Wir sind die Guten - Dora Heldt - E-Book + Hörbuch

Wir sind die Guten Hörbuch

Dora Heldt

4,6

Beschreibung

Der zweite Fall für Karl Sönnigsen und sein eigenwilliges Rentner-Quartett - dem originellsten Ermittlerteam, das Sylt je gesehen hat! Ein Jahr ist vergangen, seit das Ermittlerteam um Karl Sönnigsen der Polizei von Westerland erfolgreich gezeigt hat, wie man einen Serientäter stellt. Jetzt bekommt Karls Bekannte Helga einen Anruf von einer Freundin: Deren Mieterin Sabine ist spurlos verschwunden ... Die Polizei von Westerland indes ermittelt im Fall eines unbekannten Toten am Fuß der roten Klippen, und so kann Karls Truppe in aller Ruhe auf die Suche nach Sabine gehen. Die Ermittlungen nehmen ihren turbulenten Lauf, als herauskommt, dass beide Fälle miteinander zu tun haben. »Ein Mordsvergnügen.« Bunte

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Zeit:5 Std. 2 min

Sprecher:Anneke Kim Sarnau
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Dora Heldt

Wir sind die Guten

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für meine Freundinnen aus der Interessengemeinschaft D.,

die so viel Geduld mit mir haben.

Prolog

Die schöne Frau hat rotes Haar. Es leuchtet in der schummrigen Kneipe. Durch das Fenster hindurch leuchtet es, fast wie ein Heiligenschein. Ich trete näher und lege die Handflächen auf die kalten Fensterscheiben. Sie sind gefroren, an den Stellen, an denen meine Hände liegen, taut die Eisschicht und gibt die Sicht frei. Da sitzt sie. An einem Tisch, zusammen mit den Männern. Sie lacht und gestikuliert wild. An ihren Handgelenken blitzt üppiger Schmuck, Armreifen, ich kann das Geklimper bis hier draußen hören. Nur das Geklimper, nicht das, was sie sagt. Seltsam. Ihr Mund bewegt sich, ihre Hände bewegen sich, sie wirft ihre Haare zurück, die roten Haare, die aussehen, als hätte man sie gerade gebürstet. Schöne Haare, sehr lang, lockig und so rot. Die Männer starren sie an. Sie sagen nichts, aber ich weiß plötzlich, was sie denken, ich kann es hören. Ich presse meine Stirn an die Scheibe, ich will, dass sie mich ansieht, sie bemerkt mich nicht, sie lacht die Männer an und klimpert mit ihren Armreifen. Ich presse meine Hände auf die Ohren, ich kann dieses Geräusch nicht ertragen, ich will hören, was sie sagt, aber die Armreifen sind zu laut. Einer der Männer beugt sich über den Tisch und greift ihr in das rote Haar. Er wickelt eine Locke um den Finger und lächelt. Seine Augen lächeln nicht, nur der Mund. Sie merkt es nicht, sie lässt es zu, dass er ihr Haar anfasst, ich will an die Scheibe klopfen, um sie zu warnen, aber ich kann meine Hand nicht heben. Sie ist zu kalt. Jetzt lachen sie wieder. Musik setzt ein, laute Rockmusik, die Bässe wummern durch die Nacht, ich rufe laut, niemand hört mich. Am wenigsten die rothaarige Frau. Sie lacht.

»Du musst es verhindern.« Ich erkenne die leise Stimme und drehe mich um. Ich sehe in seine freundlichen blauen Augen und weiß nicht, was ich machen soll. Er wird mir nicht helfen, er dreht sich um und geht weg, ich kann ihm nicht folgen, ich stehe hier wie angewurzelt und sehe auf meine Füße. Sie sind nackt und so kalt. Deshalb kann ich nicht laufen. Ich stehe barfuß auf einem gefrorenen Weg, der voller kleiner Steinchen ist, aber ich spüre nichts. Ich kann mich nur nicht von der Stelle bewegen. Mir wird heiß, und ich sehe wieder durchs Fenster. Die rothaarige Frau ist aufgestanden, sie legt sich einen Schal um ihren schönen Hals. Ich kann den Schal jetzt ganz deutlich erkennen, er ist grün mit kleinen roten Rosen. Ein hübscher Schal, sie legt ihn doppelt und zieht ihn zusammen, er steht ihr gut, so einen hätte ich auch gern. Die Männer folgen ihr. Einer von ihnen zieht jetzt einen Autoschlüssel aus der Tasche, ich kenne diesen Schlüssel, ich kenne auch das Auto, jetzt kann ich etwas tun, jetzt muss ich etwas tun. Es wird alles gut, ich weiß es, ich mache einen Schritt, ich kann laufen, ich gehe um die Ecke zum Parkplatz, meine nackten Füße spüren keine Kälte, keine Steinchen. Die Gruppe kommt mir entgegen, die roten Haare leuchten von weitem, sie geht ein Stück hinter den Männern, sie ist schön und sie lacht. Ich laufe auf sie zu, es geht leicht, ich bin schnell, aber sie sehen mich nicht. Jetzt habe ich sie erreicht, ich stelle mich vor die Frau, breite meine Arme aus, sage: »Bleib stehen, geh nicht mit ihnen mit, du …«, aber sie geht einfach an mir vorbei. Ich bin unsichtbar. Ich fasse sie am Arm, ich höre ihre Armbänder klimpern, laut, deutlich, sie schüttelt mich ab und steigt ins Auto. Und ich fange an zu schreien.

 

Schweißgebadet und mit rasendem Puls lag sie im Bett. Mühsam setzte sie sich auf, knipste die kleine Lampe an, sah sich um. Ihr Herz pochte wild, sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen, stellte die Füße auf den kalten Boden und legte die Hände an die Schläfen. Sie zählte bis zwanzig, dann öffnete sie die Augen. Ihr Blick wanderte durchs Zimmer, der kleine Schreibtisch, ihre Kleidung vom Vortag, die über dem Stuhl hing. Die blaue Strickjacke, die bunte Bluse, die Jeans. Vertraute Einzelheiten. Sie war in Sicherheit. Alles war gut. Ihr konnte nichts mehr passieren. Sie stand auf und sah durchs Fenster in die Nacht. Die Äste der großen Linde vor dem Haus bewegten sich. Es ging ein leichter Wind, der auch um den Fahnenmast fuhr. Die Metallösen an den Bändern schlugen an den Mast, es hörte sich fast an wie klimpernde Armreifen.

Mittwoch, der 4. Mai,

leicht bewölkt, 16 Grad

Die meisten Unfälle passieren im Haushalt.« Inge blieb an der Tür stehen und schüttelte empört den Kopf. »Und genau deshalb habe ich diese teure Leiter gekauft. Sabine, die müssen Sie jetzt aber auch benutzen.«

»Bis ich die aufgestellt habe, ist das Fenster schon geputzt.« Lächelnd stieg Sabine Schäfer vom Stuhl und nahm den kleinen Eimer von der Fensterbank. »Schon fertig. Ohne Unfall.«

»Es ist mein Ernst.« Energisch ging Inge durch den Raum und schob den Stuhl zurück an den Tisch. »Dieser Stuhl ist erfunden worden, damit man sich drauf setzt, nicht stellt. Ich will nicht noch einmal sehen, dass Sie darauf balancierend die Fenster putzen. Sie sind doch hier nicht im Zirkus. So. Und jetzt kommen Sie, Kaffee ist fertig. Sie müssen unbedingt diese kleinen schwedischen Kuchen probieren. Rezept von Charlotte. Meine Schwägerin backt immer so besondere Sachen.«

Sabine folgte ihr langsam in die Küche, leerte den Eimer aus und wischte sich die Hände trocken, bevor sie sich setzte. »Frau Müller, Sie müssen sich doch nicht immer solche Mühe machen.« Ihr Blick wanderte über den gedeckten Tisch. »Ich bin ja kein Kaffeebesuch.«

»Na, zum Glück.« Inge goss Kaffee in die Tassen. »Wissen Sie, wie Charlotte und ich Sie nennen? Die Fee. Was ist dagegen ein langweiliger Kaffeebesucher?«

Sabine lächelte und nahm sich ein kleines Stück Kuchen vom Teller. Ein zufriedenes Lächeln huschte über Inges Gesicht. Sabine Schäfer war ja so ein Glücksgriff. Inge würde alles tun, um es ihr so schön wie möglich zu machen. Damit sie nur ja nie auf den Gedanken käme, ihre Tätigkeit im Hause Müller zu beenden, weil sie sich vielleicht in anderen Häusern wohler fühlte. Oder da weniger zu tun hatte. Inge hoffte inständig, dass so etwas nie passieren würde. »Und?«, fragte sie, während sie den Teller noch ein Stück näher zu Sabine schob. »Wie geht es Ihnen sonst so?«

»Danke.« Sabine hob den Blick und sah sie an. »Gut. Jetzt wird das Wetter ja auch noch schön, da hat man doch gleich bessere Laune.«

»Ja.« Inge nickte. »Für Mai ist es bis jetzt ja auch ganz schön kalt.« Sie machte eine Pause und wartete, bis Sabine in der nachfolgenden Stille das kleine Stück Kuchen aufgegessen und Kaffee getrunken hatte. »Haben Sie eigentlich für den Sommer irgendwelche Urlaubspläne?«

»Noch nicht.« Lächelnd schob Sabine ihren Teller von sich und sah Inge an. »Und wenn, dann sage ich Ihnen rechtzeitig Bescheid.«

»So war das gar nicht gemeint.« Inge hob die Hände. »Ich habe wirklich nur aus Interesse gefragt. Sie können natürlich jederzeit in den Urlaub fahren, Hauptsache, Sie kommen wieder.«

Sabine lachte. »Ich bin mit der Arbeit bei Ihnen sehr zufrieden, Frau Müller, Sie müssen sich nicht solche Gedanken machen. Aber jetzt muss ich mal auf die Uhr sehen. Ich habe nur noch eine Stunde und oben noch gar nicht angefangen. Danke für den Kaffee.« Sie stand schon und trug ihr Geschirr zur Spüle, bevor sie den Raum verließ.

