschliche Art den Hof macht.“

„Unsinn, Smith!“, sagte Tom Fairfield und leerte, um seine Verlegenheit zu verbergen, das dargebotene Glas auf einen Zug.

„Bah, Mann!“, rief aber dieser. „Was wollt Ihr da noch leugnen? Aus bloßer Freundschaft versorgt Ihr nicht die ganze Wirtschaft mit Feuerholz und Wild; das sollt Ihr mir nicht weismachen.“

„Und wen hätten denn die alleinstehenden Frauen –“

„Ach, papperlapapp – das sind Redensarten und tun hier auch nichts zur Sache. Rosy ist ein liebes, gutes Mädchen, und Ihr seid ein hübscher junger Kerl, ein guter Jäger und – wenn es sein muss, auch ein guter Arbeiter; was sollte Euch also hindern, selber eine Wirtschaft anzufangen? Doch hier ist etwas, um das ich Euch fragen will – wollt Ihr Rowlands einen großen, einen sehr großen Dienst leisten?“

„Rowlands, was ist es, sprecht?“, rief Tom, augenscheinlich bestürzt über die Feierlichkeit des Mannes. „Steht es in meinen Kräften?“

„Das müsst Ihr selbst beurteilen“, sagte Smith und machte ihn nun in kurzen Worten mit dem bekannt, was er sowohl gestern Abend von den Indianern gehört, wie auch, was er selber über die Sache denke.

Fairfield hörte ihm schweigend und mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, er schien jedes Wort von den Lippen des Redenden zu nehmen und nickte nur manchmal, wenn der Händler irgendetwas äußerte, das seinen Ideen begegnete, leise mit dem Kopf.

„Und Ihr glaubt, dass Mrs. Rowlands Sohn unter den Konzas lebe?“, sagte er endlich, als der Händler schwieg, und sah diesen fragend an.

„Lieber Gott“, meinte Smith, „man weiß wahrhaftig nicht, was man glauben soll; lebt aber wirklich einer dort als Indianer, und die Rede des trunkenen Schufts lässt mich das in der Tat vermuten, ei, warum sollte es denn nicht ebenso gut der junge Rowland wie irgendwer anders sein können? Es käme auf die Reise an; die ist aber allerdings keine Kleinigkeit, und gerade ein Mann, wie Ihr seid, gehört dazu, ein so kühnes Wagnis auszuführen. Wie weit glaubt Ihr, dass es bis zum Stamm der Konzas ist?“

„Auf die Entfernung kommt es da nicht so an“, sagte sinnend der junge Jäger, „aber der Stamm der Konzas ist groß und weitverbreitet; die Indianer werden dabei, wenn sie es wirklich wissen, nicht so gesprächig über einen Fall sein, der sie vielleicht in gefährliche Berührung mit ihren weißen Nachbarn bringen könnte.“

„Wie alt wäre denn der Junge jetzt?“, fragte Smith.

„Fünfundzwanzig Jahre; Mrs. Rowland sprach noch gestern von ihm und sagte, sein Geburtstag sei an dem Tag gewesen; aber“, setzte er leiser hinzu, „sie dürfte keine Silbe davon erfahren, die Angst und Erwartung würde sie töten.“

„Das ist’s ja eben, was mir so im Kopf herumgegangen“, meinte Smith, „und deshalb war mir Euer Anblick heute so willkommen; die Freude aber, wenn Ihr mit ihm zurückkehrtet –“

Auch vor Toms innerem Geiste schien ein derartiges Bild vorüber zu schweben, er lächelte still vor sich hin und strich dann mit der Hand leicht über die Stirn. „Smith“, sagte er und bog sich zu ihm hinüber. „Ihr scheint Euch für die Leute zu interessieren, und das freut mich von Euch. Ihr wisst aber nicht, Ihr könnt das nicht gut wissen, wie glücklich mich die Erfüllung dieses heißen Seelenwunsches der armen alten Frau machen würde, und schon deshalb bin ich Euch zu unendlichem Dank verpflichtet, dass Ihr mir auch nur eine Aussicht auf die mögliche Verwirklichung dieser Hoffnung gebt. – Ich gehe zu den Konzas, und das noch in dieser Stunde!“

„Was! Jetzt gleich?“, rief Smith erstaunt. „Das ist ja aber gar nicht möglich! Zu einer Reise von wenigstens hundertzwanzig Meilen müsst Ihr Euch doch wahrhaftig mehr vorbereiten, als wenn Ihr bis an den nächsten Wasserkurs einen Bären oder Hirsch schießen geht!“

„Weshalb?“, lachte Tom. „Ob ich acht Tage hier in der Nähe oder irgendeine Strecke weiter entfernt lagere, bleibt sich das nicht gleich? Im Wald bin ich doch, und was sollt’ ich sonst zu meiner Bequemlichkeit noch mitnehmen?“

„Doch wenigstens Proviant.“

„Den liefert mir der Wald selber, meine Decke habe ich auch bei mir und mein Kopfkissen“, er deutete dabei lachend auf den Sattel. „Und was braucht’s da mehr.“

Kurz, trotz aller Vorstellungen des Händlers ließ sich Tom Fairfield nicht mehr von dem einmal beschlossenen Zug abbringen, und alles, wozu er bewogen werden konnte, war, wenigstens ein Stück Speck und Maisbrot und etwas gemahlenen Kaffee mit in seine Decke zu wickeln, und zwar den Speck, um etwas Fettes zu dem sonst trockenen Hirsch- und Truthahnfleisch zu haben.

Eine halbe Stunde später nahm er von dem Händler herzlichen Abschied, bat ihn noch einmal, nicht eine Silbe über die Sache, selbst nicht gegen seine Frau zu erwähnen (bei welchem Gedanken, dass er nämlich seiner Frau ein Geheimnis anvertrauen werde, Zacharias Smith in ein lautes Gelächter ausbrach), und war zehn Minuten später, auf dem kleinen Waldpfad rüstig dahinschreitend, gerade da in dem Holz verschwunden, wo ein niederes Dickicht von Sassafras und Dogwood ihn rasch den Blicken des Nachschauenden entzog.

