Ausgeliebt - Dora Heldt - E-Book + Hörbuch

Ausgeliebt Hörbuch

Dora Heldt

4,4

Beschreibung

Mann weg, Liebe weg, Leben futsch? Wenn man nach zehn Jahren Ehe von seinem Mann per Telefon verlassen wird, dann ist das ein Schock. Zum Glück sind Schwester und Freundinnen gleich zur Stelle und verordnen der viel reisenden Verlagsvertreterin Christine als Erstes den Umzug nach Hamburg. Dort angekommen, geht's dann richtig los – und allmählich begreift Christine, dass das Leben als 40-jährige Singlefrau gar nicht so schlecht ist! Ein beschwingter, Mut machender Frauenroman über einen Neuanfang, bei dem viel mehr herauskommt als nur die Bewältigung einer unfreiwilligen Lebenskrise. »Witziger ›Ich lass mich nicht unterkriegen‹-Roman, hilft gegen Frust jeder Art.« Für Sie »Lachtränen garantiert!« Die Neue Frau

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Zeit:3 Std. 17 min

Sprecher:Dora Heldt
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Dora Heldt

Ausgeliebt

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Anne, Andrea L., Andrea R., Kerstin

und meine Schwester Birgit.

Ohne Frauen wie euch wäre das Leben anstrengender.

Der Anruf

Als Hugh Grant in den Wagen sprang, um im letzten Moment die Liebe seines Lebens am Flughafen abzufangen, klingelte das Telefon.

Meine Schwester und ich zuckten zusammen.

»Ach, nee, zehn Minuten vor dem Happyend.«

Ines drückte auf die Stopptaste der Fernbedienung, stand auf und nahm den Hörer ab.

Ich beobachtete das Standbild, den verzweifelt verliebten Hugh Grant.

»Für dich. Dein Mann hat wohl Sehnsucht.«

»Blödsinn, ich bin erst heute Morgen losgefahren.«

Wir lebten auf dem Land, ungefähr 150 Kilometer von Hamburg entfernt. Nordseeküste, dicht am Meer, aber auch am Ende der Welt. Es war schön dort. Bernd stammte aus dem Dorf, für meinen Job war es allerdings ein schlechter Standort. Ich besuchte im Außendienst Kunden in Hamburg und Niedersachsen, musste häufig auswärts übernachten. Wenn ich Termine in Hamburg hatte, wohnte ich bei meiner Schwester. Heute war der erste Tag, wir hatten einen faulen Mädchenabend geplant, ›Notting Hill‹ und kalter Weißwein.

Mein Mann war kein Mensch der Sehnsüchte, auch wenn ich oft hoffte, das könnte sich noch ändern.

Ich nahm Ines den Hörer aus der Hand.

»Na, Bernd, was habe ich vergessen? Oder kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen? Dann ist nämlich der Film zu Ende.«

»Ich muß mit dir reden.«

Es war etwas in seiner Stimme, das mich dazu brachte, den Platz neben meiner Schwester zu verlassen und mit dem Telefon in ihr Büro zu gehen.

»Worüber?«

Bernd räusperte sich und schwieg. Ich auch.

Wir waren fast zehn Jahre verheiratet. In den letzten vier Jahren hatte sich etwas zwischen uns verändert. Ich verdrängte meistens die Gedanken daran, hoffte, es würde auch wieder besser.

Bernd war kein Mann, der gern über Gefühle sprach, eigentlich lehnte er dieses Thema sogar ab. Also hatte ich mich damit abgefunden, Teil eines guten Teams zu sein, nach zehn Jahren konnte man auch keine großen Gefühle oder leidenschaftlichen Sex mehr erwarten.

Das Schweigen wurde von einem weiteren Räuspern unterbrochen.

Ich hielt es nicht mehr aus.

»Ist etwas passiert?«

»Ja, nein, ich meine, ich habe nachgedacht.«

Mir kam es so vor, als wäre er angetrunken.

»Und worüber?«

»Ich, ähm, also, Christine, ich will mich von dir trennen.«

Der Blitz schlug ein. Mir wurde schlecht, ich spürte meinen rasenden Herzschlag und ich begann zu zittern.

Ich hatte das Gefühl, mir blieb keine Zeit.

»Hast du was getrunken? Was ist denn passiert? Ist was mit dir? Heute morgen war doch noch alles in Ordnung. Was soll das denn alles heißen? Bernd, sag doch was!«

Meine Stimme wurde schrill.

Bernd räusperte sich und schwieg.

Ich verstand nichts von dem, was hier gerade passierte. Das Wochenende war wie immer gewesen. Samstags hatten wir bei unseren Nachbarn eine Party gefeiert, es war nett, alle hatten gute Laune. Bernd ging schon relativ früh nach Hause, sagte mir, ich solle ruhig noch bleiben, er hätte nur schon zu viel Wein getrunken und wäre müde.

Als ich später zurückkam, lag er im Bett und schlief.

Der Sonntag war wie unzählige Sonntage zuvor. Frühstück, danach arbeitete ich am Schreibtisch, Bernd reparierte irgendetwas in der Garage, mittags kurz zu seinen Eltern, der Nachmittag verging mit Lesen, Kaffee, Fernsehen, Bügeln. Abends packte ich meine Tasche für die kommende Woche, alles ganz normal.