»Die Leiter«, rief Inge ihr hinterher, dann nahm sie sich selbst ein Stück Kuchen und sah nachdenklich aus dem geputzten Fenster. Immer wieder hatte sie sich einen kleinen Plausch mit Sabine Schäfer erhofft. Aber die zog ihre Kaffeepause genauso effizient durch wie ihre Arbeit. Still und schnell. Und ohne Spuren zu hinterlassen. Davon abgesehen war sie ein Hauptgewinn. Inges Haus war noch nie so sauber gewesen wie in den letzten Monaten, in denen Sabine sich darum gekümmert hatte. Genauso war es bei ihrer Schwägerin Charlotte. Alle vierzehn Tage schwebte abwechselnd bei beiden die Fee durch und anschließend blinkte und blitzte es. Es war wie im Märchen. Nur Klatsch und Tratsch war ihrer Fee fremd. Das war das Einzige, was Inge bedauerte. Sie selbst war ja sehr kommunikativ. Aber sie konnte nicht alles haben.

Eine Stunde später wartete sie, bis Sabine ihre Schuhe gewechselt hatte und in ihre Jacke geschlüpft war, dann drückte sie ihr die vereinbarten Geldscheine in die Hand.

»Vielen Dank, meine Liebe, und dann bis in zwei Wochen.«

Sabine schob das Geld sorgsam in ihr Portemonnaie. »Danke auch, Frau Müller. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Bis zum nächsten Mal.«

Inge sah ihr nach, wie sie mit langen Schritten zur Bushaltestelle lief. Der Bus kam genau in dem Moment, in dem Sabine die Haltestelle erreicht hatte. Ohne sich noch einmal umzusehen, stieg sie ein. Dann fuhr der Bus ab. Inge blieb stehen, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Sie wollte gerade die Haustür schließen, als sie das kleine rote Auto ihrer Schwägerin entdeckte. Charlotte fuhr langsam auf ihr Haus zu, blinkte vorschriftsmäßig und parkte neben der Auffahrt. Langsam stieg sie aus. »Hallo Inge, wartest du auf mich?«

»Nein.« Inge trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. »Ich habe immer noch keine telepathischen Fähigkeiten, obwohl ich manchmal glaube, ich sei ganz dicht dran. Ich habe Sabine und dem Bus hinterhergesehen. Du hättest sie fast noch getroffen.«

»Ach? Ist das schon so spät?« Charlotte sah sofort auf die Uhr. »Tatsächlich. Ich habe mich so vertrödelt, stell dir vor: Beim Einkaufen habe ich den halben Chor getroffen. Erst Gisela auf dem Parkplatz, dann Onno an der Kühltheke, Helga beim Gemüse, und im Waschmittelgang stand dann auch noch Elisabeth. Da kommst du nicht durch, mit oder ohne Einkaufszettel, ich habe fast eine Stunde gebraucht.«

»Gibt es was Neues?«

Inzwischen war Charlotte eingetreten und hatte ihre Jacke an die Garderobe gehängt. »Nö. Nichts Besonderes. Es riecht hier so gut. Herrlich. Ich freue mich schon auf nächste Woche, da bin ich dann dran.«

»Kaffee?«

»Gern.«

Die Thermoskanne stand immer noch auf dem Küchentisch, Inge holte eine frische Tasse aus dem Schrank und setzte sich Charlotte gegenüber. »Ich mache ja jedes Mal eine ganze Kanne Kaffee«, sagte sie, während sie einschenkte. »Aber Sabine trinkt immer nur eine Tasse, isst eine Kleinigkeit, weil sie zu höflich ist, um abzulehnen, und dann springt sie auf und macht weiter. Kannst du dich mit ihr richtig unterhalten?«

»Was heißt richtig?« Charlotte inspizierte die kleinen Törtchen. »Sind die nach meinem Rezept? Da musst du mehr Zimt drauf machen.«

Inge schob ihr die Milch zu. »Ich meine, dass man mal ein bisschen länger klönt. So über Gott und die Welt. Aber sie ist so arbeitsam.«

»Ja, Gott sei Dank.« Charlotte sah sie überrascht an. »Inge, wir haben sie als Putzfrau engagiert. Nicht als Gesellschafterin. Und sie muss in drei Stunden fertig werden, da kann sie sich doch wohl nicht gemütlich in deine Küche setzen und über das dänische Königshaus reden.«

»Wieso das dänische Königshaus?« Inge hob irritiert die Augenbrauen. »Was ist denn mit denen?«

»Nichts«, winkte Charlotte ab. »Die fielen mir nur gerade ein. Weil du dich doch für die Königshäuser interessierst.«

»Du doch auch.«

»Inge, das war doch nur ein Beispiel.« Charlotte probierte das Törtchen und nickte anerkennend. »Schmecken sonst gut. Aber wie gesagt, oben drauf mehr Zimt. Jedenfalls bin ich froh, dass sie so schnell und zügig arbeitet. Du, das ist immer noch mein Albtraum: Irgendwann kommen Heinz und Walter früher aus der Sauna zurück und treffen auf sie. Mit dem Staubsauger in der Hand, da können wir dann auch nicht mehr sagen, dass sie nur Kaffeebesuch ist. Stell dir das mal vor!«

»Bloß nicht.« Inge schüttelte sich. »Ich hoffe nur, dass uns was einfällt, wenn das wirklich mal passiert. Wird schon. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Männer früher zurückkommen, geht gegen null. Sie ändern nie ihre Gewohnheiten. Und wenn, müsste richtig was passieren, dann wären sie im Krankenhaus. Und wir wären raus.«

Charlotte sah sie an. »Also Inge«, sie schüttelte den Kopf. »Manchmal bist du mir zu brutal. Krankenhaus. Du hast vielleicht Ideen.«

»Es sind keine Ideen.« Unbekümmert biss Inge in ein zweites Törtchen. »Ich habe manchmal Bilder im Kopf. Und das Bild von Walter und Heinz beim Zusammentreffen mit Sabine möchte ich dir gar nicht beschreiben. Haben Onno und Helga von ihrem Urlaub erzählt?«

»Nur ganz kurz.« Charlotte lächelte. »Dass sie ein sehr schönes Hotel hatten, von ihrem Zimmer aus auf die Ostsee sehen konnten und viel Fahrrad gefahren sind. Helga wird immer ein bisschen rot, wenn sie erzählt. Irgendwie niedlich.«

»Sie muss sich vielleicht noch daran gewöhnen, dass sie wieder verliebt ist. In ihrem Alter.« Seufzend stützte Inge ihr Kinn auf die Faust. »Es ist aber auch zu schön. Fast siebzig und Herzklopfen wie eine Siebzehnjährige. Und Onno sieht auch so glückselig aus. Oder?«

Ihre Schwägerin nickte. »Das stimmt.« Ihr Blick ging zum Fenster. »Oh. Und jetzt müssen wir auch glückselig aussehen, da kommen unsere Männer.«

Heinz und Walter brachten eine Wolke von Dusch- und Saunaduft in den Raum. »Hier kommen die Gesalbten.« Heinz blieb vor dem Tisch stehen und betrachtete interessiert die Törtchen. »Das sieht ja gut aus. Setz dich, Walter, wir haben uns so viele Kilos weggeschwitzt, da passen jetzt wieder Kaffee und Kuchen rein.«

»Vom Saunieren nimmt man nicht ab«, sagte Inge und sah ihren Bruder Heinz stirnrunzelnd an. »Und was sind die Gesalbten?«

»Männer im besten Alter, die sich nach drei Saunagängen und einigen Bahnen athletischen Schwimmens nach dem Duschen mit Nivea eingecremt haben.« Walter strich seiner Frau leicht über den Kopf. »Ingelein, wir haben eine Haut wie ein Kinderpopo.« Er setzte sich und sah sich suchend nach einer sauberen Tasse um.