Smith stand noch eine ganze Weile dicht neben seinem Hause, von wo er den freien Platz nach dem Wald zu übersehen konnte, und erst dann, als der junge Mann schon lange, lange in den Büschen verschwunden war und die freundlich hinter ihm über dem Wald aufsteigende Morgensonne seinen eigenen Schatten weit und geisterhaft über den Hof und im Zickzack über die Lattenfenz warf, kehrte er plötzlich rasch in den Laden zurück, öffnete die hintere Tür und rief in die Küche hinaus:

„Mrs. Smith!“

„Sir!“, lautete die Antwort.

„Wenn jemand nach mir fragen sollte, ich bin hinüber zu Cowleys gegangen.“

Und Zacharias Smith schritt, die Hände nachdenkend auf dem Rücken gekreuzt, langsam die Straße hinunter dem bezeichneten Hause zu.

„Hm“, sagte gleich darauf Mrs. Smith, und ihre scharfe, von der Kaminglut jetzt etwas echauffierte Nase wurde zwischen zwei ärgerlich blitzenden grauen Augen sichtbar.

„Hm – bin zu Cowleys gegangen – das ist immer so die Art: wenn jemand nach mir fragt, ich bin zu Cowleys gegangen, und die Frau geht nie zu Cowleys, die kann zu Hause sitzen und die Wirtschaft besorgen, und alle Augenblicke, wenn jemand kommt, in den Laden springen. Na, das Leben hätt’ ich satt!

Und was jetzt nun wieder im Wind ist – mein Mann heute Morgen vor Tagesanbruch aufgestanden – das ist vor seinem Ende – und diese Geheimniskrämerei mit der Mrs. Rowland! Oh, ich hab es wohl gehört, mein guter Mr. Smith!“ Und sie wandte sich in triumphierendem Hohn der Himmelsgegend zu, in der sie ihren Ehegatten jetzt vermutete.

„Mrs. Smith hat keine Baumwolle in den Ohren, wenn sie etwas hören will – Mrs. Rowland sprach von ihm und sagte – und der junge Rowland unter den Indianern – und Mr. Tom hingeschickt, ihn zu holen – oho, Mr. Smith, so ganz auf den Kopf sind wir denn doch nicht gefallen, dass wir uns da nicht unser Teil herausstudieren könnten.

Also haben sie den Jungen endlich gefunden – ein schöner Strick wird das geworden sein – und mein Mann steckt mit in der Geschichte drin – gibt sich so jetzt immer mit den ekelhaften Indianern ab – heiliger Gott, war das gestern Abend wieder ein Skandal und Flaschenzerschmeißen! Der fromme Vater Billygoat wird schön mit dem Kopf schütteln, wenn ich ihm das erzähle.

Und ich erfahre kein Wort von der ganzen Geschichte – oh, Gott bewahre! Seiner ihm ehelich angetrauten Frau sagt der saubere Herr kein Sterbenswörtchen, aber zu Cowleys geht er hinüber. Mr. Cowley und Mrs. Cowley, die müssen ihren Senf dazu geben, zu jeder Neuigkeit, und ihre Finger in jeden Kuchen stecken.

Aber warten Sie nur, Mr. Smith, warten Sie nur, my dear Sir! Der Sache komme ich auf den Grund, und wenn ich zu Mrs. Rowland selber hingehen sollte, mich zu erkundigen; tausendmal hab ich mir’s gefallen lassen, jetzt aber hat meine Geduld ein Ende, und nun will ich doch sehen, ob ich mit meinem Kopf nicht durch eine eben so dicke Wand durchdringen kann, wie Mr. Smith mit dem seinigen.“

Und mit diesem löblichen Vorsatz tauchte sie urplötzlich wieder in ihre Küche unter und ließ die blechernen Kaffeekannen und eisernen Pfannen und Töpfe, die rings an den Wänden herum hingen und standen, in unbegrenztem Erstaunen über die so schöne und mit solcher Lebhaftigkeit gehaltenen Rede allein zurück.

Wenn aber auch Mrs. Smith in der ersten Aufregung gekränkter Wissbegierde einen so verzweifelten Entschluss gefasst haben konnte, der Mrs. Rowland geradezu ins Haus zu rücken und eine Mitteilung von dem zu verlangen, ja zu fordern, was sie mit ihrem ehelich verbundenen Gatten an Geheimnissen zu verhandeln habe, so schien sie doch bei kälterem Blut auch gemäßigteren Empfindungen Raum zu geben, und versuchte erst einmal ihr Überredungstalent an dem Gatten selber.

Der aber blieb zwölf volle Tage taub und stumm sowohl gegen die Plänkeleien versteckter Anspielungen, wie gegen das schwere Geschütz direkter Fragen, und da auch in dieser ganzen Zeit Tom Fairfield sich nicht wieder in Boonville sehen ließ, ja hier und da schon Besorgnisse laut wurden, ob ihm nicht gar etwas zugestoßen sein könnte, kein Mensch aber Aufschluss über seine unerklärlich lange Abwesenheit zu geben wusste, so konnte sie ihre Neugierde nicht länger zähmen, und beschloss nun wirklich, Mrs. Rowland – sie war ihr das ja doch aus nachbarlichen Rücksichten schuldig – einmal freundlich zu besuchen. Sie fühlte sich dabei fest überzeugt, es würde ihr, einmal im Gleis, nichts weniger als schwer werden, einen kleinen Überblick über die näheren, jedenfalls höchst interessanten und jetzt so geheim gehaltenen Verhältnisse zu bekommen.