Und jetzt, vierundzwanzig Stunden später, das.

»Bernd, bitte, du kannst mich doch nicht einfach bei Ines anrufen und mir so was um die Ohren hauen.«

»Es ist nur so, dass mir alles zu viel wird, das Haus, mein Job, unsere Ehe. Das Leben ist so kurz.«

Ich begriff nicht.

»Wieso das Haus? Dann müssen wir sehen, ob wir was ändern können. Das kriegen wir doch zusammen hin.«

»Darum geht es doch nicht. Ich will einfach nicht mehr mit dir leben.«

Mir war unglaublich schlecht.

»Aber da müssen wir doch drüber reden, das geht doch nicht am Telefon.«

»Wann bist du denn wieder hier?«

Mein Reiseplan, auf dem alle meine Außendiensttermine standen, hing seit Jahren in der Küche. Bernd wusste trotzdem nie, wo ich wann war.

»Ich verschiebe meine Termine irgendwie. Ich komme morgen Abend nach Hause.«

»Gut, dann reden wir. Das ändert aber nichts an meinem Entschluss.«

In diesem Moment begriff ich, dass er es wirklich alles so meinte und was hier passierte. Mein ganzer Körper fühlte sich fremd an.

»Bis morgen.«

Er hatte schon aufgelegt.

Ich drückte den roten Knopf und legte das Telefon vorsichtig auf den Schreibtisch.

Dann ging ich langsam ins Wohnzimmer.

»Na endlich. Das hätte ja auch bis nach dem Happyend warten können.«

Ines legte ihr Buch weg, griff zur Fernbedienung, dann sah sie mich an.

»Um Gottes willen, Christine, was ist denn passiert?«

Ich starrte auf den verzweifelt verliebten Hugh Grant, dann in Ines’ besorgtes Gesicht.

»Bernd will sich von mir trennen. Das Leben sei zu kurz.«

Und dann kamen die Tränen. Und dieser brutale Schmerz.

Der Plan

Drei Stunden später hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich wieder zusammenhängende Sätze sagen konnte.

Ines war gelernte Kinderkrankenschwester, sie konnte mit hysterischen Kleinkindern umgehen, das funktionierte anscheinend auch bei älteren Schwestern. Um sicherzugehen, verabreichte sie mir zusätzlich Tee mit Rum.

Ich hatte ihr von den letzten Jahren meiner Ehe erzählt.

Bernds Gleichgültigkeit, seine zunehmende Unzuverlässigkeit, meine Unzufriedenheit, sein Abblocken aller Gespräche, sein ewiges Stöhnen über den Stress in seinem Job, alles war festgefahren.

Es gab keine Streitereien, wir hatten bei all dem einen netten Umgang miteinander, ich durfte mich nur nicht über etwas beschweren.

Ich redete und heulte und redete.

Und schließlich die verletzende Tatsache, dass Bernd nur noch mit mir schlief, wenn er angetrunken war.

Ines hörte sich das alles konzentriert an, reichte mir Taschentücher, angezündete Zigaretten, schenkte Tee und Rum nach und ließ mich reden.

Völlig erschöpft und etwas angetrunken musste ich eine Pause machen.

»Für mich hört sich das alles nach einer anderen Frau an.«

Ich zuckte zusammen, schüttelte aber den Kopf.

Bernd war mittlerweile so bequem und leidenschaftslos, dass ich ihm eine solche Anstrengung nicht zutraute.

»Das hätte ich gemerkt.«

 

»Wenn du das hättest merken wollen. Ich kann mir aber überhaupt nicht vorstellen, dass dein lethargischer und unorganisierter Gatte, der zudem zum großen Teil noch von deinem Geld lebt, es vorzieht, lieber ohne dich als mit dir zu leben. Außerdem konnte er doch sowieso immer machen, was er wollte. Rücksicht hat er doch noch nie genommen. Du hast doch nie was gesagt, was hätte der denn für Vorteile? Mir fallen keine ein. Ganz im Gegenteil.«

Ich hatte das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen. Mir fiel nichts ein.

Ines nahm die Hand von meiner Schulter und setzte sich gerade hin.

Sie gehört zu den Menschen, die zutiefst davon überzeugt sind, dass alle Krisen und Probleme am einfachsten mit Hilfe von Listen und Tabellen zu lösen sind.

Gedanken, Vorsätze und Ideen schriftlich fixieren und nacheinander abarbeiten.

»Jetzt versuch mal klar zu denken. Was passiert bei diesem Gespräch morgen Abend?«

Sie hatte bereits einen Kugelschreiber in der Hand.

»Willst du um deine Ehe kämpfen?«

Mittlerweile lag auch der Block auf dem Tisch.

»Was soll ich denn machen, wenn mir jemand sagt, dass er nicht mehr mit mir leben will? Ihn versuchen zu überzeugen, dass ich doch gar nicht so übel bin? Nach zehn Jahren?«

Ines strich das Wort »Weiter« auf dem Block durch.

»Gut. Also neu.«

Sie unterstrich das schon geschriebene Wort. Dann begann sie mit der Nummerierung.

