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Ein atmosphärischer Weihnachtskrimi auf Sylt: von Bestseller-Autorin Dora Heldt Es ist Advent auf Sylt. Ernst Mannsen hat zwar nichts gegen Weihnachten, aber die Insel ist ihm ohne Touristen zu leer, die Tage sind lang und dunkel. Seine Frau Gudrun freut sich hingegen auf den Weihnachtsmarkt, aufs Schmücken des Hauses und auf die Weihnachtsfeiertage mit der Familie. Als der gelangweilte Ernst erfährt, dass der Filialleiter der Bank mitsamt den Spenden für die bedürftigen Kinder verschwunden ist, ergreift er seine Chance auf Abwechslung: Er wird sich um das Problem kümmern! Und das Geld für die Weihnachtsgeschenke beschaffen. Sozusagen als Robin Hood von Sylt. Mit einigen Komplizen plant er einen großen Coup, der allerdings ganz anders läuft als geplant. »Amüsante Krimikomödie mit herrlich schrulligen Figuren.« HÖRZU »›Geld oder Lebkuchen‹ von Dora Heldt geht so richtig ans Herz und hat alles, was ein guter Krimi braucht: tolle Figuren, eine unglaubliche Handlung und jede Menge Spannung.« SR3
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Seitenzahl: 290
Dora Heldt
Geld oder Lebkuchen
Fast ein Krimi
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
»Mir ist langweilig«, langsam schnipste Ernst einen Krümel vom Tisch. »Mir ist so langweilig. Ich könnte verrückt werden.«
Seine Frau hob kurz den Blick von der Zeitung. »Sollen wir die Bank überfallen?«
»Was?«
»Die Bank überfallen«, wiederholte Gudrun. »So wie gestern im Film.«
»Blöder Witz.« Ernst starrte sie an, sie vertiefte sich aber schon wieder in die Zeitung. Langsam schob er seine Hand über den Tisch und schnipste gegen den nächsten Krümel. Dieses Mal traf er die Zeitung und machte die Siegerfaust. Seine Frau reagierte nur nicht. Ernst ließ den Arm wieder sinken. Vielleicht sollte man doch mal über einen Banküberfall nachdenken. Aber wozu? Im richtigen Leben wurden die Bankräuber ja immer erwischt. Und langweilten sich dann im Gefängnis. Er seufzte. Dann noch mal etwas lauter. Bis Gudrun ihn wieder ansah.
»Mein Gott, Ernst«, sie ließ die Zeitung sinken. »Dann mach doch irgendetwas. Aber stöhn hier nicht rum.«
»Was soll ich denn bitte schön machen?« Mit einem Anflug von Verzweiflung schüttelte er den Kopf und deutete nach draußen. »Man kann noch nicht mal spazieren gehen. Bei diesem Wetter.«
Energisch legte Gudrun die Zeitung zur Seite. »Nächstes Wochenende ist schon der erste Advent, es ist noch jede Menge zu tun. Was ist los mit dir? Du freust dich doch sonst auch auf Weihnachten. Du kannst die Lichterketten draußen anbringen, du kannst meine Weihnachtskugeln vom Boden holen, du kannst den Keller aufräumen, du kannst …«
»Draußen? Die Lichterkette?« Entsetzt sah er sie an. »Es stürmt und regnet draußen. Willst du mich umbringen?«
»Dann räum den Keller auf«, Gudrun stand auf und schob ihm die Zeitung hin, »oder lies die Zeitung. Da ist eine nette Kritik über den Film von gestern. Den wir so lustig fanden.« Sie stellte die leeren Kaffeetassen ineinander und ging in die Küche. Und sang dabei laut und schief: »Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit.«
Ernst seufzte und zog die Zeitung heran. Die Fernsehkritik stand auf der dritten Seite.
Die Gentleman-Räuber. Die charmante Komödie nach einer wahren Begebenheit war der Quotenhit des gestrigen Abends …
Mithilfe seines Zeigefingers las Ernst den Artikel. Es war interessant, er hatte gar nicht gewusst, dass es die drei Männer, die vor vielen Jahren sehr höflich mehrere Banken überfallen hatten, wirklich gegeben hatte. Solche Geschichten mochte er. Professionelle Arbeit, gute Planung, keine Gewalt. Nur so wurde man erfolgreich. Und nicht erwischt.
»Das ist gut«, sagte er laut. »Ja, so macht man das.« Als er den Kopf hob, stand Gudrun plötzlich im Mantel vor ihm und drapierte ihr Halstuch, während sie ihn ansah.
»Wo willst du denn hin?«
»Das habe ich dir doch gestern Abend erzählt.« Gudrun schob Portemonnaie und Lesebrille in die Handtasche. »Das Festkomitee trifft sich um drei. Um die Termine zum Schmücken der Schulaula und die letzten Feinheiten für den Weihnachtsmarkt dort abzusprechen. Und du wolltest mich um 17 Uhr abholen. Das kannst du doch nicht schon wieder vergessen haben.«
Er hatte es natürlich nicht vergessen, genau da lag ja das Problem. Seit Gudrun in Rente war, organisierte sie mit Hella, Minna und Dietrich den alljährlichen Weihnachtsmarkt, dessen Höhepunkt die große Dorfweihnachtsfeier mit Baum, Chor, Geschenken für die Kinder der Gemeinde und sehr viel Glühwein und Keksen war. Das ganze Dorf versammelte sich an den Adventswochenenden, der Weihnachtsmarkt war einer der wichtigsten Treffpunkte des Jahres. Ein wirkliches Ereignis, das natürlich viel Vorbereitung erforderte.