Der vierzehnte Tag nach dem Aufenthalt der beiden Indianer in Boonville war es und der erste im Monat September zugleich, der sich aber mit schwülen Gewitterwolken angekündigt hatte und die trüben, schweren Nebelmassen bald in zerrissenen grauen und schwarzen Streifen, bald in kompakten, wetterschwangeren Schichten über die ächzende, schwankende Waldung von Ost nach West stürmisch hinüberjagte.

Mrs. Rowland saß in ihrem Stübchen, warm eingehüllt in Polster und Tücher, auf einem rohgearbeiteten, aber bequemen Sorgenstuhl, denn der Wind strich heute trotz der sonst eigentlich sehr warmen Jahreszeit frisch und erkältend über die Lichtung hin, und die alte Frau hatte sich gerade in den letzten Tagen wieder unwohler gefühlt, als seit langer Zeit.

Zu ihren Füßen saß Rosy, das liebe, holde Kind, leise den linken Arm auf der Mutter Knie gestützt, und in der Rechte das kleine, zierlich gebundene Testament haltend, aus dem sie der mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen aufmerksam lauschenden Frau die herrlichen Worte der Bergpredigt, die süßen Trost und heilige Zuversicht atmende Rede Christi las.

Sie hatte eben ein Kapitel beendet, und eine Träne glänzte in ihrem Auge, als sie das Buch senkte und zu dem bleichen, abgezehrten, kummerschweren Angesicht ihrer Mutter emporschaute – leise berührte sie ihre Hand und flüsterte:

„Soll ich weiter lesen, Mutter?“

„Lass es jetzt, liebes Kind“, sagte die Matrone und legte schmeichelnd die abgezehrten Finger auf das gescheitelte Haar der Jungfrau. „Lass es, du hast dich schon zu viel angestrengt und auch noch andere Sachen zu tun, die ebenfalls getan sein müssen. Wie wär’s denn, wenn du einmal zu Cowley hinüber gingest und ihn bätest, uns seinen Neger auf ein halbes Stündchen zu schicken, dass er etwas Feuerholz zum Hause schaffte – nur ganz wenig – Tom kommt gewiss heute wieder.“

„Es ist Feuerholz in Menge da“, sagte Rosy schnell. „Ich ging, weil wir doch gestern Abend das letzte hereingeschafft, heute Morgen recht früh in den Wald und holte einen Armvoll, um die Suppe für dich zu kochen, und als ich wieder kam, hatte Mr. Cowley schon seinen Jim mit einer ganzen Wagenladung voll herübergesandt, und ging eben daran, es in Kaminlänge zu hauen. Er hat mir auch ein großes Rückenstück hereingetragen; du schliefst noch, Mütterchen.“

„Cowleys sind brave Leute“, flüsterte die Matrone. „Gott vergelte es ihnen! Es ist doch bös, wenn man so ganz allein in der Welt steht – keinen Sohn – keinen Freund –“

„Mutter!“, bat mit wurfsvollem Ton Rosy.

„Du hast recht, mein Kind, ich bin vielleicht ungerecht gegen Tom Fairfield gewesen, und – doch wenn auch er nun nicht wiederkehrt –wenn auch er nun –

Sei nicht böse, mein Kind“, unterbrach sie sich selber nach ziemlich langer Pause, „du weißt ja, wie trüb und traurig mir gerade an dem heutigen Tage zumute sein muss, dem Jahrestag jenes fürchterlichen Morgens – ich sehe da alles schwärzer, als es vielleicht wirklich ist, und begreife dann manchmal fast selber nicht, wie es möglich war, dass ich – ich – alte schwache Frau sie, die Kräftigen alle, alle überleben musste.

Oh, es ist recht hart, nicht sterben zu können, weil man nicht weiß, ob man nicht doch noch das Liebste – das eigene Kind – allein zurücklässt in der Welt. Es ist recht hart, nicht leben zu können, weil das arme Herz die Sehnsucht nach den Lieben, wenn sie wirklich schon vorangegangen, verzehrt.“

„Mutter!“, bat die Tochter, stand auf, barg ihr Antlitz auf der Schulter der Kranken und flüsterte mit leiser, von Tränen fast erstickter Stimme: „Wenn ich dir auch den Sohn nicht ersetzen kann, lieb habe ich dich ja doch wie meine eigene Mutter.“

Mrs. Rowland antwortete nichts, aber fest und liebend schlang sie die Arme um das blühende Kind und hielt es lange und fest an ihrem Herzen.

Da klopfte es ziemlich lebhaft an ihre Tür, und froh erschreckt und mit freudestrahlenden Augen sprang Rosy empor und eilte zu öffnen; auch Mrs. Rowland richtete sich etwas in ihrem Stuhl auf und schaute mit lebhafterem Blick dorthin, denn das Klopfen war ganz so, wie Tom Fairfield bei ihnen anzupochen pflegte – und wie lange, schmerzliche Tage hatte Rosy auf das Pochen umsonst und mit immer wachsenderer Angst und Sorge geharrt!

Rasch und mit vor Freude zitternder Hand zog sie den Pflock zurück, der, einfach von innen vorgesteckt, die Tür verschloss, und öffnete rasch – ein schmerzlich erstauntes „Ach!“ entfuhr aber ihren Lippen, und auch Mrs. Rowland wandte sich enttäuscht ab und sank wieder mit leisem Seufzer in ihre Kissen zurück, als das zwar gutmütige, aber doch scharfe und gerade heut gewiss nicht willkommene Angesicht der Mrs. Smith auf der Schwelle sichtbar wurde.