»Wo willst du hin?«

»Ich ziehe nach Hamburg.«

»Bist du sicher?«

Ines schrieb »Umzug Hamburg« neben Punkt eins.

»Ich kann nicht allein in diesem Haus in diesem Kaff leben. Das ging mit Bernd und ihm zuliebe, was soll ich denn da alleine, seit wir dieses Teil gekauft haben, ging sowieso alles in die Grütze.«

Mir liefen schon wieder die Tränen.

»Dann suchen wir dir hier eine Wohnung. So eine richtig schicke. Du kennst die Stadt, hast hier Kollegen und Freunde und kommst endlich aus der Provinz raus.«

Unter Punkt zwei erschienen Namen: Dorothea, Georg, Leonie, Jörg, Nina, Franziska.

Ich putzte mir die Nase und beruhigte mich. Auch die Namen taten es. Es wäre schön, spontan was mit ihnen unternehmen zu können, nicht mehr alles mitsamt Übernachtungen planen zu müssen. Zu uns aufs Land war selten jemand von ihnen gekommen, Bernd war auch nicht gerade ein Meister im Verbergen seiner Unlust, wenn Gäste kamen, die nicht unmittelbar etwas mit ihm zu tun hatten. Leonie war einmal da gewesen, sie hatte mit ihrem Mann einen Strandspaziergang gemacht und anschließend bei uns vor der Tür gestanden. Bernd hatte den beiden unentwegt auf die sandigen Schuhe gestarrt und kein Wort gesprochen. Sobald sie aus der Haustür waren, fing er an Staub zu saugen. Leider kehrten sie noch vor ihrem Auto um, weil Leonie ihren Schal vergessen hatte. Bernd öffnete die Tür mit dem Staubsauger in der Hand, es blieb ihr einziger Besuch.

Plötzlich fiel mir bei diesen Namen aber ein anderer ein, das löste wieder Tränen aus.

»Und was ist mit Antje?«

Ines schrieb schon einmal Punkt drei.

»Antje, hör mal, ihr seid seit fünfundzwanzig Jahren befreundet, davon habt ihr fünfzehn Jahre in verschiedenen Städten gewohnt. Da habt ihr schon andere Dinge zusammen geschafft.«

Antje war meine längste und beste Freundin. Ich hatte sie nach ihrer Scheidung vor einigen Jahren überredet, von Hamburg in meine Nähe zu ziehen. Sie und ihre beiden Kinder, meine Patentöchter. Wir wohnten jetzt fünf Kilometer auseinander. Ich würde sie jetzt im Stich lassen.

Eine Welle von Elend durchlief meinen Körper. Meine Fassung war wieder dahin.

Ich würde auch meine Katzen im Stich lassen müssen, ich kannte keinen Zahnarzt in Hamburg, keine Autowerkstatt, keinen Bäcker, alle vertrauten Wege waren weg, nie wieder mit Bernd Weihnachten, nie wieder sonntags frühstücken, nie wieder Geburtstag, was würden meine Eltern sagen.

Ines beobachtete mich und versuchte sich einen Reim auf mein tränenersticktes Gestammel zu machen. Das Wort Eltern hatte sie verstanden, unter Punkt drei schrieb sie Sylt.

»Von Hamburg aus bist du schneller zu Hause als von deinem Kaff. Mindestens zwei Stunden weniger.«

Bernd hasste Sylt. Meine Eltern lebten nach wie vor da, wir hätten viel öfter hinfahren können, ihm war die Fahrt zu lang. Also fuhr ich auch nur selten. Und hatte oft Heimweh.

Langsam beruhigte ich mich wieder. Mittlerweile war es 3:30 Uhr.

Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Ines musste in vier Stunden in der Klinik sein. Sie sah sehr müde aus und gähnte.

Ich riss mich zusammen.

»Komm, wir müssen ins Bett. Ich habe nicht gemerkt, wie spät es schon ist.«

»Macht ja nichts. Also dann, versuche zu schlafen und weck mich, wenn was ist.«

Sie strich mir über die Wange, was mir wieder die Tränen in die Augen trieb, und ging ins Bad.

Ich sah die letzten drei Stunden dieser Nacht immer wieder dieselben Bilder.

Bernd, braungebrannt, als ich ihn kennenlernte, wir beide am Strand, auf Partys, im Garten, in Portugal im Urlaub, sein Gesicht morgens, mittags, abends.

Während mir die Tränen unentwegt übers Gesicht liefen, glaubte ich felsenfest daran, dass ich die Liebe meines Lebens verloren hatte.

Die Verletzung

Ich fühlte mich zerschlagen und betäubt, als ich ein paar Stunden später auf dem Weg zu meinem ersten Termin war.

Meine Kunden waren Buchhändler, sie bestellten bei mir die neuen Bücher verschiedener Verlage, um sie anschließend an ihre Kunden zu verkaufen. Ich kannte meine Einkäufer schon seit Jahren, ich hoffte, keiner von ihnen würde mir ansehen, dass heute Tag eins nach der Katastrophe war. Mitleid hätte ich nicht ertragen.

Anscheinend merkte niemand etwas, zumindest sprach mich keiner darauf an.