Selbstverständlich hätte Ernst sofort mitgemacht, wenn sie ihn denn gefragt hätten. Er konnte hervorragend organisieren und war auch handwerklich begabt. Aber sie hatten ihn gar nicht gefragt, stattdessen hatten sie sich für Dietrich entschieden, kurz vor der Rente, Banker, mit zwei linken Händen, der nie Nein sagen konnte. Er hatte nach der Scheidung sein Haus auf der Insel verkaufen müssen, wohnte jetzt auf dem Festland und pendelte jeden Tag zur Arbeit in die hiesige Bankfiliale, wo er Filialleiter war. Dietrich tat den Damen leid, so ohne Frau und Haus auf Sylt. Und sie waren der Meinung, dass dieser Job gut für ihn, er wichtig fürs Komitee und überhaupt der Beste im Spendensammeln sei. Das machte er jedes Jahr aufs Neue, damit sie den Kindern ihre Weihnachtswünsche erfüllen konnten. Und Dietrich kannte sich ja mit Geld aus. Als Bankchef. Und damit nicht genug, er durfte auch noch die Geschenke verteilen. In einem schon ziemlich verfilzten Weihnachtsmannkostüm, das er gebraucht gekauft hatte. Jedes Jahr fuchtelte er dabei theatralisch mit den Armen und rief laut »Ho, Ho, Ho«, sobald er die Aula betrat. Ernst war sich sicher, dass zumindest die kleinen Kinder eine Mordsangst vor ihm hatten. Aber auf dem Ohr war Gudrun taub. Sie fand Dietrich als Weihnachtsmann toll, und fertig. Kritik an ihm oder am Komitee ließen die Damen nicht zu. Auch wenn Ernst eine wirklich große Hilfe sein könnte. Aber sie hatten ja Dietrich. Und waren der Meinung, dass vier Leute ausreichten. Als Ernst seine Mitarbeit angeboten hatte, wurde sie abgelehnt. Einfach so. Er könne ja beim Schmücken der Aula helfen, hatte Gudrun ihm vorgeschlagen, Dietrich könne ja nicht so gut auf eine Leiter steigen, weil er Höhenangst habe. Das wiederum hatte Ernst abgelehnt. Sollte der Banker auf der Leiter doch schwitzen. Ernst war raus. Und hatte jetzt Langeweile.
»Natürlich weiß ich das noch«, beeilte sich Ernst jetzt zu sagen. »Ich bin ja nicht senil. Um 17 Uhr bin ich da. Zur Abholung.«
»Gut«, Gudrun knöpfte sich ihren Mantel zu, »und im Übrigen hat es aufgehört zu regnen und der Sturm hat sich gelegt. Außerdem hat der Wetterdienst Schnee in den nächsten Tagen vorhergesagt. Vielleicht hebt das ja deine Laune. Und du denkst bitte dran, die Lichterkette noch an die Tanne zu hängen. Bevor es ganz dunkel wird.«
»Ich muss noch die Glühbirnen überprüfen«, antwortete Ernst. »Außenelektrik setzt Sorgfalt voraus. Das geht nicht so husch, husch.«
»Dann mach das sorgfältig.« Gudrun sah ihn an. »Aber die Lichterkette kommt noch dran, morgen will ich sie anmachen. Dann bis nachher.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, verschwand sie. Resigniert atmete Ernst aus. Er fand auch das Wechseln kaputter Leuchtmittel wahnsinnig langweilig. Aber das interessierte ja niemanden.
Um kurz vor halb fünf erhellten alle Lämpchen der Lichterkette die Tanne und den Garten, zufrieden überprüfte Ernst ein letztes Mal die Zeitschaltuhr, das war also auch wieder erledigt. Es war schon gut, dass er diese handwerkliche Begabung hatte, Dietrich hätte sich bestimmt einen Elektriker holen müssen. Das sollte Ernst vielleicht mal Gudrun mitteilen. Die den Superweihnachtsmann ja für so perfekt hielt.
Mit einem Blick auf die Uhr beschloss er, sich jetzt auf den Weg zu machen und keinen weiteren Gedanken an Dietrich zu verschwenden. Vorher würde er noch einen kleinen Spaziergang durch den Ort unternehmen und bei einem Abstecher zur Bank gleich Kontoauszüge holen. Bewegung war ja wichtig, lückenlose Kontrolle des Kontostandes auch.
Als er kurz darauf in dicker Jacke vor die Tür trat, schauderte er kurz. Es war richtig kalt geworden, die Windböen hatten sich gelegt und er fand, dass es schon nach Schnee roch. Er nickte zufrieden. Kein Mensch kam bei Schmuddelwetter in weihnachtliche Stimmung, dafür brauchte es schon Schnee und Frost und Sternenhimmel. Und knackige Kälte, damit an den Buden vor der Schule auch Glühwein und Bratwurst schmeckten. Hoffnungsvoll sah Ernst in den Himmel. Schnee wäre schon schön. Wenigstens zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes am nächsten Wochenende.
Ernst hob die Hand, als er zwei Gemeindemitarbeiter traf, die rote Schleifen an die Straßenlaternen banden, so langsam breitete sich die Adventsstimmung im Dorf aus. Auch in den Vorgärten waren die Vorbereitungen im Gange, Ernst entdeckte die ersten Lichterketten, die ersten Holzweihnachtsmänner und sah Bekannte, die sich auf Leitern oder hinter Fenstern abmühten, um Haus und Garten weihnachtlich zu schmücken. Beim Bäcker standen Nikoläuse aus Schokolade, in der Apotheke hingen bunte Kugeln an einem Tannenzweig, selbst der Fahrradladen hatte goldene Sterne in der Auslage. Das Dorf rüstete auf.