An ein Abweisen war aber gar nicht mehr zu denken – die Lady sah die Bresche kaum offen, als sie auch mit löblichem Eifer hereinstürmte, sich augenblicklich einen Stuhl neben Mrs. Rowland rückte, und dann zwischen tausend Entschuldigungen, dass sie hier so ohne alle Anmeldung hereinbreche, dass aber das Wetter sie gerade überrascht habe, weil es eben zu regnen anfange, und dass sie nach Cowleys eigentlich hinüber gewollt, sich aber die Freude unmöglich habe versagen können, diese Gelegenheit, wo sie gerade in der Nähe ist – sie wohnte überhaupt kaum fünfzehnhundert Schritt von Mrs. Rowland entfernt – einmal zu benutzen und zu sehen, wie es der „lieben, lieben Kranken“ denn eigentlich gehe.

Mrs. Rowland antwortete auf alles das mit leiser Stimme und bündigster Kürze; sie hoffte vielleicht dadurch, dass sie Mrs. Smith keinen Anlass zu einer Unterhaltung gab, den Besuch etwas abzukürzen.

War das aber wirklich ihre Absicht gewesen, so kannte sie Mrs. Smith ungemein schlecht oder traute ihr wenigstens viel mehr Ungeselligkeit zu, als sie wirklich besaß.

Die gute Dame fragte nur einmal, und zwar gleich im Anfang, ob sie geniere, und als sie darauf ein höfliches, wenn auch etwas zögerndes Nein zur Antwort erhalten, säumte sie auch keinen Augenblick länger, es sich so bequem wie möglich zu machen, legte ihre Haube und den großen baumwollenen Regenschirm ab, zog die Halbhandschuhe aus, nahm die kurze Schilfpfeife aus der Tasche, die sie schon gestopft – oder geladen, wie Mr. Smith manchmal sagte – bei sich trug, holte sich im Kamin eine glühende Kohle, und befand sich, wie sie selber sagte, als sie sich ganz behaglich auf dem Stuhl zurechtrückte, so wohl und vergnügt hier wie zu Hause.

Mrs. Rowland griff dieses ununterbrochene auf sie Einreden, selbst wenn sie nur wenig oder gar keine Antwort zu geben brauchte, auf die Länge der Zeit so an, dass sie endlich bleich und erschöpft in ihren Stuhl zurücksank und die Augen schloss. Selbst Mrs. Smith fühlte, dass sie der Kranken erst wieder einige Ruhe gönnen müsse, gedachte aber dafür indessen mit dem jungen Mädchen zu beginnen, um damit desto sicherer ihrem Ziel entgegenzurücken; denn gerade fragen mochte sie doch auch nicht.

„Es wird nun bald lebendiger hier im Hause werden“, sagte sie, als Rosy der Mutter die Kissen zurechtgerückt und ihren Platz wieder neben ihr, oder eigentlich zwischen ihr und der Kranken, um den Zungenschwall in etwas abzuwehren, eingenommen hatte. „Ja, wo so ein Mann ist, geht die Sache gleich anders.“

Rosy, das arme Kind, errötete bis tief in das Halstuch hinein, sah aber auch zu gleicher Zeit erstaunt zu der Geschwätzigen auf.

„Ih nun, Miss“, fuhr Madame – dadurch, dass sich das junge Mädchen ihrer Meinung nach gar zu gleichgültig stellte, etwas gereizt – fort. „Sie brauchen nicht so erschrecklich unschuldig zu tun, ich weiß die ganze Geschichte – bei mir ist’s aber auch aufgehoben, als ob’s im Grabe ruhte – von mir erfährt wahrhaftig niemand eine Sterbenssilbe.“

„Aber, beste Mrs. Smith –“

„Aber, beste Rosy Baywood – wenn Sie denn einmal selbst nicht gegen mich davon sprechen wollen, so habe ich nichts dagegen. Wie lange ist er denn aber nun schon eigentlich verloren?“

„Verloren? Also glauben auch Sie, dass er verloren ist?“, rief jetzt Rosy in der Angst um den geliebten Mann – denn auf diesen musste sie doch natürlich das Gesagte beziehen.

„Ist? Gewesen ist, beste Miss“, sagte Mrs. Smith lächelnd; „und das war ja noch das Glücklichste, was Sie sich hätten denken können. Aber nach so langer Zeit einen Menschen unter den entsetzlichen roten Wilden wiederzufinden, scheint mir doch wirklich etwas erschrecklich Merkwürdiges. Was ich doch sagen wollte: Wie lange ist es also her, dass ihn Mrs. Rowland verloren hat?“

„Mrs. Rowland?“, wiederholte, jetzt wieder ganz irregemacht, das junge Mädchen, und die alte Frau, ob nun durch Nennung ihres Namens aus ihrem Halbschlaf geweckt oder schon längst vielleicht den Worten mit geschlossenen Augen lauschend, wendete leise den Kopf nach der Redenden und schaute zu ihr auf. „Mrs. Rowland? Ich weiß gar nicht –“

„Nun, einige zwanzig Jahre muss es doch gewiss sein“, fuhr die unverwüstliche Mrs. Smith, der es jetzt nur darum zu tun schien, die beiden Frauen wissen zu lassen, sie kenne die ganzen Verhältnisse genau und sei vollkommen vertraut mit denselben, ruhig fort. „Ich weiß mich noch recht gut zu erinnern, wie mein Seliger, John Rosbeard von Connecticut, der auch damals hier eine Bleimine angelegt oder gefunden hatte, davon sprach. Aber wenn sie ihn nur vorher erst abwaschen, ehe sie ihn mit hereinbringen.