»In der Küche.« Inge hatte seinen Blick verstanden, blieb aber sitzen. »Da müsstest du deinen Kinderpopo aber selbst hinbewegen. Ich habe den ganzen Morgen geputzt.«

»Ja.« Walter erhob sich sofort. »Natürlich. Ich habe das schon bemerkt. Es riecht so gut nach Zitrone. Heinz, willst du auch eine Tasse?«

»Ja.« Heinz hatte schon die Hand auf dem Kuchenteller. »Aber mach nicht gleich alles wieder schmutzig.« Er zog Charlottes Teller zu sich. »Du bist ja fertig mit dem Kuchen, oder?« Ohne die Antwort abzuwarten, legte er ein Törtchen drauf. »Wir haben Maren in der Sauna getroffen. Schöne Grüße.«

»Welche Maren?« Inge schob ein paar Krümel, die Heinz vom Teller gefallen waren, auf ein Häufchen. »Halte mal den Mund über den Teller, du krümelst alles voll.«

»Maren Thiele.« Beim Antworten flogen die nächsten Krümel über den Tisch. »Onnos Tochter.«

»Die hatte heute frei.« Walter war mit zwei Tassen in der Hand aus der Küche zurückgekehrt. »Hier passieren im Moment ja nicht so viele Verbrechen. Da kann die Polizei auch mal eine ruhige Kugel schieben und sich in die Sauna setzen.« Er nahm Platz, griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich und seinem Schwager ein. »Sie hat erzählt, dass sie ihre Überstunden abbummelt, weil es gerade so ruhig ist. Ich glaube ja, dass es ihr hier auf Dauer zu langweilig wird. Immer nur Alkoholsünder, Raser und Urlauber ohne Benehmen. So ein junger Mensch will doch auch mal einen Serienmörder oder eine Politikerentführung oder eine Millionenerpressung. Aber in dieser Hinsicht ist auf Sylt ja nichts los.«

»Na, Gott sei Dank«, antwortete Charlotte und stand auf. »Ich brauche das auch nicht. Wobei ich dich daran erinnern muss, dass wir im letzten Jahr eine Erpressung und einen Todesfall hatten. Du bist ja nur immer noch beleidigt, dass ihr nichts davon mitbekommen habt. So, ich muss los, ich habe meine ganzen Einkäufe noch im Auto. Heinz, kommst du gleich mit oder fährst du nachher mit dem Bus?«

»Ich komme mit.« Im Aufstehen trank er seinen Kaffee aus. »Der ist nicht mehr ganz heiß, Inge. Steht schon zu lange. Macht aber nichts. Ich trinke nach der Sauna sowieso lieber ein Bierchen.«

Charlotte stand schon an der Haustür und drehte sich ungeduldig um. »Jetzt komm. Und nimm deine Saunatasche mit, du bist gerade an ihr vorbeigelaufen.«

Heinz machte auf dem Absatz kehrt und schulterte die Tasche. »Ich dachte, du hast sie schon. Tschüss, Familie. Bis bald.«

Freitag, der 6. Mai,

blauer Himmel, 19 Grad

Sie liebte diesen Platz. Sie saß auf einem der hohen Stühle unter einem Schirm und hatte einen freien Blick auf den Trubel, der um sie herum herrschte. Familien mit Kindern, Fahrradfahrer, die ihre Tour hier unterbrachen, Touristengruppen, die mit Bussen über die Insel gefahren wurden und eine Stunde Aufenthalt hatten, um ein Fischbrötchen oder ein Eis zu essen, verliebte Paare, die auf Sylt ein paar Tage Zweisamkeit genossen, und Cliquen aus Hamburg, die das schöne Wetter für ein Partywochenende nutzten. Der Lister Hafen war ein Anziehungspunkt der Sylter Gäste, hier wurde gegessen, getrunken, eingekauft, hier buchte man Ausflugsfahrten oder saß einfach eine Zeitlang in der Sonne. Obwohl sie Menschenmengen hasste: hier gab es immer einen Platz in einer Ecke, an dem man ungestört einen Kaffee oder Wein trinken konnte, von wo aus man in aller Ruhe die Menschen beobachten, sich ihre Geschichten und Leben ausmalen konnte und Teil einer Leichtigkeit wurde, die einem einfach so geschenkt wurde. Sie kam nicht oft her, es wäre sonst nichts Besonderes, aber bei so schönem Wetter wie heute, bei diesem blauen Himmel, den wenigen Federwolken und dieser seltenen Windstille war das einer der besten Orte, die sie kannte. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und schloss die Augen, es war herrlich. Sie liebte diese ersten Frühsommertage, sie fühlten sich so vielversprechend an, so zärtlich und optimistisch. Zur Feier dieses Sommertages hatte sie sich ein Glas Weißwein und ein paar Scampi bestellt, es schmeckte nach Urlaub und guter Laune. Am Nebentisch saßen zwei Frauen, die sich in einer Stimmlage unterhielten, die es unmöglich machte, dem Gespräch nicht zuzuhören. Manche Informationen brauchte man eigentlich nicht – an denen hier kam sie aber leider nicht vorbei. Eine der beiden hatte vor zwei Wochen unangemeldet ihre beste Freundin besucht und dabei ihren Mann getroffen. Wäre er vollständig angezogen gewesen, hätte er sich sicherlich mit der einen oder anderen notwendigen Reparatur herausreden können, so allerdings war die Sache eindeutig. Jetzt ging es nur noch um die Beruhigung aller Gemüter, was zu diesem Zeitpunkt aussichtslos schien. Hier war kein Platz mehr für Erklärungen oder Versöhnung, hier ging es um Geld, Rache und die allgemeingültige Ächtung der ehemals besten Freundin. Die Begleitung der Betrogenen war vermutlich vorher nur die zweitbeste Freundin gewesen, hatte sich aber sofort bereit erklärt, erste Hilfe auf Sylt zu leisten. So waren sie also zu zweit in ein schönes Hotel gefahren, schmiedeten nun Rache- und Zukunftspläne und tranken Sekt zwischen Verzweiflung, Wut und Zuversicht.

Sie legte ihre Gabel in das leere Scampischälchen und stand mit ihrem Glas Wein in der Hand auf, um sich einen anderen Platz zu suchen. Es war ihr entschieden zu viel Privates, was sie sich hier anhören musste. Sie wollte Leichtigkeit und keine Katastrophen. Ein ganzes Stück weiter stand gerade ein Mann mit einem halbwüchsigen Sohn auf. Alleinerziehend, mutmaßte sie. Oder ein getrennter Vater, der aus lauter schlechtem Gewissen Vater-Sohn-Wochenenden auf Sylt verbrachte. Die beiden mochten sich, das sah man, es war nicht ihr erster gemeinsamer Ausflug. Also doch kein schlechtes Gewissen, sondern väterliche Zuneigung. Sie schlenderte langsam auf den Tisch zu, die beiden lächelten sie an. »Wir gehen«, sagte der Sohn. »Falls Sie das gerade fragen wollten. Wir machen jetzt eine Fahrt zu den Seehundsbänken.«

»Viel Spaß«, antwortete sie und sah den beiden hinterher. Der Vater legte seinem Sohn beim Laufen den Arm um die Schultern. Hier war wieder Leichtigkeit im Leben. Sie setzte sich und trank einen Schluck Wein. Die Fähre aus Dänemark fuhr langsam an ihr vorbei zum Anleger. Sie folgte ihr mit den Blicken und nahm sich vor, demnächst mal wieder mitzufahren. Es war zwar keine große Reise, aber sie mochte Schiffe. Sie hatte es schon ab und zu mal gemacht, etwas über eine halbe Stunde hin, ein kleiner Spaziergang am Hafen, ein dänisches Hotdog auf die Hand und dann wieder zurück. Es war wie ein kleiner Urlaub, manchmal reichten auch ein paar Momente auf dem Meer, um sich lebendig zu fühlen. Die Fähre verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie sah sich wieder um. Hinter ihr war eine Gruppe junger Leute, vielleicht Mitte zwanzig. Sie waren in Feierlaune, einer von ihnen hatte anscheinend großzügige Eltern, die ihnen ihr Ferienhaus für ein Wochenende zur Verfügung gestellt hatten. Der Sohn kannte sich aus, machte Vorschläge für die kommenden Tage, er hatte etwas leicht Gönnerhaftes. Zwei der jungen Mädchen wechselten einen Blick, anscheinend tat es ihnen schon leid, der Einladung des Knaben gefolgt zu sein. Sie hatten zwar Sylt umsonst, aber dafür einen Angeber mit langweiligen Vorschlägen an der Hacke.