Als er auf die erleuchteten Fenster der hiesigen Bankfiliale zulief, fiel ihm der Film von gestern Abend wieder ein. Die Gentleman-Bankräuber waren immer gut gekleidet gewesen, lediglich eine schwarze Maske hatte ihre Gesichter verdeckt. Bei ihren Überfällen hatten sie sehr elegant ausgesehen. Ganz anders als diese groben Banditen mit Nylonstrümpfen, die man sonst so kannte. Das war ein ganz anderer Schnack. Eine sehr kultivierte Form des Bankraubs.
Die Bank hatte noch geöffnet, im Schalterraum war Licht, über der Tür hing eine Tannengirlande mit roten Schleifen. Ernst blieb vor dem Schaufenster stehen und sah sich die wenigen Immobilienangebote an. Und die Weihnachtsdekoration, die schon aufgebaut war. Ein Plastiktannenbaum mit roten Kugeln und blinkender Lichterkette. Und überall lag weißer Kunstschnee. Wie schon im letzten Jahr, denen fiel wohl auch nichts Neues ein.
Er betrat die Bank und blieb im Vorraum neben dem Kontoauszugdrucker stehen, nicht ohne in den Schalterraum zu sehen. Hinter dem Schalter saß Martina, sie arbeitete schon immer in dieser Filiale. Sie war ziemlich dick, vielleicht kam das vom vielen Sitzen. Und sie redete nicht viel, eigentlich nur das Nötigste. Aber das war eben ihre Art. Dafür konnte sie sehr gut rechnen und hatte ein überragendes Gedächtnis. Ernst konnte sie gut leiden. Besser als ihren Chef Dietrich Stockmann. Den Weihnachtsmann. Mit den beiden linken Händen und der Höhenangst.
Als Martina plötzlich den Kopf hob und mit gerunzelter Stirn nach draußen schaute, hob Ernst sofort die Hand zum Gruß, sie grüßte nicht zurück, vermutlich war sie in Gedanken. Sie war meistens etwas spröde, ganz das Gegenteil von der Plaudertasche Dietrich, der immer irgendetwas erzählen musste. Auch wenn es niemanden interessierte. Martina machte eben ihre Arbeit, nicht mehr und nicht weniger. Sie wurde ja nicht fürs Schwatzen bezahlt. Das kam Ernst sehr entgegen. Während der Drucker ratternd die Auszüge ausspuckte, überlegte Ernst, ob diese Bank schon irgendwann mal überfallen worden war. Vermutlich nicht, es war einfach eine kleine, langweilige Dorffiliale. Kein Vergleich mit den eleganten Banken, die sich die Gentleman-Räuber ausgesucht hatten.
Ernst schob seine Hände in die Jackentaschen und spähte an die Decke des Vorraums. Waren hier überhaupt Überwachungskameras? Er sah keine, die glaubten wohl selbst nicht, dass sich irgendwelche Bankräuber die Mühe machen würden. Dazu war diese Filiale viel zu klein.
Der Drucker spuckte den letzten Auszug aus, Ernst faltete ihn mit den anderen ordentlich zusammen und schob sie in die Jackeninnentasche. Er wandte sich um und verließ die Bank. Eigentlich könnte er Dietrich nachher mal fragen, ob er schon mal einen Banküberfall erlebt hatte. Vermutlich nicht, sonst hätte er das schon hundertmal erzählt. Aber er kannte garantiert jemanden, dem das schon passiert war. Er kannte ja immer alle. Vielleicht würde Ernst ihn doch nicht fragen. Sonst würde Gudrun noch denken, dass er sich für Dietrich interessierte. Das tat er aber nicht. Höchstens für dessen Job.
»Es sind ja inzwischen einundzwanzig Kinder im Chor«, Gudrun ließ die Liste beeindruckt sinken und sah Minna und Hella an, »und viele neue Namen.«
»Ja«, Minna nickte, während sie die nächste Lichterkette aus einem Karton zog. »Und die meisten kommen aus dem Kinder-Club. Ich finde das zu schön. Und es sind so gute Stimmen dabei.«
Früher war Minna Paulsen Grundschullehrerin gewesen, seit sie in Pension war, leitete sie ehrenamtlich nachmittags den Kinder-Club. Dort trafen sich die Kinder erst zum Mittagessen, danach konnten sie unter Minnas Aufsicht Hausaufgaben machen, spielen, lesen oder basteln. Und Minna hatte mit ihnen einen Kinderchor gegründet, der sogar manchmal auftrat. Natürlich auch bei der Dorfweihnachtsfeier.
»Ach, sieh mal an, der Anton, das ist der kleine Blonde, der bei Martina im Haus wohnt.« Hella Fröhlich tippte mit ihrem blau lackierten Fingernagel so schwungvoll auf einen Namen, dass ihre Armbänder klimperten. »Anton Kulikow. Den finde ich ja so niedlich. Und so gut erzogen. Den sehe ich immer, wenn ich morgens Kaffee trinke. Dann geht er zum Bus. Und winkt jedes Mal. Der ist doch auch neu dabei, oder?«
»Er kommt jetzt auch zum Mittagessen.« Minna nickte und sah sie an. »Ich musste seine Mutter aber überreden, es anzunehmen. Es war ihr unangenehm. Also, dass ihr Sohn umsonst bei uns essen kann. Aber dafür ist das Geld von der Gemeinde doch da. Als Zuschuss für die Familien, denen es nicht so gut geht.«
Auch das hatte Minna vor einigen Jahren organisiert, die Möglichkeit eines Mittagessens für die Kinder, deren Eltern arbeiten mussten und wenig Zeit zum Kochen oder Kümmern hatten. Die resolute Minna hatte in Nullkommanix Frauen aus dem Dorf gefunden, die abwechselnd hier kochten. Zum Einkaufen gab es Geld aus der Gemeindekasse, die Frauen kochten gern und machten es aus Überzeugung. Für Kinder, deren Eltern wenig verdienten, war das Essen umsonst.