Ich spulte mein Programm ab, bewegte und unterhielt mich mechanisch und hoffte, sicher durch diesen Tag zu kommen.

Erst auf der Rückfahrt überfiel mich wieder diese Trauer und löste mit der Angst vor dem Gespräch meine Betäubung ab.

Als ich vor dem Haus auf die Auffahrt fuhr, kam es mir eigenartig vor, dass alles so aussah, wie ich es verlassen hatte. Meine Katzen liefen mir entgegen, der Briefkasten am Haus war voll, mein Nachbar winkte mir zu, alles war wie immer.

Bernd hatte mich vom Fenster aus gesehen und öffnete mir die Haustür, das war anders.

Er räusperte sich, lächelte verlegen und nahm mir meine Tasche ab, was ihn selbst überraschte.

»Na, wie war’s?«

Mir fiel keine Antwort ein. Nicht zu dieser Nacht und diesem Tag.

»Ähm, hast du was gegessen? Tass’ Kaff’?«

Ich hatte das Gefühl, alles sei falsch.

»Ich habe keinen Hunger. Ich will reden.«

Ich setzte mich an den Küchentisch. Bernd begann umständlich die Katzen zu füttern. Ich sah ihm eine Weile dabei zu.

»Bernd, bitte, mach die Schüsseln voll und gut!«

Er stellte sich an die Spüle und schrubbte den Wassernapf. Mit einer Spülbürste.

Ich bekam pochende Kopfschmerzen, meine Haut kribbelte. Mit großer Anstrengung konzentrierte ich mich darauf, nicht die Fassung zu verlieren.

Schließlich setzte er sich auf den Stuhl mir gegenüber. Sofort stand er wieder auf, holte einen Aschenbecher und seine Zigaretten, setzte sich wieder.

Ich sah ihn an. Er wirkte wie immer.

»Und?«

»Was und? Ich habe dir doch gestern schon alles gesagt.«

»Am Telefon. Bei Ines. Warum nicht am Wochenende?«

»Ich finde so was leichter am Telefon. Und es war doch gut, dass du nicht alleine warst.«

Ich musste schlucken. So was. Leichter.

»Kannst du mir denn erklären, warum?«

»Hab ich doch.«

»Ich verstehe es nicht.«

Ich schluckte wieder, dachte an Ines.

»Hast du jemanden kennengelernt?«

»Quatsch, wann denn? Das hat nur was mit mir zu tun. Es ist nicht deine Schuld.«

»Ich glaube dir nicht, irgendetwas ist passiert.«

»Dann lass es bleiben, es ist nichts passiert.«

Er stand auf, holte zwei Becher aus dem Schrank und goss Kaffee ein.

»Also, du kannst natürlich hier wohnen bleiben, dann ziehe ich aus.«

»Das schaffe ich doch gar nicht, mit dem Haus und dem Garten und den Katzen. Bei meinem Job. Ich werde wohl nach Hamburg ziehen.«

Ich beobachtete ihn. Vielleicht begriff er jetzt, was wir hier taten.

»Ja, mach das doch. Hamburg ist doch klasse und für dich so praktisch. Ich helfe dir natürlich beim Umzug.«

Ich fühlte mich schlecht.

Ich verstand nichts von dem, was hier passierte, nur dass es passierte.

Wir saßen noch eine Zeit lang in der Küche. Ich kämpfte mit den Tränen und den Fragen, Bernd verweigerte Antworten, ließ dafür aber Sätze wie »Wir bleiben ja Freunde« und »Wir müssen uns ja nicht gleich scheiden lassen, bei der Steuer« vom Stapel.

Irgendwann hielt ich das alles nicht mehr aus und ging nach oben. Als ich auf dem Bett lag und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, hörte ich die Haustür zuschlagen und kurz darauf Bernds Auto starten.

Eine Stunde später hatte ich nicht mal mehr die Kraft, weiterzuheulen. Ich fühlte mich im Stich gelassen, gedemütigt und sehr allein.

Ich dachte an Ines, konnte ihr das nicht noch mal zumuten. Dann dachte ich an Antje, sie musste es sowieso erfahren. Ich wählte ihre Nummer. Nach dem zweiten Freizeichen hörte ich ihre Stimme.

»Antje, ich bin es, Bernd will sich trennen.«

Sofort kamen wieder Tränen.

»Was? Ach, du Schande. Schade, dabei hatte ich immer gedacht, du würdest dich trennen.«

»Ich wollte das nicht. Antje, ich werde wohl nach Hamburg ziehen, ich will hier nicht alleine bleiben, aber was ist dann mit euch?«

»Da mach dir mal keinen Kopf. Ohne die Kinder wäre ich nach meiner Scheidung auch in der Stadt geblieben, das musst du so machen. Und das ist auch nicht die erste Scheidung, die wir zusammen hinkriegen. Ich helfe dir dabei, das schaffen wir schon.«

Wir redeten noch ein paar Minuten. Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich etwas getröstet.

Danach rief ich noch Marleen an. Sie war die Exfrau von Bernds bestem Freund, wir hatten uns durch unsere Männer kennengelernt, wohnten im selben Dorf und hatten uns in den letzten Jahren angefreundet. Außerdem war sie erfrischend handfest und praktisch, ich hatte kein Mitleid zu befürchten.