Zwei Tische neben ihr saß ein altes Paar, beide in zweckmäßigen Regenjacken, ihre war rot, seine blau. Es war schon seltsam, dass manche Zuordnungen ein ganzes Leben lang hielten. Die beiden hatten jeweils ein Fischbrötchen in der Hand, Matjes mit Zwiebeln, dazu trank er ein Bier und sie einen Kaffee. Auch nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war, dass sie die Köpfe zusammensteckten und sich so angeregt unterhielten. Er sagte etwas, das sie zum Lachen brachte, dann antwortete sie und er wollte sich fast ausschütten. Sie hatten Spaß zusammen, das war ganz deutlich zu sehen. Vielleicht kannten sie sich noch gar nicht so lange und entdeckten einander gerade erst. Dann hatten sie sich viel zu erzählen. Oder sie hatten einfach Glück: Da hatten sich womöglich die zwei Menschen getroffen, die einander ihr Leben lang genug zu sagen hatten. Sie wandte ihren Blick ab, bevor sie neidisch wurde. Manchmal fehlte ihr ein Seelengefährte, jemand, bei dem ein Blick genügte, um zu wissen, dass man dasselbe dachte, jemand, der zu einem gehörte und von dem das auch alle wussten. Sie sah über den Platz, an dem die Betrogene mit ihrer ehemals zweitbesten Freundin saß. Das war das Gegenprogramm. Das brauchte sie nicht mehr. Wirklich nicht. Hinter ihr machte sich die Gruppe der jungen Leute auf Geheiß des Angebers auf den Weg. Die Armen, dachte sie und griff wieder zu ihrem Weißwein. Sie trank langsam und auch immer nur ein einziges Glas. Sie mochte keine angetrunkenen Menschen, sie waren ihr zuwider. Als wenn sie laut gedacht hätte, tauchten zwei solcher Exemplare hinter ihr auf. Sie drehte sich gleich wieder um, die Männer sahen so aus, als würden sie sofort einen dämlichen Spruch raushauen, wenn sie beachtet wurden. Zwei Männer mittleren Alters, gut aussehend, wahrscheinlich erst spät zu Geld gekommen, das vermutete sie, weil beide so krampfhaft bemüht wirkten, die richtige Bekleidung zu tragen. Teure Massenware mit den entsprechenden Schriftzügen, dazu trugen sie passende Schirmmützen und teure Sonnenbrillen. Und sie redeten laut. Damit bloß niemand übersah, dass es sich hier um echte Kerle handelte, wohlhabend, selbstbewusst, unabhängig und wahnsinnig cool. Sie stellte sich vor, was die Jungs zu Hause für einen Alltag lebten. Wahrscheinlich hatten sie Frauen, die sich um Haus und Kinder kümmerten. Die Kinder wurden durch Tennisvereine und Musikschulen organisiert, die Frauen hatten ihre Freundinnen, ihre Friseure, ihre Shoppingnachmittage, während die Kinder in der Schule oder im Freizeitstress waren. Alles ging so lange gut, bis Papi die erste Affäre anfing. War die Neue jünger, schöner und umgänglicher, zog Papi aus, sah die Kinder nur noch alle zwei Wochen und … An dieser Stelle rief sie sich selbst zur Ordnung. Sie neigte dazu, in ihrem Zynismus ein Klischee nach dem anderen zu sehen. Vielleicht handelte es sich einfach nur um zwei Freunde oder Arbeitskollegen, die sich hier mit ihren Frauen verabredet hatten.

»Guck dir mal die Blonde dahinten an.« Sie merkte der Stimme schon an, dass hier nicht der erste Wein bestellt wurde. »Mein lieber Mann, die würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen. Heißes Gerät.«

Gemeint war eine junge Blondine, die allein an einem Tisch stand und offensichtlich auf jemanden wartete. Dieser Jemand kam auch in diesem Moment: groß, breitschultrig, tätowiert. Die blonde Frau hatte Glück, die Männer auch, der Begleiter hatte den dämlichen Spruch nicht gehört.

»Leg dich mit dem bloß nicht an.« Auch der zweite Mann hatte eindeutig schon einen sitzen. »Geh mal lieber noch einen Wein holen. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.«

In das laute Gelächter fiel der erste wieder ein: »Ist meine Runde, ich gehe«, rief er großspurig.

Etwas an seiner Stimme zwang sie, sich umzudrehen. Er ging etwas unsicher zum Tresen, Jeans, Hemd mit Emblem, Pulli über die Schulter geworfen. Dieser Gang, diese Stimme … er fühlte sich tatsächlich unwiderstehlich. Jetzt drehte er sich um und sah in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich. Sie sah sofort zur Seite, das fehlte noch, dass er glaubte, sie würde sich für diesen Idioten interessieren. Als sie einen Augenblick später wieder hochsah, stand er immer noch unverändert da und starrte sie an. Vermutlich würde er ihren erneuten Augenkontakt für Interesse halten und gleich auf sie zukommen. Abrupt stand sie auf, griff nach ihrer Tasche und machte sich mit langen Schritten auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie drehte sich nicht mehr um, deshalb sah sie auch nicht, dass er immer noch wie versteinert auf der Stelle stand und ihren schnellen Abgang mit seinen Blicken verfolgte. Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Nur wenige Sekunden später setzte er sich in Bewegung.

Freitag, der 6. Mai,

immer noch wolkenloser Himmel

Papa?« Maren schob die offen stehende Haustür vorsichtig ein Stück auf. »Bist du da?« Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und trat ein. »Hallo? Papa?« Plötzlich spürte sie hinter sich eine Bewegung, dann drückte sich ein Gegenstand in ihren Rücken. »Hände hoch.«

Maren drehte sich um. Ihr Vater stand mit einer Gurke in der Hand hinter ihr und grinste sie an. »Du machst für eine Polizistin erstaunlich viele Fehler. Sei froh, dass es nur eine Gurke war. Sonst wärst du jetzt vielleicht tot.«

»Ja, ja.« Maren ließ ihm den Vortritt und folgte ihm in die Küche. »Und du lässt die Haustür offen stehen. Da kann doch jeder reinkommen.«

»Mein liebes Kind«, Onno legte die Gurke auf die Spüle und drehte sich zu ihr um. »Ich habe hier alles im Blick, da sei sicher. Ich war nur kurz im Gewächshaus. Hast du an die Krabben gedacht?«

Statt einer Antwort schwang Maren die Plastiktüte, die sie in der Hand hielt. »Ist deine Helga nicht da?«

»Sie ist beim Friseur. Lässt sich schön machen.« Er sah sie forschend an, sah aus, als würde er etwas sagen wollen, ließ es aber.

Maren ließ sich auf die Bank sinken. »Das ist sie doch schon.«

Onno nickte. »Finde ich auch. Möchtest du was trinken? Zu essen gibt es noch nichts. Ich mache nachher eine Krabbenquietsch.«

»Eine was?«

»Eine Quietsch«, wiederholte Onno etwas lauter. »Mit Krabben. Und asiatischem Gurkensalat.«

Maren verbiss sich ein Lachen. »Eine Quiche. Ach so.«

»Sag ich doch.« Onno lächelte. »Du hast es mit den Ohren, oder? Musst du mal durchpusten lassen. Also, willst du was trinken? Tee?«

Maren war es lieber, dass Onno das Essen kochen konnte, als dass er es richtig aussprach. Das war doch wirklich egal. Sie wartete, bis ihr Vater sich setzte. Er hatte einen Gesichtsausdruck, den Maren sehr gut kannte. Er wollte irgendetwas mit ihr besprechen und wusste nicht, wie er anfangen sollte. Stattdessen griff er zur Zuckerdose und fing an, sie zu drehen, eine Runde, eine zweite Runde, bei der dritten legte Maren ihre Hand auf seine.

»Sprich«, sagte sie sanft, »bevor die Dose kaputtgedreht ist. Die ist noch von Mama.«

»Genau«, Onno sah hoch und zog seine Hand weg. »Das ist das Stichwort. ›Mama‹.« Er machte eine Pause, schob die Zuckerdose ein Stück zur Seite und räusperte sich. »Ich wollte mal was mit dir bereden.« Und schwieg.

»Papa. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Was willst du mir sagen?«

»Ja.« Onno nickte. »Wie soll ich anfangen? Also, ich habe mir so meine Gedanken gemacht.«

Pause.

»Und was sind das so für Gedanken?«

»Ganz unterschiedliche. So über dieses und jenes.«

»Und?«

»Nichts und. Ich denke einfach über das Leben nach. Und über alles andere auch. Wie man das so macht. Heute zum Beispiel. Und in anderen Zeiten.«

Maren schloss die Augen. Dieses Gespräch konnte sich noch über Stunden hinziehen. Ihr Vater hatte viele Talente – über seine Gefühle zu sprechen gehörte nicht dazu. Sie sah ihn an, seine Hand lag noch immer auf der Zuckerdose. »Papa, es wäre schön, wenn du mal auf den Punkt kämst. Was hat die Zuckerdose und was hat Mama mit deinen Gedanken zu tun?«

»Wieso die Zuckerdose?« Jetzt war Onno erstaunt. »Nur weil ich sie gedreht habe?«

»Nein, weil du gesagt hast, die Zuckerdose sei das Stichwort.«

»Mama«, korrigierte Onno freundlich. »Ich sagte ›Mama‹ sei das Stichwort.«

Maren musterte ihn. »Wenn diese Szene in einem amerikanischen Mafiafilm vorkäme, würde ich jetzt beginnen, dich zu foltern. Bis du endlich mal auspackst. Also, Onno Thiele, entweder sagst du jetzt, was du willst, oder ich verliere die Geduld.«

»Folter ist verboten.« Onno fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, bis es in alle Richtungen abstand, dann glättete er seine Frisur wieder und atmete tief ein und aus. »Also, ich wollte dich fragen, ob deine Entscheidung, diese ganzen Weiterbildungen auf dem Festland zu machen, mit Helga zu tun haben. Und du bist ja auch am Wochenende viel aushäusig.«

»Was?« Erstaunt sah Maren ihren Vater an. »Wie meinst du das?«

»Ich habe mir überlegt, dass du das vielleicht nicht so gut findest, dass Helga hier einzieht, und du deswegen immer wegwillst. Ist das so?«

»Nein.« Maren schüttelte entschieden den Kopf. »Papa, was denkst du? Ich finde Helga zauberhaft, und ich freue mich, dass ihr zusammengefunden habt. Wirklich. Mama ist seit vier Jahren tot, ich bin doch froh, dass du nicht mehr allein sein musst.«

»Im Ernst?« Noch etwas skeptisch fragte Onno nach: »Und das stört dich wirklich nicht? Also gerade, weil du erst im letzten Sommer zurückgekommen bist. Vielleicht möchtest du ja doch mehr Dinge mit mir zusammen machen. Oder mich für dich haben. So ganz allein.«

Maren überlegte, was sie dazu sagen konnte. Natürlich hatte ihr verwitweter Vater etwas damit zu tun gehabt, dass sie sich von Münster zurück auf die Insel hatte versetzen lassen. Aber schon nach wenigen Tagen war ihr klar geworden, dass ihr Vater keinesfalls Hilfe brauchte, schon gar nicht ihre. Er hatte sich schon auf seine Art über ihre Rückkehr gefreut, aber gleich mitgeteilt, dass er überhaupt keine Absicht hegte, in irgendeiner Form sein Leben zu ändern, in dem er sich eigentlich ganz gut eingerichtet hatte. Das hatte erst Helga Simon geschafft. Und Maren freute sich darüber.

