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Ein köstlich unterhaltender Frauenroman in einem Wellnesshotel an der Ostsee. Eine humorvolle Geschichte über das, was Frauen in den Wechseljahren umtreibt, was sie verdrängen oder mit allen Tricks bekämpfen, wie sie leiden und sich lächerlich machen im verzweifelten Versuch, der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Kurzweilig und voll sprühendem Wortwitz - von Bestsellerautorin Dora Heldt Gibt es etwas Schlimmeres, als den 50. Geburtstag in einem spießigen Lokal mit der Familie feiern zu müssen, Geschäftskollegen des Mannes und Nachbarn inklusive? Doris (49) sucht ihr Heil in der Flucht: Dem gefürchteten Datum will sie lieber mit ihren ehemaligen Schulfreundinnen Katja und Anke die Stirn bieten – bei einem Wellness-Wochenende an der Ostsee, mit allem Drum und Dran. Früher, zu Schulzeiten, waren die Erwartungen der drei ans Leben hoch. Aber wer gibt schon gerne zu, dass nicht alles nach Wunsch gelaufen ist? Den großen Knall kann dann aber selbst die beste Hot-Stone-Massage nicht verhindern … »Der 50. Geburtstag: ein Graus? Nicht mit diesem Buch!« Gesa Kiecksee in der ›Laura‹
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Seitenzahl: 394
Dora Heldt
Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
EINLADUNG
Liebe Familie und liebe Freunde,
wie Ihr hoffentlich alle wisst, wird Doris am 27. Mai flotte fünfzig.
Das ist für mich ein Anlass, alle alten Freunde einmal wieder um uns zu versammeln, damit dieses Fest auch gebührend gefeiert wird. Doris würde das bestimmt genauso sehen, wenn sie es denn wüsste. Das Schöne an dieser Überraschungsparty ist aber: Das Geburtstagskind hat noch keine Ahnung. Damit das so bleibt, bitte ich Euch, an diesem Tag um 12 Uhr pünktlich am Gasthof Hanske bei uns in der Straße zu sein. Natürlich feiern wir nicht dort, sondern machen mit dem bereitstehenden Bus eine kleine Fahrt (ca. 45 Minuten) zur eigentlichen Location. Das klingt umständlich, aber wir wollen Doris ja überraschen.
Ich hoffe, Ihr unterstützt mich bei diesem Plan, kommt alle zum Feiern und freut Euch genauso wie
Euer Torsten
Im Treppenhaus roch es nach angebratenen Zwiebeln. Anke stellte ihren Einkaufskorb auf dem Boden ab und schloss den Briefkasten auf. Drei Wurfsendungen und mehrere kleine Umschläge fielen ihr entgegen. Den Aufkleber »Keine Werbung« hätte sie sich auch sparen können, er wurde von diesen Zustelltrotteln mit einer Konsequenz ignoriert, die sie zur Mörderin machen könnte. Sie schloss die kleine Metalltür und stopfte die gesamte Post zwischen ihre Einkäufe, bevor sie die sechsundvierzig Stufen zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Ihr rechtes Knie knirschte. »Arthrose«, hatte der Hausarzt vor einem halben Jahr diagnostiziert, »das kann mit fast fünfzig schon mal sein. Gehen Sie schwimmen, Bewegung hilft.« Seitdem ging sie jeden zweiten Tag ins Hallenbad. Ihr Knie knirschte trotzdem. Dafür war sie jetzt öfter erkältet. Und jeden Monat um zwanzig Euro ärmer, so viel kostete das Frühschwimmerticket. Sie würde es Ende des Monats kündigen. Sie konnte Chlorgeruch um halb sieben sowieso nicht leiden.
In ihrer Wohnung angekommen ließ sie die Tür hinter sich zufallen und lehnte sich schwer atmend dagegen. Irgendwann, das wusste sie, irgendwann würde sie in eine Wohnung umziehen, zu der höchstens vier Stufen führten. Oder ein Fahrstuhl. Sie schlüpfte aus den Sandalen, drückte die Taste für den Anrufbeantworter und lief barfuß unter der Stimme ihrer Schwester in die Küche.
»Hallo, Anke, ich bin es, Martina. Du, Jörg und ich sind am Samstag eingeladen und kriegen keinen Babysitter für Jasper. Kannst du ihn abholen? Sei doch so gut und ruf mal zurück. Wir machen es auch wieder gut. Bis später. Tschüss, tschüss.«
Mit einem Seufzer begann Anke, ihre Einkäufe wegzuräumen. Ob ihre Schwester jemals einen Gedanken darauf verschwendete, sie, Anke, könnte einfach mal etwas vorhaben? Es war doch nicht selbstverständlich, dass Jaspers Patentante jeden Samstag allein auf dem Sofa verbrachte. Davon ging Martina aber aus. Bereits zum dritten Mal in diesem Monat sollte sie als Babysitter für ihren siebenjährigen Neffen einspringen. Der ja nichts dafür konnte und zauberhaft war. Nur deshalb ließ sie sich jedes Mal darauf ein. Trotzdem hatte sie überhaupt keine Lust, sich von Martina dauernd ausnutzen zu lassen. Das Los der Älteren, dachte sie kopfschüttelnd, sie war eben immer noch Babysitter. Früher für die kleine Schwester, jetzt für deren Sohn. Die perfekte kleine Martina, inzwischen schön, klug, reich, Ärztin, Ehefrau, Mutter war immer noch die beste aller Töchter. Die alles locker unter einen Hut brachte, ob Praxis, Kind oder Partys im Tennisclub. Dass die wunderbare Martina aber auch Gott und die Welt und vor allen Dingen ihre Schwester ständig einspannte, dagegen konnte man nichts sagen. Das war einfach gute Organisation. Anke bekam ganz langsam schlechte Laune. So wie meistens, wenn sie über Martina nachdachte. Weil diese Gedanken dann weiterliefen und irgendwann bei ihrer Mutter endeten.
Entschlossen ließ sie die Kühlschranktür zufallen und wandte sich zurück. Dabei fiel ihr Blick auf den Poststapel, den sie achtlos auf den Küchentisch geworfen hatte. Als sie den obersten Brief umdrehte, zuckte sie zusammen. Er war handschriftlich adressiert, die Schrift war schwungvoll und energisch. Sie hätte sie auch erkannt, wenn der Absender gefehlt hätte.
Mit dem Brief in der Hand füllte sie Wasser in die Kaffeemaschine und löffelte Kaffeepulver in die Filtertüte. Eins, zwei, drei, einen für die Kanne. Nach dem Knopfdruck setzte sie sich langsam, immer noch den Brief in der Hand, an den Tisch, starrte auf das Kuvert und warf es auf den Stapel. Sie würde warten, bis der Kaffee durchgelaufen wäre. Der Rest der Post bestand aus Rechnungen. Anke überflog die Summen und legte alles zur Seite. Sie musste sich mal wieder etwas ausdenken, die Nachzahlung ans Gaswerk hatte sie nicht auf dem Zettel gehabt. Das finale Gurgeln der Kaffeemaschine stoppte ihre Überlegungen. Sie stand auf, warf noch einen Blick auf den cremefarbenen Umschlag, nahm einen Becher aus dem Schrank und zog langsam die Kaffeekanne von der Wärmeplatte. Während sie die Milch in den Kaffee rührte, griff sie wieder nach dem Brief, wendete ihn und starrte auf den Absender. Nach all den Jahren war ihr immer noch komisch zumute, wenn sie den Namen las. Es war eine Melange aus Herzklopfen und Widerwillen, sehr seltsam. Mit angehaltenem Atem nahm sie ein Obstmesser und schlitzte den Umschlag auf. Sie überflog die Einladung und las danach die zweite Seite, atmete aus und las alles noch einmal langsam.