»Bei Martina im Haus?« Gudrun ließ das aufgewickelte Schleifenband auf dem Tisch liegen. »Ist die Mutter diese hübsche Blonde? Die arbeitet doch im neuen Hotel, oder?«
»Ja.« Hella fuhr fort, die Kerzenständer aus dem Seidenpapier zu wickeln. »Und sie ist alleinerziehend, eine ganz sympathische junge Russin, arbeitet rund um die Uhr. Erst im Hotel und dann macht sie, glaube ich, auch noch abends irgendwo sauber. Der Junge ist viel allein. Aber immer fröhlich. Ein ganz Süßer.«
Gudrun stellte den leeren Karton unter den Tisch und kam wieder hoch. »Minna, dieser Kinder-Club war eine deiner besten Ideen. Ich koche übrigens nächste Woche zwei Tage. Mit Hannelore. Das ist immer nett. Und auf die Weihnachtsfeier freue ich mich auch wieder. Auf die Gesichter der Kinder, wenn der Weihnachtsmann reinkommt. Und wenn sie ihre Geschenke auspacken. Hast du ihnen gesagt, dass sie die Wunschzettel am Sonntag an den Baum hängen sollen? Am ersten Advent?«
»Natürlich. Die Ersten haben sie schon geschrieben. Aber apropos Weihnachtsmann«, sagte Minna und sah dabei auf die Uhr. »Es ist gleich halb fünf. Was ist denn mit Dietrich?«
»Keine Ahnung«, Hella hob die Schultern, »vielleicht macht er in der Bank gerade die großen Geschäfte. Oder wird überfallen. Habt ihr gestern Abend auch diesen lustigen Bankräuberfilm gesehen?«
»Haben wir. Ich ruf ihn mal an«, sofort suchte Gudrun in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. »Vielleicht hat er es einfach vergessen. Er ist ohnehin ein bisschen unzuverlässig geworden, finde ich.«
»Ja«, Hella zog einen Spiegel aus der Tasche und zog ihren Lippenstift nach, »seit er eine neue Freundin hat.« Sie schob die Kappe auf den Stift und warf ihn zurück in ihre Handtasche.
»Er hat eine Freundin?« Ruckartig hoben sich die Köpfe von Minna und Gudrun. »Ernsthaft? Woher weißt du das?«
»Ich habe sie am Bahnhof in Niebüll gesehen. Als ich vor ein paar Wochen beim Augenarzt war. Ich wollte zurück nach Westerland, Dietrich stieg aus dem Zug und seine Freundin hat ihn abgeholt. Und sie haben gleich am Bahnsteig geknutscht.«
»Und?«, fragte Minna neugierig. »Was ist das für eine?«
Achselzuckend sah Hella sie an. »Ich habe sie nur von hinten gesehen. Sie war klein und schlank mit einem blonden Zopf. Das Alter kann ich nicht einschätzen. Aber Männer seines Alters suchen sich ja meistens jüngere Frauen, oder? Sie haben mich aber nicht gesehen, deshalb wurde sie mir auch nicht vorgestellt.«
»Das ist ja ein Ding.« Gudrun lächelte. »Aber das hat er verdient, seine Frau hat sich ja unmöglich benommen. Hoffentlich ist die Neue netter. Wann hast du ihm denn Bescheid gesagt, Hella? Dass wir uns heute treffen?«
»Ich habe ihm schon letzte Woche auf den Anrufbeantworter gesprochen«, Hella zupfte ihr schreiend buntes Tuch über dem Busen zurecht. »Auf dem Handy und zuhause. Mindestens dreimal, er hat aber nicht zurückgerufen.«
Gudrun musterte sie erstaunt. »Warst du nicht bei ihm in der Bank? Nachdem du ihn zuhause nicht erreicht hast?«
»Da war er nicht.« Hella hob die Schultern. Sie hatte Lippenstift am Schneidezahn, das hatte sie aber eigentlich immer. »Zweimal habe ich es versucht, aber Martina hat jedes Mal gesagt, er sei nicht da. Ich habe ihn schon seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das ist irgendwie komisch, oder?«
»Zu sehen«, korrigierte sie Minna. »Du hast ihn nicht zu sehen bekommen, zu Gesicht sagt man nicht im Hochdeutschen. Ich denke, du warst in deiner Jugend Schauspielerin, da ist man doch eigentlich empfindlich, was die Sprache angeht.«
Hella verdrehte die Augen. »Danke, Frau Lehrerin. Noch was?«
»Du hast Lippenstift am Zahn«, Minna sah sie unbeteiligt an, »am Schneidezahn.«
»Ich habe mein Handy zuhause liegen gelassen.« Kopfschüttelnd stellte Gudrun ihre Handtasche wieder auf den Boden. »Kann eine von euch ihn noch mal anrufen?«
»Ich kann das machen.« Minna stand auf und ging zu ihrem Mantel, der über einem Stuhl hing. Während Hella mit dem Zeigefinger über die Schneidezähne schrubbte, wählte Minna eine Nummer und blieb abwartend mitten im Raum stehen.
»Das ist die Mailbox von …«
»Er hat sein Handy aus.« Minna ließ ihr Telefon sinken. »Hat jemand die Nummer von der Bank im Kopf?«
»3612«, antwortete Gudrun prompt und sah zu, wie Minna die Zahlen eintippte und einen Faden von ihrem Pullover strich, während sie wartete.