»Papa«, sagte sie jetzt langsam. »Du musst dir wirklich überhaupt keine Gedanken machen. Zum Ersten muss ich mich doch gar nicht mit Helga arrangieren, sie zieht ja nicht in meine Einliegerwohnung, sondern zu dir. Zum Zweiten hast du auch vor Helga deine Abende nicht mit mir, sondern eher im Kochclub, im Chor oder mit Karl verbracht. Und zum Dritten hatte ich mich schon lange für die Weiterbildung beworben, das hat überhaupt nichts mit dir und Helga zu tun. Ich bin eher überrascht, dass du mich so einschätzt. Und solche Dinge denkst.«

»Ich habe mir das ja nicht selbst ausgedacht«, räumte Onno ein. »Karl hat das gesagt.«

»Was!?«

»Dass du unglücklich aussiehst. Und dass es für Töchter nicht einfach ist, wenn der Vater plötzlich eine neue Partnerin anschleppt. Und ich mir darüber Gedanken machen muss.«

Maren verschluckte sich fast. »Karl? Das glaube ich jetzt nicht. Soll ich dir was sagen? Er ist eifersüchtig. Weil du nicht mehr ständig verfügbar bist und er hier nicht mehr stundenlang in der Küche hocken und dich ungestört vollsabbeln kann.«

»Maren.« Vorwurfsvoll unterbrach Onno sie. »Er ist dein Patenonkel. Und so oft saß er ja gar nicht in der Küche.«

»Doch. Dauernd. Seit er pensioniert und kein Polizeichef mehr ist, hat er Langeweile, und du weißt, dass Karl Revierverbot hat. Gerda kann ihn auch nicht immer um sich haben und schickt ihn so oft wie möglich wegen irgendwelcher Besorgungen los. Die dann immer hier enden. Er will dir nur ein schlechtes Gewissen machen.«

»Meinst du?« Onno schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

Eine scheppernde Fahrradklingel unterbrach das Gespräch. Maren deutete nach draußen. »Wenn man vom Teufel spricht. Du kannst ihn gleich selber fragen. Auch wenn er es nie zugeben würde. ›Für die Töchter ist es nicht einfach, wenn der Vater plötzlich eine neue Partnerin anschleppt.‹ Der spinnt doch.«

»Kind, bitte!« Onno stand auf. »Nicht, dass er dich hört.«

»Wer darf was nicht hören?« Karl war schon in der Küche angekommen. »Na, Maren? Keinen Dienst heute? Wird die Insel wieder dem Verbrechen überlassen? Oder macht dein Chef Runge die gesamte Aufklärungsarbeit allein? Du rollst mit den Augen, Maren, ich sehe das, auch wenn du aus dem Fenster siehst.«

»Meine Augen rollen automatisch, wenn ich dich den Namen Runge aussprechen höre«, Maren drehte sich zu ihm. »Hör doch mal auf zu provozieren.«

Karl hob seine Hände und sah sie erstaunt an. »Ich provoziere doch nicht. Du bist so empfindlich. Aber das kennt man aus der Psychologie. Wenn man einen Partner oder ein Kind immer verteidigen muss, weil dauernd was schiefläuft und niemand ihn mag, dann ist man bei der kleinsten Kritik schon auf Zinne. So wie du. Mit deinem Chef. Den musst du auch dauernd verteidigen, weil er so dämlich ist.« Sehr zufrieden mit seiner Ausführung lächelte Karl Maren an, bevor er sich an den Tisch setzte. »Ich nehme es dir nicht übel. Du hast es ja auch nicht gerade leicht.«

Nach einem sehr langen Blick auf ihn stand Maren langsam auf. »Karl, manchmal gehst du mir echt auf die Nerven. Kann es sein, dass du ein böser, nachtragender, alter Mann wirst?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern ging zur Tür. »Bis später, Papa, ich komme nachher noch mal rein.«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Karl wartete einen Moment ab, dann wandte er sich an Onno. »Sie ist ja so empfindlich geworden«, sagte er mitleidig. »Es ist auch zu viel. Erst dieser cholerische Chef, dann der Freund, der so kurz nach Beginn der Liebesgeschichte wieder von der Insel flieht, und dann noch eine fremde Frau, die den Platz ihrer Mutter einnehmen will. Mann, Mann, wir müssen auf sie aufpassen. Warum stehst du eigentlich die ganze Zeit? Setz dich doch mal hin.«

Onno war dem kurzen Gespräch an die Spüle gelehnt gefolgt. Er hielt ein Geschirrtuch in der Hand, das er langsam zu einer Rolle gedreht hatte. Karl heftete seinen Blick darauf und sagte: »Was hast du mit der Geschirrtuchwurst vor?«

Mit einem Ruck löste sich Onno von der Spüle und ging auf Karl zu. »Vielleicht sollte ich sie nass machen und dich damit verprügeln«, antwortete er, schüttelte das Tuch dann aber aus. »Ich neige dazu, meiner Tochter recht zu geben, Karl. Du wirst ein böser, nachtragender, alter Mann. Wir müssen uns mal unterhalten.«

»Wir? Worüber denn?« Erstaunt sah Karl ihn an. »Nur weil Maren komisch ist, hat sie doch noch lange nicht recht. Und ich nehme ihr das nicht übel, ich habe schon so viele Menschen unter Stress erlebt, das macht mir nichts aus.«

Onno ließ sich auf den Stuhl sinken und faltete die Hände auf dem Tisch. »Es geht jetzt mal nicht darum, was dir etwas ausmacht, Karl. Ich will, dass du mir mal zuhörst und …«

»Mir macht es ja eben nichts aus.«

»… und mich ausreden lässt. Halt doch mal für einen Moment die Klappe.«

Karl schloss sofort verblüfft den Mund, diesen rüden Ton hatte er von seinem freundlichen Onno noch nie gehört. Der fuhr mit ruhiger Stimme fort:

»Sieh mal, es ist für alle Menschen eine große Veränderung, wenn sie aus dem Berufsleben ausscheiden. Man muss sich neue Aufgaben oder Hobbys suchen, das fällt manch einem schwerer als anderen. Aber wir sollten das mit Würde und Anstand tun. Bei dir …«

»Ich habe Würde und …«

»Karl, unterbrich mich nicht, sonst breche ich das Gespräch sofort ab und mache das Handtuch nass.« Onno hatte tatsächlich seine Stimme erhoben. Karl war zu fassungslos, um etwas zu entgegnen.

»Bei dir ist von Anstand nichts zu merken. Du warst nicht einverstanden mit der Wahl Peter Runges als Nachfolger. Das ist dein gutes Recht. Aber du bist raus, Karl. Du bist pensioniert, und es geht dich einfach nichts mehr an, wer der Chef der Polizei auf der Insel ist und ob er seinen Job gut oder schlecht macht. Du bist raus, du bist Pensionär, du hast mit der Polizeistation nichts mehr zu tun. Geht das denn nicht in deinen Kopf?«

»Darf ich antworten?«

»Bitte.« Onno ignorierte Karls beleidigten Ton. »Aber kurz. Ich bin noch nicht fertig.«

Nach einem tiefen Atemzug hob Karl den Kopf und sah Onno fast resigniert an. »Wie lange sind wir schon befreundet? Nein, lass mich antworten, ich habe es nämlich im Kopf: seit fünfundvierzig Jahren. Was haben wir in dieser Zeit alles erlebt? Auch das sage ich dir: zwei Hochzeiten, mehrere Beerdigungen, drei Kinder, viele Segeltörns, genauso viele Geburtstagsfeiern, Silvesterpartys, Ostereiersuchen, Sommerurlaube, viele …«

»Karl, komm auf den Punkt.«

»Man kann es mit einem Satz auf den Punkt bringen. Wir sind wie ein altes Ehepaar. Und das hat ab und zu mal Krisen. Mal sind die dem Geld geschuldet, mal der Kindererziehung, mal den unterschiedlichen Auffassungen über den Haushalt. All das betrifft uns nicht, aber der schlimmste Grund, der hat uns nun ereilt. Eine andere Frau.«