Hallo, Anke,
jetzt ist unser dreißigjähriges Abiturtreffen schon wieder ein Jahr her und somit auch unser letztes Treffen. Müssen wir eigentlich immer Anlässe haben, um uns alle zu sehen? Das ist doch dämlich, oder? Aber wenigstens gibt es mal wieder einen Anlass. Ich weiß nicht, wann Du das letzte Mal mit Doris telefoniert hast und ob Du auf dem Laufenden bist, aber meine Frau weigert sich kategorisch, diesen Geburtstag zu feiern. Sie findet es demütigend, fünfzig zu werden. (Das waren tatsächlich ihre Worte.)
Mir ist es ein Rätsel, warum sie sich solche Gedanken macht, also habe ich beschlossen, dass sie feiern muss. Wohin es geht, sage ich nicht, seid sicher, dass es ein toller Tag wird. Ich habe ja unsere ganze alte Clique eingeladen und bin mir sicher, die Stimmung wird wie früher sein, als wir noch alle jung und unerschrocken waren. Deswegen müsst Ihr dabei sein, Du und Katja, Ihr seid doch das Traumtrio gewesen.
Also dann, denkt daran, dass alles topsecret ist, nicht, dass Doris doch noch etwas ahnt und einfach vorher durchbrennt.
Jedenfalls freue ich mich auf ihr Gesicht.
Liebe Grüße, Torsten
P.S. Und bitte: Nichts verraten! Ich freue mich.
Anke ließ den Brief sinken und starrte aus dem Fenster. Was für eine bescheuerte Idee. Wenn Doris nicht feiern wollte, dann wollte sie eben nicht. Und es war klar, dass Torsten nicht kapierte, warum seine Frau diesen Geburtstag als demütigend empfand. Er war eben ein Mann und hatte früher schon selten nachgedacht.
Anke überlegte, wie lange sie sich eigentlich kannten. Es mussten fast fünfunddreißig Jahre sein. Großer Gott. Wie das schon klang. Uralt.
Sie hatten zusammen Abitur gemacht. Doris, Katja und sie waren in einer Schülerzeitungsredaktion gewesen. Drei völlig unterschiedliche Mädchen, die sich gut ergänzten. Nicht mehr und nicht weniger. Allerdings waren sie ein gutes Team. Drei Preise hatte ihre Zeitung bekommen. Sie hieß ›Wilde Wörter‹. Chefredaktion Anke Kerner, Layout und Fotos Doris Goldstein, Text Katja Severin. Es war gefühlte zweihundert Jahre her. Mittlerweile hieß Doris nicht mehr Goldstein, sondern Goldstein-Wagner, natürlich ein Doppelname, so viel Zeit muss sein, und die Farbe von Katjas mahagonifarbener Mähne kam aus der Tube.
Anke schob ihren Kaffeebecher zur Seite und strich den Brief glatt. Wirklich eine blöde Idee. Wie kam Torsten nur auf einen solchen Schwachsinn? Jetzt würde sie ihn auch noch anrufen müssen, um ihm zu sagen … ja, was eigentlich? Dass sie an diesem Tag keine Zeit hätte? Und keine Lust? Das fehlte ihr noch: ein ganzer Tag sentimentales Geschwätz über alte Zeiten. Das Abitreffen vor einem Jahr und das Essen, zu dem Torsten kurz danach eingeladen hatte, waren ihr schon zu viel gewesen. Wie Doris wohl reagierte? Und ob Katja kommen würde?
Mit Doris telefonierte sie ab und zu, allerdings rief sie selbst nie an. Immer nur Doris. Bei den letzten Telefonaten hatte Anke das Gefühl gehabt, Doris wäre ein bisschen angetrunken gewesen. Es war aber nur so ein Gefühl, das Telefonat hatte nicht lange genug gedauert. Sie hatten sich nicht mehr richtig viel zu erzählen.
Mit Katja hatte sie tatsächlich bis zu diesem Abitreffen überhaupt keinen Kontakt gehabt. Katja Severin. Die Schönste der Schule. Alle Typen waren in sie verknallt, es war kaum auszuhalten gewesen. Und dann hatte sie natürlich die ganz große Karriere gemacht. Volontariat, Studium und anschließend Moderatorin eines täglichen Boulevardmagazins im Fernsehen. Anke hatte sie jeden Abend gesehen. Vor zwei Jahren war Katja dann plötzlich weg vom Bildschirm. Auf dem Treffen hatte sie erzählt, dass sie jetzt das Regionalbüro in Kiel leite, sie sei es leid, auf der Straße ständig erkannt zu werden. Wer’s glaubt …, hatte Anke im Stillen gedacht, aber zugeben müssen, dass Katja sich wirklich kaum verändert hatte. Sie sah aus wie Mitte dreißig und redete auch so. Anke fühlte sich alt und grau neben ihr, obwohl Katja ein halbes Jahr älter war. Manchmal werden Gene ungerecht verteilt, genauso wie das Geld, das man für Schönheitskorrekturen ausgeben muss.
Entschlossen faltete Anke den Brief zusammen und schob ihn unter die Obstschale. Sie würde diese Albernheit nicht mitmachen, Sentimentalitäten wollte sie sich nicht leisten. Sie nicht. Mit einem Knirschen in den Knien stand sie auf und ging in den Flur, um ihre Schwester anzurufen. Bevor sie sich mit alten Geschichten herumschlüge, könnte sie auch telefonieren.
Martina meldete sich nach dem zweiten Freizeichen. »Hallo, Anke, hast du deinen AB abgehört?«
Wenn Anke irgendetwas nicht leiden konnte, dann waren es diese affigen Abkürzungen. »Ich höre den Anrufbeantworter immer ab. Wann müsst ihr denn am Samstag los?«
Martinas Stimme klang wie immer gehetzt. »Spätestens um vier. Wir sind zu einer Gartenparty eingeladen, ein ehemaliger Studienkollege von Jörg. Die haben sich ein irres Haus direkt am Meer gekauft, das muss traumhaft sein, aber es sind sonst überhaupt keine Kinder da, und du weißt ja, wie Jasper nervt, wenn er sich langweilt. Also, du kannst ihn nehmen, ja?«
Ankes Blick fiel auf ein Foto ihres Neffen, das im Regal stand. Er grinste in die Kamera, seine Zahnlücke war nicht zu übersehen, das blonde Haar verwuschelt. Er konnte ein Satansbraten sein, aber er wickelte Anke um den Finger. Martina war die Pause zu lang. »Mama hat Opernkarten, sie kann nicht. Was soll ich denn machen?«
›Absagen?‹, dachte Anke, hatte aber keine Lust, in eine Diskussion mit ihrer Schwester einzusteigen, die sie sowieso verlieren würde. »Okay, ich hole ihn gegen drei ab und bringe ihn Sonntagmittag wieder zurück. Und du …«
»Super«, unterbrach Martina sie, »auf dich ist doch Verlass. Jasper freut sich. Und irgendwann mache ich es auch mal gut und wir zwei gehen schön essen. Ich denk mir was aus!«
Anke verzichtete auf einen Kommentar und verabschiedete sich.