»Hallo, Martina, hier ist Minna Paulsen. Kannst du mir mal deinen Chef geben? Ja? Danke, ich warte.«
Zufrieden lächelte sie Gudrun und Hella an, bis ihr Lächeln plötzlich einfror. »Mit wem spreche ich?«
Sie runzelte die Stirn und verlagerte ihr Gewicht aufs andere Bein. »Nein, ich wollte Herrn Stockmann sprechen.«
Die neugierigen Blicke von Hella und Gudrun ignorierend drehte sie sich zur Seite. »Wie? Seit wann das denn? Und warum? Ach. Und wo …? Nein, danke. Aber wie war Ihr Name noch mal? Steffens. Aha. Dann … Hallo? Sind Sie noch dran? Hallo?«
Irritiert ließ sie die Hand mit dem Telefon sinken und starrte die anderen beiden an. »Aufgelegt. Das ist ja … Also, Dietrich ist nicht da. Er arbeitet im Moment nicht in der Bank. Dafür ist da jetzt so ein Schnösel namens Steffens. Was ist denn da los?«
»Wie? Er arbeitet im Moment nicht in der Bank?« Verblüfft schüttelte Gudrun den Kopf. »Was soll denn das heißen? Und wo ist er jetzt?«
»Das wollte dieser Schnösel nicht sagen«, langsam ließ sich Minna auf den Stuhl sinken. »Das ist ja ein Ding. Hat jemand Dietrichs Festnetznummer im Kopf?«
Sofort fing Gudrun an, in einem kleinen Notizbuch zu blättern. »Hier ist sie«, sie hielt Minna die Seite hin. »Die Vorwahl von Niebüll und dann die hier.«
Minna wählte neu, wartete gespannt ab, dann legte sie die Hand kurz aufs Handy und neigte ihren Kopf. »Anrufbeantworter«, sagte sie leise, um dann laut draufzusprechen: »Ja, Dietrich, hier ist Minna. Ich warte mit Gudrun und Hella in der alten Schule auf dich, wir haben doch heute Festkomitee und wundern uns, wo du bleibst. Und jetzt haben wir gerade gehört, dass du im Moment nicht in der Bank arbeitest? Melde dich doch mal.«
»Das ist ja echt ein Ding«, sagte Hella in die anschließende Stille. »Ob er geklaut hat?«
»Dietrich doch nicht«, entgegnete Gudrun entschieden. »Was denkst du denn?«
»Es muss doch einen Grund geben, dass er so plötzlich raus ist.« Hella riss ihre Augen auf. »Also, ich finde das komisch.«
Nachdenklich betrachtete Gudrun ihre beiden Mitstreiterinnen. Minna mit praktischer Kurzhaarfrisur im grauen Rollkragenpullover, Hella in einer knallroten Samtjacke, die dunkel gefärbten Haare mit glitzernden Haarnadeln hochgesteckt.
»Seit Dietrich nach seiner Scheidung das Haus verkauft hat und aufs Festland gezogen ist, sieht man ihn ohnehin nicht mehr privat. Nur noch in der Bank«, meinte Minna jetzt. »Und ich war ewig nicht mehr da. Ich glaube, ich habe Dietrich das letzte Mal im Spätsommer gesehen.«
»Soll ich mal Jutta anrufen?« Gudrun blätterte in ihrem Notizbuch. »Vielleicht weiß sie, wo er ist. Immerhin ist sie seine Ex-Frau.«
»Die ist doch so blöde«, winkte Hella ab. »Die haben doch kaum noch Kontakt. Seit sie ihn dermaßen über den Tisch gezogen hat. Erst nimmt sie sich einen Liebhaber und danach hat sie sein Konto abgeräumt. Wenn Dietrich bei der Bank Geld geklaut hat, dann ihretwegen. Das sag ich euch.«
»Jetzt setz keine Gerüchte in die Welt.« Tadelnd sah Gudrun sie an, während sie den Finger auf einen Eintrag legte. »Woher weißt du das? Mit dem Konto?«
»Hat Dietrich mir letztes Jahr nach der Weihnachtsfeier erzählt. Als die Geschenke verteilt und die Kinder alle weg waren. Da haben wir doch noch den Glühwein leer gemacht. Und die restlichen Bratwürstchen gegessen. Und irgendwann hatte Dietrich einen im Tee und fing an zu reden. Ich brauchte gar nichts fragen, das kam alles von selbst.« Hella zog eine ihrer Haarnadeln raus und schob sie fester in die Frisur. »Wenn man Interesse ausstrahlt, reden die Menschen mit einem. Ihr habt ja alle schon angefangen aufzuräumen, während ich mir eben Zeit für den betrunkenen Dietrich genommen habe.«
»Du räumst doch nie mit auf«, erinnerte sie Minna. »Jetzt tu man nicht so.«
»Kann jetzt mal jemand Jutta anrufen?«, ungeduldig hielt Gudrun das Notizbuch hoch. »Ich sag die Nummer an.«
»Ich konnte die nie leiden«, Hella hob ablehnend die Hand. »Ich ruf die nicht an.«
Mit einem langen Blick auf Hella nahm Minna ihr Handy wieder in die Hand. »Sag mal, du stellst dich aber auch an.«
Sie tippte die Zahlen nach Diktat ein, stellte auf Freisprechanlage und wartete, bis eine laute Frauenstimme zu hören war.
»Stockmann.«
»Hallo Jutta, hier ist Minna Paulsen. Ich habe da mal eine Frage.«
»Ach, Minna. Ja, was denn?«
»Ich sitze hier mit Gudrun und Hella zusammen, wir haben eine Festkomitee-Sitzung für den Weihnachtsmarkt und warten auf Dietrich. Und können ihn nicht erreichen. Weißt du, ob er verreist ist? Oder ob irgendetwas passiert ist?«
»Der ist irgendwo auf den Kanaren.«
»Was?«, rief Gudrun dazwischen und beugte sich näher ans Telefon. »Hallo, Jutta, hier ist Gudrun, hast du Kanaren gesagt? Wie lange bleibt er denn da?«
»Keine Ahnung. Wir telefonieren nicht regelmäßig.«
»Ach«, Minna gab sich Mühe, ihre Stimme harmlos klingen zu lassen. »Wann kommt er denn wieder?«
»Weiß ich nicht. Der arbeitet ja gerade nicht. Schon seit sechs Wochen. Den Rest müsst ihr ihn selbst fragen. Tschüs.«
Sie legte einfach auf.