»Hä?« Verblüfft sah Onno ihn an. »Was meinst du denn damit?«

»Helga.« Mit einem nachdrücklichen Nicken verschränkte Karl seine Arme vor der Brust. »Versteh mich nicht falsch, sie ist mir sehr sympathisch, und ich gönne dir ja auch deinen späten zweiten Frühling, aber Herrgott, da muss man doch nicht gleich zusammenziehen. Das ist doch nicht mehr altersgemäß. Was sollen die Leute sagen?«

Fassungslos schüttelte Onno den Kopf. »Karl. Ich glaube, du wirst tatsächlich langsam seltsam. Was hat denn Helga mit deiner Fehde mit Runge zu tun? Und dass du dich nicht daran gewöhnen kannst, im Ruhestand zu sein? Das war unser Thema, was hast du denn daran nicht verstanden?«

»Du musst immer das Große und Ganze sehen. Ich muss mich gerade mit zwei schwerwiegenden Änderungen in meinem Leben auseinandersetzen, dem Ruhestand und dem Verlust meines besten Freundes. Das muss ich auch erst mal verarbeiten, ich bin sensibler, als du glaubst. Und nur fürs Protokoll, ich habe keine Fehde mit Runge, ich kann ihn nur nicht leiden. Und er hat damit angefangen.« Karl sah sich um. »Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben, ich bin so furchtbar durstig.«

»Wasser?« Stirnrunzelnd sah Onno ihn an. »Ich denke, das trinkst du nur, um Tabletten runterzuspülen.«

»Ich wollte dir keine Mühe machen.« Entwaffnend lächelte Karl ihn an. »Aber was anderes wäre mir natürlich lieber. Falls es wirklich keine Mühe macht.«

Onno verzog keine Miene. »Kaffee?«

»Um Himmels willen, es ist nach fünf, dann kann ich nicht schlafen. Nach Tee übrigens auch nicht. Bier ginge.« Er lächelte seinen ältesten Freund an, als der ihm eine Flasche Bier auf den Tisch stellte. »Danke. Du nicht?«

»Nein.« Onno setzte sich an den Tisch. »Ich möchte nichts. Aber zurück zum Thema, ich …«

»Onno«, Karl unterbrach ihn, indem er seine Hand auf Onnos Arm legte. »Lass uns an diesem schönen Tag nicht streiten. Habe ich dir schon erzählt, dass ich mir einen neuen Vertikutierer gekauft habe? Den alten hatte ich jetzt über dreißig Jahre, der war kaputt. Und jetzt habe ich den Mercedes unter den Vertikutierern, sagenhaftes Gerät, nur Gerda war wegen des Preises verschnupft. Sie hat gesagt, ich wäre über hundert, bis der kaputtgeht, das würde sich ja gar nicht mehr lohnen. So was sagt man doch nicht zu seinem Ehemann.«

Bevor Onno antworten konnte, klingelte es an der Haustür. »Entschuldige«, sagte er mit einem kleinen Lächeln und stand auf. »Helga benutzt nie ihren Schlüssel, wenn ich da bin.«

Missmutig sah Karl ihm hinterher. Im letzten Jahr hatte Onno dauernd über Rückenschmerzen geklagt, und kaum war eine Frau im Spiel, schwebte er geradezu durchs Haus. Unwirsch leerte er sein Bier und stand auf. Hier wurde er im Moment nicht mehr gebraucht.

Freitag, der 6. Mai,

nach Einsetzen der Dämmerung, 14 Grad

Hey, Rike, ich bin’s«, Maren legte ihre Füße auf den Tisch und griff zu ihrem Teebecher. »Hast du Zeit für einen kleinen Plausch?«

»In fünf Minuten«, war die Antwort am anderen Ende. »Ich muss noch eine Sache zu Ende machen, danach kann ich stundenlang mit dir telefonieren, ich bin sowieso allein. Bis gleich.«

Maren legte das Telefon neben sich und sah auf die Uhr. Wenn Rike fünf Minuten sagte, dann meinte sie auch fünf Minuten, sie war da sehr zuverlässig. Immer schon. Sie kannten sich seit der Grundschule, ihre Freundschaft hatte Bestand gehabt, auch wenn sie sich zeitweise nur selten gesehen hatten. Das hatte aber immer nur an der jeweiligen Entfernung ihrer Wohnorte gelegen. Im letzten Jahr war Maren zurück auf die Insel gekommen, sehr zu Rikes Freude. Allerdings hatte diese Freude nicht lange gewährt. Rike hatte sich kurz nach Marens Rückkehr auf die Insel in einen Hamburger Architekten verliebt – und war prompt Anfang des Jahres zu ihm gezogen. Ende der Freude. Auch wenn Andreas eine Wohnung auf Sylt hatte und die beiden oft übers Wochenende herkamen, war die schöne Zweisamkeit schneller vorbei gewesen, als sie angefangen hatte. Seufzend blickte Maren auf die Uhr. In diesem Moment waren die fünf Minuten vorbei und das Telefon klingelte.

»So«, Rike hatte ein Lächeln in der Stimme. »Alles erledigt, jetzt höre ich dir nur noch zu. Wie geht es dir?«

»Ganz gut«, Maren überlegte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Na ja, eigentlich nur mittelgut. Irgendwie ist mein Leben im Augenblick entweder langweilig oder anstrengend, ich hätte gern mal was dazwischen.«

»Wie, langweilig? Hast du Karl und Onno entsorgt?« Rike lachte über ihren eigenen Witz, Maren fand das überhaupt nicht komisch.

»Das Thema fällt unter die Rubrik ›Anstrengend‹«, antwortete sie langsam. »Aber der Rest ist so langweilig, der Job, die Insel, ich selbst, Rike, ich kann mich gerade überhaupt nicht leiden.«

»Hey«, Rike spürte sofort, dass da noch was anderes war. »Jetzt sag schon, was ist los? Hängt es mit … der Liebe zusammen? Ist die vielleicht auch ein bisschen anstrengend?«

»Das …«, Maren zögerte mit ihrer Antwort. »Das ist gerade ein ganz schlechtes Thema. Sehr dünnes Eis. Ich glaube, da will ich besser gar nicht drüber reden.«

»Oh.« Am anderen Ende entstand eine kleine Pause. Dann fragte Rike vorsichtig: »Habt ihr euch gestritten?«

Maren hob den Kopf und betrachtete das Foto, das im Glaseinsatz des alten Schranks klemmte. Ein Schnappschuss, der sie in der Umarmung von Robert zeigte. Sie standen im Abendlicht auf dem Roten Kliff, trugen weiße T-Shirts, waren braungebrannt und sahen tatsächlich aus, als wäre das Foto aus einer Werbebroschüre über Glück am Meer geschnitten. Rike hatte es fotografiert, im letzten Sommer, als sie alle gerade frisch verliebt waren. Zwei schöne Menschen in der Abendsonne, auf diesem Foto konnte man nicht sehen, dass Maren glatt zehn Jahre älter war. Maren wandte ihren Blick wieder ab und holte Luft.

»Noch nicht mal das«, sagte sie. »Robert möchte es schön haben, wenn wir uns sehen, er hat immer gute Laune. Das ist es nicht. Obwohl er findet, dass wir uns zu selten sehen, aber Westerland und Hamburg liegen ja nicht nebeneinander, und durch die Dienstzeiten ist es sowieso schwierig. Ach, Rike, es liegt an mir. Ich werde nächstes Jahr vierzig, wohne mit meinem Vater in einem Haus, auch wenn ich da eine eigene Wohnung habe, bin unverheiratet und kinderlos und habe eine Fernbeziehung mit einem zehn Jahre jüngeren Freund. Außerdem …«

»Bin ich spießig und frustriert«, beendete Rike den Satz. »Du hast echt ein schweres Leben, das ist furchtbar. Aber jetzt im Ernst, was ist wirklich dein Problem?«

Maren schwang die Füße vom Tisch. »Es ist alles zusammen«, antwortete sie, und Rike glaubte so etwas wie Selbstmitleid in der Stimme ihrer Freundin zu hören. »Ich habe echt eine Lebenskrise.«

»Du bist nicht ausgelastet«, berichtigte Rike sie. »Du hast zu viel Zeit, dir das Leben schlechtzureden. Du hast eine tolle Wohnung, bist Polizistin auf einer schönen Insel, du hast nette Kollegen, das Meer vor der Haustür, in wenigen Wochen ist Sommeranfang, Robert ist witzig, attraktiv, jung und himmelt dich an, was zur Hölle ist dein Problem?«

»Zum Beispiel, dass meine beste Freundin mich nicht versteht.« Maren gab Rike innerlich recht, wollte aber schon auch ein bisschen Mitleid. »Auf dem Revier langweilst du dich zu Tode, jeden Tag Fahrraddiebstähle, besoffene, grölende Urlauber in der Friedrichstraße, Blechschäden, weil die Leute die Landschaft angucken, statt auf die Straße zu sehen, und anschließend schreibst du Berichte, bei denen dir vor Langeweile der Kopf auf die Tischplatte knallt. Jeden Tag. Und dann kommst du genervt nach Hause, und da sitzt Onno Hand in Hand mit seiner Liebsten und grinst dich an. Wenn du da keine schlechte Laune bekommst …«

»Aha.« Rikes Stimme klang triumphierend. »Das ist also dein Problem. Du brauchst mal wieder einen Mord, und Onno soll nicht mit Helga Händchen halten, sondern ausschließlich dein Papa sein. Das ist egozentrisch, meine Süße, das weißt du hoffentlich selbst.«