Jesus, meine Zuversicht! So ein gemalter Mensch ist doch was Fürchterliches, wenn er blaue Backen, eine gelbe Nase, rote Ohren und grüne Lippen hat – und die Skalpe! Denken Sie sich, wie mir einmal mein Seliger das Skalpieren beschrieb und seinen Skalp, der ihm doch noch ganz fest und gesund auf dem Kopf saß, mir zeigte, fiel ich Ihnen wahrhaftig um wie ein Stück Holz, so ohnmächtig wurde ich – wenn sie nur nicht skalpieren wollten! Das andere ließe man sich noch immer gefallen, aber das Skalpieren ist fürchterlich.“

„Mrs. Smith!“, rief da plötzlich Mrs. Rowland, von ihrem Stuhl in Angst und peinlicher Überraschung emporfahrend, denn der Dame Reden, die so ganz zu dem stimmten, über das sie ja den ganzen tränenlangen Tag getrauert, trieben ihr das Blut in rasender Schnelle durch die Adern und machten ihr Herz fast hörbar klopfen.

„Mutter“, bat Rosy, die bestürzt der Leidenden erregten Zustand erkannte und rasch auf sie zusprang, um sie zu beruhigen, „Mutter, es ist nur ein Missverständnis!“

„Gott bewahre, Mrs. Rowland“, fiel da rasch die Dame ein. „Ich glaubte ja gar nicht, dass Sie es hören würden; nein, ans Skalpieren wird er nicht mehr denken, wenn er das auch früher getan hat, denn das lassen die schrecklichen Menschen nun einmal nicht – es sind ihre Siegestrophäen, wie sie’s nennen – aber Mr. Billygoat wird ihn schon lehren, was guter und echter Christen Pflicht ist – nein, es ist doch ein herrlicher Mann, dieser Mr. Billygoat.“

„Mrs. Smith“, sagte die Kranke leise, und die Hand, die Rosy zurückschob, zitterte wie in Fieberfrost, „wer wird nicht mehr ans Skalpieren denken? Wer trägt die Farben und Abzeichen der Wilden – wer – großer Gott, die ganze Stube dreht sich mit mir – wer war verloren – zwanzig Jahre – und ist und ist wieder gefunden?“

„Aber, liebe Mrs. Rowland“, lächelte gutmütig die würdige Kaufmannsfrau, „was tun Sie nur gegen mich so geheimnisvoll? Ich weiß ja die ganze Geschichte – ist denn nicht jetzt eben Tom Fairfield fortgeritten, um ihn zu holen? Ich weiß nur noch nicht bei welchem Stamm er ist, denn den Namen konnte ich nicht recht verstehen; wenn Sie’s aber nicht wünschen, will ich ja auch wahrhaftig mit keinem Menschen ein Wort darüber wechseln.“

„Tom Fairfield fort, ihn zu holen – bei welchem Stamm?“, wiederholte die alte Frau mit zitternder, halblauter Stimme und presste sich die Stirn zwischen die eisigen Hände. „Heiliger Gott! Träume ich denn, oder bin ich wahnsinnig geworden in Kummer und Gram?“

„Nein, ist mir so eine Frau schon vorgekommen!“, sagte Mrs. Smith kopfschüttelnd, aber jetzt doch auch durch die Aufregung der Kranken etwas besorgt gemacht.

Rosy schrak empor – eine Ahnung dessen, was geschehen, was vielleicht im Werke sein konnte, zuckte ihr durch den Sinn, und einen Blick auf die unglückliche, alte Frau werfend, winkte sie ängstlich Mrs. Smith zu und bat sie durch Zeichen, kein Wort weiter von dem Begonnenen, was es auch sei, zu erwähnen.

Aber es war zu spät; ehe des Händlers Frau verstand, was sie sollte, oder ehe sich Rosy zu ihr neigen konnte, sie mit Worten darum zu bitten, hob Mrs. Rowland wieder den Kopf, und ihr Auge begegnete in demselben Moment dem ängstlich und bittend auf die Schwatzhafte gerichteten Blick der Pflegetochter.

Rasch begriff sie deren Meinung und wurde dadurch nur noch mehr in der peinlichen Gewissheit dessen bestärkt, was sie nicht einmal auszusprechen wagte, weil sie selbst dadurch schon den Zauber zu zerstören fürchtete, der ihr jetzt wie in einem süßen, wenn auch ängstlichen Traum die Sinne förmlich gefesselt hielt. Wie aber der Wahnsinnige schlau die Wachsamkeit seines Wächters zu täuschen weiß, so benutzte auch die Kranke mit fast konvulsivischer Hast die Gelegenheit, um der geschwätzigen Frau das Geheimnis, das für sie Tod oder Leben enthielt, abzulocken.

„Sie haben recht, Mrs. Smith“, sagte sie und versuchte dabei, mit der Qual im Herzen zu lächeln; „wir brauchen Ihnen nichts, gar nichts mehr zu verheimlichen.“

„Sehen Sie, beste Mrs. Rowland“, rief die Dame, jetzt völlig beruhigt, in triumphierender Freude aus, „das habe ich Ihnen ja auch gleich von Anfang an gesagt; aber mein Mann –“

„Und Tom Fairfield – ist ausgegangen – ihn – ihn zu holen – hierher nach Boonville zu holen.“

„Liebe, beste Mutter“, bat Rosy in ihrer Herzensangst, denn sie fürchtete nicht mit Unrecht die bösen Folgen, die solche Aufregung für die Kranken haben musste.

„Lass nur, mein Kind – lass nur“, beruhigte sie aber die Leidende, „mir ist jetzt vollkommen wohl – recht wohl, Rosy – und Tom Fairfield, Madame –“

„Nun, der kann doch wahrhaftig nicht lange mehr bleiben; aber – nicht wahr – er soll ihn mitbringen?“

„Ihn? Ja – ja – wohl – nicht mehr – Sie – Sie meinen doch –“

„Nun, Ihren Sohn!“

„Ha!“, schrie die alte Frau mit einem Laut, der den beiden durch Mark und Seele schnitt – Rosy warf sich augenblicklich über die zusammenbrechende Gestalt und rief nur noch mit vorwurfsvoller Stimme: „Oh, Mrs. Smith, was haben Sie getan, Sie haben sie getötet!“

Und diese würdige Dame stand im Anfang selbst zum Tod erschrocken, denn noch begriff sie den ganzen Zusammenhang nicht, und nur der Gedanke begann allmählich in ihr zu dämmern, dass sie doch wohl am Ende einen gewaltig dummen Streich gemacht und sich selbst in eine äußerst fatale Sache hineingearbeitet habe.