Hella lächelte triumphierend. »Sag ich doch, die ist so blöde.«
»Ja, und nun?« Minna wog ihr Handy in der Hand und hob die Schultern. »Er ist ja nicht nur unser Weihnachtsmann, Dietrich verwaltet auch unsere Spendenkasse. Für die Weihnachtsgeschenke der Kinder. Er muss uns doch wenigstens das Geld bringen, sonst können wir nichts einkaufen. Aber von den Kanaren aus ist das ja nun schwierig.«
»Wir müssen mit ihm reden«, beschloss Gudrun. »Wir versuchen es einfach immer wieder, der hat doch bestimmt sein Handy mit und irgendwann geht er schon ran. Und ansonsten gehe ich in die Bank und frage Martina. Dietrich ist ihr Chef, sie wird ja wohl wissen, was da passiert ist. Und vielleicht weiß sie ja auch, auf welchem Konto das Geld für die Weihnachtsgeschenke liegt. Oder er hat ihr was hinterlassen. So, und jetzt arbeiten wir mal die Liste ab, wir sind noch lange nicht fertig.«
»Und was machen wir mit dem Weihnachtsmann?«, fragte Hella neugierig. »Also, wenn Dietrich wirklich nicht mehr hier arbeitet, kann er das ja schlecht machen, er kommt doch nicht extra an den Adventssonntagen auf die Insel. Was haltet ihr denn von der Idee, dass wir dieses Jahr mal eine Weihnachtsfrau haben? Ich meine, ich habe schon ganz andere Rollen gespielt, das wäre für mich ein Leichtes. Und wir würden mal ein Zeichen setzen. Für ein modernes Weihnachten, für Frauenpower und Innovation.«
»Hella, bitte«, mit hochgezogenen Augenbrauen sah Minna sie an. »Du machst dich lächerlich. Weihnachtsfrau, um Himmels willen. Wir sind nicht im Varieté. Es ist eine Dorfweihnachtsfeier. Mit Kinderchor und Seniorenkaffee. Außerdem passt es nicht zu Dietrich, dass er sich gar nicht meldet. Er will doch immer allen gefallen und Nein sagen kann er auch nicht.«
»Ich könnte auch einen Mann spielen. Nichts leichter als das.«
»Du hast viel zu viel Busen.« Gudrun betrachtete Hellas Dekolleté. »Aber ich habe eine Idee, wer das machen könnte. Er hat auch ungefähr dieselbe Größe wie Dietrich und im Moment nichts anderes vor.«
Alle drei wandten sich um, als die Tür quietschend geöffnet wurde.
»Wenn man vom Teufel spricht«, Gudrun lächelte und stand auf. »Ernst, du kommst genau im richtigen Moment. Du hast vorhin doch gesagt, dir sei langweilig. Wir haben eine Aufgabe für dich.«
5632273, dachte Martina, als das alte Paar kurz vor Feierabend die Bank betrat. Sie rollte mit ihrem Stuhl ein Stück näher an den Tresen und zog einen Kugelschreiber aus dem Becher. Das Ehepaar Braun weigerte sich, seine Bankgeschäfte am Computer oder an einem seelenlosen Bankautomaten zu machen, sie bevorzugten schriftliche Überweisungen und Daueraufträge, holten die Auszüge nur zu Öffnungszeiten ab und bezahlten alles bar. Sie hatten noch nicht einmal eine EC-Karte.
»’n Abend, Martina.« Herr Braun nahm seinen Hut ab und lächelte sie durch beschlagene Brillengläser an. Seine Frau blieb ein Stück hinter ihm stehen und betrachtete die Weihnachtsdekoration im Fenster. Es war jedes Jahr dieselbe. Alles Plastik, auch der Kunstschnee. Aber eine farbige Lichterkette. Mit siebenundzwanzig Lämpchen.
»Ich möchte gern meinen Enkeln ein bisschen Nikolausgeld überweisen, jedem Enkel 50 Euro, und dann hätte ich gern noch 300 Euro in bar. Meine Kontonummer ist die 5632273.«
Martina nickte und begann, das Überweisungsformular auszufüllen. Herr Braun sah ihr mit schief gelegtem Kopf zu. »Was du für eine schöne Handschrift hast«, sagte er bewundernd. »Wie mit einer Schablone.«
Das hatten schon ihre Lehrer in der Schule gesagt. Sie hatte tatsächlich eine sehr schöne Handschrift. Immer schon gehabt. Ihr bestes Fach war allerdings Mathe gewesen. Martina liebte Zahlen. Sie fand sie beruhigend. Es gab nichts zu deuten, nichts zu diskutieren, entweder stimmte das Ergebnis oder es stimmte nicht. Das mochte sie. Und deswegen mochte sie auch ihre Arbeit in der Bank. Die sie seit Jahren machte. Und zwar sehr, sehr gut.
»Hier bitte unterschreiben.« Sie schob Herrn Braun die Überweisungsformulare über den Tresen. »Die dreihundert in kleinen Scheinen?«
»Ja, bitte.« Während er unterschrieb, betrachtete Martina die Altersflecken auf seiner Hand. Es waren vierzehn. In unterschiedlichen Größen.