Resigniert stieß Doris die Luft aus und musterte sich im Schlafzimmerspiegel. Der Knopf würde vielleicht zugehen, aber in keinem Fall der Reißverschluss, egal, wie sehr sie den Bauch einzöge oder den Atem anhielte. Dieser dämliche Rock war definitiv zu eng. Und zwar mindestens eine Größe. Und ausschließlich auf der Hüfte.
Doris schob das Teil unwirsch an sich hinunter und ließ die zusammengerollte Stoffwurst achtlos auf dem Boden liegen.
›Jetzt wirst du auch noch fett‹, dachte sie wütend. Und das trotz Yoga und gesunder Ernährung. Diese verfluchten Hormone. Sie griff zu einer Jeans, die über dem Stuhl hing und schlüpfte hinein. Wenigstens die passte noch. Es wäre sowieso übertrieben, zu einem Friseurbesuch ein Designerkostüm anzuziehen. Trotzdem hatte sie diesen Rock nur einmal getragen, und das war erst ein Jahr her. Sie atmete tief aus, knöpfte die weiße Bluse zu und zog die Jacke an. Obenrum war alles in Ordnung, die Jacke ließ sich locker schließen.
Es klingelte an der Haustür, das war wohl schon Frau Kröger, die nie ihren Schlüssel benutzte, wenn sie eines der Autos vor dem Haus parken sah. Doris warf einen abschließenden Blick in den Spiegel und ging nach unten, um ihre Putzfrau reinzulassen.
»Guten Morgen, Frau Goldstein-Wagner, ich habe Ihren Wagen gesehen. Ich dachte, Sie wären mit Ihrem Mann bis Mittwoch verreist.«
Doris ging ein Stück zur Seite, ließ Frau Kröger vorbei und folgte ihr in die Küche. Sie putzte schon seit fünfzehn Jahren bei ihnen, jeden Dienstag und Freitag. Mittlerweile hatte sie das Rentenalter erreicht, zum Glück war bislang kein Wort darüber gefallen, dass sie mit der Arbeit hier aufhören wollte. Obwohl es eigentlich übertrieben war, dass sie immer noch zweimal in der Woche kam, zumal Moritz, Doris’ zweiter Sohn, seit einem halben Jahr auch ausgezogen und so aus einer vierköpfigen Familie ein Paar geworden war, das in einem viel zu großen Haus lebte.
»Ich bin doch nicht mit nach Berlin gefahren. Mein Mann hat den ganzen Tag auf der Messe zu tun und ich hatte irgendwie keine Lust, drei Tage allein durch die Stadt zu laufen.«
Frau Kröger schüttelte ungläubig den Kopf. »Also wirklich. Sie sind doch sonst immer mitgefahren. Berlin ist so eine tolle Stadt, ich war letztes Jahr mit dem Roten Kreuz da, mit so einer Bustour und zwei Übernachtungen. Also, das war sehr interessant, ich will da unbedingt noch mal hin.«
»Tja, meine Liebe«, Doris lehnte sich an den Küchenblock und sah zu, wie ihr guter Geist die blaue Strickjacke auszog und über einen Stuhl hängte, »hätte ich das gewusst, hätte ich meinen Mann gebeten, Sie mitzunehmen. Er schnarcht auch nicht.«
»Frau Goldstein-Wagner …« Unter der Strickjacke trug Frau Kröger ein enges T-Shirt, unter dem sich drei Rollen abzeichneten. Mit entrüstetem Gesicht sah sie hoch. »Das fehlt ja wohl noch. Haben Sie schon gefrühstückt? Soll ich oben anfangen?«
Doris dachte kurz an ihren Rock und fragte sich, im Hinblick auf die Krögerschen Speckrollen, ob die Unzufriedenheit mit der Figur vielleicht im Rentenalter aufhörte.
Sie würde heute jedenfalls nicht frühstücken. »Sie können hier anfangen, ich bin fertig. Ich fahre auch gleich zum Friseur.«
»Gut.« Frau Kröger stellte einen kleinen Eimer in die Spüle und ließ Wasser einlaufen. Während sie wartete, drehte sie sich zu Doris um und musterte sie. »Sie sehen abgespannt aus. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Ein bisschen Kopfschmerzen. Habe ich meistens, wenn das Wetter umschlägt.«
›Und wenn ich abends mehr als eine Flasche Weißwein auf der Terrasse trinke‹, fügte sie in Gedanken hinzu und vergewisserte sich mit einem Blick, dass sie die leeren Flaschen in den Altglaskorb gestellt hatte.
»Dann fahre ich mal los. Ich will nach dem Friseur noch einkaufen, dann sehen wir uns nicht mehr. Also, einen schönen Tag.«
»Ihnen auch. Bis Freitag.« Frau Krögers Konzentration galt wieder dem Wassereimer. Doris griff nach Handtasche und Schlüssel und verließ das Haus.
»Noch nicht ganz.« Im Friseursalon drückte Maren die Aluminiumfolie, die um die Strähne gewickelt war, vorsichtig wieder zu. »Zehn Minuten musst du noch.«
Doris zerrte am Halsausschnitt des Plastikumhangs, um ihn zu lockern. »Dann lass aber bitte dieses Wärmeteil weg. Mir kocht schon der Kopf.«
Dabei war es nicht nur der Kopf, sie spürte den Schweiß auch zwischen den Brüsten kribbeln und am Rücken. So musste sich ein Huhn in einem Bratschlauch fühlen. Viel Hitze, viel Plastik.
»Es ist doch heute gar nicht so heiß. Und so warm hatte ich es auch gar nicht eingestellt.« Maren schob das Wärmegerät zur Seite. »Geht aber auch ohne. Willst du was Neues zu lesen?«
»Nein danke. Aber wenn du ein Wasser hättest …«
Während Maren ein Glas holte, schloss Doris die Augen und versuchte, die Hitzewellen zu beherrschen. Sie hatte das immer öfter. Ganz plötzlich wurde ihr Körper zum Ofen und der Schweiß brach aus. Sie stellte sich die dunklen Flecken auf der Kleidung vor, die alle sehen könnten, sobald sie, vom Umhang befreit, aufstehen müsste, um zu bezahlen. Es war peinlich. Und grauenvoll. Die Welle ebbte langsam wieder ab. Doris öffnete die Augen und betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht glänzte, sie wischte mit der Hand schnell über Oberlippe und Schläfen, in der Hoffnung, niemand würde sie dabei beobachten.
»Hier, bitte.« Ein Wasserglas wurde auf den Beistelltisch gestellt, Maren stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schulter. »Und sonst? Kommst du heute Abend zum Literaturkreis? Sag mal, schwitzt du so?«
»Geht das vielleicht noch ein bisschen lauter?« Doris drehte sich zu ihrer Sitznachbarin. Deren Trockenhaube verhinderte zum Glück ein Mithören. »Das kommt von diesem Plastikumhang. Ich kann heute nicht, Moritz kommt zum Essen, und er war seit zwei Monaten nicht zu Hause.«
»Ach so, schade. Wie geht es ihm denn? Er studiert in Hamburg, oder?«
»Ja.« Dankbar registrierte Doris, dass ihr Körper wieder zu seiner normalen Betriebstemperatur zurückfand. »Es geht ihm gut, er hat halt viel mit dem Studium zu tun. Und jetzt auch noch eine neue Freundin. Die bringt er mit.«
»Ach was. Und? Wird Mutti eifersüchtig?«
»Quatsch. Ich bin ja froh, dass er endlich eine hat. Er ist ein richtiger Spätzünder, ging nie los, saß immer nur zu Hause vor dem Computer, und das mit vierundzwanzig. Jetzt wird er mal normal.«
Maren lachte leise und wickelte wieder eine Strähne aus. »Ganz anders als der große Bruder, was? Wie geht es Sascha denn eigentlich? Den habe ich ewig nicht gesehen.«
›Ich auch nicht.‹ Der Gedanke kam mit Wucht, Doris brach wieder der Schweiß aus, diesmal hatten die Hormone nichts damit zu tun. »Auch gut. Er hat so wenig Zeit, wir telefonieren aber regelmäßig.«
»Hat er denn …« Erleichtert hörte Doris das Telefon klingeln. Maren schob die Strähne an ihren Platz zurück und ging zur Rezeption, um das Gespräch anzunehmen.