Hierin wurde sie auch bald durch Rosys Erklärung bestätigt, und als sie erfuhr, dass sie beide die Ursache von Tom Fairfields Abwesenheit gar nicht gewusst und über den Zweck seiner Sendung keine Ahnung gehabt, war sie außer sich. Sonst von Herzen seelengut und gewiss die Letzte, die irgendeiner ihrer Nachbarinnen – und nun noch besonders der wackern, unglücklichen, kranken alten Frau mit Willen weh getan hätte, wurde ihr der Gedanke unerträglich, durch ihre Schwatzhaftigkeit, die sie jetzt gar nicht genug verwünschen konnte, solches Unheil angerichtet zu haben.

Sie wich nun auch nicht von Mrs. Rowlands Seite, tat alles, was in ihren Kräften stand, um Rosy die Pflege zu erleichtern, und beruhigte sich nicht eher, als bis sie sah, dass sich die Ohnmächtige wieder erholt hatte und, aus Erschöpfung wahrscheinlich, in einen tiefen, gesunden Schlaf gefallen war.

Wunderbar war die Veränderung, die, nachdem sie sich wieder erholt, mit ihr vorgegangen schien. Rosy hatte schon von der Erinnerung an das Gehörte das Schlimmste befürchtet und deshalb auch mit klopfendem Herzen der Mutter Erwachen beobachtet – dem aber gerade entgegengesetzt, zeigte sich die Kranke vollkommen ruhig und hatte nicht etwa das Geschehene vergessen, sondern fing selbst wieder zuerst davon an, indem sie fragte, ob Tom mit ihm noch nicht zurückgekommen sei.

Rosy wollte ihr jetzt das Ganze noch ausreden und meinte, es seien ja doch nur Vermutungen der Frau – einzelne Worte, welche sie hinter der Tür erhorcht und die wahrscheinlich etwas ganz anderes bedeutet hätten.

Mrs. Rowland bat sie aber ruhig, ihr nicht durch solche freilich gutgemeinten Reden nur weh zu tun, indem sie ihr die einzige Hoffnung zu rauben suche, an der ihr Herz jetzt noch auf dieser Welt bange und mit deren Zerstörung es ebenfalls, wie sie das recht gut fühle, zugrunde gehen müsse.

Sie war dabei so gefasst, sprach so vernünftig über das Selige und Schmerzliche des ersten Begegnens, dass es Rosy, dem armen Kind, ordentlich unheimlich vorkam, und sie den Gedanken nicht los werden konnte, der Zustand der Kranken sei ein übernatürlich erregter, und ihr Körper werde jetzt nur auf kurze Zeit von dem stärkeren Geist aufrecht gehalten.

Wie dem aber auch war, Mrs. Rowland blieb den ganzen Tag so still und gefasst, erkundigte sich mehrere Male, ob sie denn noch nicht gekommen seien, und ließ es sich von Rosy fest versprechen, ihr nun, da das doch nichts mehr helfen könne, auch die Ankunft der beiden nicht zu verheimlichen – nur den Namen vermied sie zu nennen – das Wort Sohn war noch nicht über ihre Lippen gekommen.

So mochte es fünf Uhr nachmittags geworden sein. Mrs. Smith hatte schon mehrere Male nachgefragt, wie es der Kranken gehe, und sich eben wieder, wohl zum zwanzigsten Mal, über ihr ungeschicktes Benehmen am Morgen entschuldigt, als es wieder an die Tür klopfte und Mrs. Rowland mit einem kaum unterdrückten Schrei in ihrem Stuhl emporfuhr, denn als sich die nur angelehnte Tür öffnete, trat Tom Fairfield herein, aber – allein.

Rosy erschrak ebenfalls; ehe aber sie oder Tom ein Wort sprechen konnten, streckte ihm Mrs. Rowland mit stierem, entsetztem Blick den Arm entgegen, und rief mit vor innerer Bewegung kaum hörbarer Stimme: „Wo ist er?“

„Um Gott!“, sagte Tom erschreckt und sah Rosy an. „Woher weiß Ihre Mutter?“

„Wo ist er? Tom, wenn Ihr mich töten wollt, so zögert mit der Antwort.“

„Sie weiß alles“, bestätigte Rosy unter Tränen, und Tom, der bald fand, dass es aller der von ihm für nötig gehaltenen Vorbereitungen gar nicht mehr bedürfe, beruhigte, wenn er auch nicht begriff, durch wen sie es erfahren haben konnte, die Frau nun wenigstens vor allen Dingen insoweit, dass er ihr versicherte, er habe ihren Sohn gefunden und mitgebracht, und er sei wohl und gesund, sie aber solle sich heut Abend sammeln und vorbereiten, dass er ihr denselben morgen Früh herüberbringen könne.

Davon wollte die Mutter aber nichts länger hören. „Morgen? Weshalb nicht heute? Jetzt? War sie jetzt weniger gesammelt, als sie es morgen sein würde? Sicherlich nicht – die lange Nacht der Erwartung würde ihre Kräfte nur abspannen, und jetzt, jetzt wollte sie den so lange Jahre beweinten Knaben sehen – nicht morgen.“

Vorstellungen halfen nichts, und da auch Tom selber fühlen mochte, wie recht sie unter diesen Umständen habe, versprach er, ihr den Sohn in einer halben Stunde zu bringen, und bat sie nur, dann hübsch ruhig und gefasst zu sein und sich nicht, damit ihr das nicht schade, zu sehr von ihrem mütterlichen Gefühl hinreißen zu lassen.