So, wie Rike das Dilemma zusammengefasst hatte, klang es tatsächlich so. Aber es war auch nicht einfach. Fand Maren. Na ja, wenn sie mal länger darüber nachdachte: ganz unrecht hatte Rike vielleicht nicht. »Ich freue mich ja für meinen Vater«, versuchte sie den entstandenen Eindruck jetzt gleich wieder ein bisschen zurückzunehmen. Auch vor sich selbst? Und wie um das Ganze noch zu bekräftigen, sagte sie: »Meine Mutter ist fast vier Jahre tot, er hat lange genug um sie getrauert, und Helga Simon ist wirklich eine tolle Frau. Sie passen auch gut zusammen. Aber jetzt nur unter uns, ich finde das irgendwie komisch, wenn sie in der Küche steht und Kartoffeln schält. Sie macht es wie meine Mutter …«

»Ich glaube nicht, dass die Bandbreite bei der Technik des Kartoffelschälens sonderlich groß ist«, sagte Rike. »Ich sehe dabei von hinten wahrscheinlich auch aus wie deine Mutter.«

»Ja, ja«, Maren merkte selbst, dass das alles irgendwie schief klang. »Ich kann’s auch gar nicht gut erklären. Ich will das ja alles gar nicht denken, aber viele dieser Gedanken kommen einfach irgendwie hoch. Ich schäme mich richtig dafür. Rike, ich glaube, ich bin kein guter Mensch.«

»Hm.« Rike machte eine bedeutungsvolle Pause, und Maren rechnete fest damit, dass Rike ihr jetzt so richtig den Kopf waschen würde. Stattdessen sagte ihre Freundin: »Greta fehlt dir immer noch, oder?« Rikes Stimme klang ganz weich. So weich, dass Maren sofort die Tränen kamen. »Und du hast das so verdrängt, dass jetzt, seit Helga Dinge im Haus macht, die früher deine Mutter gemacht hat, alles bei dir wieder hochkommt. Ist das so?«

Marens Stimme war in den Tränen erstickt, sie brachte nur noch unzusammenhängende Schluchzer heraus. Rike wartete kurz, sprach dann aber eindringlich weiter: »Maren, das ist doch ganz normal. Das würde mir ganz genauso gehen. Greta ist gestorben, als du noch in Münster warst, das heißt, du kanntest dein Elternhaus gar nicht ohne deine Mutter. Und als du letztes Jahr zurückgekommen bist, musstest du dich ja erst wieder an deinen Vater gewöhnen. Du hast noch nicht mal gewusst, dass er kochen kann. Und dass er sein Leben eigentlich ganz gut im Griff hat. Und dann kam der Stress in deinem Job wegen dieser Einbruchsserie und dem Tod von Jutta Holler, da hast du doch auch nur gearbeitet. Bis auf die Zeit, in der du überlegen musstest, ob du in Robert verliebt bist oder nicht. Du hattest überhaupt keine Zeit, an irgendetwas zu denken, geschweige denn Greta in eurem Haus zu vermissen. Und jetzt ist alles vorbei, du bist hier in deinem neuen Leben angekommen, hast dich hier eingewöhnt. Und du siehst Helga mit deinem Vater und merkst, dass du mit deinem Abschied von Greta noch gar nicht fertig bist. Liege ich ganz falsch?«

»Nein, Rike.« Inzwischen hatte Maren sich die Tränen abgewischt, die Nase geputzt und ihre Stimme wiedergefunden. »Nein, das ist schon so. Aber ich will nicht, dass es mir so schwerfällt und ich will es doch vor allem Onno nicht versauen. Wie gesagt, ich gönne es ihm ja, aber es … es macht mich irgendwie so einsam.« Schon wieder kamen die Tränen. Ungeduldig wischte sie sich über die Augen und räusperte sich. »Rike, du musst nichts sagen, ich weiß, wie alt ich bin, und glaube mir, ich finde mich doch selbst total kindisch. Lass uns das Thema wechseln. Wann bist du das nächste Mal hier?«

»Wann soll ich denn kommen?« In Rikes Stimme lag ein Lächeln. »Nächstes Wochenende? Kann ich machen, Andreas ist sowieso nicht da. Oder willst du mal nach Hamburg kommen und dich auf andere Gedanken bringen?«

Maren warf einen kurzen Blick auf ihren Kalender. »Ich habe Dienst. Aber Frühschicht, das heißt, nachmittags frei. Es wäre schön, wenn du kämst. Aber nur, wenn du es erträgst, dass ich im Moment so blöde bin. Ich kann nur mit niemand anderem darüber reden.«

»Kein Problem. Ich habe von dir in all den Jahren schon so viel Schwachsinn gehört, da kommt es auf den einen oder anderen Quatsch auch nicht mehr an.«

Sie lachte und nahm dem letzten Satz damit sofort alles Schwere. »Pass auf. Ich muss Freitag bis fünfzehn Uhr arbeiten, dann bin ich am frühen Abend da. Bestell doch schon mal um acht einen Tisch, du lädst mich ein, dafür hast du dann zwei Stunden kindisches Gebrabbel gut. Kopf hoch, Maren, das wird alles.«

»Danke«, Maren fühlte sich sehr erleichtert. »Dann bis Freitag, ich freue mich.«

Sie blieb noch einen Moment mit einem kleinen Lächeln auf dem Sofa sitzen, das Telefon in der Hand. Dann stand sie langsam auf und ging zum Fenster, genau in dem Augenblick, als Helga Simon mit dem Fahrrad aufs Haus zufuhr. An der Pforte stieg sie ab und schob das Rad langsam zum Schuppen. Das Fahrrad sah sehr neu aus, der blaue Rahmen glänzte in der Abendsonne. Gretas Fahrrad war rot und stand im Schuppen. Niemand fuhr mehr damit. Und nun hatte Helga sich anscheinend ein neues gekauft. Gedankenverloren biss sich Maren auf ihre Unterlippe. In diesem Moment sah Helga in ihre Richtung und entdeckte sie am Fenster. Mit einem schüchternen Lächeln hob sie die Hand und winkte. Maren schluckte und winkte zurück. Sie sollte zu ihr gehen und ihr sagen, dass sie eine tolle Frau war und ein echter Glücksgriff für ihren Vater. Helga konnte ja nichts dafür, dass Maren gerade mit ihrem eigenen Liebesleben haderte. Entschlossen ging sie zur Tür und öffnete. »Hallo Helga, magst du einen Tee?«

Samstag, der 7. Mai,

leicht bewölkt, 17 Grad

Der schlaksige Junge stand vor dem CD-Regal in der Buchhandlung und schaute sich etwas hektisch erst nach rechts, dann nach links um. Seine Hände hatte er in die Taschen seiner Jeans geschoben, jetzt zog er die eine langsam heraus und zuckte zusammen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte. »Du solltest nicht mal daran denken«, sagte eine dunkle Stimme, sehr dicht an seinem Ohr. »Nicht mal im Ansatz.«

Der Junge fuhr herum und sah zu dem älteren Mann auf, dessen blaue Augen sich in sein Gesicht bohrten. »Herr Sönnigsen«, begann er lahm. »Ich habe doch gar nichts …«

»Dann ist ja gut«, Karl klopfte ihm jovial auf die Schulter. »Mach so weiter. Schönen Tag noch, Fabian.«

Er sah dem Jungen hinterher, bis dieser den Laden verlassen hatte. Fabian Schröder. Der jüngste von fünf Brüdern, alle mit kriminellem Talent. Karl hatte sie in seiner Laufbahn als Polizist und Revierleiter einen nach dem anderen vor seinem Schreibtisch sitzen gehabt, manche nicht nur einmal. Ladendiebstähle, Fahren ohne Führerschein oder »geliehene« Mofas, es war alles dabei. Und sie waren alle gleich. Einer machte immer Blödsinn. Wenigstens nahm keiner von ihnen Drogen, sie rauchten noch nicht einmal. Aber auf die Finger sollte man ihnen sehen. Schon zu ihrem eigenen Schutz. Nicht, dass sie noch richtige Kriminelle wurden.

Mit seiner Zeitung unter dem Arm ging Karl zur Kasse. Der Chef selbst stand dahinter. Seinen Namen wusste Karl mal, er hatte ihn aber vergessen. Irgendetwas mit Wurst, das war die Eselsbrücke gewesen. Ihm fiel nur nicht mehr ein, wo die hinführen sollte.

»Moin, Herr Sönnigsen«, begrüßte der Wurstdings ihn und tippte gleichzeitig den Preis der Zeitung in die Kasse. »Was macht das Rentnerleben?«

Irritiert sah Karl hoch. Das ging den doch gar nichts an. Der konnte froh sein, dass Karl gerade einen Ladendiebstahl verhindert hatte. »Ich bekomme Pension, keine Rente«, korrigierte er ihn. »Und, danke, gut. Obwohl ein Polizist nie ganz in den Ruhestand geht.«

»Aha.« Klang da beim Wurstmann so etwas wie Ironie heraus? »Da fühle ich mich ja dann sicher. Immer ein Auge auf das Verbrechen, sehr gut, wirklich sehr gut. Wollen Sie auch gleich die Handarbeitszeitschrift für Ihre Frau mitnehmen? Die hat sie sich zurücklegen lassen. Man braucht auch Aufgaben im Ruhestand, nicht wahr? Dann sind es zusammen elf Euro.«

Mit zusammengepressten Lippen legte Karl das Geld passend auf die Schale. Handarbeitszeitschrift. Aufgaben. Eine Unverschämtheit. Er wollte gerade etwas sagen, als das Telefon klingelte. Der Mann griff grinsend zum Hörer und schob dabei die Zeitschriften zu Karl. »Buch und Presse, Speckmann am Apparat.«

Karl schob die Handarbeitszeitschrift in die Zeitung und klemmte sich alles unter den Arm. Beim nächsten Mal würde er für Fabian Schmiere stehen. So.