Doris fuhr mit der Hand über ihren Hals, alles war gut. Irgendwann würde auch mit Sascha alles wieder gut. Sie müsste nur Geduld haben. Krisen gab es in den besten Familien, bei manchen dauerten sie einfach nur länger.
Auf dem Rückweg zum Auto schaute sie noch in zwei Boutiquen nach einem Rock, der genauso aussah wie der alte, aber besser geschnitten war. Sie fand keinen, was ihre Laune sinken ließ. Also konnte sie auch nach Hause fahren.
Im Flur roch es nach Reinigungsmittel. Frau Kröger war davon überzeugt, dass viel Chemie viel Sauberkeit ergibt. Doris ließ die Haustür hinter sich offen, um durchzulüften. Sie stellte ihre Handtasche neben die Garderobe und ging in die Küche, warf die Kaffeemaschine an und stellte mit wenigen Handgriffen die Kaffeedose, die Obstschale und zwei Vasen um. Seit fünfzehn Jahren nun dekorierte Frau Kröger nach dem Putzen Gegenstände neu und Doris räumte anschließend alles wieder zurück. Sie hatte mittlerweile aufgegeben zu glauben, dass die Putzfrau irgendwann selbst darauf käme, dass Doris immer wieder die alte Anordnung herstellte. Es war egal, Doris hatte ja auch sonst nichts zu tun.
Sie zog die Zeitung aus dem Poststapel, nahm ihren Kaffee und setzte sich auf die Terrasse. Heute war der 27. April, in genau vier Wochen war ihr Geburtstag. Der Fünfzigste.
Als ihre Mutter fünfzig geworden war, hatte die ganze Familie in einem damals sehr angesagten Hotel gefeiert. Es war eine der furchtbarsten Feiern, die Doris je mitgemacht hatte. Sie war damals mit Moritz schwanger, Sascha war drei und gerade in seiner ersten bockigen Phase. Doris’ Vater hielt eine Rede, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, die aber dazu führte, dass ihre Mutter in Tränen ausbrach. Die Stimmung war dann endgültig auf dem Tiefpunkt, als Sascha seiner Oma seinen Apfelsaft auf die teure neue Seidenbluse kippte und Doris ihre Schwangerschaftsübelkeit nicht mehr in den Griff bekam. Fast zwei Stunden lang musste sie sich immer wieder auf der Damentoilette übergeben. Während der gesamten Zeit brüllte Sascha im Restaurant, was seinen Vater, der mit zwei von Doris’ Cousins am Tresen saß und Cognac trank, nicht allzu sehr bekümmerte.
Hinterher hatte Torsten zerknirscht mitgeteilt, dass er die Feier und Doris’ Mutter nüchtern einfach nicht überlebt hätte. Vermutlich hatte er damit recht.
Und jetzt war sie in vier Wochen dran. Doris überlegte, ob sie auf ihre Familie mittlerweile genauso wirkte wie ihre Mutter damals. Sie hoffte inständig, dass es nicht so wäre. Auf keinen Fall würde sie so ein Debakel an diesem Tag zulassen. Es würde keine Feier geben. Keine Reden, keine furchtbaren Geschenke, niemanden, der Cognac trinken musste, um die zu überleben. Das würde sie nicht zulassen.
Das Sonnenlicht schimmerte durch die Jalousien. Katja drehte sich vom Fenster weg und zu Alex hin. Langsam öffnete sie die Augen und sah ihn an. Er schlief noch fest. Sie legte ihren Kopf an seine Halsbeuge, strich mit der Hand langsam über seine glatte Brust. Dass er sich rasierte, daran hatte sie sich gewöhnen müssen. Männer machten das heute, jetzt fand sie es sexy. Sie hielt inne und sah zu dem Wecker auf dem flachen Nachttisch. Es war halb neun. Ihr Dienst begann zwar erst später, aber sie wollte noch joggen. Von nichts kommt nichts, diesen Satz hatte sie verinnerlicht. Also drehte sie sich mit einem kleinen Bedauern von Alex weg, stand leise auf und ging auf Zehenspitzen ins Bad.
Zehn Minuten später stand sie vor der Haustür und dehnte ihre Oberschenkel. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr trabte sie los. Sie lief in Richtung Park, wie immer dieselbe Route, vierzig Minuten, jeden Morgen, das war ihre Kampfansage an das schwache Bindegewebe. Bislang lag sie in Führung.
Nach einer Viertelstunde wurden ihre Beine schwer. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, an etwas Schönes zu denken. An Alex zum Beispiel. Und an die letzte Nacht. Deshalb hatte sie jetzt so müde Beine. Sie musste grinsen, sofort lächelte sie ein entgegenkommender Mann mit Hund an. Vermutlich drehte er sich auch nach ihr um, weil er nicht darauf kam, woher er sie kannte. Sie kannte ihn jedenfalls nicht. Gleich darauf lief sie am Seeufer entlang, die Wasseroberfläche glitzerte in der Sonne, ihre ohnehin schon gute Laune wurde noch besser. Morgen würde ihr Wochenende beginnen und Alex bis Montagmorgen in Kiel bleiben, also stünden ihr drei wunderbare Tage bevor. Sie war fast am Ende ihrer Runde angelangt und verlangsamte ihr Tempo. Vier Frauen mit Nordic-Walking-Stöcken marschierten ihr entgegen. Die letzte der Gruppe bewegte sich ungeübt und staksig. Ihre graue Jogginghose war zu kurz und an den Knien ausgebeult, das rote T-Shirt zu oft gewaschen, sie hatte keinerlei Körperspannung und wirkte müde und grau. Als Katja an ihr vorbeilief, sagte sie: »Guten Morgen, Frau Severin.«
An der Stimme erkannte Katja sie, überrascht grüßte sie zurück, trabte aber weiter. Es war Karen, die am Empfang des Senders arbeitete. Katja war entsetzt, wie altbacken diese Frau wirkte. Wie konnte man mit sich selbst so nachlässig sein? Und dann noch diese Altweibersportart betreiben? Fünf Kilo weniger, eine anständige Frisur und besser sitzende Sportkleidung, dann würde sie wieder aussehen wie eine Frau und nicht wie Tante Ilse. Furchtbar.