Nach meinem Kurzbericht fragte sie nach dem Grund, fand meine Antwort unbefriedigend und bot mir ihr Gästezimmer an. Ich lehnte erst mal ab, versprach aber, mich in den nächsten Tagen zu melden.

 

Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Nebel.

Ein Teil meines Lebens war beruhigend normal. Ich besuchte meine Buchhändler, erfüllte die Termine wie geplant und erwähnte mit keiner Silbe, in welcher Situation ich gerade war.

An einem der Abende, die ich bei Ines verbrachte, besuchte uns Leonie. Ines hatte sie getroffen und ihr alles erzählt, wir waren seit einigen Jahren Kolleginnen, sahen uns drei- oder viermal im Jahr privat.

Als sie mit einer Flasche Sekt bei Ines vor der Tür stand, machte sie keinerlei Umwege.

»Das ist gut, ich sehe den immer noch mit dem Staubsauger in der Hand, ihn hat weder dein Job interessiert noch hat er gelesen, noch war er mal mit in Hamburg. Sei froh, dass du den los bist und zudem noch aus der Provinz rauskommst. Aufs richtige Leben!«

Ihre Meinung teilte ich zwar noch nicht, dafür fand ich es rührend, dass sie mit oder ohne Ines in den folgenden Wochen unzählige Wohnungen besichtigte, die meisten aussortierte und mir an den Wochenenden drei oder vier Besichtigungstermine verordnete.

Wenn ich keine Wohnungen besichtigte, fuhr ich zu meinen Eltern nach Sylt, lief stundenlang in der Märzkälte am Strand entlang, heulte ein bisschen und schlief viel.

Einmal in der Woche musste ich zu Bernd. Dort war nach wie vor meine Büroadresse, an die meine gesamte Post geschickt wurde.

Bernd ging mir aus dem Weg. Blieb er zu Hause, ging ich zu Marleen, die bereits Umzugskartons für mich und einen Hamburger Stadtplan für sich besorgt hatte.

Sie hatte ihre Scheidung hinter sich und half mit unerschütterlichem Optimismus.

»Schätzchen, in einem halben Jahr lachst du drüber.«

Mittlerweile wussten alle Bescheid. Viele gingen mir aus dem Weg, was mich verwunderte. Vielleicht hatten sie Angst, dass Trennungen ansteckend wirkten.

Auch von Antje hatte ich wenig gehört. Es fiel mir auf, als Marleen mich eines Freitagabends, als ich bei ihr in der Küche saß, nach ihr fragte.

Es war Anfang April. Ines und Leonie hatten eine Wohnung für mich entdeckt, die ich auch bekommen hatte. Neunzig Quadratmeter, Terrasse, Kamin, Balkon vor der Küche. Sie lag ziemlich genau zwischen Ines und Leonie, zu jeder der beiden fuhr ich 15 Minuten. Mir war dadurch sehr viel leichter ums Herz. Deshalb störte mich auch Marleens Frage nicht.

»Antje hat so viel zu tun. Kinder, Job, du kennst das doch. Sie hilft mir beim Umzug, hat sich schon für den Fünfzehnten freigenommen.«

»Ich finde das nur komisch. Sie ist deine beste Freundin und du hast seit sechs Wochen nichts von ihr gehört. Weiß sie eigentlich, dass du die Wohnung hast?«

»Das erzähle ich ihr morgen. Karola hat Geburtstag, da fahre ich dann hin. Und, Marleen, ich weiß, dass du Antje nicht besonders magst. Du kennst sie nur nicht richtig.«

Sie antwortete nicht. Ich hatte das Gefühl, sie wollte mir was sagen. Ich fragte nicht danach, sie sagte nichts weiter.

 

Als ich am nächsten Tag mit einem Geburtstagsgeschenk in der Hand zum Auto ging, folgte Bernd mir.

»Wo willst du denn hin?«

»Karola hat heute Geburtstag. Sie wird zehn.«

»Hast du Zeit, zum Kindergeburtstag zu gehen? Ich dachte, du willst packen.«

»Sie ist mein Patenkind. Das Packen schaffe ich schon noch. Ich habe noch zwei Wochen Zeit.«

»Na, musst du wissen.«

Bernd drehte sich um und ging ins Haus zurück. Vielleicht bereute er diese Entscheidung doch schon. Ich verstand seinen Unmut nicht, sonst schien er froh zu sein, wenn er mich nicht im Haus sehen musste.

Als ich bei Antje klingelte, öffnete Karola die Tür und sprang mir sofort an den Hals.

»Da bist du ja endlich, bist du wieder gesund? Ist das für mich? Darf ich sofort aufmachen?«

Antworten waren nicht nötig, der Flur war plötzlich voll mit zehnjährigen Mädchen, die alle durcheinander brüllten.

Ich schlängelte mich an ihnen vorbei und ging in die Küche.

Antje stand vor dem Herd und rührte konzentriert in einem Topf. Sie hob kurz den Kopf, um mir zuzunicken.

»Hallo, Christine, wie geht es?«

Dann vertiefte sie sich wieder in das neben ihr liegende Rezept.