Früher war er Busfahrer gewesen, sie war morgens mit ihm zur Schule gefahren. Und hatte immer auf dem Einzelsitz hinter ihm gesessen, weil sie nicht mit den anderen Kindern reden wollte. Sie sah morgens einfach gern aus dem Fenster, besonders an der Stelle zwischen Westerheide und Vogelkoje, wo das Meer bis an die Straße kam. Dann bekam sie gute Laune. Und wenn ihnen danach eine gerade Zahl an Autos entgegenkam, war das ein Zeichen für einen guten Tag. Meistens stimmte es.
»Und?« Herr Braun schob die unterschriebenen Überweisungen zu ihr zurück. »Hast du Weihnachten etwas Schönes vor?«
Martina sah ihn an und nickte. »Ja. Und Sie?«
»Unsere Kinder kommen. Alle am 22. Dezember, meine beiden Töchter mit ihren Männern, mein Sohn mit seiner Freundin und dem Hund, natürlich unsere beiden Enkelkinder, ja, das wird schön. Es gibt Gans. An Heiligabend. Was gibt es bei euch?«
Bei euch, hatte er gefragt. Er konnte wohl nicht glauben, dass es Menschen gab, die an Weihnachten allein waren. Dabei feierten 14 % der Alleinlebenden auch Weihnachten allein. Das war belegt. Und es beruhigte Martina. 14 %. Sie gehörte dazu.
»Kartoffelsalat mit Würstchen.« Martina hatte in einer anderen Statistik gelesen, dass die meisten Deutschen das als ihr Heiligabendessen nannten. Mit dieser Antwort war sie auf der sicheren Seite.
»Auch gut. Aber das essen wir immer Silvester. Weihnachten muss es etwas Besonderes geben. Und danach machen wir dann Bescherung, die Enkelkinder sagen Gedichte auf, es gibt ein Glas Rotwein, ach, es ist doch immer zu schön.«
»Ja.« Martina steckte den Kugelschreiber zurück in den Becher, in dem immer neun Kugelschreiber steckten. »Dann wünsche ich einen schönen ersten Advent.«
»Danke«, Herr Braun lächelte sie an, »für dich auch. Bis zum nächsten Mal.«
Zweiundzwanzig Schritte brauchte er bis zur Tür, er hatte kurze Beine. Die meisten blieben unter zwanzig.
Hinter ihr flog plötzlich die Bürotür auf, ihr neuer Chef klimperte mit den Schlüsseln. »Feierabend«, sagte er mit seiner unangenehmen und etwas zu lauten Stimme. »Wir können abschließen.«
»Nein.« Martina sah ihn an. »Es ist 16:54 Uhr.« Sie deutete auf die Uhr über dem Eingang. »Die Bank schließt um 17 Uhr. In sechs Minuten.«
»Es kommt doch keiner mehr. Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an. Sie wollen doch auch nach Hause.«
»Nein. Jetzt noch nicht. Erst in sechs Minuten.« Der Zeiger sprang eine Minute weiter. »In fünf.«
Sven Steffens stöhnte genervt auf, Martina sah auf seine Schuhe. Braune Lederschuhe, vorn ganz spitz, vermutlich Schuhgröße 42. Kleine Füße für einen Mann. Sein Anzug war blau, ein bisschen glänzend und auf Figur geschnitten. Ihr neuer Chef war ein eitler Fatzke, dachte Martina. Jetzt gerade betrachtete er sich in der spiegelnden Fensterscheibe und strich sich über seine kurzen blonden Haare. Sein Scheitel war sehr gerade, er sah aus wie einrasiert. War er wohl auch.
»Was starren Sie mich denn so an?« Steffens spielte mit den Schlüsseln. »Ist was?«
»Kundschaft«, Martina sah an ihm vorbei. »Frau Brandstetter bringt Geld ins Schließfach.«
»Was?«
»Schließfach 27«, antwortete Martina knapp. Kontonummer 5231118, dachte sie, sagte es aber nicht laut. Aber die Brandstetters zahlten nur montags ein. Donnerstags legten sie immer nur Umschläge ins Schließfach.
»Guten Abend.« Eingehüllt in eine Parfümwolke betrat Insa Brandstetter in diesem Moment die Bank und blieb irritiert stehen, weil Sven Steffens ihr mit großer Geste die Tür aufgehalten hatte. »Was für ein Service.«
»Je später der Abend, desto schöner die Kunden«, schwadronierte Steffens und musterte sie mit einem strahlenden Lächeln. Insa Brandstetter lächelte kokett zurück.
»Ich danke Ihnen. Sind Sie neu in der Bank? Wir kennen uns ja noch gar nicht.« Sie reichte ihm die manikürte Hand, Martina sah auf knallrote Fingernägel und Goldringe.
»Sven Steffens.« Er ergriff ihre Hand und deutete eine kleine Verbeugung an. »Aufgrund von Umstrukturierungen leite ich im Moment die Geschäfte hier. Falls Sie also irgendwelche Fragen bezüglich Ihrer Konten oder Anlagemöglichkeiten haben, jederzeit gern. Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Karte.«
Insa Brandstetter blieb abwartend vor ihm stehen, während er hektisch in den Taschen nach einer Visitenkarte suchte. »Einen kleinen Moment, ich hole sie eben aus meinem Büro.«
Er schoss davon, während Insa Brandstetter ihm nachsah, bis ihr Blick schließlich auf Martina landete. »Ach, guten Abend. Ist das Ihr neuer Kollege? Ist Herr Stockmann im Urlaub?«
Martina nickte stumm. Zwei Mal.
»Smarter Typ.« Insa Brandstetter zog einen braunen Umschlag aus ihrer teuren Handtasche und ging langsam in Richtung Glastür. »Ich habe nur was fürs Schließfach. Machen Sie mir mal die Tür auf.«
Martina entriegelte sie mit einem Knopf, der hinter dem Schalter war. Insa Brandstetter zog die Tür auf und trat ein.