Noch immer kopfschüttelnd bog Katja in ihre Wohnstraße ein und betrachtete eher zufällig ihr Spiegelbild im Schaufenster der Sparkasse. Die enge Sporthose endete über dem Knie, das knappe weiße T-Shirt betonte ihre Taille und die festen Oberarme, der geflochtene mahagonifarbene Pferdeschwanz baumelte locker über den Rücken. ›Alles gut‹, dachte sie zufrieden, trudelte langsam aus und blieb einen Moment tief durchatmend stehen. ›Es ist nur leider alles scheißanstrengend.‹ Sie schleppte sich die drei Stufen zum Bäcker hoch und stellte sich in die Schlange. Als sie an der Reihe war, lächelte die Verkäuferin sie an. »Morgen, Frau Severin, Sie haben vielleicht eine Disziplin. Immer wenn ich sie morgens laufen sehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ich müsste dringend etwas tun, hier ist eine Rolle, da ist Hüftspeck, mir passt nichts mehr. Aber was soll’s? Meine Knie sind im Eimer, ich habe Rückenschmerzen, mit vierzig ist der Lack eben ab. Was darf’s denn sein?«
»Machen Sie doch Yoga, das hilft auch.« Katjas Blicke schweiften über die verschiedenen Körbe. »Ich nehme ein Vollkornbrötchen, ein normales, ein Croissant und ein kleines Schwarzbrot und die ›Kieler Nachrichten‹.«
»Und vom Yoga bekommt man auch so eine schöne Haut?« Die Brötchen landeten mit Schwung in der Tüte. »Drei Euro neunzig bitte.«
»Nein.« Katja zog einen Fünfeuroschein aus ihrem Strumpf. »Das kommt vom Sex.«
Sie amüsierte sich über die knallrote Gesichtsfarbe der Verkäuferin, griff nach dem Wechselgeld und der Tüte und verließ lächelnd den Laden.
Alex stand schon an der Tür. »Ich habe dich gesehen, schöne Frau.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie auf den Hals. »Salzig. Wunderbar.«
Katja schob ihn sanft zur Seite und drückte ihm Brötchentüte und Zeitung in die Hand. »Ich muss duschen. Machst du Kaffee?«
»Schon erledigt.« Er schob das T-Shirt ein Stück hoch. »Soll ich mit unter die Dusche?«
»Nein.« Lächelnd schlängelte sie sich unter seinem Arm durch. »Kindskopf. Ich muss nachher zum Dienst, ich will nicht so hetzen. Guck schon mal in die Zeitung.«
In der Dusche hielt sie sekundenlang ihr Gesicht in den Wasserstrahl. Alex war der beste Liebhaber der letzten Jahre. Und der unersättlichste. So, dass es ihr manchmal schon fast zu viel war. Aber nur manchmal. So war es eben, wenn man eine Berglöwin war, so wurden Frauen wie sie nämlich genannt. Eine Berglöwin war eine Frau mittleren Alters, die sich einen jüngeren Mann nahm. Alex war neunundzwanzig, Katja achtundvierzig. Obwohl man es ihr nicht ansah. Sie hatte eben einfach genug Disziplin und einen Vater, der Schönheitschirurg war.
Katja stellte die Dusche ab und griff nach einem Handtuch. Vor dem Spiegel musterte sie sich kritisch. Nein, es gab nichts zu beanstanden, alles war okay. Und über die kleine tätowierte Rose freute sie sich immer noch. Das war eine geniale Idee gewesen, sie war ihr gekommen, als sie im Urlaub auf Korsika eine schöne Frau mit einer ähnlichen Tätowierung gesehen hatte. Katjas Vater hatte sich einige Wochen vorher über Patienten aufgeregt, die im Alter ihre Tattoos entfernen ließen. »Als wenn man in seiner Jugend nicht darüber nachdenken könnte, dass aus einem Gänseblümchen irgendwann mal eine Sonnenblume wird. Auf alter welker Haut sieht das grauenhaft aus.«
In dem Moment hatte Katja beschlossen, sich tätowieren zu lassen. Es sollte dezent und klein sein und als Mahnung dienen, sich nie gehen zu lassen.
Als sie am nächsten Tag das Tätowierstudio in Hamburg betrat, geriet sie an Alex. Der sah nicht nur unfassbar gut aus, sondern tätowierte ihr eine hinreißende Rose auf die Schulter und lud sie anschließend zum Essen ein. Damit hatte es angefangen. Und jetzt tat er nicht nur ihrer Seele gut, sondern auch noch ihrem Körper. Zufrieden trocknete sie sich ab und zog einen dünnen Bademantel über. Das Leben war doch herrlich.
»Wann bist du heute Abend zu Hause?« Alex ließ die Zeitung sinken und sah sie an. »Am Hafen ist ein Open-Air-Konzert, da könnten wir doch noch hin.«
Katja schob ihren Teller zur Seite und beugte sich nach vorn. »Was für eine Band?«
»Mehrere. Bist du schon fertig mit frühstücken?«
»Ich habe nach dem Laufen doch nie so viel Hunger.« In Wirklichkeit könnte sie jetzt ein halbes Schwein auf Toast essen, aber sie zwang sich, nach einem halben Vollkornbrötchen und zwei Kiwis aufzuhören. Größe 36 war nun mal Verzicht. Sie dachte kurz an Karen vom Empfang und fühlte sich leicht. »Ich habe um halb neun Dienstschluss, um neun bin ich hier. Wenn nichts dazwischenkommt.«
»Gut. Dann gehen wir noch hin?«
Bis vor einem halben Jahr hatte Katja sich nach Dienstschluss nur noch platt aufs Sofa fallen lassen und sich mit der Fernbedienung durch alle Kanäle gezappt, bis die schlechten Fernsehprogramme sie frustriert einschlafen ließen. Abend für Abend. Bis Alex sie da rausgeholt hatte. Plötzlich war die alte Energie wieder da, plötzlich passierte wieder was.
Katja stand auf, küsste Alex’ Nacken. »Ja. Wir gehen. Ich freue mich. Ich ziehe mich schnell an. Danke fürs Frühstück.«
Eine Viertelstunde später kam sie zurück in die Küche. Ihre langen Haare waren noch feucht, sie hatte sie locker hochgesteckt, trug ein enges grünes, ärmelloses Kleid und Riemchensandalen mit hohen Absätzen. Alex griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zu sich. »Tolles Kleid. Habe ich dir heute schon gesagt, dass du eine unfassbar schöne Frau bist? Beeil dich im Sender, komm schnell wieder.«
Katja fuhr mit der Hand kurz unter sein T-Shirt. Er fühlte sich so gut an. Mit Bedauern küsste sie ihn. »Ich habe überhaupt keine Lust zum Arbeiten. Bis später.«
Als sie die Treppe hinunterstieg, immer noch lächelnd, fiel ihr ein, dass sie dieses Kleid vor drei Jahren in Florenz gekauft hatte. An einem der zahlreichen heimlichen Wochenenden mit Hermann. Wie dämlich war sie damals eigentlich gewesen? Zum Glück war das vorbei. Und ihr jetziger Liebhaber war fast dreißig Jahre jünger als ihr damaliger. Das hätte sie vor drei Jahren auch niemandem geglaubt.