Indessen war Mr. Smith daheim schon emsig beschäftigt, aus dem bei ihm eingeführten Wilden, der sich nach mehreren von Mrs. Rowland schon früher und oft bezeichneten Merkmalen wirklich als der verlorengegangene Sohn herausstellte, wieder einen anständigen weißen Menschen zu machen.

Vor allen Dingen wurde ihm die bunte Farbe abgewaschen, mit der er sein Angesicht noch viel mehr als die Indianer selber bestrichen hatte, um die weißere Haut nicht durchschimmern zu lassen; dann musste er zu seinem anscheinenden Leidwesen allen Schmuck ablegen, mit dem er sich behängt – besonders alles beseitigen, was an Skalpe und andere dem ähnliche Entsetzlichkeiten erinnerte, und zuletzt noch – und er stellte sich ungeschickt genug dabei an – in „menschliche Hosen“, wie sie Smith nannte, und nicht in solch oben abgeschnittene Dinger, die gerade da aufhörten, wo anständige Hosen erst recht anfangen sollten, hineinfahren. Auch Weste und Rock, Hemd und Schuhe bekam er nun.

Wenn er aber auch mit allem so ziemlich einverstanden schien, oder es wenigstens ohne Widerstand über sich ergehen ließ, so warf er doch die Letzteren augenblicklich wieder ab, weil sie ihn drückten und er die Füße darin nicht vom Boden heben konnte, und verschmähte auch auf das Hartnäckigste den schönen schwarzen Seidenhut, den ihm Smith schon mit wirklichem Behagen auf das zottig dunkelbraune Haar gedrückt hatte. Jeder Überredung hielt er standhafte Weigerung entgegen, und es blieb zuletzt nichts übrig, als ihn mit bloßem Kopf und barfuß seiner Mutter zuzuführen.

Das Wort Mutter war aber auch der einzige Zauberspruch, der ihn aus seinem wilden, freien Leben hierher geführt hatte in das „Dorf der Weißen“ – Mutter, der Klang tönte ihm wie eine in der Kindheit gehörte und lange vergessene Harmonie leise, aber mit solcher süßen Gewalt durch die Seele, dass er alle seine Herzensfibern erbeben fühlte und nicht zurückbleiben konnte – dem Himmelslaute folgen musste.

Und jetzt stand er vor der Tür, die ihm die weißen Männer an seiner Seite bezeichnet, und scheu wandte er nach rechts und links den Kopf, als ob er dem Augenblick, den er mit klopfendem Herzen herbeigesehnt, nun, da er endlich erschienen, rasch und ängstlich entfliehen wolle.

Krampfhaft und wie Hilfe suchend erfasste er den Arm Toms, der dicht an seiner Seite ging, und er schämte sich, dass ihn das „Bleichgesicht“ in solcher Aufregung sehen sollte.

„Ugh – wie mich friert“, flüsterte er leise und zog sich den Rock vorn, wie er das früher mit seiner Decke gewohnt gewesen, fest über der Brust zusammen.

Und drinnen im Hause saß, mit vor innerer Aufregung frisch geröteten Wangen und lebendigen, glänzenden Augen, die Matrone und hielt der Tochter Hand fest in der ihrigen, dass diese sie jetzt, nur jetzt nicht verlasse; denn draußen hörte sie Schritte – Stimmen, und in atemloser Spannung lauschte sie den Tönen, ob sie – heiliger Gott, wie ihr das Herz pochte! – die Stimmen des Kindes – des Sohnes nicht zu unterscheiden vermöge.

Und jetzt – jetzt öffnete sich die Tür, in die mit höflicher, freundlicher Verbeugung der Händler trat, und hinter ihm – Mrs. Rowland sah die freie männliche Stirn Tom Fairfields und – an seiner Seite – einen braunen, unbedeckten Kopf – sie richtete sich in ihrem Stuhl auf – alle Schwäche der Krankheit hatte sie verlassen, stark und allein stand sie, von niemand gehalten, von niemand unterstützt.

„Meine gute Mrs. Rowland“, sagte Smith; aber die Mutter sah nicht den Fremden, der sich zwischen sie und ihr Kind stellte.

„Mein Sohn – mein Sohn!“, rief sie; die Arme streckte sie sehnend, hütend nach den Männern aus, und jetzt – jetzt vermochte auch der Halbwilde nicht länger zu schweigen – er riss sich von Tom, der ihn noch zurückhalten wollte, los, schob den Händler beiseite, und flog mit raschem Sprung und dem leise – jubelnd gerufenen Laut: „Mutter!“ in die Arme der alten Frau.

Fest, fest hielt ihn diese umklammert, fest, als ob sie ihn im Leben nicht wieder loslassen wollte; aber ihre Kräfte schwanden auch in der einen Empfindung seligen Entzückens, und nur noch durch die Arme des Sohnes fühlte sie sich gestützt, gehoben.

„Mein Sohn, mein Kind!“, rief sie schmeichelnd, als er sie endlich leise auf den Stuhl zurückgleiten ließ und, halb unwillkürlich, halb von ihr gezogen, vor ihr auf die Knie niedersank. „Mein liebes, liebes Kind! Und doch endlich den Verlorenen wiedergefunden – doch jahrelange Sorge und Schmerzen noch belohnt bekommen, ehe das flüchtige Leben den alten schwachen Körper verließ – mein teures, teures Kind!“

John blieb lange und schweigend in ihrer Umarmung, und es war fast, als ob er sich schäme, von den „weißen“ Männern so schwach und weibisch gesehen zu werden – wenigstens warf er den Blick, als er endlich den Kopf erhob, scheu im Zimmer umher – aber er war allein mit der Mutter. Alle hatten das Zimmer verlassen, selbst Mrs. Smith, die jetzt, da ihre Voreiligkeit weiter keine bösen Folgen gehabt, wieder guten Mutes hergekommen war, um dem Wiedersehen beizuwohnen; sie wurde aber, sehr wider ihren Wunsch und Willen, von Mr. Smith freundlicher, als das sonst gewöhnlich geschah, unter den Arm gefasst und zur Tür hinaus begleitet.