Ich war verblüfft.

»Hallo, Antje, nicht besonders, was ist denn mit dir los?«

»Ach, du weißt doch, mich stressen diese Kindergeburtstage immer so, bin den ganzen Vormittag durch die Stadt gerannt, meine Füße tun vielleicht weh, und dann diese Kathleen, diese Freundin von Karola, dieses fette Kind, die hat eine Stimme.«

Sie plapperte wie eine aufgezogene Puppe, lauter banale Sätze, sah mich nicht einmal an.

Ich ging zu ihr und schob den Zettel mit dem Rezept weg.

»Habe ich irgendwas falsch gemacht?«

Jetzt sah sie mich verblüfft an.

»Nein, äh, es ist nur, ach, das ist ja überhaupt toll, dass du eine Terrasse hast, dann kannst du ja den Strandkorb mitnehmen.«

Mir wurde plötzlich ganz kalt. Erst war es nur ein Gefühl, dann fing mein Hirn an zu arbeiten.

Sie starrte jetzt in den Topf.

»Antje?«

Sie schwieg und rührte.

Ich nahm meine Tasche und meine Jacke, ging ins Kinderzimmer, um mich von Karola zu verabschieden. Sie packte mit Hingabe ihre Geschenke aus, lachte ihre Freundinnen mit strahlenden Augen an.

Ich ging.

Der Anfang

Ines saß auf ihrer Werkzeugkiste und hebelte mit ihrem Feuerzeug den Kronkorken hoch. Sie sah erst Dorothea, dann mich mit triumphierendem Lächeln an.

»Neun Minuten.«

Dorothea nickte ihr zu und rieb sich die Blase an ihrem Zeigefinger.

»Unter zehn. Ich hab’s gewusst.«

Ich war mit einer vollen Bücherkiste ins Wohnzimmer gekommen und verstand nichts.

»Was ist in neun Minuten?«

Ines setzte die Flasche an den Mund, trank in langen Zügen, setzte ab, sah mich wieder an.

»Billy‑Rekord. Wir haben beim letzten die zehn Minuten geknackt.«

Dorothea streckte mir ihren Zeigefinger entgegen.

»Unter zehn. Mit dieser Blase!«

 

Sie war vor Jahren die Freundin meines Bruders Georg gewesen. Nach einiger Zeit war die Liebe weg, ihre Freundschaft geblieben.

Und Dorothea, die mit ihrem Charme und Witz die Familie im Sturm erobert hatte, blieb ebenfalls.

Sie war begeistert von meinem Plan, nach Hamburg zu ziehen, sie lebte hier.

 

Ines setzte ihr Feuerzeug an eine neue Bierflasche, öffnete sie und reichte sie Dorothea.

Die stieß sich von der Wand ab, nahm einen Stuhl hoch, der umgedreht auf einem anderen stand, und setzte sich stöhnend hin.

»Mein Kreuz. Und diese Blase. So, und du meinst, nach acht Billys kann ich ein Bier trinken?«

»Nach acht Billys muss man Bier trinken. Was ist, Christine, du auch?«

Ich sah mich um. In diesem Zimmer stand alles durcheinander. Leere Bücherregale, auf dem Sofa Mäntel, Kissen und Gardinen, aufeinander gestapelte Stühle, Teppichrollen und überall volle Umzugskisten.

»Das wird hier immer schlimmer.«

Mein Mut sank.

»Tja, Christine, ich finde, du solltest hier mal ein bisschen aufräumen. Früher warst du immer so akkurat, und kaum bist du in der Großstadt, zack, Schlampenalarm.«

Dorothea lachte lauthals über ihren eigenen Witz. Sie klopfte auf die Bücherkiste, die als Tisch diente und übersät war mit Bierflaschen, Lakritztüten, Zigarettenasche, Kronkorken und verschiedenen Schrauben.

»Leg doch mal eine Tischdecke auf, dann kriegt das hier doch Art.«

Ines lachte mit.

»Und du hast doch bestimmt Untersetzer für die Flaschen. Nicht, dass das Ränder gibt.«

Dorothea wollte noch draufsetzen, musste aber so lachen, dass ihr die Tränen kamen.

»Du bist albern.«

Ines schüttelte amüsiert den Kopf und reichte mir ein Bier.

»Sie ist erschöpft. Diese Künstler sind doch nichts gewöhnt.«

Dorothea ist Kostümbildnerin, arbeitet beim Fernsehen und malt.

Sie strich sich mit dem Handrücken die dunklen Locken und die Tränen aus dem Gesicht und setzte eine leidende Miene auf.

»Acht Billys, davon drei mit Blase. Nicht zu reden von einer Kommode, dem Schreibtisch und dem Küchentisch.«

»Der Küchentisch war gar nicht auseinander gebaut.«

»Ich hab aber eine Tischdecke draufgelegt.«

Sie lachte wieder schallend los.

Ihre Albernheit wirkte ansteckend, wir saßen eine Weile kichernd und Bier trinkend um die Bücherkiste.

Schließlich stand Ines auf, ließ die leeren Flaschen in die Bierkiste fallen und griff nach ihrer Bohrmaschine.