»Guten Morgen, Frau Severin. Ich habe nur einen Brief für Sie, ich wollte ihn gerade einwerfen.«
Katja zuckte zusammen, sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie fast in den Briefträger gelaufen wäre. »Ich habe Sie gar nicht gesehen, Morgen, ich nehme ihn gleich mit. Schönen Tag noch.«
Sie spürte seine Blicke auf ihrem Hintern, als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Auf dem Weg zum Auto riss sie den Umschlag auf und überflog die Zeilen. Ein Satz stach ihr sofort ins Auge: »… wird Doris am 27. Mai flotte fünfzig.«
Meine Güte, Torsten war immer noch so ein uncharmanter Klotz wie früher. In ihrem Abiturjahrgang war er derjenige mit dem größten Schandmaul gewesen. Erst reden, dann denken, das war schon damals seine Devise. Es war nicht zu fassen. Und jetzt sollten sie alle zu einer Überraschungsparty kommen, die Doris nicht wollte? Und Anke und sie waren vermutlich eingeteilt, einen lustigen Sketch aufzuführen, bei dem die übrigen Gäste vor lauter Fremdschämen nicht wissen würden, wohin sie schauen sollten. Und dann noch alles geheim. Das war wirklich typisch Torsten: nicht denken, nur machen.
Katja blieb vor ihrem Auto stehen und kramte, die Augen weiter auf den Brief gerichtet, nach dem Schlüssel. Andererseits war es im letzten Jahr beim Abitreffen überraschend lustig geworden mit Anke und Doris. Und auch, als sie sich ein paar Wochen später mit Torsten in Hamburg gesehen hatten. Das war sogar ein toller Abend gewesen, sie wusste auch nicht genau, warum der Kontakt wieder eingeschlafen war. Sie setzte sich in den Wagen und las den ganzen Brief noch einmal. Fünfzig – das war wirklich eine brutale Zahl. Katja stellte sich Doris vor, die inmitten ihrer Familie, langweiligen Nachbarn und Geschäftsfreunden vor einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte und einem Kännchen Kaffee sitzt. Das wäre doch der Albtraum. Es wäre also viel besser, wenn die alte Clique eine richtige Party steigen ließe. Und die könnte ruhig groß und teuer werden. Es wäre nur gerecht, dass Torsten für so einen dämlichen Satz ordentlich bezahlen müsste.
»Warum eigentlich nicht?«, sagte sie laut, während sie den Motor startete. »Mädels, lasst uns Spaß haben und über alte Zeiten reden. Und alles auf Tottis Rechnung.«
Doris drückte das kalte Glas an ihre Schläfe und schloss kurz die Augen. Torsten hatte sich immer noch nicht gemeldet, sie hatte ihm auf die Mailbox gesprochen und ihn um einen Rückruf gebeten. Das war bereits Stunden her. Vermutlich hatte er sein Handy leise gestellt, er fand es sowieso furchtbar, jederzeit erreichbar zu sein. Und er telefonierte nicht gern. Manchmal fragte sie sich, wie er es geschafft hatte, beruflich so erfolgreich zu sein. Im Privatleben ging er allen Dingen, die ihm unangenehm waren, sehr erfolgreich aus dem Weg.
Beim Blick auf die Uhr zuckte sie zusammen. Es war bereits fünf, in zwei Stunden würden Moritz und seine neue Freundin auf der Matte stehen, und sie hatte noch nicht einmal angefangen zu kochen. Entschlossen trank sie den letzten Schluck Weißwein und erhob sich. Ihr wurde ein bisschen schwindelig. ›Zu schnell aufgestanden‹, dachte sie und hielt sich einen Moment lang am Tisch fest. ›Gibt sich gleich wieder.‹
Sie ordnete das leere Weinglas in die Spülmaschine ein, klappte die Tür zu, stellte das Gerät an und lehnte sich dagegen. Als das Gurgeln des Wasserzulaufs einsetzte, stieß sie sich ab und öffnete den Kühlschrank. Eigentlich hatte sie Lammkeule für heute Abend vorgesehen. Mit grünen Bohnen und Rosmarinkartoffeln. Das machte immer wieder Eindruck auf Gäste, eine Demonstration der perfekten Gastgeberin und Superköchin. Nur leider war die neue Freundin ihres jüngeren Sohnes Vegetarierin. Doris konnte sich nicht daran erinnern, in ihrer Jugend überhaupt Vegetarier gekannt zu haben. Das war doch erst später losgegangen. Aber es war nervig. Jetzt musste sie Tagliatelle mit Gemüse machen, darum hatte Moritz sie gebeten. Langweilig wie nur was, aber eine Alternative war ihr auch nicht eingefallen.
Sie nahm das Gemüse aus dem Kühlfach und begann, die Tomaten zu waschen. Eigentlich hatte sie keine Lust zu kochen. Sie hatte Moritz gesagt, dass sein Vater gar nicht zu Hause sei, und ihm vorgeschlagen, das Essen doch aufs nächste Wochenende zu verschieben, damit Torsten auch die neue und anscheinend erste richtige Liebe seines Sohnes begutachten könne. Natürlich hatte sie es geschickter ausgedrückt.
»Ach, Mama«, hatte Moritz mit genervter Stimme geantwortet, »mach doch nicht so einen Film. Ich will nur meine Taucherausrüstung vom Boden holen und zufällig ist Wiebke dabei. Wir kommen nur ganz kurz vorbei.«
»Ihr könnt doch wenigstens hier essen. Ich habe dich ewig nicht gesehen. Ich koch was Schönes, ach, komm!«
Moritz hatte am Telefon schon dieselbe kurz angebundene Art wie sein Vater.
»Nudeln mit Gemüse, Wiebke isst kein Fleisch. Und mach nicht so ein Tamtam. Bis Freitag.«
Diese Wiebke hatte gerade ihr Abitur gemacht und wollte jetzt für ein halbes Jahr nach London. Sie war neunzehn. Doris war mehr als zweieinhalbmal älter. Wie war sie selbst eigentlich in diesem Alter gewesen? Mit neunzehn? Es war die Zeit der ›Wilden Wörter‹, die Zeit der Pläne, der Aufregung, weil das Leben jetzt endlich losgehen würde, die Zeit der Vorfreude.
Damals war sie fast jeden Tag mit Katja und Anke zusammen. Gut, mit Torsten auch, schließlich waren sie damals bereits ein Paar, aber mit Katja und Anke fand das wirkliche Leben statt. Sie hatte diese Schülerzeitung sehr ernst genommen und so viel Herzblut investiert, so viel Ehrgeiz. Und diese beiden Freundinnen waren so wichtig, es gab kaum ein Thema, was sie nicht nächtelang diskutiert hätten, keine Tabus, keine Spielchen. Damals fühlte sich Doris lebendig, damals hatte sie sich alles zugetraut. Wo war dieses Leben geblieben?
Kopfschüttelnd griff sie zu einer Möhre und schrubbte sie unter laufendem Wasser. Sie wurde sentimental, das kam von den Hormonen. Und davon, dass Wiebke neunzehn war. Mein Gott, das Mädchen hatte wirklich noch alles vor sich. Auch das, was niemand wollte. Schrecklich. Und das als Vegetarierin.
Anke, Katja und sie waren nach den Redaktionsrunden immer mit den Rädern zu »Elas Grill« gefahren. Ela hieß eigentlich Manuela und hatte bis spät in die Nacht ihre Pommesbude geöffnet. Keine von ihnen hatte sich damals Gedanken über Hüftspeck gemacht, sie saßen zufrieden am Tisch und hauten sich nachts Currywürste rein. Wenn es ganz anstrengend gewesen war, sogar mit Pommes.
Doris spürte plötzlich diesem Gefühl nach und lächelte. Wie hieß dieses Lied?
›Geile Zeit‹? Es war eine gewesen. Vielleicht erschien sie ihr im Moment vom Weißwein, von diesem drohenden Geburtstag und einer neunzehnjährigen Vegetarierin verklärt, aber trotzdem: Es war eine geile Zeit. Eine der besten, die sie in ihrem Leben gehabt hatte.