»Einen guten Tag, Herr Speckmann«, sagte er laut und ging mit erhobenem Haupt aus dem Laden.

 

Draußen blieb er einen Moment stehen und sah sich unschlüssig um. Im Revier hätte er sich jetzt einen Kaffee geholt oder besser bringen lassen, hätte dazu sein belegtes Brötchen gegessen und einen Blick in die Zeitung geworfen. Natürlich nur, wenn nichts anderes anlag. Ansonsten hätte er gerade Anzeigen aufgenommen, Menschen beruhigt, anderen ins Gewissen geredet, sich um Kollegen gekümmert, Verbrechen bekämpft, die Insel zu einem sichereren Ort gemacht. Aber jetzt stand er hier rum und hatte keinen Plan. Seine Frau war mit ihrer Nachbarin aufs Festland gefahren, um sich irgendwo eine Gartenausstellung anzusehen. Gerda hatte ihn zwar gefragt, ob er nicht mitkommen wollte, aber Karl hatte sofort abgelehnt. Garten hatte er zu Hause, dafür musste er nicht durch die Gegend fahren. Er hätte genug anderes zu tun. Nur was eigentlich?

Langsam ging Karl die Friedrichstraße in Richtung Promenade. Er könnte sich doch einfach in ein Café setzen, einen Cappuccino bestellen, seine Zeitung lesen und ein bisschen Menschen beobachten. Das machten Millionen anderer jeden Tag. Warum eigentlich nicht? Sofort wurde sein Gang beschwingt, er fühlte sich plötzlich wie ein Lebemann, der mit den neuesten Zeitungen in ein Café ging. Als wenn er das jeden Tag machen würde.

Im Café seiner Wahl wurde tatsächlich gerade der beste Tisch frei. Sonnenbeschienen, mit einer fabelhaften Aussicht auf die flanierenden Leute, perfekt. Zufrieden nahm er Platz, legte die zusammengeklappten Zeitungen neben sich und sah sich um. Eine gute Entscheidung. Bei der hübschen Bedienung bestellte er nicht nur den Cappuccino, sondern gleich auch noch ein Eibrötchen, dann legte er den Arm über die Stuhllehne neben sich und betrachtete seine Umgebung. Eigentlich war sein Leben doch in Ordnung. Er wohnte auf der schönsten Insel der Welt, hatte eine nette Frau, gesunde und zum Glück erwachsene Kinder, die nicht mehr zu Hause wohnten, er sang im Chor, ging angeln, spielte regelmäßig Karten, hatte gute Freunde, ja, trotz Onno, der leider gerade ein Komplettausfall war. Karl hatte sich in seinem ersten Jahr des Ruhestandes so daran gewöhnt, regelmäßig auf einen Kaffee oder ein Bier bei seinem verwitweten ältesten Freund vorbeizuschauen. Onno war immer freundlich, hatte immer Getränke im Haus und war zu einem richtig guten Koch geworden. Stundenlang hatten sie in der Küche oder im Garten gesessen und über Gott und die Welt geredet, herrlich war das gewesen. Und als dann Onnos Tochter, die auch noch Karls Patentochter war, zurück auf die Insel gezogen war, schien Karls Glück perfekt. Maren arbeitete nun in Karls alter Wirkungsstätte, so kam er endlich wieder an alle Informationen über den Alltag auf dem Revier, skurrile Fälle oder die Neuigkeiten von ehemaligen Kollegen. Wobei Maren leider nicht ganz so viel erzählte, wie Karl es sich gewünscht hätte, das musste er an dieser Stelle einräumen. Sie fragte ihn auch nie um Rat, was Karl insgeheim fahrlässig fand. Dabei war er der langjährigste Revierleiter der Polizei Westerland gewesen, er hatte so ungeheuer viel Erfahrung, von der Maren doch so gut profitieren könnte. Aber, wie die jungen Leute nun mal so waren, sie nahm es nicht an. Leider. Wobei es gar nicht unbedingt an ihr lag, Karl vermutete den Grund ganz woanders. Es lag an ihrem Chef. Karls Nachfolger. Der neue Revierleiter trat natürlich in große Fußstapfen, zu große, wenn man mal ehrlich war. Und er versuchte mit allen Mitteln, die Erinnerungen an Karl Sönnigsen auszuradieren. Das hatte Karl im Gefühl. Das hätte er an Runges Stelle vielleicht genauso gemacht. Wer will schon mit einem Helden konkurrieren? Niemand. Und: wer kann das schon?

Die Bedienung brachte Cappuccino und Eibrötchen. Erfreut betrachtete Karl seinen Teller. Das musste er Gerda sagen. Auf Eibrötchen gehörten rotes Pulver, Petersilie und drei Salzstangen. Das wertete so ein halbes Brötchen doch sofort auf. Sah sehr gut aus. Bei dem roten Pulver musste Karl wieder an Onno denken. Der wüsste bestimmt, was das war. Onno hatte richtig Ahnung von Gewürzen, im Gegensatz zu ihm. Karl hätte seinem alten Freund nie zugetraut, dass der das alles nach dem Tod der wunderbaren Greta still und heimlich gelernt hatte. Onno machte seinen Haushalt allein, er kochte, bügelte, mähte Rasen, putzte Fenster, er konnte einfach alles. Er hatte sich zu einem perfekten, unabhängigen Hausmann entwickelt. Und genau deshalb verstand Karl überhaupt nicht, warum sein bester Freund jetzt nur noch mit dieser Frau zusammen war. Er war doch so gut allein klargekommen. Wozu brauchte er denn jetzt plötzlich Helga Simon? Obwohl sie ja sehr nett war, keine Frage, aber es reichte doch wohl, dass man sich mal zum Kino verabredete oder zum Essen. Man musste doch nicht gleich zusammenziehen. In ihrem Alter. Onno hatte seither kaum noch Zeit für Karl. Und das setzte so vielem ein Ende: dem schönen Essen, den Gesprächen unter Männern – und nicht zuletzt auch den möglichen Informationen aus dem Polizeirevier Westerland durch seine Patentochter Maren …

Karl tupfte mit dem angefeuchteten Zeigefinger auf das rote Pulver und probierte. Es war scharf. Aber er hatte noch immer keine Ahnung, was das war. Egal. Er steckte sich die Eischeibe mit dem meisten Pulver in den Mund. Es gab Wichtigeres in seinem Leben als rotes Pulver oder Onnos Liebesleben. Er musste einen Weg finden, den Kontakt mit seinen ehemaligen Kollegen nicht zu verlieren. Jetzt, wo Onno sich gerade entfreundete, brauchte Karl andere soziale Kontakte. Entfreunden, dachte er, das war das richtige Wort. Und deshalb musste er sich anderweitig umsehen. Zumindest so lange, bis Onno wieder zu Verstand kam.

Er fing gleich an, sich umzusehen. Die Friedrichstraße war voll, anscheinend war die ganze Inselbevölkerung einkaufen. Und das trotz des guten Wetters. Statt einen Strandspaziergang zu machen, schlenderten die Urlauber durch Geschäfte, die es bestimmt auch bei ihnen zu Hause gab. Karl hatte das noch nie verstanden. Vergeblich suchte er in der Menge der Vorbeieilenden ein bekanntes Gesicht. Er würde sich so gern ein bisschen unterhalten. Über nichts Bestimmtes, nur über dieses und jenes, über Gott und die Welt, wie er es sonst immer mit Onno machte.

»Hallo, Herr Sönnigsen«, eine Frau winkte ihm im Vorbeigehen zu. »Genießen Sie die Sonne?«

Er hob die Hand und nickte lächelnd. Wer immer das war, er hatte keine Ahnung. Sobald sie aus dem Blickfeld war, ließ er die Hand sinken. Er betrachtete die nachfolgenden Passanten. Lauter Fremde. Man sah es auch an ihrer Freizeitkleidung. Die Menschen sahen sich im Urlaub alle ein bisschen ähnlich. Er atmete tief aus und griff nach seiner Tasse. Auf dem Milchschaum war ein Herz aus Kakaopulver. Hübsch. Er würde jetzt öfter mal Kaffeetrinken gehen. Damit er wieder auf dem Laufenden war, was so gastronomisch in Mode kam. Schließlich wollte er mitreden können. Beim Abstellen der Tasse sah er hoch und entdeckte, obwohl die Sonne ihn blendete, eine bekannte Gestalt, die offensichtlich einen Platz suchte. Wie aus einem Reflex heraus hob er die Hand, und der Mann sah ihn an. Erst neugierig, dann verblüfft. Er kam ein paar Schritte auf ihn zu, trat aus der Sonne,