Mutter und Sohn blieben lange allein. Dieser hatte bald auch die letzte Scheu überwunden und saß jetzt neben der Mutter, streichelte ihre Hand und nannte sie in seinem gebrochenen Englisch mit den süßesten, sanftesten Namen, die er finden konnte. Erst wohl nach Verlauf einer halben Stunde, und als sie sich beide vollkommen gesammelt hatten, traten die Übrigen wieder ein, und Tom musste jetzt vor allen Dingen erzählen, wie er den Verlorenen gefunden und ihn bewogen habe, mitzukommen. Er tat das, wenn auch nur in sehr kurzen Worten und Umrissen.

Den Stamm der Konzas hatte er am vierten Tage nach seiner Abreise von Boonville schon erreicht und dort augenblicklich seine Nachforschungen begonnen, aber eine bestimmte Antwort konnte er weder von den Kriegern noch vorn Häuptling erhalten – teils stellten sich alle, an die er sich wandte, als ob sie seine Sprache nicht verstehen könnten, teils leugneten sie, irgendetwas von einem Weißen in ihrer Nation zu wissen.

Aber gerade dieses Leugnen bestärkte den Amerikaner nur mehr und mehr in dem Glauben, dass diese nicht die Wahrheit sprächen; denn einige sahen ihn erstaunt an, als ob sie nicht begreifen könnten, wie er das erfahren hätte, andere wurden verlegen und sagten, sie wüssten es nicht genau, sie glaubten, es sei einmal früher einer bei ihnen gewesen – bis er endlich einen Halbindianer, einen kanadischen Franzosen traf, der ihn rasch auf die richtige Spur brachte.

Noch an dem nämlichen Abend führte er ihn in das Dorf, wo sich der „Weiße Hirsch“, wie sie ihn nannten, aufhielt, und wenn dieser auch im Anfang gar keinen Verkehr mit dem „Bleichgesicht“ haben wollte, ja sich sogar hartnäckig weigerte, ein Wort Englisch mit ihm zu sprechen, so ließ er sich doch zuletzt wenigstens willig von dem Dorf der Weißen erzählen, und fing sogar an, aufmerksam den Worten des Fremden zu lauschen, als dieser ihm von der Mutter sagte, die daheim in Sorge und Kummer so lange Jahre sehnsüchtig seiner geharrt und auf das Wiedersehen ihres Kindes gehofft habe.

Besonders und ordentlich auffällig erschütterte ihn aber Toms Rede, als dieser – wie sich der Verwilderte immer noch nicht bewegen ließ, ihm zu folgen – endlich ausrief: „Und so will denn der Weiße Hirsch, dass seine kranke, alte Mutter daheim allein dem Grabe zusiecht und keinen Sohn hat, der ihren Wigwam deckt – ihr Wild jagt und das Erlegte bereitet, sie zu stärken? Sollen Fremde ihr Grab graben, dass nicht Wolf und Aasgeier ihre Gebeine entheiligen?“

„Ugh!“, hatte er da ausgerufen. „Weißer Mann hat recht – Weißer Hirsch böser Sohn“, und in die Höhe sprang er und eilte hinaus in den Wald.

Tom Fairfield war aber nicht wenig bestürzt, als der „Weiße Hirsch“ am nächsten Morgen verschwunden und auch nirgends aufzufinden war; Hütte bei Hütte durchforschte er nach ihm, und manch zorniges Wort, manche finstere Drohung ertrug er, wenn er vielleicht den Wigwam eines den Bleichgesichtern feindlich gesinnten Kriegers betreten hatte.

Schon wollte er die Hoffnung, den Entflohenen für jetzt wiederzufinden, als ganz trostlos aufgehen und eben sein Pferd besteigen, um nach dem Nachbardorf, wo der Kanadier seinen Wigwam aufgeschlagen, zurückzukehren, als plötzlich der Verschwundene, völlig gerüstet wie zu einem Schlacht- oder Kriegszug, auf seinem rauhaarigen Pony angesprengt kam und sich erbot, ihn zu begleiten.

Allerdings wollten sich dem jetzt einige des Stammes widersetzen und nicht dulden, dass der, welcher einer der Ihrigen geworden, auf solche Art ihnen wieder entführt werde.

Der „Weiße Hirsch“ schien aber nicht leicht durch irgendeine Drohung eingeschüchtert; mit kräftig trotzigen Worten wies er die Unzufriedenen zurück, und seine Kriegskeule in der Rechten, in der Linken die Büchse, und das Pferd nur mit den Schenkeln regierend, sprengte er unerschrocken durch die Schar, die ihm auch wirklich Raum gab und keinen tätlichen Versuch machte, ihn oder seinen Begleiter zurückzuhalten.

So kamen sie nach Boonville, und John Rowland bog sich liebkosend über der Mutter Hand hinüber, als ihn diese bat und ihm das Versprechen abnahm, sie die wenigen Tage, die sie noch auf dieser Erde zu leben habe, nie – nie wieder zu verlassen.

Ein voller Monat verging so, ohne dass in Boonville irgendetwas Wichtiges vorgefallen wäre. Wenn aber auch die Matrone in dem Glück, ihr Kind wiedergefunden zu haben, die ersten Wochen wie neugeboren und Schwäche und Krankheit gänzlich zu vergessen schien, so kehrte doch bald die natürliche Erschöpfung zurück, die solcher Aufregung auch selbst bei gesundem Zustand hätte folgen müssen, und sie wurde von Tag zu Tag schwächer und hinfälliger.