»Los jetzt, wir sind noch nicht fertig, es ist 18 Uhr und in zwei Stunden muss ich los.«

Dorothea hielt sich schwer atmend die Seite.

»Christine, jetzt räum schnell hier auf und dann ist gut.«

Leise lachend folgte sie Ines, um Gardinenstangen beim Anbringen zu halten.

 

Wir hatten uns morgens in meiner neuen Wohnung getroffen. Am Tag zuvor waren meine Möbel und Kisten gekommen. Ich hatte mit Ines beim Ausladen geholfen, alle Sachen in die Wohnung geschleppt und dann einen Heulkrampf bekommen.

Daraufhin beschloss Ines, dass das Einräumen, Bohren und Schrauben auch bis morgen früh Zeit hätte.

Dorothea, die begeistert ihre Hilfe angekündigt hatte, kam gut gelaunt und konnte es kaum erwarten.

Ines kam mit Werkzeugkiste und Überblick, gab Anweisungen, hakte ihre Liste ab, schraubte und bohrte konzentriert und ohne Ermüdungserscheinung. Bis zum Mittag waren die Küche, das Büro und das Schlafzimmer fast fertig.

Ines und Dorothea hatten Stück für Stück aufgebaut und zusammengeschraubt, ich packte einen Karton nach dem anderen aus und räumte ein.

Georg erschien, beladen mit Brötchen- und Kuchentabletts und einer Kiste Bier.

»Ich habe es leider nicht früher geschafft, kann ich noch was helfen?«

Wir lachten alle drei.

Georg ist Journalist. Laut Ines beschränkt sich sein handwerkliches Können darauf, einen Laptop‑Stecker mit einer Steckdose zu verbinden. Und selbst das konnte schief gehen.

Jetzt sah sie ihn lange an und entschied, er könne die leeren Umzugskartons falten und auf den Dachboden bringen.

»Dabei kannst du nichts kaputtmachen und tust dir nicht weh.«

An Georg prallte das ab.

»Ohne mich wärt ihr verhungert und verdurstet. Falten und tragen kann ich 1a und eigentlich habt ihr mich ganz doll lieb.«

Er blieb, trotz aller Vorurteile, und Ines teilte ihm eine Tätigkeit nach der anderen zu.

Bis vor einer halben Stunde hatte er Lampen gehalten, Bücher eingeräumt, Kaffee gekocht und mich mindestens zwanzig Mal berührt. Er litt mit. Dann musste er wieder los.

 

In den letzten zwei Stunden arbeiteten wir unter Ines’ Kommando weiter.

Das Feierabendbier tranken wir am Esstisch.

Ines streckte sich und sah zufrieden in die Runde.

»Du kannst richtig in deinem Bett schlafen, deine Küche ist fertig, alle Lampen dran, Badezimmer geputzt, jetzt fehlt nur noch Kleinkram und der Rest Auspacken. Und das hat Zeit. Wir sind doch großartig.«

Dorothea sah mich mit ihren großen Augen an und strich über den Holztisch.

»Aber noch keine Tischdecke.«

Sie kicherte wieder.

»Meine Güte, ich bin so platt, ich werde schon wieder albern. Ich würde ja gern noch mit euch Bier trinken, aber ich muss ins Bett. Morgen früh ab acht habe ich Sendung.«

Es war 20 Uhr. Wir hatten fast zwölf Stunden geräumt.

»Kommst du klar?«, fragte Dorothea.

»Sicher.«

Ich war ganz froh, gleich allein zu sein.

»Ich packe noch ein bisschen aus und gehe auch früh ins Bett.«

»Gut.«

Dorothea stellte sich hinter mich.

»Denk dran, was man in der ersten Nacht träumt, geht in Erfüllung.«

Sie küsste mich auf den Scheitel.

»Und zum Friseur musst du auch, Schätzchen. Grauer Ansatz geht nur in der Provinz. Ich komme morgen Nachmittag wieder. Viel Spaß beim Einräumen.«

Ich stand auch auf, küsste Ines auf die Wange. Sie sah mich etwas besorgt an.

»Alles o.k., Ines. Wirklich. Und danke.«

»Dann bis morgen. Schlaf dich gut durch die erste Nacht.«

 

Ich schloss die Tür hinter ihnen.

Und war das erste Mal allein in meiner neuen Wohnung.

Allein

Langsam ging ich durch die Räume. Ich schaltete in jedem Zimmer das Licht an, ließ alle Türen offen, stellte eine Stehlampe um, einen Stuhl dazu, strich die Bettwäsche glatt. Die meisten Möbel waren neu, ich war in den letzten zwei Wochen in jeder freien Minute mit Dorothea oder Ines durch Möbelhäuser und Haushaltswarengeschäfte gelaufen und hatte mein neues Leben zusammengekauft.

Georg hatte angeboten, mir Geld zu leihen. Er verdiente viel, gab wenig aus und hatte immer irgendwelche Summen übrig. Ich war froh über das Angebot und nahm es an. So konnte ich mir das Gefühl leisten, mich von Dingen trennen zu können, die mich an meine Ehe erinnerten.