Ihr schossen Tränen in die Augen, sofort wischte sie sie weg. Wieso wurde sie bloß so scheißsentimental? Es passierte ihr immer öfter, sie heulte bei Siegerehrungen im Fernsehen, bei Filmen mit kleinen Tieren, bei alten Schlagern mit unfassbar schlechten Texten. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.
Im selben Moment, als sie sich räusperte und die Tränen herunterschluckte, hörte sie das Telefon klingeln. Nach einem weiteren Räuspern nahm sie das Gespräch an.
»Goldstein-Wagner.«
»Wo warst du denn vorhin? Ich habe schon dreimal angerufen.«
Margret Goldstein klang wie immer beleidigt.
»Hallo, Mama, ich war beim Friseur.« Doris klemmte den Hörer unters Kinn und griff nach dem Sparschäler und einer Zucchini.
»Schon wieder? Du warst doch erst. Das ist gar nicht gut für die Haare, dieses dauernde Strähnchenfärben.«
»Was wolltest du denn?« Doris konzentrierte sich auf die grüne Schale, nur damit sie ruhig blieb.
»Ich habe vorhin mit Moritz telefoniert. Der kommt ja heute zu euch. Mit seiner neuen Freundin. Das ist wirklich blöd.«
»Wieso?«
»Weil ich sie auch gerne kennengelernt hätte. Aber ich spiele freitags immer Doppelkopf. Da hättest du ja auch dran denken können. Das kann ich jetzt nicht mehr absagen.«
Doris legte den Sparschäler zur Seite und atmete tief durch. »Das musst du ja auch nicht. Moritz will doch nur seine Tauchsachen abholen. Er hat selbst gesagt, ich soll nicht so ein Tamtam machen, sie wollen gar nicht lange bleiben. Das wird keine große Familienzusammenkunft. Ich koche noch nicht mal groß.«
Ihre Mutter schnaubte. »Es ist doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich mir die Freundin meines Enkels ansehen möchte. Als ob du dadurch so viel mehr Arbeit hättest. Du bist in letzter Zeit dermaßen komisch …«
Ihre Mutter hatte damit nicht grundsätzlich unrecht, nur jetzt gab es wirklich überhaupt keinen Anlass zu diesem Satz.
Doris ließ das Wasser laufen und hielt ihre Handgelenke darunter. Sie hatte keine Lust, sich aufzuregen.
»Wie auch immer, Mama, es ist ja nicht das letzte Mal, dass Moritz nach Hause kommt. Demnächst machen wir ein Essen, dann kannst du seine Freundin ja begutachten. Für heute wünsche ich dir viel Spaß beim Doppelkopf.«
»Ich habe Bettwäsche für Moritz gekauft. Die soll er mitnehmen. Sag ihm doch, dass er auf dem Weg zu euch hier noch anhält. Sonst steht die Tüte ewig im Flur.«
»Mama, ruf ihn doch selbst an. Du hast doch seine Handynummer.«
»Er geht nicht dran.«
Doris spürte schon wieder eine Hitzewelle anrollen. Mit geschlossenen Augen atmete sie durch die Nase ein. Ganz ruhig bleiben, nichts anmerken lassen.
»Dann wird er bei mir auch nicht drangehen. Er soll ein anderes Mal bei dir vorbeikommen. Außerdem hat er genug Bettwäsche von hier mitgenommen.«
Ein kleines Rinnsal lief ihr von der Schläfe über die Wange.
Ihre Mutter ließ nicht locker. »Du meinst doch wohl nicht die ausgemusterte Wäsche von euch? Ich bitte dich, junge Leute müssen doch mal was Modernes haben.«
»Mama, bitte!« Doris’ töchterliche Selbstbeherrschung schwand rapide. »Reg mich nicht auf.«
»Kind, ich verstehe wirklich nicht, warum du so gereizt bist. Also, ehrlich …«
»Ich bin nicht gereizt. Ich habe nur keine Zeit, so lange zu telefonieren.«
»Wie meinst du das denn jetzt? Ich denke, du kochst heute nicht.«
Doris rieb sich die Stirn. »Ich koche nicht groß, aber ich koche. Lass uns in den nächsten Tagen wieder telefonieren, ja? Schönen Abend noch.«
Ihre Mutter schnappte nach Luft. »In den nächsten Tagen? Du meldest dich doch nie.«
»Mama.« Doris fühlte ein Pochen in der Schläfe. Wenn das hier noch länger dauerte, würde sie gleich stechende Kopfschmerzen bekommen. »Wie gesagt, ich muss jetzt was tun. Tschüss.«
Sie legte auf und wartete. Und zwar genau zwölf Sekunden, dann setzte das Klingeln wieder ein.
»Ja, Mama?«
»Kennen Friedrich und Hannelore die neue Freundin von Moritz schon?«
»Nein, Mama.« Doris hätte mit dieser Wendung rechnen müssen. Margret Goldstein war seit fast dreißig Jahren eifersüchtig auf die Schwiegereltern ihrer Tochter. Weil Wagners so erfolgreich waren, ein so großes Haus hatten, Golf spielten, eine Finca auf Mallorca besaßen und damit nicht genug: Statt einer mittelmäßigen Tochter hatten sie zwei extrem gut aussehende und erfolgreiche Söhne produziert. Lediglich die Tatsache, dass ihre Tochter mit einem der beiden Wagner-Sprösslinge verheiratet war, hatte Margret Goldstein ein wenig versöhnt. Und nicht zuletzt die beiden Enkelsöhne, die zumindest zur Hälfte aus den erfolgreichen Wagner-Genen bestanden.
»Dann ist ja gut.«
Die zufriedene Antwort ihrer Mutter ging direkt in die pochende Schläfenader. Doris öffnete die Kühlschranktür und nahm die angebrochene Weinflasche heraus.
»Doris, bist du noch dran?«
»Ja.« Sie füllte das Glas nur halb, schließlich musste sie noch kochen. »Wie gesagt, ich muss jetzt Schluss machen, also bis bald.«
»Was ist denn jetzt mit deinem Geburtstag? Wo findet die Feier statt?«
»Mama, ich habe es dir schon gesagt, ich habe keine Lust zu feiern. Vielleicht fahren Torsten und ich an dem Wochenende weg.«
»Warum das denn? Du wirst doch auch dauernd eingeladen und gehst überall hin. Und es ist ein runder Geburtstag. Doris, ich bitte dich, du wirst nur einmal fünfzig. Ich habe meinen damals ganz groß gefeiert, das war so ein schöner Abend. Das willst du dir entgehen lassen? Das kannst du ja wohl nicht machen. Du hast auch Verpflichtungen.« Margrets Stimme wurde mit jedem Satz vorwurfsvoller. Doris spürte schon wieder den Schweiß in ihrem Gesicht.