Sie war noch im Schließfachraum, als Steffens zurückkam. »Wer ist das?«, flüsterte er Martina zu, obwohl ihn Insa hinter der geschlossenen Tür gar nicht hören konnte.
»Brandstetter«, antwortete Martina. »Brandstetter GmbH & Co., Holzfirma und Bauunternehmen aus Westerland mit Filiale in Bredstedt, ein Geschäftskonto, ein Privatkonto, keine Vermögensanlagen bei uns. Sie ist die Ehefrau von Horst Brandstetter. Vollmachten für alle Konten, auch für die …«
Die Glastür ging auf, Insa Brandstetter trat raus und blieb einen Moment stehen, so als würde sie auf den einsetzenden Applaus warten. Stattdessen kam Sven Steffens ihr entgegen.
»So, jetzt kann ich Ihnen meine Karte überreichen.« Bewundernd musterte er ihr elegantes Outfit, bevor er schwungvoll mit der Visitenkarte wedelte. »Es ist mir ein Vergnügen.«
»Gleichfalls.« Insa Brandstetter neigte den Kopf ein bisschen und warf ihm einen interessierten Blick zu. »Wo waren Sie denn vorher? Sie kommen doch nicht von der Insel, oder?«
»Nein. Aus Hamburg«, er trat einen kleinen Schritt näher, »wobei ich die nächsten Monate hier verbringen werde. Jetzt im Moment finde ich die Vorstellung äußerst angenehm.«
Insa lächelte lasziv. »Hamburg? Ach, ich liebe diese Stadt.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nahm sie ihm die Visitenkarte aus der Hand. »Ich hoffe, Ihnen fällt hier nicht die Decke auf den Kopf. Sie sind ja sicher was ganz anderes gewohnt. Tolle Bars, Kultur, Restaurants, da weiß man doch gar nicht, was man zuerst machen soll.«
»Bars und Restaurants gibt es doch auf Sylt auch.« Steffens starrte sie interessiert an. »Ich kenne mich zwar noch nicht besonders gut aus, aber ich denke, diese Insel hat doch einiges zu bieten.« Er wirkte plötzlich regelrecht entflammt, auch Insa schien das zu empfinden, geschmeichelt trat sie ein Stück näher und sah zu ihm hoch. »Oh ja. Also, wenn Sie mögen, dann gebe ich Ihnen gern den einen oder anderen Tipp. Oder begleite Sie sogar …«
»Sehr gern«, Steffens senkte seine Stimme. »Also, wenn ich Sie einladen darf …«
Insa fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Locken und mit der Zunge über die Lippen. »Sie dürfen«, sagte sie langsam. »Herr Steffens. Ich rufe Sie an.«
Sie ließ die Visitenkarte in die offene Handtasche fallen und warf ihm einen betörenden Blick zu. »Wir sehen uns. Bis bald, Herr Steffens.«
Dann schritt sie an ihm vorbei zum Ausgang, wo sie sich noch kurz umdrehte, nickte und »Schönen Feierabend« hauchte. Als sich die Tür hinter ihr schloss, sprang der Zeiger der großen Uhr auf die Zwölf.
Mit routinierten Handgriffen loggte Martina sich an ihrem Computer aus, schob den Stuhl mit Schwung zurück und nahm die blaue Strickjacke von der Lehne. Sie stutzte, als sie den ertappten Blick ihres Chefs bemerkte.
»Ist noch etwas?«
»Seit wann arbeiten Sie eigentlich hier?«
»In dieser Filiale seit zweiundzwanzig Jahren und sieben Monaten. Vorher war ich acht Jahre und vier Monate im Hauptgeschäft in Westerland.«
Sie zog die Jacke an und zupfte die Ärmel zurecht. Steffens schluckte.
»Immer auf der Insel?«
»Schon immer. Kann ich jetzt gehen? Es ist zwei nach fünf.«
»Ja, sicher. Ich schließe ab.«
Martina nickte und nahm ihren Mantel vom Haken. Sie zog ihn an, setzte ihre bunte Wollmütze auf und ging an ihrem Chef vorbei durch die Tür. »Guten Abend.«
»Ja, ähm, ebenso.«
Martina drehte sich nicht mehr um, sondern schob die Hände in die Manteltaschen und stapfte die Hafenstraße runter.
Sven Steffens. Wie er Insa Brandstetter angestarrt hatte. Es war schon fast peinlich gewesen. Obwohl es Insa anscheinend gefallen hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich geschmeichelt gefühlt, weil Steffens bestimmt zehn Jahre jünger war. Und ihr eigener Mann viel älter. Wenn auch mit mehr Geld. Aber das ging Martina ja gar nichts an und eigentlich interessierte es sie auch nicht. Von ihr aus konnten alle machen, was sie wollten, solange sie Martina in Ruhe ließen. Sie sagte nichts dazu, sie dachte sich nur ihren Teil. Vielleicht hatte sich ihr neuer Chef gerade eben tatsächlich verknallt, nur hatte Insa vermutlich andere Gründe, auf ihn einzugehen. Das würde er noch merken. Martina würde bestimmt nichts sagen. Das tat sie nie. Weil sie nicht gern redete. Zumindest, wenn sie nicht gefragt wurde.
Sie kniff die Augen zusammen, als sie an dem großen Hotel vorbeikam, das erst seit ein paar Jahren hier stand und an dessen Anblick sie sich immer noch nicht gewöhnt hatte. Hinter einunddreißig Fenstern brannte Licht, das war höchstens eine Auslastung von zwanzig Prozent. Nicht genug, um damit viel Geld zu verdienen. Selbst schuld, man hätte das Hotel auch kleiner bauen können, dann hätte es sich gerechnet. Aber sie fragte ja keiner. Dabei sah sie sich regelmäßig die Konten an, toll war das nicht.