Ich sah mich um. Es gab so viele Sachen in dieser Wohnung, an die ich noch nicht gewöhnt war. Es fühlte sich komisch an. Fremd.

Ich holte tief Luft und beschloss noch drei Kisten auszupacken, dann zu duschen und die Flasche Rotwein zu öffnen, die Dorothea mitgebracht hatte.

 

Zwei Stunden später saß ich im Bademantel und mit feuchten Haaren in meinem fast fertigen Esszimmer.

Keine Tischdecke, ich musste lächeln, als ich an Dorothea dachte, aber eine Kerze, ein volles Rotweinglas und eine neue CD, die Georg mir heute geschenkt hatte. ›Sunset dance & dreams‹, frei von Bernd-Erinnerungen.

Die neue Stehlampe verbreitete ein warmes Licht, ich betrachtete das Zimmer vom Tisch aus. Mir gefielen die Möbel und die Lampen, die ich gekauft hatte. Es war ein schönes Zimmer geworden, ich fühlte mich fast zufrieden. Und ich hatte es geschafft.

Heute war der 16. April. Tag eins nach dem Umzug.

 

In den letzten Tagen und Wochen hatte ich dieses Datum wie eine Zauberformel beschworen.

16. April. So lange musste ich durchhalten. 16. April. Danach würde es besser werden.

Meine beruflichen Termine hatte ich alle bewältigt, trotzdem blieb es anstrengend.

Während der letzten zwei Wochen hatte ich bei Ines gewohnt.

Mein Umzug war erst für den 15. April geplant, der Spediteur konnte den Termin nicht vorziehen, so war die Wohnung zwar frei, aber leer, zumal auch die neuen Möbel erst an dem Tag geliefert werden sollten.

Ines verordnete mir Termine.

Tagsüber putzte ich die neue Wohnung, telefonierte mit Versicherungen, Stromversorgern und Telefongesellschaften. Ich saß stundenlang im Einwohnermeldeamt und bei der Zulassungsstelle. Ich lief mit Rückenschmerzen durch Baumärkte und versuchte Einkaufslisten von Ines abzuhaken.

Abends fuhr ich mit meiner Schwester und ihrem Zollstock in Möbelläden und noch mal in die Baumärkte, um die Sachen von der Liste, die ich falsch gekauft hatte, wieder umzutauschen.

Ich wusste selten, was das für Teile waren, die sie brauchte.

Dorothea lud uns zum Essen ein und vertrieb für einen Abend mit viel Wein und ihrer Begeisterung für meine Wohnung die dunklen Wolken, in denen mein Kopf steckte.

Georg ging mit mir frühstücken. Er brachte mir Spielpläne der Hamburger Bühnen und Konzertplaner mit, in die er alle Termine, an denen er Zeit hatte, einkringelte.

Weil ich immer noch traurig aussah, versuchte er es mit Karten für den HSV.

Ich hörte mir alle Pläne an, schrieb mir Georgs Termine in meinen Kalender, ließ mir von Ines die Logistik der Baumärkte erklären, lachte über Dorotheas Witze und dachte beständig an den 16. April. Bis dahin musste ich durchhalten. Dann war diese elende Zwischenzeit mit ihrer Heimatlosigkeit und ihren Ängsten vorbei.

Heute war der 16. April.

Und ich saß nun in der fast fertigen Wohnung und wartete auf das Gefühl, dass jetzt alles besser würde.

»Da kannst du lange warten. Das kommt nicht von selbst.«

Ich hörte meine garstige Stimme im Kopf.

Meine Schwester schrieb in Krisen ihre Listen, in meinem Kopf begann ein Dialog zwischen zwei Frauenstimmen. Eine war auf Krawall aus, die andere beruhigte. Die beiden mischten sich seit Jahren immer dann ein, wenn ich ratlos war und zur Ruhe kam.

Unsere Mutter hatte sich angestrengt, ihre drei Kinder nicht zu verzärteln. Das führte bei ihrer Erziehung zu einer gewissen Ruppigkeit. Andererseits war sie immer sehr optimistisch und manchmal sehr sanft.

Sie hat einen Doppelnamen, was mich als Kind sehr beeindruckt hat. Edith-Charlotte.

Als ich die Stimmen zum ersten Mal hörte, nannte ich die garstige Edith, die sanfte Charlotte.

Ich zog einen Stuhl heran, legte meine Beine hoch und zündete mir eine Zigarette an.

Die Stimmen fanden das erste Mal seit Wochen wieder Platz in meinem Kopf.

 

»So schön hast du noch nie gewohnt. Tolle Wohnung, schicke Möbel, mitten in der Stadt. Das Leben wird jetzt aufregend«, sagte Charlotte.

»Aufregend! Na toll. Du bist fast vierzig und fängst wieder von vorne an«, antwortete Edith.

Ich nahm mein Glas und setzte mich auf das neue Sofa. Ligne Roset. Wunderschön.

»Allein das Sofa. Das wolltest du schon seit Jahren haben. Bernd war dagegen, bestand auf Leder, weil man sonst die Katzenhaare sieht.«

Meine Katzen. Ich fühlte einen Stich der Sehnsucht. Ich hatte sie seit meiner Abfahrt nicht mehr gesehen.

 

Meine Abfahrt.