»Mama, du hast auf deiner tollen Feier den ganzen Abend geheult. Und wolltest Sascha und Torsten an die Wand klatschen.«
Jetzt bekam Margret regelrechte Schnappatmung. »Das stimmt doch gar nicht. Du warst schwanger und hast doch kaum was mitbekommen.«
Doris schloss kurz die Augen. »Ist ja auch egal. Ich feiere jedenfalls nicht. Du kannst ja gern die Woche drauf zum Essen kommen. Aber am 27. findet hier nichts statt. So, und jetzt muss ich was tun. Bis bald.«
»Du hast auch nie Zeit für mich. Und über den Geburtstag reden wir noch mal. Also, sag bitte Moritz wegen der Bettwäsche Bescheid. Und schöne Grüße. Tschüss.«
Mit einem erleichterten Seufzer ließ Doris sich auf einen Stuhl sinken. Sie verstand nicht, wie Margrets Lebensgefährte das aushielt. Ihre Mutter wurde mit jedem Jahr dominanter und anstrengender. Wahrscheinlich ging es nur, weil die beiden nicht zusammen wohnten. Werner hatte eine Wohnung in der Nähe, und wenn Margret zu anstrengend wurde, ging er nach Hause. Da hatte er seine Ruhe. Und Margret rief Doris an. Das Thema Geburtstagsfeier war garantiert auch noch nicht ausgestanden.
Doris stützte das Kinn in die Hand und sah aus dem Fenster in den Garten. Der Gärtner war gestern erst da gewesen und hatte ganze Arbeit geleistet. Der zum See hin abfallende Rasen war frisch gemäht, die großen Terrakottakübel neu bepflanzt, die Rosenbeete geharkt und vom Unkraut befreit, die Terrassenmöbel neu geölt, es sah aus wie auf dem Blatt eines Gartenkalenders. Margret hätte sich schon wieder darüber aufgeregt, dass Doris überhaupt einen Gärtner beschäftigte. Sie selbst machte heute noch alles allein, das wäre gar kein Problem. Dabei vergaß sie nur zu erwähnen, dass ihr Grundstück 500 Quadratmeter groß war, der Garten von Torsten und Doris indessen 2500. Aber die mittelmäßige Tochter konnte der patenten Mutter sowieso nichts recht machen. So war es eben.
Nach einem Blick auf die Uhr stand Doris auf und putzte wieder Gemüse. Sie hoffte nur, dass Werner sich seine entspannte Haltung bewahrte und noch lange leben würde. Sie mochte sich nicht ausdenken, wie sich Margret entwickeln würde, wenn ihm irgendetwas geschähe.
Irgendwann hatte Doris gelesen, dass Frauen im Alter immer mehr Züge ihrer Mütter annahmen. Diese Vorstellung war für sie der absolute Horror. Seit Sascha auf der Welt war, hatte sie sich verzweifelt bemüht, nie etwas zu sagen oder zu fragen, was auch nur annähernd dem Tonfall oder gar der Formulierung ihrer Mutter ähnelte. Es war gar nicht einfach, aber Doris bildete sich ein, es geschafft zu haben. Mehr oder weniger zumindest.
Allerdings hatte Moritz gerade noch am Telefon gesagt, sie solle nicht so ein Tamtam machen. Na ja, aber sie konnte eben nicht immer funktionieren. Es war so einfach, als die Kinder noch klein waren. Die Bilder in ihrem Kopf von Sascha und Moritz im Kinderwagen, bei der Einschulung, in den Urlauben trieben ihr schon wieder Tränen in die Augen. Diese blöde Sentimentalität! Doris schüttelte den Kopf und trank das Glas aus. Bescheuert, sie musste sich ablenken. Entschlossen stand sie auf und griff zu einem Messer und einer Zwiebel. Mit jeder Haut, die sie abzog, kamen mehr Tränen. Nur flossen sie nicht mehr aus Sentimentalität, sondern aus Frust.
Als das Gemüse fertig geschnippelt und das Nudelwasser im Topf war, blieb ihr noch eine halbe Stunde, sich umzuziehen und frisch zu machen. Und dann wollte sie doch mal sehen, ob es ihr nicht gelänge, einen freundschaftlich-lässigen Abend mit ihrem jüngsten Sohn und seiner großen Liebe hinzukriegen, an dem nichts, aber auch gar nichts an Margret Goldstein erinnerte. Das wäre doch gelacht.
Doris warf das gebrauchte Geschirrhandtuch in den Wäschekorb und ging nach oben. ›Jeans und weiße Bluse‹, dachte sie, ›und die Haare hochgesteckt. Damit kann nichts schiefgehen.‹
Sie lächelte immer noch, als sie vor ihrem Kleiderschrank stand und die Bluse herausnahm. Es musste ein schöner Abend werden.
Eine gefühlte Ewigkeit später stand sie etwas schwankend an der Haustür und sah die Rücklichter von Moritz’ Auto kleiner werden. Als sie hinter der Kurve verschwunden waren, blieb sie noch einen Moment stehen, dann drehte sie sich um, ging hinein und ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.
Im Esszimmer begann sie, die schmutzigen Teller auf ein Tablett zu stellen. Wiebke hatte über die Hälfte ihrer Portion unberührt liegen gelassen. Die erste Liebe ihres Sohnes hatte sich als mageres, schweigsames, humorloses Wesen entpuppt, die auch noch ein grauenhaftes Lippenpiercing trug. Und Moritz hatte auch nicht gerade zu einem fidelen Abend beigetragen. Zuerst hatte er seine Nudeln in sich hineingeschaufelt und Doris dann mit der vergeistigten Wiebke allein gelassen, weil er sich um seine Taucherausrüstung kümmern wollte. Der Versuch, mit dem Mädchen irgendwie in ein Gespräch zu kommen, war grandios gescheitert. Wiebke hatte sie nur angestarrt und Doris’ Redefluss irgendwann mit den Worten: »Ich würde an Ihrer Stelle keinen Wein mehr trinken«, unterbrochen. Dieses blöde Balg.
Doris setzte den Tellerstapel plötzlich wütend auf dem Tisch ab und stützte sich mit den Händen auf den Stuhl. Was bildete die sich eigentlich ein? Sie selbst hätte sich in diesem Alter nie getraut, so einen Satz in Gegenwart von Torstens Mutter rauszuhauen. Wieso machte diese Krähe das?
Das Telefon klingelte. Das Display zeigte Torstens Handynummer. Vielleicht wollte er fragen, was das denn für eine Zuckerpuppe sei, die sein Sohn angeschleppt habe. Doris nahm das Gespräch an.
»Du hast nichts verpasst. Ein mageres, unfreundliches, schlecht gelauntes Huhn, das kein Fleisch isst.«
»Was?« Seine Stimme klang irritiert. »Welches Huhn?«
Es war klar, Torsten hatte vergessen, dass sein Sohn zum Essen kommen wollte. Die Baumesse forderte sein ganzes Hirn, da konnte er sich nicht noch mit Familienkleinkram befassen.
»Dein Sohn Moritz hat heute seine neue Flamme Wiebke zum Essen mitgebracht. Es war furchtbar.« Doris redete langsam und überdeutlich, nebenbei schenkte sie sich Wein ein.
»Ach SO.« Torsten war überrascht. »Hat er eine Freundin? Das wusste ich gar nicht. Seit wann denn?«
»Das habe ich dir alles erzählt. Seit drei Monaten. Ein seltsames Wesen.«
»Ist doch schön für ihn.«
Doris trank das Glas leer und starrte dabei in den dunklen Garten. Was sollte sie darauf auch sagen.
»Doris? Bist du noch dran?«
»Ja. Sicher. Und sonst? Was gibt es Neues?« In der Flasche war noch ein kleines bisschen, ein halbes Glas. Und danach war Schluss. Sie musste nur aufpassen, dass sie deutlich redete. Aber erst mal konnte sie auch nur zuhören, was ihr Mann erzählte.